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ROTFUCHS/219: Tribüne für Kommunisten und Sozialisten Nr. 267 - April 2020


ROTFUCHS

Tribüne für Kommunisten und Sozialisten in Deutschland

23. Jahrgang, Nr. 267 - April 2020



Aus dem Inhalt

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Die Saat geht auf ...

Unter der Überschrift "Dank Euch, Ihr Sowjetsoldaten!" schrieb Klaus Steiniger im Mai-Heft des "RotFuchs" vor zehn Jahren, der 8. und der 9. Mai könnten zum Pathos und zum Heroisieren verführen: "Denn es handelt sich um das wohl heroischste Kapitel in der Geschichte der Menschheit: den Sieg über den Faschismus, über die 'Achse Berlin-Rom-Tokio' im Zweiten Weltkrieg." Den Sieg habe eine Koalition konträrer politischer und sozialer Kräfte errungen, "wie es sie so noch nie gegeben hatte". Die einen wollten "die faschistische Tyrannei samt ihrer kapitalistischen Wurzeln zerstören", während die anderen "lediglich die zeitweilige Ausschaltung und möglichst dauerhafte Eingrenzung eines gefährlichen Konkurrenten im Auge hatten, ohne jenes System selbst treffen zu wollen, welches Hitler und seien Verbrecherstaat hervorgebracht hatte". Und der "Rot-Fuchs"-Gründer fügte hinzu: Dennoch solle kein Beitrag zum Niederringen des Faschismus "hier ausgegrenzt, geschmälert oder gar geschmäht werden".

Dem ist nichts hinzuzufügen. Nur so viel: Zehn Jahre nach diesem Text häufen sich die Krisen des Kapitalismus, hat sich die Kriegsgefahr im Vergleich zu damals enorm erhöht, gehen Faschisten in der Bundesrepublik Arm in Arm mit der AfD zum Terror über. Die neun am 19. Februar in Hanau Ermordeten waren kein Zufall, sondern zwangsläufige Folge einer Politik, die auf Haß und Hetze setzt. Wobei die AfD nur fortsetzt, was CDU und CSU über Jahrzehnte vormachten und praktizierten.

Vor dem Hintergrund der um sich greifenden Krise des Kapitalismus wächst dessen Aggressivität und Abenteuerlust. Seit der Einverleibung der DDR wurde die Außenpolitik der Bundesrepublik systematisch militarisiert. 2010 lag der offizielle "Verteidigungsetat" bei knapp 27 Milliarden Euro, 2020 will die Bundesregierung der NATO laut einem dpa-Bericht vom 16. Oktober 2019 Rüstungsausgaben von mehr als 50 Milliarden Euro melden - fast eine Verdoppelung in zehn Jahren. Das Tempo soll noch beschleunigt werden.

Und die Waffen werden angeschafft, um sie zu benutzen. In Syrien läßt der türkische Despot Erdogan deutsche Panzer rollen und schießen. Die deutsche Bundeskanzlerin trägt dazu den Zynismus bei, der Westen sei beim Versuch, in Syrien einen Regime Change "von außen" herbeizuführen, gescheitert. Schuld an Vertreibung und Flucht aber sei allein Rußland. Den gefährlichen Unfug verkündete sie am 3. März in der CDU-Bundestagsfraktion.

Der deutsche Imperialismus, der vor 75 Jahren dank vor allem der Roten Armee am Boden lag, schmiedet wieder eigene Pläne. Kriegsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer zerbricht sich regelmäßig öffentlich den Kopf, in welche Weltgegend sie Soldaten schicken kann - Afrika, Ostasien, Irak. Von Brunnenbohren und Bau von Mädchenschulen, wovon Grüne und SPD schwärmten, als sie 2001 beschlossen, Bomben auf Afghanistan regnen zu lassen, ist keine Rede mehr. Unverhüllt wird der Krieg gegen Rußland geprobt und der gegen China langfristig vorbereitet.

Das neuartige Corona-Virus führt hierzulande zu Probeläufen von Notstandsübungen aller Art, das Manöver "Defender 2020" gegen Rußland aber wird weitergeführt - es kommen nur nicht mehr als 20.000 US-Soldaten über den Atlantik, sondern weniger. Denn: Der Mann im Weißen Haus hat entdeckt, daß es sich um ein "ausländisches Virus" handelt. Er hätte seinen geistigen Horizont nicht besser verdeutlichen können. Tatsache ist, daß die USA relativ wenige Testlabore haben und viele US-Bürger sich keinen Arztbesuch leisten können. Deswegen blieben die offiziellen Fallzahlen in "Gottes eigenem Land" niedrig, nur die Todesrate der Infizierten erreicht seltsamerweise Rekordhöhen.

Der Frieden, nach außen wie im Innern, ist zum diesjährigen Jahrestag des Sieges über den Faschismus mehr gefährdet als vor zehn Jahren. Die Ursache dafür hat Klaus Steiniger damals benannt: Das System, das Hitler und seinen Verbrecherstaat hervorbrachte, wurde von den Westalliierten intakt gelassen. Nun geht die Saat auf.

Arnold Schölzel

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Mehr Militäreinsätze oder Frieden?

Eine wichtige Rolle hat auf der diesjährigen Münchner Sicherheitskonferenz (14.-16. Februar) die Debatte um einen beginnenden "Abstieg" des Westens gespielt. Außenminister Heiko Maas etwa konstatierte nicht nur "die schrumpfende strategische Bedeutung Europas nach dem kalten Krieg", sondern auch, "daß die Ära des omnipräsenten amerikanischen Weltpolizisten für alle sichtbar zu Ende geht". "In diese geopolitische Lücke, die vor allem im Nahen und Mittleren Osten im Moment sichtbar wird, drängen andere", äußerte Maas - "Länder wie Rußland, die Türkei oder Iran"; daher werde "über die Zukunft des Nahen Ostens" heute "auch in Astana oder Sotschi entschieden anstatt in Genf oder New York". Frankreichs Präsident Emmanuel Macron beklagte ebenfalls "eine Schwächung des Westens", die auch daraus resultiere, daß die Politik der Vereinigten Staaten bereits seit Jahren "einen gewissen Rückzug und ein Überdenken ihrer Beziehung zu Europa" beinhalte. Die nach München gereisten US-Politiker freilich wiesen jeden Gedanken an eine Schwächung des Westens zurück. "Der Westen gewinnt, und wir gewinnen gemeinsam", erklärte US-Außenminister Mike Pompeo.

Während Pompeo mehr "Vertrauen in die transatlantische Allianz" einforderte, sprachen sich deutsche und französische Politiker für eine aggressivere EU-Außen- und Militärpolitik aus. Macron plädierte dafür, deutlich schneller als bisher eine "Souveränität auf europäischer Ebene" zu schaffen. Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer forderte, "die Wirkung der deutschen und europäischen Sicherheitsund Verteidigungspolitik" müsse "größer", "unser Handeln international besser abgestimmt und deutlicher sichtbar werden". Außenminister Maas bekräftigte, die Bundesrepublik sei "bereit, sich stärker zu engagieren, auch militärisch". "Deutsche Sicherheit" werde heute nicht nur "am Hindukusch" verteidigt, sondern auch "im Irak, in Libyen und im Sahel". Zuvor hatte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier erklärt, "für Deutschland" sei "die Entwicklung einer verteidigungspolitisch handlungsfähigen EU ... unabdingbar". Auch Wolfgang Ischinger, Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz, ließ sich mit der Aussage zitieren: "Das Militärische sollte man als ein Instrument unter mehreren im Instrumentenkasten haben."

Eine "schlagkräftige Diplomatie" verlange dies. Dazu wurden in München konkrete Optionen für künftige Auslandseinsätze diskutiert. Zu der Frage, was geschehen könne, sollte der Aufstieg Deutschlands zur Weltmacht mit Hilfe der EU nicht gelingen, hatte sich Bundespräsident Steinmeier bereits zu Beginn der Münchner Konferenz geäußert. "Europa" sei fraglos "der unabdingbare Rahmen für unsere Selbstbehauptung in der Welt", hatte Steinmeier konstatiert: Die Union sei "die einzige gelungene Antwort auf die Herausforderungen unserer Geschichte und Geographie". "Scheitert das europäische Projekt, dann stehen die Lehren der deutschen Geschichte in Frage."

Die Naturfreunde Deutschlands warnten nach der Konferenz, Aufrüstung verschärfe die Konflikte, beseitige aber nicht deren Ursachen. Michael Müller, Bundesvorsitzender der Naturfreunde, konstatiert: "Daß viele der dort anwesenden Politiker und Militärs angesichts der immer schwieriger werdenden Weltlage nun vor allem aufrüsten wollen, ist ein Rückfall in die Militarisierung der Weltpolitik."

74,9 Prozent der weltweiten Rüstungsausgaben entfallen auf zehn Länder, wobei Deutschland nach Angaben des Stockholmer Friedensforschungsinstituts SIPRI fast 55 Milliarden Euro für Rüstung ausgibt. "Wenn der neue Fetisch, die Rüstungsausgaben auf zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu steigern, tatsächlich umgesetzt wird, steigt Deutschland je nach Berechnungsmethode auf Platz drei oder vier in der Rangliste der Länder mit den höchsten Militärausgaben auf", so Müller. Insbesondere unter den aktuellen Herausforderungen des Klimawandels und der sozialen Polarisierung ist unsere immer schneller zusammenwachsende Welt auf Gegenseitigkeit, Frieden und Entspannung angewiesen. "Die verantwortlichen Politiker müssen zur Vernunft kommen, bevor es zu spät ist."

Gestützt u. a. auf german-foreign-policy.com

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Aufruf des OKV zum 8. Mai

Gemeinsam mit den fortschrittlichen Kräften in Deutschland begehen wir am 8. Mai 2020 den 75. Jahrestag der Befreiung vom Faschismus. Wir verbinden dieses geschichtsträchtige Datum mit dem Dank an unsere Befreier, besonders an die Angehörigen der Sowjetarmee. Die Sowjetunion hat mit 27 Millionen Toten und einem von den Faschisten verwüsteten Land den größten Beitrag für die Befreiung Europas geleistet. "Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg!" war eine der wichtigsten Schlußfolgerungen nach dem Sieg über das verbrecherische Deutschland.

Mit großer Sorge verfolgen wir, wie heute erneut faschistische Parteien, Organisationen und Bewegungen erstarken und von der EU und bürgerlichen Regierungen toleriert und unterstützt werden. Damit einher geht eine beispiellose antikommunistische Hetze und Geschichtsfälschung, z. B. mit der Resolution des EU-Parlaments vom September 2019, in der die Sowjetunion mitverantwortlich für den Zweiten Weltkrieg gemacht wird. Mit Sanktionen und antirussischen Parolen und Informationen wird seit Jahren ein verbaler und ein Wirtschaftskrieg gegen die Russische Föderation geführt. Der Aufmarsch von NATO-Truppen an Rußlands Grenzen, wie das gegenwärtige Manöver "Defender Europe 2020", stellt eine Provokation und ernsthafte Gefahr für den Frieden dar. Die Geschichte beweist, das russische Volk will Frieden und gute Nachbarschaft mit anderen Völkern. Unübersehbar sind die Bemühungen der Russischen Föderation und ihres Präsidenten um eine friedliche Lösung aller internationalen Konflikte.

Angesichts der von der Politik westlicher Staaten, auch der BRD, ausgehenden Gefahr von Kriegen fordern wir:

  • Aufhebung aller Sanktionen gegen Rußland
  • Rückzug der NATO-Truppe von Rußlands Grenzen
  • Frieden und Freundschaft mit Rußland

Wir demonstrieren unsere Verbundenheit und Solidarität mit Rußland, indem wir gemeinsam mit Antifaschisten und Friedensfreunden an den Gedenkveranstaltungen am Treptower Ehrenmal in Berlin teilnehmen: am 8. Mai zum Tag der Befreiung um 18 Uhr an der "Mutter Heimat" und am 9. Mai (ab 11 Uhr) zum Tag des Sieges am Hauptmonument des Ehrenmals.

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Die Militarisierung der Ostsee

Analog zur Eskalation der westlich-russischen Beziehungen hat in den letzten Jahren ein Prozeß der umfassenden Militarisierung der Region eingesetzt. Der erste Schub wurde 2014 als "Readiness Action Plan" auf dem NATO-Gipfel in Wales beschlossen und dann auch umgesetzt. Zunächst erhöhte die NATO ihre militärische Präsenz vor Ort in Form von Übungen unter, auf und über der Ostsee. Darüber hinaus wurde die "NATO Response Force" von 13.000 auf 40.000 Soldaten aufgestockt, also ein Anstieg auf 300 Prozent. Diese Truppenstruktur ist innerhalb von 5 bis 30 Tagen weltweit einsetzbar und damit die Schnelle Eingreiftruppe der NATO. Sie wurde jedoch nicht nur vergrößert, sondern auch intern umstrukturiert. Mit der "Very High Readiness Joint Task Force" (VJTF), umgangssprachlich Speerspitze genannt, gibt es jetzt innerhalb der "NATO Response Force" eine Unterorganisation, die noch schneller in jeweilige Einsatzgebiete verlegbar sein soll.

Zudem gibt es zusätzlich noch die "NATO Force Integration Units" in den potentiellen Einsatzländern. Deren Aufgabe ist es, den ankommenden NATO-Truppen im Einsatzland schnell Orientierung zu geben, sowie vor Ort Unterstützungsnetzwerke aufzubauen. Mit dem "Readiness Action Plan" wurde für Europa der Aufbau acht solcher Andockstationen beschlossen, vier davon in den östlichen Ostseeanrainern (Polen und baltische Staaten). Darüber hinaus wurden die stehenden Marinekräfte der NATO ausgebaut. In einem ersten Schritt hat die NATO also ihre Präsenz in der Ostseeregion erhöht, die Nachschubtruppen vergrößert und ihre Verlegzeiten verringert sowie an der russischen Grenze Strukturen aufgebaut, die diesen Nachschub in Empfang nehmen.

Mit jeweils einem Bataillon in Polen und den drei baltischen Staaten sind jetzt insgesamt rund 4.000 NATO-Soldaten an der Ostflanke stationiert (dazu kommen noch im Rahmen der "European Deterrence Initiative" bilateral von den USA verlegte Truppen).

2020 sollen 30 Flugzeugstaffeln, 30 Kriegsschiffe und 30 Infanterie-Bataillone (bis zu 36.000 Soldaten) plus Unterstützungskräfte "in eine Reaktionsfähigkeit von 30 Tagen oder weniger" versetzt werden. Zudem wurde ein Logistikkommando in Ulm beschlossen, das schnelle Transporte "nach, durch und aus Europa" organisieren soll, d. h. vor allem reibungslose Truppen- und Materialverlegungen nach Osteuropa.

Die Politik des NATO-Machtblocks steuert auf eine Konfrontation mit Rußland zu, seit man sich ab den frühen 90ern für die Osterweiterungen entschieden hat. Die nächste Runde der Großmacht-Konfrontation war in der Expansion von NATO und EU von Beginn an angelegt. Das veranlaßt NATO und EU damals wie heute jedoch nicht, von diesem brandgefährlichen Kurs abzulassen. Seit 2014 hat offene Konfrontation das oberflächlich friedliche, fast schon stillschweigende Ringen um Osteuropa ersetzt. 1990 verlief die Trennlinie der Einflußsphären der beiden Großmächte noch durch Deutschland. Heute ist Deutschland fest im NATO-Block verankert, und die Linie ist gut tausend Kilometer nach Osten verschoben. Viel Platz gibt es nicht mehr zum Ausdehnen: Ukraine, Moldawien, Weißrußland - und dann bleibt fast nur noch Rußland. Der Fokus der NATO verschiebt sich also von Osterweiterung zu Ostabsicherung. Schon im Jahr 2010 wurde durch bei Wikileaks veröffentlichte Depeschen des US State Department und von diversen US-Botschaften weltweit bekannt, daß die NATO unter dem Codenamen "Operation Eagle Guardian" Pläne für militärische Auseinandersetzungen mit Rußland um Polen und die baltischen Staaten angefertigt hatte. Im Zentrum dieser Pläne steht der schnelle Einsatz von neun Divisionen aus den USA, Großbritannien, Deutschland und Polen, falls es in Europa zu einem militärischen Konflikt mit Rußland kommen sollte.

Die Bundeswehr wird derzeit systematisch für großangelegte Auseinandersetzungen mit Rußland hochgerüstet: Nach gegenwärtigen Planungen soll 2023 eine erste schwere Brigade (ca. 5000 Soldaten) in die NATO eingebracht werden, 2027 dann die erste Division (10.000 bis 20.000 Soldaten), und 2031 will die Bundeswehr dann drei Divisionen "beisteuern". Darüber hinaus wird auch das Material der Bundeswehr wieder auf sogenannte Randmeerkriege, also auf eine Konfrontation mit Rußland auf der Ostsee, ausgerichtet.

All diese Soldaten und ihre Schiffe müssen koordiniert und befehligt werden. Dazu etabliert die Bundesrepublik in Rostock gerade ein neues Zentrum zur Kriegsführung auf der Ostsee, das ihren regionalen Führungsanspruch in der Region untermauern soll. Zunächst hat die deutsche Marine all ihre Kommandostrukturen räumlich und strukturell in Rostock zusammengefaßt. Bis 2025 soll dieses neue Marinekommando zu einem NATO-Marinekommando für die Ostseeregion aufgestockt werden. Dadurch versucht die Bundesregierung, sich als zentraler Akteur zu positionieren. Rostock soll zur Schaltzentrale für NATO-Aktivitäten im Baltikum werden.

Zentraler Bestandteil des Marinekommandos ist bereits und soll auch in Zukunft der Stab DEU MARFOR sein. Er wurde am 23. Januar 2019 in Dienst gestellt und ist Produkt eines Konzentrationsprozesses der Kommandostrukturen der deutschen Marine. Diese waren vor 2019 noch auf Rostock, Kiel und Wilhelmshaven und damit auch auf mehrere, kleinere Stäbe verteilt. Seit Januar sind sie jetzt im DEU MARFOR räumlich und strukturell zusammengefaßt. Allein das extra zu diesem Zweck errichtete Gebäude kostete 66 Millionen Euro, ganz zu schweigen von den Unterhaltskosten und den Kosten der multinationalen Manöver, die Rostock auch in Zukunft noch abhalten wird. Zur Zeit besteht der Stab aus 100 Posten, von denen 25 für Soldaten aus Partnerstaaten vorgesehen sind. Bis 2025 soll er jedoch auf bis zu 180 Posten, mit wiederum 75 für Partnerstaaten, anwachsen. Denn aus dem konzentrierten, nationalen Stab mit internationalem Anteil soll bis dahin eine offizielle NATO-Kommandostruktur (BMCC, Baltic Maritime Component Command) für die Ostseeregion werden. DEU MARFOR soll dabei das "Kernelement" dieses NATO-Marinekommandos bilden. Die Admirale in Rostock befehlen also in Zukunft nicht nur die gesamte deutsche Marine, sondern werden darüber hinaus auch NATO-Einsätze kommandieren. Aber nicht nur die Matrosen der NATO werden ihre Befehle in Zukunft aus Rostock erhalten. Das Marinekommando plant, auch in anderem Rahmen und "auch in anderen Regionen" multinationale Einsätze zu führen. Beispielsweise in der EU oder aber auch einfach mit den anderen Ostsee-Anrainern (ausgenommen Rußland natürlich). So etwa die im September 2019 abgehaltene Übung "Northern Coasts". Diese Militärübung findet seit 2007 jährlich statt. 2019 wurde sie vom DEU MARFOR geplant und kommandiert.

Sie gilt als erster Testlauf des neuen Stabes. Das Szenario spricht dabei Bände über die Funktion des (NATO-)Marinekommandos in der Region: Ein Staat (gemeint ist Rußland) besetzt eine Ostseeinsel und "bedroht" damit die Seewege bis in den westlichen Teil der Ostsee hinein. Gleich bei erster Gelegenheit proben die Herren in Rostock also den Kampf mit Rußland um die Kontrolle über die Ostsee. Die Seewege der Ostsee sind für die Anrainer nicht nur von wirtschaftlicher Bedeutung, sie haben darüber hinaus auch militärstrategische Relevanz: Sie sind die Verbindungslinien vom Atlantik zu den baltischen Staaten, von der NATO zu ihren östlichen Mitgliedern.

Krieg gegen Rußland, so weit ist es noch nicht. Relevanz hat das Marinekommando in Rostock jedoch schon jetzt. Schon heute organisiert es die Präsenz von Soldaten und Kriegsschiffen auf der Ostsee und treibt damit die Militarisierung der Region voran. Schon heute organisiert es die militärische Zusammenarbeit der Anrainer-, EU- und NATO-Staaten und gliedert auch gerade die "neutralen" Staaten Finnland und Schweden in den NATO-Block ein. Damit leistet es auch einen Beitrag zur militärischen Integration der EU-Staaten und treibt also die Militarisierung der EU voran. NATO und Deutschland bereiten sich auf einen Krieg mit Rußland vor, und zwar schon lange nicht mehr nur auf dem Papier. Die Bundesregierung beteiligt sich tatkräftig an dieser Kriegstreiberei. Das hat Berlin mit dem Aufbau des Marinekommandos erneut eindeutig bewiesen. Wer nicht ernsthaft über einen Krieg in Osteuropa nachdenkt, wer einen Krieg mit der Atommacht Rußland ausschließt, der braucht auch kein NATO-Marinekommando in Rostock.

Merle Weber
Gekürzt aus: "IMI-Analyse", 33/2019

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Zur Erinnerung an die Urteilsverkündung im Prozeß gegen das westdeutsche Friedenskomitee vor 60 Jahren

Für Frieden und Völkerverständigung

Die Geschichte der politischen Justiz in der Ära Adenauer wird neben dem KPD-Prozeß und dem Verbot der Freien Deutschen Jugend auch vom Verfahren gegen Mitglieder des westdeutschen Friedenskomitees überschattet. Es war am 5. Mai 1949 in Bonn gegründet worden und setzte sich vor allem für einen Friedensvertrag und Verhandlungen zwischen den alsbald entstandenen beiden deutschen Staaten und ein friedliches Verhältnis zur Sowjetunion ein. Der in jener Zeit initiierte kalte Krieg stand dieser Zielstellung im Wege. Hinzu kam, daß der erste Kanzler der Bundesrepublik eine Politik der Aufrüstung betrieb, mit der Zielstellung, die BRD in die NATO einzugliedern. Die Remilitarisierungsbestrebungen der jungen Bundesregierung nahmen sehr schnell und intensiv an Fahrt auf. Alte, bereits von den Nazis verfolgte Feindbilder lebten wieder auf. Zum Hauptfeind wurde die Sowjetunion erklärt und mit ihr alle Länder, die eine sozialistische Entwicklung anstrebten. Hierzu gehörten auch Bundesbürger, die sich diesem staatlichen Ziel widersetzten. Sie wurden entweder verfolgt, weil sie Kommunisten waren oder weil behauptet wurde, sie würden kommunistische Ziele verfolgen. Dabei zeigte sich sehr schnell, daß die bundesdeutsche Außenpolitik der damaligen Zeit von vielen Bürgern nicht gebilligt wurde und eine breite Ablehnung gegen die Wiederbewaffnung bestand. Dem wollte die Bundesregierung mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln entgegenwirken. Die Politik des "Rollback" sollte um jeden Preis durchgesetzt werden.

So überrascht es nicht, daß auch die Justiz in diesen Feldzug gegen alles, was links, demokratisch und antimilitaristisch eingestellt war, eingespannt wurde. Den Auftakt dazu bildete das eigens zu diesem Zweck geschaffene erste Strafrechtsänderungsgesetz vom 30. August 1951, welches als "Blitzgesetz" in die Geschichte einging. Es verschärfte die Strafverfolgung vor allem gegen Kommunisten und führte zur Bildung von Sondergerichten in Gestalt politischer Sonderstrafkammern. Die angestrebte Volksbefragung gegen die Remilitarisierung in der BRD wurde bereits im Frühjahr 1951 durch die Regierung untersagt. Nach dem Verbot der KPD durch Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 17. August 1956 wurde die Strafverfolgung gegen all jene ausgeweitet, die auch nur irgendwie verdächtig waren, Ziele der KPD weiterzuverfolgen oder sich für friedliche Beziehungen zu allen anderen Staaten - unabhängig von der jeweils dort herrschenden Gesellschaftsordnung - einzusetzen. So kam es dazu, daß auch Mitglieder der westdeutschen Friedensbewegung kriminalisiert wurden. Sieben von ihnen, Johannes Oberhof, Erwin Eckart, Walter Diehl, Gerhard Wohlrath, Gustav Tiefes, Erich Kompalla und Edith Hoereth-Menge, wurden beschuldigt, Rädelsführer einer verfassungsfeindlichen Organisation zu sein. Das Ermittlungsverfahren war bereits 1952 eingeleitet worden. Die Voruntersuchungen begannen allerdings erst drei Jahre später. Erst im Frühjahr 1957 wurden sie abgeschlossen, und der Generalbundesanwalt erhob am 25. November 1958 Anklage. Die Beschuldigten sollten bereits seit 1951 "fortgesetzt und gemeinschaftlich durch dieselbe Handlung a) die Bestrebung einer Vereinigung, deren Zwecke oder deren Tätigkeit sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung richten, als Rädelsführer gefördert zu haben, b) an einer Verbindung teilgenommen zu haben, deren Zweck vor der Staatsregierung geheim gehalten werden soll, und zwar als Vorsteher, c) eine Vereinigung gegründet zu haben, deren Zwecke oder deren Tätigkeit darauf gerichtet sind, strafbare Handlungen zu begehen, oder sich an einer solchen Vereinigung als Mitglied beteiligt zu haben, wobei die Angeschuldigten zu den Rädelsführern gehörten, wobei ferner die Verfehlungen zu b) und c) in der Absicht begangen wurden, die in § 88 StGB bezeichneten Verfassungsgrundsätze zu beseitigen, außer Geltung zu setzen oder zu untergraben oder eine solche Bestrebung zu fördern". Gestützt wurden diese Vorwürfe darauf, daß es sich bei dem westdeutschen Friedenskomitee um eine "von der KPD/SED organisatorisch und finanziell abhängige und gelenkte Tarnorganisation" handle, die "fortgesetzt die verfassungsmäßige Ordnung der Bundesrepublik angegriffen und zu erschüttern versucht" habe. Zum Beweis wurden zahlreiche Veröffentlichungen, vor allem Broschüren und Redetexte herangezogen, die angeblich dazu dienten, gegen den Bundeskanzler und die Bundesregierung planmäßig eine verunglimpfende Propaganda" zu betreiben und "die Verfassungsgrundlagen in der Bundesrepublik" herabzuwürdigen. Diese Zielsetzung sei verschleiert worden und ziele letztlich auf eine "Änderung der verfassungsmäßigen Ordnung" ab. Wie groß muß die Angst gewesen sein, daß die Tätigkeit des Friedenskomitees in der westdeutschen Bevölkerung breite Zustimmung findet und die von der Bundesregierung beabsichtigte Remilitarisierung nicht durchgesetzt werden kann?

Die umfangreichen Einwendungen der Angeschuldigten wurden jedoch ignoriert, und der Bundesgerichtshof hat am 10. März 1959 die Anklage zugelassen und das Hauptverfahren eröffnet. Er bestimmte die Zuständigkeit des Landgerichts Düsseldorf für die anstehende Verhandlung. Diese begann am 10. November 1959 und sollte bis zum 8. April 1960 dauern. Die Angeklagten hatten hervorragende Anwälte ausgewählt, die sie in diesem Prozeß verteidigten. Das waren Walter Ammann, Diether Posser, Heinrich Hannover, Friedrich Karl Kaul und der britische Kronanwalt Denis Nowell Pritt. Der bereits zu Beginn des Verfahrens gestellte Antrag, dieses einzustellen, weil letztlich nicht nachvollziehbar ist, worauf die Anklage fußt und was die Angeklagten eigentlich strafrechtlich Relevantes getan haben sollen, wurde durch das Gericht zurückgewiesen. Das Verfahren gegen die siebte Angeklagte Edith Hoereth-Menge wurde zuvor durch das Gericht wegen deren schlechten Gesundheitszustandes abgetrennt und vorläufig eingestellt. An insgesamt 56 Verhandlungstagen versuchte das Gericht nunmehr in einer Beweisaufnahme, die Anklagevorwürfe zu belegen. Dazu sollten zahlreiche Dokumente verlesen werden, und die Anklagebehörde bot 18 Zeugen auf. Die Verteidigung hatte insgesamt 45 Zeugen benannt, vor allem Persönlichkeiten, die sich in der Weltfriedensbewegung engagierten. Sie bestätigten, daß die angeklagten Mitglieder des westdeutschen Friedenskomitees "für eine friedliche, demokratische Entwicklung in der Bundesrepublik und für die Verständigung zwischen den Völkern, insbesondere auch für die Herstellung gutnachbarlicher Beziehungen zwischen dem deutschen Volk und den benachbarten Völkern eingetreten" sind. Doch das Gericht machte keine Anstalten, diesem Ergebnis der Beweisaufnahme folgen zu wollen. Der Essener Rechtsanwalt Dr. Posser kritisierte deshalb mit aller Schärfe: "Die verfassungsfeindliche Absicht muß doch anhand von Tatsachen festgestellt werden und nicht anhand von Thesen, die irgend jemand behauptet und die Sie nun bewußt oder unbewußt in den Vorsatz der Angeklagten hineininterpretieren ... Die erste Feststellung, die der Wahrheit dient, ist doch die: Sind denn die Erklärungen der Angeklagten und des Friedenskomitees wahr oder nicht? Wenn nämlich wahr ist, daß zum Beispiel die Regierung der Bundesrepublik Deutschland sich während der ersten Legislaturperiode bemüht hat, die Wiederaufrüstung gegen die geschriebene Verfassung durchzudrücken und damit nach Ansicht vieler Leute Verfassungsbruch betrieben hat, dann kann man nicht sagen, daß die Behauptung (des Friedenskomitees) in dieser Richtung 'systematischer Hetzfeldzug' sei ... Alle Angeklagten haben das Recht, nur dann verurteilt zu werden, wenn sie gegen das Gesetz verstoßen haben. ... Diese Feststellung, ob ein Verstoß gegen das Gesetz vorliegt, verhindern Sie durch die Ablehnung der Beweisanträge ... Ich will Ihnen offen gestehen, daß ich den Eindruck habe, daß es besser sein würde, solche Prozesse nicht in justizförmigen Verfahren durchzuführen, sondern die Angeklagten auf dem Verwaltungswege anhand und nach Lage der Akten und nach den Diensten der Zuträger in ein Lager zu sperren. Es wäre ehrlicher!"

Am 10. März 1960 kam die Staatsanwaltschaft zwar zu der Auffassung, daß die Behauptung, die Angeklagten seien Mitglieder bzw. Rädelsführer einer kriminellen Vereinigung, sich nicht bestätigt habe, gleichwohl hielt sie aber daran fest, das Friedenskomitee verfolge verfassungsfeindliche Absichten. Demgemäß sei eine Staatsgefährdung gegeben. Außerdem sei da noch die Nähe zur KPD, die sich des Friedenskomitees zur Durchsetzung ihrer verfassungsfeindlichen Ziele bediene. Auch der aus heutiger Sicht merkwürdige Vorwurf der Geheimbündelei sei gegeben. Man habe zwar das Eintreten für den Frieden propagiert, aber in Wirklichkeit sei es um "die Übertragung der sowjetzonalen Verhältnisse auf die Bundesrepublik" gegangen. So beantragte die Staatsanwaltschaft Haftstrafen, die bei vier Angeklagten für bewährungsfähig erachtet wurden.

Zwei Wochen nach dem Schlußvortrag der Staatsanwaltschaft plädierten die Verteidiger nacheinander. Sie setzten sich vor allem mit der sogenannten Übertragungstheorie auseinander und mit der Bedeutung der Erhaltung des Weltfriedens und verlangten Freispruch. Am 8. April 1960 verurteilte das Landgericht Düsseldorf fünf der Angeklagten zu Freiheitsstrafen zwischen einem Jahr und drei Monaten, die mit Ausnahme des Angeklagten Diehl, der die höchste Strafe erhielt, zur Bewährung ausgesetzt wurden. Der sechste Angeklagte erhielt eine Geldstrafe von 500 DM.

Die gegen diese Verurteilung eingelegte Revision zum Bundesgerichtshof wurde von diesem verworfen, und eine daraufhin erhobene Verfassungsbeschwerde führte auch nicht zur Aufhebung des Urteils.

Wer sich in den 50er Jahren in der BRD für die Erhaltung des Weltfriedens und gegen Militarismus und Wiederbewaffnung einsetzte, lief Gefahr, strafrechtlich verfolgt zu werden, weil immer ein Konstrukt gefunden werden konnte, um eine Nähe zur KPD herzustellen, der ihrerseits wiederum unterstellt wurde, die verfassungsmäßige Ordnung angreifen zu wollen. So erweist sich die in diese Richtung gehende Rechtsprechung jener Tage als Gesinnungsjustiz. Es sollte noch ein knappes Jahrzehnt vergehen, bis das 1951 eingeführte politische Strafrecht entrümpelt wurde. Leider sind betroffene Verurteilte trotzdem bis heute nicht rehabilitiert.

Ralph Dobrawa

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Rede auf dem internationalen Schriftstellertreffen in Sofia (1980)

Erziehung zum Frieden

Werte Freunde, zuerst ein Wort im Auftrag: Die Mitglieder des PEN-Zentrums der Deutschen Demokratischen Republik solidarisieren sich mit unserer Versammlung.

Die Arbeit für den Frieden, für die Freundschaft zwischen den Völkern, für den freien, fruchtbaren Austausch der Kulturen ist das erste und höchste Prinzip der Charta des Internationalen PEN, die wir unterschrieben haben.

Dank auch vorab, lieber Ljubomir Lewtschew, Dank unseren bulgarischen Gastgebern für alle ihre Mühen, für die Brüderlichkeit, Leidenschaft, Energie, mit der sie unsere Sache fördern!

Ich muß und will mich kurz fassen. Also, statt zu argumentieren, lasse ich meine Gedanken springen. Bitte versuchen Sie, fünfmal mitzuspringen!

Sprungbrett: Weltparlament der Völker.

Erster Sprung: Polnische Soziologen haben errechnet (Juri Bondarew erwähnte es gestern bereits): Seit Ende des 2. Weltkrieges wurden auf unserem Planeten 116 lokale Kriege geführt. Tote: 25 bis 30 Millionen. In 35 Jahren weltweite Friedenstage: nur 28; nur 28 Tage ohne Krieg ...

Zweiter Sprung: "Wissen Sie, was uns eine einzige Mittelstreckenrakete kostet? Für den Preis könnten wir jeden der acht Millionen Moskauer Bürger mit einem Kühlschrank und einer Waschmaschine versorgen!" Die bittere Rechnung, nicht ohne Traurigkeit vorgetragen, stammt aus einem verbürgten Gespräch mit einem hohen sowjetischen Staatsmann.

Dritter Sprung: Eine ähnliche Rechnung machte im Plenum ein amerikanischer Wissenschaftler auf: Für den Preis eines einzigen Atomunterseeboots der USA könnten 13 Millionen Kinder in den Entwicklungsländern eine vierjährige Grundschulausbildung erhalten ... 13 Millionen Kinder ...!

Vierter Sprung: Beim siebenstündigen Rundtischgespräch von Wissenschaftlern, Kulturschaffenden und Pädagogen hat mich der Beitrag von Professor Beljakow am tiefsten beeindruckt. Prof. Beljakow, sowjetischer Friedensforscher, arbeitet am UNESCO-Institut in Wien. Er sagte (in Kurzfassung):

"Wir müssen neue Formen der Propaganda gegen den Krieg erarbeiten und weltweit, organisiert und koordiniert, anwenden. Das Arbeitsfeld der Intellektuellen ist die Erziehung zum Frieden. Da haben wir viel nachzuholen und mehr neu zu holen ..." So gäbe es noch keine wissenschaftlichen Untersuchungen über den lebensgefährlichen Widersinn des Wettrüstens.

Prof. Beljakow machte zwei praktische Vorschläge, die mich überzeugten. Erstens schlug er vor, unter dem Patronat der UNESCO ein Buch über die Folgen des Atomkrieges zu erarbeiten und herauszugeben. Es sollte allen Ländern zur Auflage gemacht werden, das Buch als Pflichtlektüre ins Programm der Schulen aufzunehmen. Zweitens: Die Völker und ihre Regierungen sollten darauf dringen, daß die UNO eine neue internationale Rechtsnorm setzt: daß die UNO den Atomkrieg wie die Vorbereitung des Atomkrieges zum Kapitalverbrechen gegen die Menschheit erklärt.

Fünfter Sprung: Die Botschaft, die Todor Shiwkow gestern an uns gerichtet hat, überzeugt mich durch ihre Direktheit, Klarheit und Sachlichkeit.

Auch durch ihre Ruhe.

Werte Freunde!

Ich meine, die Verteidigung des Friedens verlangt von uns allen Ausdauer und Standfestigkeit, historische Geduld, besser planetarische Geduld. Und Ruhe: Ruhe im Kampf wie Ruhe in der Arbeit.

Diese große Ruhe, die aus unserer Solidarität wächst, aus unserer bewußten Gemeinsamkeit, die finde ich schön. Ich spreche von der Schönheit, weil der Begriff im Entwurf unseres "Briefes an die Schöpfer der Zukunft" so oft bemüht wird. Schön finde ich Direktheit, Klarheit und Sachlichkeit, weil sie unabdingbare Werkzeuge sind, um der Bedrohung, deren soziale Wurzeln wir kennen, Herr zu werden.

Nicht nur die Hoffnung gibt uns Flügel.

Unsere Flügel geben uns Hoffnung.

Ich denke, der Lebenswille der Menschen ist unausrottbar.

Das sollte unser Gruß nach vorn sein, an die schöpferischen Menschen kommender Generationen.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

Paul Wiens (1922-1982)
RF-Archiv

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Der Kampf geht weiter

Der Jahresbeginn war gar nicht so trist. Der Januar brachte gleich drei Veranstaltungen, die Hoffnungen wecken und Mut machen: das Treffen von Repräsentanten der Gemeinschaft Lateinamerikanischer und Karibischer Staaten (CELAC) am 8. Januar in Mexiko-Stadt, die 25. Internationale Rosa-Luxemburg-Konferenz der "jungen Welt" am 11. Januar in Berlin und das I. Welttreffen gegen den Imperialismus des Forums von São Paulo vom 22. bis 24. Januar in Caracas.

Hunderte Delegierte aus 50 Ländern versammelten sich in der Hauptstadt Venezuelas. Das Treffen stand unter der Losung "Für das Leben, die Souveränität und den Frieden". "Vom Großen Vaterland, von der Wiege Bolívars und Chávez' aus, rufen wir dem Imperialismus und seinen Lakaien zu, daß wir bereit sind, für unsere Unabhängigkeit, gegen jeden Feind, der den Fehler begeht, uns anzugreifen, zu kämpfen. Wir werden siegen!" erklärte der Präsident der Nationalen Verfassungsversammlung Venezuelas Diosdado Cabello.

"Die Kriegspolitik der USA kann man als eine globale Aktion beschreiben, die versucht, ihre Vormachtstellung auf dem Wege militärischer Stärke, begleitet von terroristischen Aktionen, Paramilitärs, einseitigen Zwangsmaßnahmen, außerterritorialen Gesetzen, Invasionen, Einrichtung militärischer Basen und weiteren Aggressionen zu sichern", erklärte der Delegierte der Intergewerkschaft Brasiliens Edson Da Silva.

"Wir brauchen eine antiimperialistische Agenda, welche die militärische Einmischung anprangert, denn sie ist eine Bedrohung für die Menschheit und für Mutter Erde", stellte Jeanette Charles, Delegierte des Komitees zur Unterstützung des Volkes der Chiapas in den USA, fest.

Die junge Sandinistin Magally Rodríguez trat für die lateinamerikanische Einheit ein, für die Comandante Hugo Chávez kämpfte und welche die Völker Kubas, Venezuelas und Nikaraguas verbindet. "Das Ziel dieses Treffens besteht doch darin, die lateinamerikanischen Bande zu verstärken, um im Großen Vaterland voranzuschreiten. Wir sind Völker im Widerstand, die für ihre Souveränität und revolutionären Programme kämpfen, um weiter voranzukommen."

In Arbeitsgruppen wurden Themen der Umweltentwicklung, der Suche nach einem vertretbaren Wirtschaftsmodell und Erfahrungen der fortschrittlichen Regierungen in der Welt als Alternative zum Neoliberalismus behandelt. Es soll ein Kampfplan erarbeitet werden, der die internationale antiimperialistische Agenda des XXI. Jahrhunderts und die Zurückdrängung der USA-Hegemonie beinhaltet. Die Teilnehmer des Treffens verabschiedeten eine Deklaration (Auszüge nebenstehend).

Am 8. Januar 2020 übernahm Mexiko in Mexiko-Stadt den Vorsitz der CELAC von Bolivien. An der Veranstaltung nahmen hohe Repräsentanten von 29 der 34 Mitgliedsländer teil. Die von Washington unterstützte Putsch-"Regierung" Boliviens war nicht anwesend. Sie hatte sich nach dem Putsch gegen Präsident Evo Morales wie Brasilien, Kolumbien und Chile der von Washington geförderten "Lima-Gruppe" angeschlossen. Diese Gruppe ruft entgegen dem Willen der Mehrheit der CELAC-Mitglieder dazu auf, die Maduro-Regierung der Bolivarischen Republik Venezuela zu stürzen.

Mexikos Präsident Andrés Manuel López Obrador (Presidente AMLO) versicherte in seiner Eröffnungsrede, daß Mexiko alles tun wird, um den Einheitsgedanken von CELAC neu zu beleben und die Gemeinschaft zu stärken. Seine Regierung sei bereit, CELAC neue Impulse zu geben und vorrangig Themen wie die Kooperation zur Überwindung der Armut in den CELAC-Ländern auf die Tagesordnung zu setzen.

Argentiniens Außenminister Felipe Solá erklärte, daß es für die Länder Lateinamerikas und der Karibik unerläßlich sei, ihre Bündnisse wiederzubeleben. Konflikte müßten in diesem Rahmen politisch gelöst werden. Nur so komme man auch in der wirtschaftlichen Integration weiter voran.

Kubas Außenminister Bruno Rodríguez erinnerte an die Proklamation des 2. CELAC-Gipfels 2014 in Havanna. Darin geht es vorrangig um die Reduzierung der Armut und die Entwicklung der Region zu einer "Zone des Friedens". An diesen Zielen müsse CELAC festhalten.

Sein Kollege Denis Moncada aus Nikaragua erklärte, daß die Versammlung eine besondere Möglichkeit bietet, um die Fortschritte, Errungenschaften und die Erschließung neuer Horizonte der Gemeinschaft wiederzubeleben und zu vertiefen. Er gratulierte Mexiko, seiner Regierung und seinem Volk zum Vorsitz dieses Forums der brüderlichen Einheit und versicherte sie der Unterstützung seines Landes.

Während des Treffens tagten die Außenminister. Ihr mexikanischer Kollege Marcelo Ebrard stellte einen Aktionsplan seiner Regierung vor. Er enthält 14 Punkte und soll in den nächsten zwei Jahren umgesetzt werden. Er stellt als Aufgaben, ein gemeinsames Luftund Raumfahrtprogramm zu entwickeln, gemeinsame Einsatzgruppen und Präventionsmaßnahmen zum Schutz vor Naturkatastrophen aufzustellen, für die nachhaltige Nutzung der Meeresressourcen zusammenzuarbeiten, den gemeinsamen Einkauf von Produkten für die Märkte der Region zu organisieren und auf dem Gebiet des Tourismus zu kooperieren.

Bereits im Januar 2015 tagte die 1. Ministerberatung des Forums China-CELAC im Großen Palast in Beijing. Sie nahm einen Fünfjahresplan der Zusammenarbeit sowie der Regeln dieser neuen bilateralen Organisation und des Beschlusses über die nächste Sitzung im Jahre 2018 in Chile an. Nach den Wahlen rechter Regierungen nach 2015 schliefen die Beziehungen ein. Ebrard erklärte nun, daß die Kooperation des Bündnisses mit China in den Bereichen Handel, Investitionen, Technologie und Ausbau der Infrastruktur wieder aufgenommen werden soll. An der nächsten Ministerberatung in Shanghai wollen 29 CELAC-Mitgliedsländer teilnehmen.

Aus den drei erwähnten Veranstaltungen ziehe ich den Schluß: Trotz aller Gefahren und Rückschläge müssen wir uns den historischen Optimismus nicht nehmen lassen. Es gibt kräftiges Potential gegen den Imperialismus. Wir müssen es nur wahrnehmen, es anerkennen und mit ihm gemeinsam handeln.

Wolfgang Herrmann
Dreesch

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Abschlußerklärung des I. Welttreffens gegen den Imperialismus

Wir Delegierte der politischen Parteien und sozialen Bewegungen, versammelt auf dem "Welttreffen gegen den Imperialismus" in Caracas, der Hauptstadt der Bolivarischen Republik Venezuela, sind nach unseren Beratungen zu folgenden Schlußfolgerungen gekommen:

Die Zukunft der Menschheit ist in großer Gefahr. Der Frieden auf dem Planeten ist infolge der militärischen Aggressionen der USA und ihrer Verbündeten sowie des tödlichen Wettrüstens, das den großen Rüstungskonzernen des militärisch-industriellen Komplexes Riesenprofite bringt, ernsthaft bedroht. Der Krieg ist der bevorzugte Mechanismus der imperialistischen Expansion, speziell der US-amerikanischen. Das sehen wir in den jüngsten regionalen Konflikten, von denen die Völker Syriens, Jemens, Iraks, Libyens, Afghanistans und die ganze Region schwer betroffen sind.

Gleichzeitig leidet die Menschheit unter den von der Gefräßigkeit des kapitalistischen Wirtschaftsmodells verursachten Verwüstungen. In seiner selbstmörderischen Ausbreitung zerstört dieses Modell die Natur durch die unersättliche Besessenheit, Profite zu maximieren. Das ist genau die Logik des kapitalistischen Systems, welche nicht nur sein weiteres Funktionieren gefährdet, sondern auch die Menschheit mit Aussterben bedroht.

Das neoliberale Modell, das die Globalisierung der großen Konzerne unter der Herrschaft der imperialistischen Staaten umsetzt, hat die Weltwirtschaft sehr verletzlich gemacht. Eine Krise folgt der anderen, die großen Finanzspekulanten beherrschen den Planeten.

Bei der Verteilung der erzeugten Reichtümer wurden Größenordnungen an Ungleichheit, Ungerechtigkeit und Ausgrenzung erreicht, die einem wachsenden Teil der Weltbevölkerung schaden. Die Geißel der Armut und des Elends betrifft Milliarden Menschen wie nie zuvor in der Geschichte der Menschheit. Zweifellos erzeugt die Entwicklung des Kapitalismus vom sozialen, politischen und ethischen Standpunkt aus unhaltbare Zustände.

Hinzu kommt eine ethische Krise, die aus der Wesensart der Marktwirtschaft entsteht, wo die nationalen Kulturen und menschlichen Werte begraben werden und die Konsumgesellschaft errichtet wird. Der Kult um die Anti-Werte des Kapitalismus trägt dazu bei, die Krise des menschlichen Daseins im derzeitigen Modell des Zusammenlebens zu vervielfachen.

Der Imperialismus ist in der Krise, was ihn aggressiver, gefährlicher und zerstörerischer macht. Vor dem Hintergrund einer unipolaren Welt bürdet uns der US-Imperialismus eine Strategie der globalen Herrschaft auf. Der geopolitische Einsatz des Weißen Hauses angesichts des Widerstandes der Völker und des Auftretens aufstrebender Kräfte besteht darin, daß es seine Vormachtstellung mittels einer neokolonialen Politik verteidigt, die darauf orientiert, sich die Naturressourcen, vor allem die energetischen Ressourcen anzueignen, die Märkte zu kontrollieren und die anderen Nationen politisch zu beherrschen.

Um die aktuelle ungerechte Weltordnung zu erhalten, verletzt der Imperialismus das Völkerrecht. Er verwandelte die Welt in eine große Bühne militärischer Operationen, entwickelt einseitige Zwangsmaßnahmen, stellt exterritoriale Gesetze auf, attackiert den Multilateralismus, verletzt die Souveränität der Nationen und unterdrückt die Selbstbestimmung der Völker. Seine arrogante Konzeption kennt keine Grenzen. Er geht, so weit ihn seine expansionistischen Interessen tragen.

Im Gleichklang mit dieser Politik greift der Imperialismus auf die militärische Intervention, die politische Destabilisierung der Regierungen, den Krieg und die Wirtschaftsblockade zurück. Seine strategische Planung konzipiert die NATO zum globalen militärischen Arm des Neoliberalismus. Zusätzlich wendet er im Rahmen seiner Doktrin des nichtkonventionellen Krieges terroristische Aktionen, die Nutzung paramilitärischer Banden, Gerichtsprozesse gegen antiimperialistische Anführer und selektiven Mord an.

Der Imperialismus stellt eine Gefahr für die Menschheit dar. Seine Praktiken werden mittels der Kulturindustrie des Kapitalismus, der transnationalen Konzerne der Kommunikation und der Nutzung der "sozialen" Netze "legitimiert". Gleichermaßen wird die Nutzung von "Big Data" zu einer gewaltigen Waffe, um das Verhalten der Bevölkerung zu verändern und ihre politischen Entscheidungen zu beeinflussen. In der Absicht, ein "einheitliches Denken" einzuführen, manipulieren die Mächtigen der Welt religiöse Überzeugungen. Sie sind bestrebt, die aktuellen Machtverhältnisse auf Kosten der Demokratie, die Einrichtung des freien Marktes, den Rassismus eurozentrischer Herkunft, die Ausgrenzung von Minderheiten, die Unterdrückung der Geschlechter und viele andere Dinge zu rechtfertigen, die den Anforderungen der Diktatur des Kapitals perfekt entsprechen.

Der neoliberale Kapitalismus stützt sich auf die Ausbeutung der Arbeiterklasse und unterdrückt einmal mehr die Frauen in der Absicht, die Profite der großen transnationalen Konzerne zu maximieren. Er nimmt der Jugend die Zukunft und vernebelt die Identität der Eingeborenen-Völker. Das beweist, daß die Lösung der großen Weltprobleme aktuell ein neues Modell des menschlichen Zusammenlebens verlangt.

In diesem Kontext erhebt sich die vielseitige und multipolare Welt mit größerer Kraft. Das politische und wirtschaftliche Erstarken solcher Mächte wie Rußland und China zusammen mit weiteren Nationen macht sie zu einem immer ernsthafteren Gegengewicht zum US-Imperialismus. Offensichtlich haben der heldenhafte Widerstand im Mittleren Osten und die Kämpfe der Völker Lateinamerikas und der Karibik die Pläne des Imperialismus gebremst und zurückgedrängt.

Noch mehr, die Erfahrungen der fortschrittlichen Regierungen in der Welt scheinen bereits eine Alternative zum Neoliberalismus zu bilden. Beispiel dafür ist die Bolivarische Revolution, die sich als eine antiimperialistische Referenz mit einer enormen Volkskraft im Rahmen der mächtigen zivil-militärischen Union und auf der Basis der Ideen des Befreiers Simón Bolívar und des Comandante Hugo Chávez erweist.

Das hat zur brutalen Attacke des US-Imperialismus auf das venezolanische Volk geführt. Das venezolanische Volk, das voller Würde und Liebe zu seinem Vaterland steht, hat seinen Kurs zum Sozialismus in zahlreichen Wahlen, welche die im Lande bestehende starke partizipatorische Demokratie widerspiegeln, bestätigt. In schwierigen Zeiten des Kampfes hat das Volk die Gefahren der US-Militärintervention, Putschversuche und Ausbrüche terroristischer Gewalt abgewehrt.

Das Beispiel Venezuelas zusammen mit Nikaragua und Kuba sowie die jüngsten Fortschritte in Argentinien und Mexiko haben das Erstarken der antiimperialistischen Kräfte bewirkt. Das könnte wiederum zum Wiedererstarken neuartiger regionaler Integrationsmechanismen (CELAC, ALBA-TPC, PETROCARIBE etc.) führen. Obwohl sich in Honduras, Paraguay, Brasilien, Ecuador, El Salvador und Bolivien der Neokolonialismus im Rahmen der Neuauflage der Monroe-Doktrin wiederbelebte, gehen die Volkskämpfe weiter.

Das "Welttreffen gegen den Imperialismus" vereinbart

  • eine einheitliche Weltplattform aufzubauen, die von den Kontinenten, Regionen, Subregionen und Ländern organisiert wird, um dem Imperialismus entgegenzutreten. Unter Beachtung der territorialen Besonderheiten wird eine entsprechende Organisationsstruktur gebildet;
  • im im Verlauf des Jahres 2020 "Kontinentaltreffen gegen den Imperialismus" durchzuführen, um einheitliche kontinentale, regionale und subregionale Plattformen zu schaffen, welche die Rahmenbedingungen für einen gemeinsamen Kampfplan gegen den Imperialismus artikulieren;
  • das "II. Welttreffen gegen den Imperialismus" nach Caracas, Hauptstadt der Bolivarischen Republik Venezuela, einzuberufen, das den Namen der einheitlichen Weltplattform definiert sowie die verschiedenen kontinentalen und regionalen Plattformen zu einem gemeinsamen Welt-Plan, der die Kämpfe der Völker verbindet, zusammenführt.

Angenommen in Caracas am 24. Januar 2020

(Übersetzung: Wolfgang Herrmann, Dreesch; redaktionell bearbeitet und gekürzt)

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Taschenspielertricks und Provokationen in Thüringen

Wir sollten uns nicht täuschen lassen. Was da in Thüringen passiert ist bzw. noch passiert, ist keine zufällig zustande gekommene Staatskrise in einem Bundesland, weil die Eitelkeit eines kleinen FDP-Politikers das Erkennen der Tragweite einer Entscheidung verhindert hat, sondern es handelt sich um einen Angriff auf alle linksgerichteten Kräfte hierzulande. Dieser Angriff war langfristig geplant und zwischen den Parteien AfD, CDU und FDP in Thüringen abgesprochen. In diese Absprachen waren die jeweiligen Berliner Führungsgremien der Parteien eingebunden. Niemand kann ernsthaft glauben, daß der bisher völlig unbekannte FDP-Politiker Kemmerich seinen Hut in den Ring wirft, ohne das mit Parteichef Lindner abgesprochen zu haben. Auch wenn Annegret Kramp-Karrenbauer immer wieder behauptet, am Agieren des Ex-CDU-Landesvorsitzenden Mike Mohring keinen Anteil zu haben, hat sie nicht verhindern können, daß die Landes-CDU gemeinsam mit der AfD stimmte, um einen Linken-Politiker aus dem Sattel zu heben. Allen Akteuren muß von Anfang an klar gewesen sein, daß ein solcher Schritt - die Wahl eines Ministerpräsidenten, der nicht Ramelow heißt - ohne die AfD nicht möglich ist.

Und dabei hat sich wieder - wie schon so oft in der deutschen Geschichte - gezeigt, daß sich die sogenannten Volksparteien, wenn es gegen linke, fortschrittliche und friedliebende Kräfte geht, auch mit dem Teufel verbünden und alle moralischen Bedenken und historischen Erfahrungen über Bord werfen. Dabei hat man keine Skrupel, eine Partei, die von Nazis und Faschisten geführt wird, mit einer linksgerichteten Partei auf eine Stufe zu stellen. Gauland, Frontmann der AfD, hat in einer seiner letzten Reden offen erklärt, daß es nur eine Frage der Zeit sei, bis die CDU zwecks gemeinsamer Politik "auf seine Partei zukomme". War das bereits ein Hinweis auf den längst abgesprochenen Deal in Thüringen?

Gegenwärtig wird mit allen propagandistischen Mitteln versucht, die These von den zwei deutschen Diktaturen, der des Faschismus und der Diktatur des Proletariats in der DDR, zu vermitteln. Beides soll gleichgesetzt, auf eine Stufe gestellt werden. Das entbehrt nicht nur jeglicher wissenschaftlicher und kulturhistorischer Grundlage, man verharmlost im nachhinein zudem die unvorstellbaren Verbrechen des Faschismus, verhöhnt die Millionen Opfer des Holocaust und das Vermächtnis derer, die gegen Krieg und Faschismus kämpften. Dies geht einher mit einer maßlosen Hetz- und Diffamierungskampagne gegen den sozialistischen Staat DDR. Leider tragen führende Politiker der Linkspartei, darunter Bodo Ramelow, mit ihrem Anschluß an antikommunistische Geschichtsbilder nicht unwesentlich dazu bei. Ganz offensichtlich wird die AfD von reaktionären Kräften, die ihre politische Heimat in der CDU, der CSU, der FDP und zum Teil auch bei den Grünen und der SPD haben, gebraucht und soll schließlich unter dem Deckmantel der Demokratie hoffähig, "koalitionsfähig" gemacht werden. Die Erfurter Ereignisse waren der Anfang einer solchen Entwicklung, vielleicht eine Generalprobe.

Es ist infam, wenn westdeutsche Politiker gebetsmühlenartig behaupten, der Schwerpunkt der AfD läge im Osten. Die Aktivitäten dieser faschistoiden Partei im Westen werden heruntergespielt oder gar nicht erst erwähnt. Man will ganz einfach unterschlagen, daß die Wurzeln der AfD und ihr Erstarken unter anderem in der nie wirklich erfolgten Bewältigung der faschistischen Vergangenheit in den alten Bundesländern zu finden sind. Mit allen möglichen Taschenspielertricks, unter Nutzung "demokratischer Spielregeln", gelingt es bereits, in Ost wie in West, das Wählerpotential der AfD zu mobilisieren.

Unsere Aufgabe sollte es sein, alle linksgerichteten, demokratischen und fortschrittlichen Kräfte zu bündeln, um gemeinsam zu bewirken, daß es nicht wie schon in den 20er Jahren einer zunächst kleinen faschistischen Partei gelingt, Terror, Krieg, Not und Elend über unser Land zu bringen.

Peter Truppel
Cottbus

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Friedrich Merz, die Medien und die Macht

Ein Mann, der laut Til Schweiger "Klartext" spricht, strebt erneut den CDU-Vorsitz an. Es geht um Friedrich Merz, der beim Deutschen Journalistenverband (DJV) für "Irritationen" gesorgt hat. Merz hatte von einer Machtverschiebung zwischen den Verbreitern und den Produzenten von Nachrichten schwadroniert. Die "herkömmlichen" Medien "brauchen wir nicht mehr". Wer ist WIR? Das hat Merz im gleichen Atemzug deutlich gemacht. Über die "sozialen Medien" könnten, so Merz, Politikerinnen und Politiker "ihre Deutungshoheit erhalten", weil sie über "eigene Kommunikationsmöglichkeiten" verfügten.

Die empörten Fragen des DJV an die Adresse Merz' sind einerseits nachvollziehbar: "Sehen Sie in uns Journalistinnen und Journalisten eine überflüssige Berufsgruppe? Glauben Sie ernsthaft, daß Videos, Tweeds und Facebook-Postings als Informationsquellen der Bürger ausreichen?" Und auch der angekündigte Widerstand des DJV gegen diese Art der "Informations"politik findet unsere Sympathie. Und jetzt das Andererseits: Hat sich namentlich in den Redaktionen jener Medien, die es als ihre vornehmste Aufgabe betrachtet haben, den Kurs der jeweils Regierenden millionenfach zu drucken und zu vertreiben, Widerstand geregt? Das Wort vom Mainstream ist ja nicht aus dem Flußbett der Spree geschöpft worden. Dennoch hat ein Teil dieser Medien gelegentlich wirklich gute, kritische Kommentare zum Thema veröffentlicht.

Natürlich schlägt das Politikern wie Friedrich Merz auf den Magen. Noch mal: Die Empörung des DJV ist berechtigt. Aber man sollte dort begreifen, daß wir in einer Klassengesellschaft leben, in der die Medien eine ganz bestimmte Rolle spielen - nämlich Tag für Tag mittels neuer oder mittels herkömmlicher Medien daran mitzuwirken, daß das (vor)herrschende Bewußtsein das Bewußtsein der Herrschenden bleibt. Nur so bleiben diese die Herrschenden.

Hans Schoenefeldt

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Als die NSDAP zum ersten Mal Regierungspartei wurde

[Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Der Beitrag wurde nicht in den Schattenblick übernommen.]

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Mörder, die sich nur wehren

[Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Der Beitrag wurde nicht in den Schattenblick übernommen.]

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Worum geht es bei der "Neuen Seidenstraße"?

In Ägypten wurde eine in Seide eingewickelte 3000 Jahre alte Mumie gefunden - vor 3000 Jahren muß der Handelsweg von China nach Ägypten also schon bestanden haben. Gehandelt wurde neben Seide während der vielen Jahrhunderte der Nutzung dieses Handelsweges Papier, Waffen, Tee, Pferde, Edelsteine und vieles mehr. Niemand sprach von einer Seidenstraße. Dieser Begriff wurde erst im 19. Jahrhundert durch den deutschen Geographen Ferdinand von Richthofen eingeführt.

Der Handel auf der "Seidenstraße" erfolgte über Tausende Jahre mehr oder weniger stark und sicher, jeweils abhängig von den herrschenden Mächten. Erst die eigene Abschottung Chinas am Ende der Ming-Dynastie (1644) führte zu einer Unterbrechung. Dann eröffneten allerdings die Europäer die "maritime Seidenstraße" um die Südspitze Afrikas nach Südchina und ganz Asien. Sie kolonialisierten Länder, führten Kriege, missionierten und brachten den Menschen im Namen ihrer christlichen Mission mehr Leid als Wohlstand.

Bereits in den 80er bis 90er Jahren des letzten Jahrhunderts kam es mit der Einführung des Containerverkehrs zu einer Neubelebung der "Seidenstraße" über die Transsibirische Eisenbahn.

An der Eröffnung des Schienenweges von China nach Europa über Kasachstan hatte ich selbst teilgenommen. Allerdings war die Wiederbelebung der Route nicht erfolgreich, da die Transportkosten im Vergleich mit dem maritimen Transport zu hoch waren. Nur in Zeiten von Störungen der Seeschiffahrt - wie während der Schließung des Suezkanals oder der verstärkten Piratenaktivitäten am Horn von Afrika - wurde die Route attraktiv.

Das Interesse an den Öl- und Erdgasvorkommen sowie an den Edelmetallen war bereits 1999 ein Motiv der USA für den "Silk Road Act" und ist noch heute ein Motiv für ihr Engagement in Afghanistan.

Auf der anderen Seite strebten die süd- und zentralasiatischen Länder eine stärkere Kooperation untereinander an, um die gewaltigen Probleme der Wasserversorgung, der Energie und Handelswege zu lösen. Aber es fehlte an Know-how und an finanziellen Mitteln. Die "Belt and Road Initiative" (One Belt, One Road, abgekürzt OBOR, "Ein Gürtel, eine Straße"), die "Neue Seidenstraße", ist Chinas Antwort auf neue Herausforderungen.

Natürlich geht das neue Vorhaben weit über die Dimensionen der alten "Seidenstraße" hinaus. Seit Beginn des 21. Jahrhunderts investiert China in verschiedenen Ländern in Infrastruktur-, Energie- und Industrieprojekte. Aber erst nach 2013 war dies strategisch ausgerichtet.

Wie jedes souveräne Land ist auch die VR China bemüht, sich weder politisch noch ökonomisch erpreßbar zu machen. Der Handel China-Europa wird zu 90 Prozent über den Seeweg durch die Straße von Malakka, am Horn von Afrika vorbei durch den Suezkanal abgewickelt. Eine Störung durch Krisen, Terroristen, Piraten oder Regierungen würde reichen, den Handel zu erschweren und China ernsthafte Schwierigkeiten zu bereiten. Klar ist auch, daß die VR China neue unabhängige Absatzmärkte sucht. Eine Volkswirtschaft dieser Dimension bedarf stabiler und verläßlicher Rohstoff- und Energiequellen. Dabei geht es nicht nur um die Lieferbereitschaft, sondern auch um Sicherheiten vor Börsenspekulationen und Dollarvorherrschaft.

Obwohl China traditionell eine Agrargesellschaft war, bedarf es weiterhin starker landwirtschaftlicher Produktions- und Importlinien. Das ist auch deshalb notwendig, weil sein Territorium nur auf ca. 20 Prozent der Fläche eine landwirtschaftliche Nutzung erlaubt. Dieser Bedarf erklärt auch chinesische Initiativen zur Kultivierung von Flächen in Zentralasien.

Steigende Transportkosten und eine stärkere Beachtung ökologischer Fragen machen es notwendig, Produktionsstätten möglichst nahe der Verbraucherzentren, wie sie in Rußland und Afrika bei gleichzeitiger Nutzung neuer Technologien entstehen, aufzubauen. Es geht um die Produktion chinesischer Erzeugnisse in Importländern, womit zugleich Jobs geschaffen werden, eine Industrie aufgebaut wird (Fiberglas-Fertigung in Ägypten, Computer-Produktion in Äthiopien) und Transportwege reduziert werden.

Die Initiative ist eine planmäßige Strukturanpassung, um vorhandene Bau- und Stahl-Überkapazitäten auszulasten. China verfügt aus der Ausbauphase als Werkstatt für die Welt über gewaltige Bau- und Stahl-Überkapazitäten. Um diese weiter zu nutzen, wurden sie für die OBOR-Initiative zur Verfügung gestellt.

Natürlich zielt Chinas Initiative auch darauf, die Unabhängigkeit vom US-amerikanisch dominierten Finanzsystem zu stärken und die eigene Währung als Handels- und Reservewährung zu etablieren. Das US-beherrschte Finanzkapital wird, wie die Embargo- und Sanktionspolitik z. B. gegenüber Rußland, Iran, Venezuela und andere Staaten zeigt, durch die USA zunehmend brutaler zur Durchsetzung hegemonialer Interessen genutzt.

Zur Realisierung der Seidenstraßen-Initiative dienen Organisationen wie die "Shanghai Organisation of Corporation", die "16+1 Initiative", das "Forum China-Afrika" und Banken wie die "Asia Infrastructure Investment Bank".

Zusammengefaßt läßt sich sagen, daß es sich einerseits um eine langfristige chinesische Wirtschaftsstrategie, andererseits um einen globalen Ansatz für ein neues, nicht von den bisher vorherrschenden Weltmächten dominiertes Wirtschafts-und Handelssystem handelt.

Die OBOR-Initiative stellt einen neuen Typus der globalen Weltordnung dar, die charakterisiert wird von

  • multilateraler Vernetzung ungleicher Wirtschaften und politischer Systeme ohne gegenseitige Einflußnahme (wie z. B. dem Wirtschaftskorridor China - Kasachstan - Turkmenistan - Iran - Türkei);
  • dem Ziel, daß sich langfristige wirtschaftliche Investitionen unabhängig von politischen Systemen (wie z. B. dem Wirtschaftskorridor China - Myanmar - Bangladesch - Indien) bewähren müssen;
  • der Sicherstellung analoger und digitaler Vernetzung von multilateralen, landseitigen Transportrouten, Produktions- und Lieferketten auf der Basis gegenseitig garantierter Stabilität und Nachhaltigkeit;
  • der Wirtschaftsförderung im Empfängerland (z. B. Äthiopien) sowie der Kreditvergabe direkt in den wirtschaftlichen Kreislauf (z. B. 60 Mrd. USD an chinesische und afrikanische Unternehmen).

An der 2.OBOR-Initiativen-Konferenz Ende April 2019 nahmen 40 Regierungschefs und Vertreter von über 130 Staaten teil - natürlich nicht die USA -, mehr als in Davos und mehr als am G-20-Gipfel.

Obwohl Deutschland und die EU gegen die chinesische Initiative polemisieren, ist Deutschland bereits ein Gewinner der Entwicklung. Der größte europäische Binnenhafen, Duisburg, stand wegen des Niedergangs der Kohle- und Stahlindustrie vor dem Aus. Heute erreichen und verlassen Duisburg wöchentlich in jeder Richtung 35 Containerzüge mit insgesamt ca. 2100 Containern. Diese Container werden in Europa weiterverteilt. Der Hafen konnte mittels der "Neuen Seidenstraße" seine Bedeutung als wichtiges europäisches Logistik-Zentrum sichern, erfährt wieder Wachstum und schafft neue Arbeitsplätze.

Der zunehmende Erfolg Chinas sowohl in seiner Wirtschaftspolitik als auch in der Ausgestaltung der internationalen Politik stellt für die westliche Welt eine Herausforderung dar. Die Auseinandersetzung um die Interpretation chinesischer Entwicklungen wird in den nächsten Jahren an Schärfe zunehmen.

Uwe Behrens
Wandlitz

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Entente-Diktat von Versailles / Locarno-Verträge / Nichtangriffspakt

Was führte zum Zweiten Weltkrieg?

Der Erste Weltkrieg wurde 1919 mit dem Versailler Vertrag beendet, der die Grundlagen für den Zweiten Weltkrieg legte. Infolge der Niederlage hatte sich die Position des deutschen Finanzkapitals verändert. Deutschland mußte Territorien an Frankreich und Polen abtreten. Danzig wurde Freie Stadt und unterstand wie das Saarland der Kontrolle des Völkerbundes. Die deutschen linksrheinischen Gebiete waren von den Siegermächten besetzt. Deutschland verlor seine Kolonien.

Die militärischen Bestimmungen des Versailler Vertrages enthielten Beschränkungen der Reichswehr auf 100.000 Mann, das Verbot schwerer Waffen, aller Militärflugzeuge, U-Boote und Tanks. Die Seekriegsflotte wurde in der Tonnage beschränkt.

Im Artikel 231 des Versailler Vertrages erklärten die Siegermächte Deutschland für schuldig, an der Eröffnung des Krieges die Verantwortung zu tragen. Das Land wurde somit haftbar gemacht für die entstandenen Kriegsschäden. Mit diesem Artikel wurden die wirtschaftlichen Festlegungen begründet und die Forderungen nach Reparationen erhoben, die zu einem zentralen Thema der internationalen Auseinandersetzungen des folgenden Jahrzehnts werden sollte.

Die Verantwortung der anderen Kriegsparteien für den imperialistischen Ersten Weltkrieg wurde völlig unter den Tisch gekehrt. Versailles wandelte den imperialistischen Krieg in einen imperialistischen Frieden um. Der Vertrag schwächte den deutschen Imperialismus und war der Weg, die Welt neu aufzuteilen. Gleichzeitig wollten die Siegermächte, einschließlich der USA, Deutschland als Bollwerk gegen Sowjetrußland aufbauen. In diesem Sinne war der Vertrag von Versailles ein Entente-Diktat, welches das deutsche Großkapital und das Junkertum zu neuen Abenteuern und Aggressionen ermutigte und dem Volk schwere Lasten aufbürdete.

Für die deutsche Wirtschaft waren folgende Grundtendenzen sichtbar: Der Versailler Vertrag ermöglichte das massenhafte Eindringen des US-Kapitals in die deutsche Wirtschaft, die Abwälzung der Kriegslasten auf die werktätigen Massen und einen schnelleren Konzentrations- und Zentralisationsprozeß von Kapital und Arbeit. Die neuartige internationale Kapitalverflechtung war eine Ursache für das schnelle Durchschlagen von Krisenerscheinungen in den USA auf Deutschland, wie in der Weltwirtschaftskrise von 1929 bis 1933 sichtbar wurde. Mit dem Ausbruch der Krise begann der Abbau der bürgerlich-parlamentarischen Demokratie in Deutschland, was den Weg zum Übergang in den Faschismus ebnete.

Insbesondere in den Locarno-Verträgen von 1925, welche die imperialistischen Großmächte abschlossen, garantierte die deutsche Seite die festgelegten Grenzen gegenüber Belgien und Frankreich. Die deutsche Ostgrenze zu Polen wurde dagegen nicht garantiert. Eine spätere "Angliederung" deutscher Gebiete im Osten wurde von den Entente-Mächten bewußt offengehalten.

Bereits am 8. Dezember 1919 hatte der Oberste Rat der Entente die provisorische Ostgrenze Polens zu Sowjetrußland mit der sogenannten Curzon-Linie deklariert.

Anfang der dreißiger Jahre begannen Großbritannien und Frankreich mit ihrer Beschwichtigungspolitik gegenüber dem Deutschen Reich, da sich der Widerstand seitens des deutschen Kapitals gegen das Versailler Vertragswerk verstärkte. Die Beschwichtigungspolitik war zugleich eine Politik, die darauf ausgerichtet war, einen Krieg gegen den Westen zu vermeiden und das Expansionsbestreben des deutschen Imperialismus gen Osten zu lenken.

Nach der Machtübergabe an den deutschen Faschismus 1933 - nicht ohne Einfluß des US-Kapitals - wurde der Prozeß der Revision des Versailler Vertragswerkes beschleunigt. Gleichzeitig forcierte das Hitlerregime die Aufrüstung.

Faschismus war keine spezifisch deutsche Erscheinung. Er entstand in einer Reihe von Ländern: in Italien, Polen, Rumänien, Bulgarien, Ungarn, Frankreich, Spanien und England. Er ist charakterisiert durch extremen Militarismus, Nationalismus, Rassismus und insbesondere Antikommunismus.

Im März 1938 erfolgte die Annexion Österreichs durch das Dritte Reich, welche dem Versailler Vertrag widersprach, aber von den Entente-Mächten geduldet wurde.

Chamberlain, Daladier, Mussolini und Hitler vereinbarten am 30. September 1938 im Münchener Abkommen die Übergabe von Teilen der Tschechoslowakei (Sudeten) an das Deutsche Reich.

"... Großbritannien und Frankreich ... kehrten ... ihrem Verbündeten den Rücken, obwohl Frankreich einen Beistandsvertrag mit der Tschechoslowakei hatte." (Wladimir Putin: Wahrheit contra Geschichtslügen, "RotFuchs" 265, S. 2; Bündnisvertrag Frankreichs mit der Tschechoslowakei vom 25. Jan. 1924)

Aber auch Polen und Ungarn beteiligten sich am Überfall und Raub tschechoslowakischer Gebiete.

Die Tschechoslowakei war übrigens zur Verhandlung in München gar nicht eingeladen. Sie wurde am 15. März 1939 vollständig zerschlagen (Protektorat Böhmen und Mähren) und dem deutschen Reich einverleibt. In der Slowakei wurde ein faschistischer Marionettenstaat installiert. Besonders dieses dunkle Kapitel der Appeasement-Politik zeigte ganz deutlich den Versuch, den faschistischen Expansionstrieb in Richtung Osten zu drängen. Das deutsche Regime bereitete seit März 1939 intensiv den Überfall auf Polen vor. Am 28. April 1939 hatte Deutschland den deutschpolnischen Nichtangriffspakt vom 26. Januar 1934 gekündigt.

Die Sowjetunion schlug Frankreich und Großbritannien unter diesen Bedingungen den Abschluß eines Beistandsabkommens vor. Beide Regierungen spielten jedoch ein doppeltes Spiel. Sie verhandelten einerseits mit der UdSSR in der Zeit vom 11. bis 21. August 1939 über den Abschluß eines Beistandsvertrages. Der kam jedoch nicht zustande, da beide westliche Verhandlungsseiten immer noch die Vorstellung hatten, den deutschen Imperialismus als Stoßtrupp gegen die UdSSR einzusetzen. Die in Polen herrschenden extrem nationalistischen Machthaber trugen zum Scheitern der Verhandlungen bei, indem sie der Sowjetunion für den Ernstfall das Durchmarschrecht durch polnische Gebiete verweigerten.

Andererseits führte die britische Regierung Geheimverhandlungen mit der deutschen Regierung über einen Nichtangriffspakt und ein Abkommen über die Aufteilung der Welt in Einflußsphären, die Rußland und China einschließen sollten. Der deutschen Regierung wurde die Preisgabe Polens angedeutet, obwohl der britische Premierminister Chamberlain am 31. März 1939 noch eine britisch-französische Garantieerklärung für Polen abgegeben hatte.

Die Sowjetunion war in einer äußerst schwierigen Lage, da sie im fernen Osten durch den japanischen Imperialismus bedroht wurde und keinen Zweifrontenkrieg führen konnte. Sie wußte, daß der deutsche Überfall auf Polen unmittelbar bevorstand. Unter diesen sehr komplizierten Umständen faßte die UdSSR den Entschluß, das Angebot des Hitler-Regimes zu einem Nichtangriffsvertrag für einen Zeitraum von zehn Jahren anzunehmen. Die sowjetischen Führer waren sich durchaus im klaren, daß der deutsche Faschismus mit seinen Verbündeten irgendwann die UdSSR angreifen wird.

Der Vertrag vom 23. August 1939 enthielt ein Zusatzprotokoll, in dem die Grenzfragen und Einflußsphären geregelt wurden. Die Sowjetunion machte deutlich, daß sie "für den Fall einer territorial-politischen Umgestaltung" nicht auf Territorien verzichtete, welche die Polen seit dem polnisch-sowjetischen Krieg (1919-1921) - abweichend von der Curzon-Linie - unrechtmäßig besetzt hielten.

Am 1. September 1939 erfolgte dann der Überfall der faschistischen Wehrmacht auf Polen. Dieses Datum wird allgemein als Beginn des Zweiten Weltkrieges dargestellt. In Wirklichkeit begann dieser Krieg bereits viel früher.

Am 16. Februar 1936 siegte in Spanien die Volksfront bei den Corteswahlen. Unter General Franco wurde am 18. Juli eine faschistische Militärrevolte in Marokko entfesselt, die auf Spanien übergriff. Die USA, Großbritannien und Frankreich verhängten eine Blockade gegen Spanien und die spanische Volksfront. Diese Entscheidung ermöglichte den spanischen Faschisten mit Unterstützung faschistischer deutscher und italienischer Truppen, die rechtmäßige Regierung militärisch zu schlagen. Spanien und das spanische Volk waren die ersten Opfer des Weltkrieges.

Dr. Ulrich Sommerfeld

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Fritz Schmenkel, "Held der Sowjetunion"

Einen Deutschen auszeichnen ist schon eine etwas ungewöhnliche Sache. Deutsche wurden von uns noch nie eingereicht ... 6
So lautete die Begründung von General Konew für sein intensives Nachfragen in einem Gespräch, zu dem der Frontkorrespondent Boris Polewoi im Frühjahr 1943 befohlen wurde. Da Polewoi einen Artikel für die "Prawda" über Fritz Schmenkel verfaßt hatte, der auf der Beschreibung eines Interviews mit ihm während der Winteroffensive 1941/1942 im Stützpunkt der Partisanenabteilung basierte, erklärte er dem Oberbefehlshaber freimütig: "Ich habe ihn für einen anständigen Kerl gehalten, und so habe ich über ihn geschrieben." Einer von General Konews Offizieren zur besonderen Verwendung, Boris Nikolajew, versuchte, ihn nach dem Gespräch zu besänftigen: "Über die Auszeichnung wird nichts in der Zeitung stehen. Es wäre zu früh. Die Losung 'Tod den deutschen Okkupanten!' (bezogen auf die Partisanenabteilung 'Tod dem Faschismus!') ist noch nicht zurückgenommen."

Fritz Schmenkel erhielt im Frühjahr 1943 gemäß einem Erlaß des Präsidiums des obersten Sowjets den ältesten sowjetischen Kampforden, den Rotbanner-Orden. Sein Name war unter den 973 veröffentlichten Ausgezeichneten in der "Iswestja" nicht zu finden - auch aus Rücksicht auf seine Familienangehörigen in Deutschland.

Viele sowjetische Kriegsberichterstatter bzw. Frontjournalisten hatten von den Grausamkeiten und Greueln des faschistischen Kriegs Zeugnis abgelegt. So auch Konstantin Simonow, der nach der Befreiung des Vernichtungslagers Lublin einen dokumentarischen Bericht über das Vorgefundene verfaßte - veröffentlicht im Oktober 1944 in der Zeitschrift "Internationale Literatur". Der Bericht Simonows (1946 erschien im SWA-Verlag in Berlin eine deutsche Ausgabe unter dem Titel "Ich sah das Vernichtungslager") war geprägt von einer antifaschistischen Haltung, von Abscheu und Zorn gegenüber der faschistischen Barbarei und von Mitgefühl für die Opfer.

Im ersten Halbjahr 1943 wurde Fritz Schmenkel in der Nähe von Moskau zu einem Speziallehrgang für Partisanen, auch aus dem Smolensker Raum, delegiert, welche die feindlichen Linien hatten durchbrechen können. Sie waren für den Einsatz im Hinterland als zukünftige Kommandeure, Kundschafter, illegale Funker und Minenleger vorgesehen. Fritz Schmenkel war der einzige Deutsche, dem der Durchbruch durch die Frontlinie gelang. Wenige Wochen zuvor war Fritz Schmenkel alleine auf sich gestellt, fast erfroren und erschöpft, einem gegnerischen Hinterhalt entkommen, nachdem er noch den Ausbruch einiger Mitkämpfer mit seinem Maschinengewehrfeuer deckte.

Während seiner Ausbildung zum Militärkundschafter hatte Fritz Schmenkel mit Genugtuung von der Gründungsversammlung des Nationalkomitees "Freies Deutschland" erfahren und das "Manifest an die deutsche Wehrmacht und an das deutsche Volk" in der ersten Wochenausgabe des Komitees gelesen. "... Wer aus Furcht, Kleinmut oder blindem Gehorsam weiter mit Hitler geht, handelt feige und hilft, Deutschland in die nationale Katastrophe zu treiben. Wer aber das Gebot der Nation höher stellt als den Befehl des 'Führers' und Leben und Ehre für sein Volk einsetzt, handelt mutig und hilft, das Vaterland vor seiner Schmach zu erretten."

Zu einer Ehefrau eines Mitkämpfers und Absolventen der Aufklärerschule Olga Kondruschenkowa, die bereits im wieder befreiten Jarzewo lebte, äußerte er: "Ich möchte mein Deutschland auch frei sehen, und will, daß meine Kinder ebenfalls erfahren, was Freiheit ist."

Fritz Schmenkel wußte sich damit an der Seite vieler anderer Antifaschisten des NKFD, ohne deren Namen zu kennen. So beispielsweise die der späteren Aktivisten der ersten Stunde in Chemnitz: Fritz Krenkel, Hans Hermsdorf und Heinrich Engelke. Von Schmenkel hörten die Aktivisten, sofern sie noch am Leben waren, in der DDR erstmalig zum 15. Jahrestag der DDR, vermutlich aus der Rede von Leonid Breshnew, dem damaligen Generalsekretär des ZK der KPdSU. In diesem Jahr verlieh das Präsidium des Obersten Sowjets an Fritz Schmenkel den Titel "Held der SU".

Am 8. September 2009 nahm der deutsche Bundestag einstimmig einen Gesetzentwurf an, mit dem sämtliche Verurteilungen wegen "Kriegsverrats" während des Zweiten Weltkrieges pauschal aufgehoben wurden. Gedenken wir seiner als eines aktiven Widerstandskämpfers gegen das Naziregime!

Fritz Schmenkel hatte sich mit seiner ihm vom Kriegsgericht vorgeworfenen Desertion bewußt gegen den Vernichtungskrieg entschieden, statt Befehlen und dem völkerrechtswidrigen "Barbarossa-Erlaß" vom 13. Mai 1941 zu gehorchen.

Sieben Tage nach seinem 28. Geburtstag, am Tag seiner Hinrichtung, übergab Schmenkel dem Wehrmachtspfarrer Eberhard Müller eine Nachricht an seine Frau. Darunter die Worte: "... Verzeiht mir den Kummer, den ich Euch zugefügt habe, weil ich den von mir selbst gewählten Weg bis zum Ende beschritten habe. Aber ich kann meine Taten auch in meiner letzten Stunde nicht bereuen ..."

Peter Blechschmidt
Chemnitz

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Die Männer von Vernet (2)

Der Schriftsteller Rudolf Leonhard wird am 27. Oktober 1889 in Lissa (heute Leszno, Polen) geboren und hätte im letzten Jahr seinen 130. Geburtstag gefeiert.

Er entstammt einer jüdischen Rechtsanwaltsfamilie. Nach dem Studium der Rechtswissenschaften in Göttingen und Berlin wird er Kriegsfreiwilliger im Ersten Weltkrieg, wandelt sich aber unter dem Druck seiner Erlebnisse zu einem entschiedenen Kriegsgegner und zum Anhänger von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg. 1918 wird er Mitglied in der USPD, beteiligt sich an der Novemberrevolution 1918, den Januar-Kämpfen 1919 und wird im gleichen Jahr Mitglied in der KPD, die er aber bereits 1921 wieder verläßt. Seit 1919 ist er freischaffender Künstler, engagiert sich in verschiedenen literarischen Zirkeln und schreibt u. a. für die "Weltbühne".

1928 nimmt er, einer Einladung Walter Hasenclevers folgend, seinen ständigen Wohnsitz in Paris. Dort ist er nach 1933 aktiv in den Schriftstellerorganisationen der deutschen Emigranten, wird zum Präsidenten des "Schutzverbandes Deutscher Schriftsteller im Exil" gewählt und leitet deren wöchentliche Zusammenkünfte im Keller des Cafés "Mephisto". Er betont 1936 in seinem Aufsatz "Die gerettete Literatur" die Funktion der Exilliteratur als "Kampfliteratur". Das Bändchen "Gedichte", das 1936, getarnt als Reclam-Band Nr. 7248, nach Deutschland geschmuggelt wird, beweist, wie stark er alles, was er in diesen Jahren schrieb, dem antifaschistischen Kampf dienstbar macht. Dazu ist auch die aufrüttelnde, in viele Sprachen übersetzte Kurzgeschichte "Das jüdische Kind" zu rechnen, eine psychologische Entlarvung faschistischer Menschenverachtung.

Sein Wirken für und mit den Emigranten trägt ihm den Ehrennamen "Mutter der Emigration" ein. Mit einem Beitrag beteiligt er sich 1938 an der "Expressionismus/Realismus-Debatte" in der Zeitschrift "Das Wort".

Nach dem Putsch Francos gegen die rechtmäßige, demokratisch gewählte Regierung in Spanien, der am 17. Juli 1936 den Spanienkrieg auslöste, studiert er intensiv die politischen Verhältnisse in Spanien. Die Ergebnisse seiner Studien liegen Ende Juli 1937 vor. Es sind 23 Novellen, denen er den Titel "Der Tod des Don Quijote" gibt. 1938 erscheint das Buch in einem Züricher Verlag. Im August 1937 fährt er, nachdem er Anfang Juli am in Madrid, Valencia und Barcelona tagenden II. Internationalen Schriftstellerkongreß zur Verteidigung der Kultur teilgenommen hat, als Delegierter des französischen Comité d'Entre Aide für zwei Monate an die militärische Front und nimmt an den Kämpfen teil. Die literarische Ausbeute dieser Zeit sind die "Spanischen Gedichte und Tagebuchblätter". Sie spiegeln seine unmittelbaren Erlebnisse wider und sind sein zweiter Beitrag zur umfangreichen Literatur zum Spanienkrieg.

Am 1. September überfällt die faschistische Wehrmacht Polen. Der Zweite Weltkrieg begann. In Frankreich werden daraufhin alle Ausländer deutscher Herkunft zwischen dem 17. und 65. Lebensjahr aufgefordert, sich registrieren zu lassen und an Sammelstellen einzufinden.

Leonhard, der seine Registrierung verweigert, wird am 11. Oktober 1939 verhaftet und zunächst in das Pariser Stadion Roland Garros gebracht. Nach erneuter Durchsuchung seiner Habe bringen ihn Gendarmen zusammen mit etwa 680 in Roland Garros festgehaltenen "Unerwünschten" - "indésirables" - in den frühen Morgenstunden des 12. Oktober 1939 mit Autobussen zum Bahnhof und verfrachteten ihn in einen Zug.

Frei notiert dazu: "Dies war mein Abschied von Paris. Wann war dies geschehen? Vor wenigen Stunden war es, daß wir im strömenden Regen, bepackt mit Koffern und Decken und Rucksäcken, in Autobusse verladen wurden, die uns durch die verdunkelte Stadt zum Bahnhof brachten."

In den frühen Nachmittagsstunden des 12. Oktober kam der Zug auf der Station Le Vernet an. "Aus dem Eisenbahnzug, der sie transportierte, entladen, fanden sie sich auf freiem Felde, in Reih und Glied aufgestellt. Auf einer Toreinfahrt war zu lesen: CAMP DU VERNET."

Das, was Bruno Frei hier notiert, traf auch auf Rudolf Leonhard zu. Am 28. November 1940 wird Leonhard in das Lager "Les Milles" überführt, wo er vom Suizid seines Freundes Walter Hasenclever am 21. Juni 1940 erfährt. Am 22. Mai 1941 ist er wieder in Le Vernet. Sein Freund Bruno Frei hat zu diesem Zeitpunkt das Lager bereits verlassen können.

In den Monaten nach dem faschistischen Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 verstärkten die französischen Behörden den Druck auf die ihnen bekannten Politemigranten wie Franz Dahlem und Heinrich Rau.

Rudolf Leonhard, der ein Visum für die USA sowie ein Ausreisevisum erlangt hatte und sich bereits auf einem Schiff befand, wird aus dem Kohlenbunker des Schiffes herausgeholt und nach Le Vernet zurückgebracht. Die faschistischen Okkupanten, als Rote-Kreuz-Helfer getarnt, übergeben den französischen Behörden laufend "Auslieferungslisten". Neben vielen bekannten Politemigranten war auf einer der Listen auch Rudolf Leonhard vermerkt. Hinter den Namen von 270 Lagerinsassen, deren Auslieferung gefordert wurde, stand als Entlassungsgrund: "nach Deutschland".

Am 18. Dezember 1941 wird er zusammen mit vielen bekannten Politemigranten, darunter Dahlem, Rau und Rudolf Breitscheid (er wurde nach seiner Auslieferung im KZ Buchenwald ermordet), im Gefängnis von Castres interniert. Im November 1942 wird es der deutschen Militärverwaltung unterstellt. Castres wird zum zentralen Auslieferungsgefängnis der Gestapo. Damit schwebten die Gefangenen von Castres in höchster Lebensgefahr. Das löste eine große internationale Solidaritätsbewegung aus, an der sich auch Heinrich Mann beteiligte, denn die nach Castres Verschleppten waren in größter Gefahr, nach Deutschland in die Fänge der Gestapo ausgeliefert und dort ermordet zu werden.

Damit begannen aber auch die intensiven Vorbereitungen für eine Flucht aus dem Gefängnis. Das war der einzige verbleibende Weg zu ihrer Befreiung, zur Rettung ihres Lebens.

Um die Jahreswende 1942/1943 faßten die Gefangenen zum zweiten Mal den Beschluß, den Ausbruch aus dem Gefängnis in Castres und den Übergang in die französische Widerstandsbewegung vorzubereiten. Nach zwei gescheiterten Versuchen gelingt die Flucht im September 1943. In den Abendstunden des 10. September 1943 verlassen 36 Gefangene, darunter 19 ehemalige Spanienkämpfer, nachdem sie erfolgreich ihre Wächter überrumpelt hatten, das Gefängnis. Rudolf Leonhard ist unter ihnen und schreibt darüber den Erlebnisbericht "Mein literarisches Meisterstück". Er findet vorübergehend in einem nahegelegenen Kloster Unterschlupf, um kurze Zeit darauf den Weg zur französischen Widerstandsbewegung "Forces Françaises de l'Intérieur" von Marseille zu finden. Unter verschiedenen Pseudonymen veröffentlicht er Widerstandsgedichte und antifaschistische Flugblätter. Den Gedichtband "Deutschland muß leben ..." beendet er mit dem Satz "Deutschland muß leben, darum muß Hitler fallen!" Am 25. August 1944 erlebt er die Befreiung von Paris, nimmt 1947 am "Ersten deutschen Schriftstellerkongreß" teil, und übersiedelt 1950, bereits schwer erkrankt, nach Berlin (DDR). Dort stirbt er am 19. Dezember 1953.

Literarische Produkte aus seiner Zeit in Le Vernet

Bruno Frei erinnert in seinem Tatsachenbericht "Die Männer von Vernet" auch daran: "Einer der 'berühmten' Verneter war der deutsche Dichter Rudolf Leonhard. Er fiel in Vernet auf, da er, wo immer er sich befand, auf einem Zettel, oft nur ein Stück Toilettenpapier, ein Gedicht in deutscher oder französischer Sprache notierte. Die Gedichte von Rudolf Leonhard über Vernet (mit einem Vorwort von Maximilian Scheer) sind gesammelt in der DDR erschienen."

Wir verdanken Rudolf Leonhard aus seiner Zeit im CAMP DE VERNET die erschütternde Tragödie "Geiseln" und das nur in Auszügen veröffentlichte "Traumbuch". Der ebenfalls in Le Vernet entstandene Gedichtzyklus "Le Vernet" soll im folgenden vorgestellt werden. Rudolf Leonhard wollte den "Band Vernet", wie er ihn gesprächsweise nannte, schon bald nach dem Krieg herausgeben. Freunde hätten ihn ermuntert, ihn erinnert, ihn gemahnt, ihn gedrängt.

Es sei umsonst gewesen. Man habe den Eindruck gewonnen, als sei er vor der schwierigen und zeitraubenden Sichtung und Auswahl zurückgeschreckt, als hätte er sich von keinem der mit unauslöschlichen Erinnerungen verknüpften Gedichte trennen können. Er habe die Originalhefte in seinem Archiv ruhen lassen und selbst die Abschriften von seiner gewiß nicht leicht lesbaren Handschrift unkorrigiert gelassen. Sicher sei, daß Le Vernet außerordentlich stark in ihm nachwirkte. Es war sein aufwühlendstes und dramatischstes Erlebnis in Frankreich. Und so sei es dazu gekommen, daß erst lange nach seinem Tod der Verlag der Nation 1961 eine "erste reiche und gewichtige Auswahl" veröffentlichen konnte.

Mit diesen Informationen macht uns Maximilian Scheer in seinem Vorwort bekannt. Er hat vergessen hinzuzufügen, daß nach einzelnen verstreuten Veröffentlichungen von Gedichten aus Le Vernet, die Rudolf Leonhard von sich aus veranlaßt hat, es Alfred Kantorowicz war, der als erster aus dem Zyklus 1947 im zweiten Heft seiner Zeitschrift "Ost und West" zehn Proben daraus vorstellt und in einem "aus dem Herzen kommenden Einführungsartikel" Leben und Werk Rudolf Leonhards würdigt. Und er hat vergessen hinzuzufügen, daß mit der ersten "repräsentativen Auswahl" mit 255 Gedichten lediglich ein reichliches Drittel des Zyklus publiziert wurde. Eine vollständige Ausgabe von Le Vernet, einem der dichterischen Hauptwerke des Exils, liegt, 67 Jahre nach seinem Tod, immer noch nicht vor.

Rudolf Leonhard wählt, im Vergleich zu dem Bericht von Bruno Frei, die literarische Form der Lyrik und verfaßt gefangen, belauert, hungernd, aber unbeugsam beinahe täglich ein Gedicht. Diese literarische Form ermöglichte ihm, im Gegensatz zu langen Prosatexten, schnell literarisch auf Ereignisse zu reagieren. Er strukturiert seine Gedichte nicht durch Zeitabschnitte wie Frei, sondern durch sechs Themenbereiche: "Das Lager", "Die Welt und ihre Geschichten", "Im großen Kampf der Massen", "Gemeinschaft", "Auslieferung" und "Flucht aufs Schiff". In seiner Gesamtheit vermittelt der Gedichtzyklus, und darin ähnelt er dem Bericht von Frei, ebenfalls eine Chronik der Ereignisse in Le Vernet in Versen. Dabei wechseln sich Ich-Perspektive und Beobachter-Perspektive ab. Zu ihrer Entstehung wurde bereits Bruno Frei zitiert.

In dem Zyklus in Versen schildert Leonhard den Alltag des Lagerlebens bis zu seiner erfolgreichen Flucht tagebuchartig. Es sind also Gelegenheitsgedichte im besten Sinn. Ihr Nachrichtenwert ist hoch und, wie der Vergleich mit Bruno Freis "Die Männer von Vernet" zeigt, sehr zuverlässig. In ihrer dokumentarischen Würde sind sie mit Freis Bericht vergleichbar.

"Le Vernet" umfaßt 636 zwischen September 1939 und Dezember 1940 datierte Gedichte. Einige stammen vermutlich aus späterer Zeit. Eine nicht bekannte Anzahl ist, bedingt durch Rudolf Leonhards unbekümmerte, nicht auf Tradierung bedachte Arbeitsweise, im Lager verlorengegangen, oft unmittelbar nach der Niederschrift. Das ist nicht verwunderlich angesichts der von Frei beschriebenen Arbeitsweise und den Materialien, die Leonhard zur Verfügung standen.

Und auch das gehört zur Entstehungsgeschichte des Zyklus': Im April 1940 war mit dem Transport der aus dem Lager Gurs überführten Spanienkämpfer ein Mann nach Le Vernet gekommen, der sich Verdienste besonderer Art erworben hat. Der Mithäftling Willy Bürger, der über eine gestochene Handschrift verfügte, hat Friedrich Wolfs "Beaumarchais" und Gedichte Rudolf Leonhards in Kleinstformat kopiert. Seine Arbeitsutensilien waren eine Stecknadel, in die er, nachdem er sie mit Kieselsteinen angeschliffen hatte, eine haarfeine Nut für die Tusche ritzt, und zurechtgeschnittenes Zigarettenpapier. Damit kopierte er in mühseliger Arbeit die genannten literarischen Werke. Der Mithäftling Rudi Feistmann opferte eine Ausgabe von Balzacs "Eugenie Grandet", in dessen weichen Saffianleder-Einband die Blättchen versteckt werden konnten. Der im Juli in die Sowjetunion abgefahrene Kommunist Anton Stießel hat sie dorthin mitgenommen, wo sie in Teilen veröffentlicht wurden.

Dr. Dirk Krüger
Wuppertal

(Teil 3 und Schluß folgt)

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Wie die Geschichte Buchenwalds verfälscht wird

Politik spielte in meinem Leben immer eine wichtige Rolle. Mein antifaschistisches Elternhaus und meine Kindheitserlebnisse haben mich geprägt. Mein Vater war in der Kommunistischen Partei und später in der SED. Er war mit Kommunisten und Sozialdemokraten befreundet, die schlimme Zeiten in Konzentrationslagern verbrachten und sich durch hohe moralische Eigenschaften auszeichneten.

Dazu gehörte die in unserer Nähe wohnende Bibliothekarin Berta Taege, die sich auch gern mit uns Kindern unterhielt. Sie war als Antifaschistin Häftling im KZ Ravensbrück, wo sie schwer gefoltert wurde, aber auch Solidarität übte und diese selbst erfuhr.

Erinnern will ich aber auch an Professor Dr. Walter Bartel, bei dem ich meine Diplomarbeit in Geschichte über die Deutschlandpolitik der Großmächte und die internationalen Beziehungen nach dem II. Weltkrieg schrieb.

Professor Bartel war viele Jahre im KZ Buchenwald inhaftiert, wo er Vorsitzender des internationalen Lagerkomitees war. Nach 1945 übernahm er gemeinsam mit dem französischen Widerstandskämpfer Pierre Durand den Vorsitz des Internationalen Buchenwaldkomitees und arbeitete einige Jahre als Staatssekretär beim ersten Präsidenten der DDR, Wilhelm Pieck. Der Präsident hatte vor allem Mitarbeiter um sich, die in Deutschland selbst aktiven Widerstand gegen die Nazis geleistet hatten und dafür in Konzentrationslager und Haftanstalten kamen.

Um den Generalsekretär des ZK der SED, Walter Ulbricht, sammelten sich Kommunisten, die in die Sowjetunion emigriert waren.

Eine weitere Gruppe bestand aus deutschen Kommunisten, Sozialdemokraten und anderen Antifaschisten, sogenannten Westemigranten, die ins westliche Ausland emigriert waren und dort gemeinsam in einem Bündnis mit den Alliierten für den Sturz des Hitler-Regimes kämpften. Zur Wahrheit gehört, daß man ihnen mißtraute und sie oft verdächtigte, mit westlichen Geheimdiensten zusammengearbeitet zu haben. Das führte nicht selten zum Verlust ihrer politischen Funktionen.

Dieser Verdacht traf auch Walter Bartel sowie die ehemaligen Mitglieder des Politbüros des ZK der SED Franz Dahlem, Paul Merker, der sogar in Haft genommen wurde, und andere.

Walter Bartel konzentrierte sich fortan auf die wissenschaftliche Arbeit, wurde Professor für deutsche Geschichte an der Karl-Marx-Universität Leipzig, Direktor des Deutschen Instituts für Zeitgeschichte in Berlin sowie Bereichsleiter für Zeitgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin.

Er beschäftigte sich wissenschaftlich mit der Rolle der Sozialdemokratie vor und während des I. Weltkrieges, mit der Zeitgeschichte nach 1945, insbesondere mit der Deutschlandpolitik der Großmächte und den internationalen Beziehungen.

Ein weiterer Forschungsschwerpunkt war eng mit seinem persönlichen Schicksal als ehemaliger Buchenwaldhäftling verbunden. Er forschte über das Konzentrationslager Buchenwald und leitete die gleichnamige Forschungsgruppe an der Humboldt-Universität.

Über seine Erlebnisse sowie über die Forschungsergebnisse sprach er vor vielen Lehrern, Hochschullehrern, Wissenschaftlern und Jugendlichen. Ein Schwerpunkt war dabei der jährlich in der Nationalen Mahn- und Gedenkstätte Buchenwald stattgefundene Weiterbildungskurs für Geschichtslehrer. An einem solchen Kurs nahm ich teil. Von den lebendigen, überzeugenden Ausführungen Walter Bartels an der Stätte seines Leidens und Kampfes waren wir Geschichtslehrer und Fachberater stark beeindruckt.

In enger Kooperation mit dem damaligen Direktor der Nationalen Mahn- und Gedenkstätte Buchenwald und ehemaligen Häftlingen wie Emil Carlebach und anderen erarbeitete er eine umfangreiche, 692 Seiten umfassende Dokumentation, die 1960 unter dem Titel "Buchenwald. Mahnung und Verpflichtung. Dokumente und Berichte" im Kongress-Verlag herausgegeben wurde. Eine Lizenzausgabe für Westdeutschland erschien im Röderberg-Verlag, Frankfurt/Main; eine nochmals erweiterte, neu bearbeitete Auflage wurde 1983 vom Deutschen Verlag der Wissenschaften verlegt.

Nach der "Wende" wurde von westdeutschen Historikern und Politikern auch das Konzept der Nationalen Mahn- und Gedenkstätte gewendet.

Bei einem Besuch der Ausstellung "Leben - Terror - Geist. KZ Buchenwald: Porträts von Intellektuellen und Künstlern" am 25. Juli 1999 in der Mahn- und Gedenkstätte vermißte ich das Buchenwald-Buch von Walter Bartel. Weder wurde in der Ausstellung auf ihn Bezug genommen noch war das Buch in der Buchhandlung der Gedenkstätte vorhanden.

Im persönlichen Gespräch mit Pierre Durand, dem Kopräsidenten des Internationalen Häftlingskomitees, erfuhr ich, daß die Bücher von Walter Bartel und Eugen Kogon "Der SS-Staat" die authentischsten Publikationen über das ehemalige KZ Buchenwald waren. Um so verwunderlicher ist es, daß diese wichtigen Veröffentlichungen in der Ausstellung fehlen - und das bis heute. In einer vom jetzigen Leiter der Gedenkstätte, Volkhard Knigge, geleiteten Diskussion brachte ich meinen Unwillen über diese Ignoranz zum Ausdruck. Überhaupt war eine krasse Verschiebung der Proportionen des antifaschistischen Widerstandes bemerkbar.

Ich mußte feststellen, daß der antifaschistische Widerstand von Kommunisten in der neu angeordneten Ausstellung fast unterschlagen, höchstens am Rande erwähnt wurde. Im Vordergrund stand nun der bürgerliche, christliche, militärische und adlige Widerstand. Noch ungeheuerlicher ist, daß Kommunisten, die im Lager die Funktion eines Kapos innehatten, nun diffamiert und beschuldigt wurden, mit der SS und der Lageraufsicht gegen die anderen Häftlinge gearbeitet und sie zur Vernichtung "freigegeben" zu haben, was eine große, infame Geschichtsfälschung darstellt.

Tatsache ist, daß sich die kommunistischen Häftlinge und das internationale Lagerkomitee unter Leitung von Walter Bartel, wo immer es möglich war, für die Rettung der Häftlinge, für die Bewahrung und Verteidigung ihrer Menschenwürde einsetzten. Ihnen schuf der ehemalige KZ-Häftling und Schriftsteller Bruno Apitz mit seinem Roman "Nackt unter Wölfen" ein bleibendes Denkmal. Der Roman wurde in der DDR zweimal eindrucksvoll verfilmt: 1960 von Georg Leopold und 1963 von Frank Beyer.

Zur Geschichtsklitterung durch die gegenwärtige Gedenkstätte Buchenwald gehört auch, daß in den Ausstellungen das KZ mit dem nach 1945 an gleicher Stelle von der sowjetischen Militäradministration eingerichteten Internierungslager für Nazis, die Verbrechen begangen hatten, gleichgestellt wird.

Dasselbe Vorgehen ist heute im Zusammenhang mit dem Holocaust, dem millionenfachen Mord an den Juden in der Zeit des Hitler-Faschismus, erkennbar. Es ist eine ungeheure Lüge, wenn behauptet wird, in der DDR wäre der Mord an den Juden geleugnet und nicht aufgearbeitet worden.

Horst Adam
Berlin

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Das Hohelied des Widerstandes

[Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Der Beitrag wurde nicht in den Schattenblick übernommen.]

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Wissenschaftliche Weltanschauung
Über die Einheit von revolutionärer Theorie und revolutionärer Praxis
Beitrag des Deutschlandsenders vom 27. Mai 1976

[Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
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Ein Bewahrer des Gewissens der Menschheit

[Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Der Beitrag wurde nicht in den Schattenblick übernommen.]

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Wir können ohne Lenin nicht schreiben, spielen, denken, dichten, malen ...

Eine große Zeit des Lernens und Begreifens ergriff unsere Republik. Brechts Satz über die Teppichweber von Kujan-Bulak: "So nützten sie sich, indem sie Lenin ehrten, und ehrten ihn, indem sie sich nützten, und hatten ihn also verstanden", und Bechers, "Er rührte an den Schlaf der Welt ..." sind selten so oft zu hören gewesen wie in diesen Tagen und wurden - gesungen und gesprochen - zu Losungen jener produktiven Ungeduld, die Lenin so sehr schätzte.

Zwei große Meister des Wortes - Brecht und Becher - beweisen, wie sehr sie Lenin verstanden hatten. Und wir, die Nachfolgenden, müssen nun wiederum von diesen Meistern lernen, was das Wichtigste ist, was es von Lenin zu lernen gibt: daß nämlich das Lernen selbst immer wieder aufs neue gelernt werden muß.

"Die konkrete Analyse der konkreten Situation", das ist der Ausgangspunkt jedes wirksam wirkenden und lebendigen Leninismus. Hierin erweist sich unsere revolutionäre Partei der Arbeiterklasse als Meisterin. Ihre Analysen, ihre Gesellschaftsprognosen, die Meisterung der wissenschaftlich-technischen Revolution und die Entwicklung der Gemeinschaft sozialistischer Menschen, dies alles ist das Feld des Leninismus auch in der künstlerischen Arbeit.

Das ist sicher kein neuer Gedanke. Mir geht es aber um etwas anderes, scheinbar weniger bedeutsam, weil, ganz einfach, unsere persönliche Arbeitspraxis als Künstler betreffend. Anders gesagt: Es geht darum, Lenins Bedeutung für die Künste nicht nur im allgemeinen zu begreifen, sondern seine Gedanken in der alltäglichen und beständigen Arbeit so zu begreifen, daß wir sie in den Griff bekommen, also daß sie uns nützen.

Wir sollten den 100. Geburtstag Lenins zum Anlaß nehmen, gerade diese unsere ganz persönliche tägliche Arbeit zu überprüfen. In der Vergangenheit haben wir es uns oft zu leicht gemacht. War von Lenin und seiner Beziehung zur Kunst die Rede, suchte man oft in den vielen Bänden seiner Werke nach, wo er sich jeweils zu den einzelnen Künsten geäußert hat. So kennen wir seine Arbeit über die Parteiliteratur, seine Arbeit über Tolstoi, seinen Briefwechsel mit Gorki. Die Filmleute wußten, wie hoch Lenin dieses Massenmedium schätzte, und die Musiker bedauerten etwas, daß er sich die Zeit versagen mußte, sich der Appassionata hinzugeben. Viele Künstler, die Lenin studierten, suchten oft nur nach Äußerungen Lenins über Kunst. So richtig das zunächst ist, so müssen wir doch hier erneut von Lenin lernen, leninistisch zu denken.

Es ist jenes dialektische Denken in Systemen oder Systemdenken, wie es Lenin in seinen Analysen über den Staat und die Revolution, über den Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus so beispielhaft praktizierte. Die Bedeutung Lenins für die Kunst nur zu reduzieren auf Lenins Äußerungen über die Kunst hieße, die Kunst außerhalb eben jenes Systems zu stellen, das wir die sozialistische Gesellschaft nennen und deren Aufbau die Werke Lenins gewidmet sind. Lenins Äußerungen zur Kunst, das ist die ganze Fülle seiner Äußerungen über die revolutionäre Bewegung unseres Jahrhunderts. Hier hat die Kunst eine universale Möglichkeit, über sich selbst nachzudenken und ihren Platz in dieser Bewegung zu ermitteln. Hier ist endgültig die Barrikade niedergerissen, die da Naturwissenschaften und Gesellschaftswissenschaften trennen soll, die die Kunst von den wissenschaftlichen Gesetzen des gesellschaftlichen Lebensprozesses angeblich trennen soll, wie die Bourgeoisie bis heute nicht müde wird, uns zu versichern. Hier liegt die große Einladung für die Kunst, teilzunehmen an der Verwissenschaftlichung unseres Lebens, nicht, indem etwa die Kunst zur Wissenschaft wird oder sich der Wissenschaft nur als Hilfsmittel bedient, sondern indem sie jenen Lebensprozeß, der bei uns die Wissenschaft mehr und mehr zur unmittelbaren Produktivkraft werden läßt, selbst zum vornehmsten Gegenstand und zur Quelle allen Genusses macht.

Lassen Sie es mich etwas vereinfacht sagen: Wir werden ohne Lenin nicht schreiben, spielen, denken, dichten, malen können, weil gerade in der Wissenschaft Lenins alle diese Tätigkeiten erst in das einheitliche System des Sozialismus integriert werden, als dessen Teil wir uns begreifen müssen. In seinem letzten Aufsatz vom 2. März 1923 sagt Lenin: "Ich schneide hier gerade die Frage der Kultur an, weil in diesen Dingen nur das als erreicht gelten darf, was in die Kultur, in das alltägliche Leben, in die Gewohnheiten eingegangen ist." Auch in unserer Kunst wird nur das leninistisch heißen können, was zur alltäglichen und bleibenden Erscheinung geworden ist.

Eine Initiative wird erst wirklich groß genannt werden können, wenn sie andere Initiativen hervorruft. Und Revolution ist nicht nur die einmalige Tat, sondern das, was von Dauer ist. Dazu wird Weisheit und Talent nötig sein, Parteilichkeit, Spaß, Überraschungen, neue Mittel und alte Mittel, erfolgreiche Resultate wie versuchte Resultate, vor allem aber die allgemein ansteckende, insofern heitere Atmosphäre unaufhörlichen Lernens. Wir alle kennen Lenins Ermahnung zu lernen, zu lernen und nochmals zu lernen. Sie ist uns zur gewohnten und vertrauten Erscheinung geworden. Gerade deshalb gestatten Sie mir, daß ich Lenin noch einmal mit seinem letzten Aufsatz zu Wort kommen lasse, wo er davor warnt, das Lernen als eine trockene Angelegenheit oder gar als eine schulmäßige Pflichtübung aufzufassen. Es klingt wie ein heiterer Vorschlag an die Kunst, wenn Lenin sagt: "Wenn ich eben geschrieben habe, daß wir in den Instituten für hohe Arbeitsorganisation usw. lernen und immer wieder lernen müssen, so heißt das durchaus nicht, daß ich dieses 'Lernen' auch nicht im geringsten schulmäßig verstehe oder daß ich mich auf den Gedanken an ein nur schulmäßiges Lernen beschränken wollte. Ich hoffe, kein einziger wahrer Revolutionär wird mich im Verdacht haben, daß ich es ablehne, unter 'Lernen' auch einmal irgendeinen halb scherzhaften Streich, irgendeinen Dreh, irgendeine Finte oder etwas von dieser Art zu verstehen. Ich weiß, in einem wohlanständigen und ernst zu nehmenden westeuropäischen Staat würde dieser Gedanke bares Entsetzen auslösen, und kein ordentlicher Beamter würde sich einverstanden erklären, solche Gedanken auch nur zur Debatte zu stellen. Doch ich hoffe, daß wir keine Bürokraten sind und daß bei uns die Erörterung solcher Gedanken mit Heiterkeit erfolgt. In der Tat, warum sollte man nicht das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden? Warum sollte man sich nicht irgendeines scherzhaften oder halb scherzhaften Streiches bedienen, um etwas Lächerliches, etwas Schädliches, etwas halb Schädliches oder halb Lächerliches usw. aufzudecken?"

Und dies ist auch wieder eine jener produktiven Überraschungen, die uns Lenin, wenn wir ihn studieren, immer wieder bereitet. Diese Zeilen über die revolutionäre Wirkung des Komischen in der Kunst finden wir nicht etwa in einer Schrift über Theater oder Literatur, sondern in einem Aufsatz über die Arbeiter-und-Bauern-Inspektion beim Aufbau der sozialistischen Großproduktion.

Bertolt Brecht, der stolz war, ein Leninist der Schaubühne genannt zu werden, sagte einmal über dieses Leninsche Lernen: "Lenin verlangte, daß jede Köchin lernen soll, den Staat zu lenken. Er hatte eine gleichzeitige Veränderung des Staates wie der Köchin im Auge. Aber man kann auch durchaus die Lehre ziehen, daß es vorteilhaft ist, den Staat als eine Küche, die Küche aber als einen Staat einzurichten."

Manfred Wekwerth
(1929-2014)

(Aus seinem Referat auf der Lenin-Tagung der Kulturschaffenden der DDR in Berlin, 1970; RF-Archiv)

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Lenins Jugend

Simbirsk gegen 1870 - "die rückständigste und hinterwäldlerischste aller Gouvernementsstädte an der Wolga", 150 Kilometer von der nächsten Eisenbahnstation entfernt -, ein Krähwinkel. Schon rein äußerlich kamen im Stadtbild die großen sozialen Unterschiede zum Ausdruck, wie sie damals nicht nur für Simbirsk, sondern für ganz Rußland typisch waren. Da gab es das vornehme Adelsviertel auf der Anhöhe der Stadt, das Viertel der reichen Kaufleute mit festen Höfen, aber auch die engen, sich windenden dunklen Gassen mit "verfallenen Häusern und Elendshütten, in denen die Fenster durch Löcher ersetzt waren". In diesem Gebiet an der Wolga, in dieser Welt krasser Gegensätze verbringt Lenin seine Kindheit und Jugend, einen entscheidenden Lebensabschnitt.

Arnold Reisberg schildert anschaulich das gesellschaftliche und familiäre Leben der Uljanows und damit die geistigen Faktoren, die den Charakter und die Weltanschauung des jungen Uljanow geformt und beeinflußt haben. Mit vielen Episoden und Details aus dem Leben Wladimir Uljanows gelingt es dem Autor, dessen Entwicklung lebendig nachzuzeichnen und Lenin vor allem dem jungen Leser menschlich näherzubringen.

Wolodja erleben wir als Jungen, der über außerordentlich gute geistige und charakterliche Anlagen verfügt. Sein harmonisches, fortschrittlich gesinntes Elternhaus, vom Autor mit sehr viel Liebe ins Bild gesetzt, trägt entscheidend zur Entfaltung dieser Anlagen bei. Aber Wolodja ist nicht nur der ausgezeichnete Schüler - er ist auch ein Kind wie jedes andere, mit guten Seiten und mit Schwächen, er spielt, lacht, ist ausgelassen und - manchmal auch jähzornig. Charakteristisch für ihn ist, mit welcher Hartnäckigkeit er an sich arbeitet, wie er beispielsweise seinem älteren Bruder Alexander nacheifert, der sich durch einen sehr ruhigen und ausgeglichenen Charakter auszeichnet. Gerade diese Seite der Persönlichkeitsentwicklung Uljanows, die Selbsterziehung, sein starker Wille, eigene Schwächen abzubauen, einmal als richtig Erkanntes zielstrebig zu verfolgen und die Einflüsse der Umwelt mit wachem Verstand kritisch zu verarbeiten, lassen ihn für junge Menschen zum Vorbild werden.

Ohne den jungen Wladimir Uljanow zu idealisieren, stellt der Autor dar, wie im Prozeß der Erziehung und Selbsterziehung jene Eigenschaften, Fähigkeiten, moralischen und weltanschaulichen Überzeugungen entstehen, welche die Persönlichkeit des späteren Führers der russischen und internationalen Arbeiterklasse charakterisieren. Zwei Schicksalsschläge, der Tod des Vaters und die Hinrichtung des Bruders Alexander, veranlaßten Wladimir Uljanow, über den Weg zu gesellschaftlichen Veränderungen in Rußland gründlich nachzudenken. Der Vater, ein überzeugter Demokrat, war seinem Ziel, die Lage des Volkes mittels Erziehungs- und Aufklärungsarbeit zu verbessern, keinen Schritt nähergekommen. Und auch die Methode des anarchistischen individuellen Terrors, der sich Alexander verschworen hatte, schien dem jungen Wladimir Iljitsch untauglich. Von nun an suchte Wladimir ganz bewußt und zielstrebig einen Weg, der es ermöglichen würde, das Tor zu einem besseren Leben aufzustoßen.

Reisberg zeigt, wie sich Wladimir aufgrund seiner eigenen Erfahrungen und durch intensives kritisches Studium der fortschrittlichsten geistigen Strömungen Rußlands zum Marxismus durcharbeitet. Stationen hierbei sind das Jurastudium in Kasan und Samara, sein Verbannungsaufenthalt in dem Dörfchen Kokuschkini und seine Tätigkeit als Rechtsanwaltsassistent in Samara, wo er bereits an der Spitze der dortigen marxistischen Gruppen steht.

Der weltanschauliche Reifeprozeß und die Begeisterung, mit der sich Lenin zu den neuen Ideen bekennt, werden überzeugend und voller Leben in anschaulichen und jugendgemäßen Episoden vorgeführt. Der Autor schließt seine Schilderung der Jugendjahre Lenins mit dessen Übersiedlung nach Petersburg im Jahre 1893. Es drängt ihn jetzt mit ganzer Energie, seine Kenntnisse und Fähigkeiten im Kampf der Arbeiterklasse, die gerade in Petersburg eines ihrer entwickeltsten Zentren hat, zu erproben.

Dieses Buch ist für einen weiten Leserkreis, vor allem aber für junge Menschen, hochinteressant, gibt es doch Antwort auf die Frage nach der Entwicklung eines Menschen zum Revolutionär. Das ist der rote Faden für die vorliegende Darstellung der jugendlichen Reifejahre Lenins.

Fußnoten und Personenregister gestatten auch dem Laien, die gesellschaftlichen Verhältnisse im damaligen zaristischen Rußland voll zu erfassen. Die Anschaulichkeit und Lebendigkeit der Darstellung wird durch den Bildanhang noch verstärkt.

Arnold Reisberg: Lenins Jugend. Verlag Neues Leben, Berlin 1973. 256 S.

Ilona Schleicher
(RF-Archiv)

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Meine Bekanntschaft mit Lenin

[Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
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Lenins Bericht an den X. Parteitag der KPR (B)

Wladimir Iljitsch Uljanow (Lenin) wurde am (10.) 22. April 1870 in Simbirsk (heute Uljanowsk) geboren und starb am 21. Januar 1924 in Gorki bei Moskau.

Mit seinem Leben und Wirken ist wesentlich der weltgeschichtliche Übergang von der Epoche des Imperialismus als höchstem Stadium des Kapitalismus zum Sozialismus als niederer Entwicklungsphase der kommunistischen Gesellschaftsformation verbunden. Lenin rührte sozusagen an den Schlaf der Welt und erschütterte durch die theoretische und praktische Organisierung der Russischen Oktoberrevolution 1917 dieses große nachhaltige Ereignis. Dieser Tatsache lagen geschichtliche Voraussetzungen zugrunde, die Lenin schöpferisch nutzte.

Übrigens wären auch der Sturz der feudalen Monarchie durch die deutsche Novemberrevolution 1918 und die Gründung der bürgerlichen Republik durch die Nationalversammlung in Weimar 1919 nicht ohne die von Lenin geführte Oktoberrevolution 1917 und die Errichtung der Räte-Macht möglich gewesen (auch in Deutschland gab es in Deutschland 1918/1919 den von Sozialdemokraten unter Friedrich Ebert gebildeten Rat der Volksbeauftragten). Das deutsche Wort "Rat" lautet in der russischen Sprache "Совет (Sowjet)" und kann in der deutschen Sprache auch mit Regierung ausgedrückt werden.

Hinsichtlich der theoretischen Voraussetzungen für Lenins Wirken muß man wissen, daß die russische Nation die erste war, welche Marx' "Kapital" in eine fremde Sprache übersetzt hatte: 1872 Bd. 1; 1885 Bd. 2; 1896 Bd. 3! Übersetzer war N. Danielson, mit welchem Marx und Engels in engem Kontakt standen.

Am 8. März 1921 erstattete Lenin den Bericht über die politische Tätigkeit des ZK der KPR (B) an den X. Parteitag, worin er sagte: "Und nun zu den wirtschaftlichen Fragen. Was bedeutet diese Losung von der Freiheit des Handels, die das kleinbürgerliche Element aufstellt? Sie zeigt, daß es in den Beziehungen zwischen dem Proletariat und den kleinen Landwirten schwierige Probleme und Aufgaben gibt, die wir noch nicht gelöst haben. Ich spreche von den Beziehungen des siegreichen Proletariats zu den Kleinbesitzern, wenn sich die proletarische Revolution in einem Lande entfaltet, wo das Proletariat in der Minderheit, wo die Mehrheit kleinbürgerlich ist. Die Rolle des Proletariats in einem solchen Land besteht in der Führung beim Übergang dieser Kleinbesitzer zur vergesellschafteten, kollektiven, gemeinschaftlichen Arbeit. Das steht theoretisch außer Zweifel. Mit diesem Übergang haben wir uns in einer Reihe gesetzgeberischer Akte befaßt, aber wir wissen, daß es nicht auf die gesetzgeberischen Akte, sondern auf die praktische Verwirklichung ankommt, und wir wissen, daß sich das bewerkstelligen läßt, wenn man eine starke Großindustrie besitzt, die fähig ist, dem Kleinproduzenten solche Vorteile zu bieten, daß er den Vorzug dieser Großwirtschaft in der Praxis einsieht.

So wurde die Frage theoretisch stets von den Marxisten und allen Sozialisten gestellt, die über die soziale Revolution und ihre Aufgaben nachdachten. Bei uns aber ist die erste Besonderheit gerade die, von der ich gesprochen habe und die Rußland im höchsten Grade eigen ist: Bei uns ist das Proletariat nicht nur in der Minderheit, sondern in der verschwindenden Minderheit, die Bauernschaft aber bildet die ungeheure Mehrheit. Die Verhältnisse aber, unter denen wir die Revolution verteidigen mußten, brachten es mit sich, daß sich die Lösung unserer Aufgaben als unerhört schwierig erwies. Alle Vorzüge der Großproduktion in der Praxis aufzuzeigen, vermochten wir nicht, denn diese Großproduktion ist zerstört, sie selbst muß das kläglichste Dasein fristen, und ihre Wiederherstellung ist nur möglich, wenn eben diesen kleinen Landwirten Opfer auferlegt werden. Es ist notwendig, die Industrie zu heben, dazu braucht man aber Brennstoff, und wenn man Brennstoff braucht, so muß man auch auf Holz rechnen, aber auf Holz rechnen heißt, auf den Bauer und sein Pferd rechnen. Unter den Verhältnissen der Krise, des Futtermangels und des Viehsterbens soll der Bauer der Sowjetmacht Kredit gewähren - um der Großindustrie willen, von der er einstweilen nichts erhält. Das ist die ökonomische Situation, die ungeheure Schwierigkeiten schafft, das ist die ökonomische Situation, die dazu zwingt, sich in die Bedingungen des Übergangs vom Krieg [Erster Weltkrieg; Interventions- und Bürgerkriege - E. K.] zum Frieden tiefer hineinzudenken. Während des Krieges können wir nicht anders wirtschaften, als daß wir zu den Bauern sagen: 'Es ist notwendig, dem Arbeiter-und-Bauern-Staat ein Darlehen zu gewähren, damit er aus der schweren Lage herauskommen kann.' Wenn wir alle Aufmerksamkeit auf den Wiederaufbau der Wirtschaft richten, müssen wir wissen, daß wir einen kleinen Landwirt, einen Kleinbesitzer, einen Kleinproduzenten vor uns haben, der bis zum vollen Sieg der Großproduktion, bis zu deren Wiederherstellung, für den Warenmarkt arbeitet. Diese Wiederherstellung ist aber auf der alten Basis unmöglich: das ist eine Sache von vielen Jahren, von nicht weniger als einem Jahrzehnt, bei der Zerrüttung unserer Wirtschaft wahrscheinlich noch mehr. Bis dahin werden wir lange Jahre mit diesem Kleinproduzenten als solchem zu tun haben, und die Losung des freien Handels wird unvermeidlich sein. Nicht darin liegt die Gefahr dieser Losung, daß sie als Deckmantel dient für weißgardistische und menschewistische Bestrebungen, sondern darin, daß sie trotz des Hasses dieser selben Bauernmasse gegen die Weißgardisten Verbreitung finden kann. Sie wird gerade deshalb Verbreitung finden, weil sie den ökonomischen Existenzbedingungen des Kleinproduzenten entspricht.

Von solchen Erwägungen ausgehend, hat das ZK denn auch den Beschluß gefaßt, die Ablieferungspflicht durch eine Steuer zu ersetzen [...]. Die Frage der Steuer und der Ablieferungspflicht ist in der Gesetzgebung bei uns längst, schon Ende 1918, aufgeworfen worden. Das Gesetz über die Steuer datiert vom 30. Oktober 1918. Es ist angenommen worden - dieses Gesetz, das für die Landwirte die Naturalsteuer einführt -, aber in Kraft getreten ist es nicht. Nach seiner Verkündung wurden im Laufe mehrerer Monate einige Ausführungsbestimmungen erlassen, aber es wurde bei uns nicht angewendet. Anderseits bedeutete die Beschlagnahme der Überschüsse bei den Bauern eine Maßnahme, die uns durch die Kriegsumstände mit absoluter Notwendigkeit aufgezwungen worden war, die aber halbwegs friedlichen Existenzbedingungen der bäuerlichen Wirtschaft nicht entspricht. Der Bauer muß Gewißheit haben, daß er soundso viel abzuliefern hat, aber soundso viel für seinen eigenen Umsatz auf dem lokalen Markt verwenden kann.

Unsere ganze Wirtschaft, sowohl in ihrer Gesamtheit als auch in ihren einzelnen Teilen, war ganz und gar auf die Verhältnisse der Kriegszeit eingestellt. Diesen Verhältnissen Rechnung tragend, mußten wir uns die Aufgabe stellen, eine bestimmte Menge von Lebensmitteln zu beschaffen, ohne die geringste Rücksicht darauf zu nehmen, welchen Platz das im gesellschaftlichen Umsatz einnehmen würde. Heute, wo wir von den Fragen des Krieges zu den Fragen des Friedens übergehen, beginnen wir die Naturalsteuer anders zu betrachten: Wir betrachten sie nicht nur vom Standpunkt der Sicherstellung des Staates, sondern auch vom Standpunkt der Sicherstellung der landwirtschaftlichen Kleinbetriebe. Wir müssen jene ökonomischen Formen der Empörung des kleinbäuerlichen Elements gegen das Proletariat begreifen, die zutage getreten sind und sich bei der gegenwärtigen Krise verschärfen. Wir müssen danach trachten, in dieser Beziehung das Maximum des Möglichen zu tun. Das ist für uns das allerwichtigste. Es gilt, dem Bauer die Möglichkeit einer gewissen Freiheit im Umsatz auf dem lokalen Markt zu geben, die Ablieferungspflicht durch eine Steuer abzulösen, damit der kleine Landwirt seine Produktion besser berechnen und entsprechend der Steuer den Umfang seiner Produktion bestimmen kann. Selbstverständlich wissen wir, daß das in der Lage, in der wir uns befinden, eine sehr schwer realisierbare Sache ist. Die Anbaufläche, die Ertragfähigkeit, die Produktionsmittel, alles das ist zurückgegangen, die Überschüsse sind zweifellos geringer geworden, und in sehr vielen Fällen gibt es überhaupt keine mehr. Mit diesen Verhältnissen muß man als mit einer Tatsache rechnen.

Der Bauer muß ein wenig Hunger leiden, um dadurch die Fabriken und die Städte vor dem Verhungern zu bewahren. Im gesamtstaatlichen Maßstab ist das eine durchaus verständliche Sache; daß sie aber der zersplittert lebende, verarmte Landwirt begreift - darauf rechnen wir nicht. Und wir wissen, daß man hier ohne Zwang nicht auskommen wird - ohne Zwang, auf den die verelendete Bauernschaft sehr heftig reagiert.

Man soll auch nicht glauben, daß uns diese Maßnahme vor der Krise retten wird. Aber zugleich stellen wir uns ein Maximum von Zugeständnissen zur Aufgabe, um für den Kleinproduzenten die besten Bedingungen zur Anwendung seiner Kräfte zu schaffen. Bis jetzt paßten wir uns den Aufgaben des Krieges an. Jetzt müssen wir uns den Verhältnissen der Friedenszeit anpassen. Vor diese Aufgabe sah sich das ZK gestellt; es ist die Aufgabe des Übergangs zur Naturalsteuer bei Bestehen der proletarischen Staatsmacht, und sie hängt eng mit den Konzessionen zusammen. Zu dieser Aufgabe werden Sie speziell Stellung nehmen, sie erfordert besondere Aufmerksamkeit. Die proletarische Staatsmacht kann sich durch Konzessionen eine Vereinbarung mit den kapitalistischen Staaten der fortgeschrittenen Länder sichern, und von dieser Vereinbarung hängt die Verstärkung unserer Industrie ab, ohne die wir auf dem Weg zur kommunistischen Gesellschaftsordnung nicht weiterkommen können; andererseits müssen wir es in dieser Übergangsperiode, in einem Lande mit überwiegender Bauernschaft, verstehen, zu Maßnahmen der wirtschaftlichen Sicherstellung der Bauernschaft, zu einem Maximum von Maßnahmen zur Erleichterung ihrer wirtschaftlichen Lage überzugehen. Solange wir die Bauernschaft nicht umgemodelt haben, solange die große Maschine sie nicht umgemodelt hat, muß ihr die Möglichkeit gegeben werden, frei zu wirtschaften. Die Lage, in der wir augenblicklich leben, ist zwitterhaft, unsere Revolution existiert, umgeben von kapitalistischen Ländern. Solange wir uns in einer solchen Zwitterlage befinden, sind wir genötigt, außerordentlich komplizierte Formen der gegenseitigen Beziehungen zu suchen. Wir konnten unter dem Druck des Krieges unsere Aufmerksamkeit nicht darauf konzentrieren, wie die gegenseitigen wirtschaftlichen Beziehungen zwischen der proletarischen Staatsmacht, die in ihren Händen die unerhört zerrüttete Großproduktion hält, und den kleinen Landwirten gestaltet werden sollen, wie man die Formen des Zusammenlebens mit den kleinen Landwirten finden soll, die, solange sie kleine Landwirte bleiben, ohne die Sicherstellung des Kleinbetriebs durch ein bestimmtes System des Umsatzes nicht leben können. Ich halte diese Frage gegenwärtig für die wichtigste wirtschaftliche und politische Frage der Sowjetmacht. Ich bin der Ansicht, daß sich jetzt, wo wir am Ende der Kriegsperiode angelangt sind und im Berichtsjahr den Übergang zur Friedenslage zu verwirklichen begonnen haben, in dieser Frage die politischen Ergebnisse unserer Arbeit zusammenfassen lassen.

Dieser Übergang ist mit solchen Schwierigkeiten verbunden und hat dieses kleinbürgerliche Element so klar zum Vorschein gebracht, daß man es nüchtern betrachten muß. Wir betrachten diese Reihe von Erscheinungen vom Standpunkt des Klassenkampes, und wir haben uns niemals darüber getäuscht, daß die Beziehungen des Proletariats zum Kleinbürgertum eine schwierige Frage sind, die für den Sieg der proletarischen Macht komplizierte Maßnahmen oder, richtiger gesagt, ein ganzes System komplizierter Übergangsmaßnahmen erfordert. Daraus, daß wir Ende 1918 ein Dekret über die Naturalsteuer erlassen haben, ist ersichtlich, daß die Kommunisten sich dieser Frage bewußt waren; wir konnten aber das Dekret infolge der Kriegsumstände nicht verwirklichen. Wir mußten im Zustand des Bürgerkriegs zu Maßnahmen der Kriegszeit übergehen. Es wäre jedoch ein großer Fehler, wollten wir hieraus die Schlußfolgerung ziehen, daß nur solche Maßnahmen und Beziehungen möglich seien. Das würde bestimmt den Zusammenbruch der Sowjetmacht und der Diktatur des Proletariats bedeuten. Wenn der Übergang zum Frieden unter den Verhältnissen einer Wirtschaftskrise erfolgt, muß man daran denken, daß der Aufbau des proletarischen Staates in einem Lande mit Großproduktion leichter zu verwirklichen ist als in einem Lande, in dem die Kleinproduktion überwiegt. Diese Aufgabe erfordert eine ganze Reihe von Methoden, und wir verschließen keineswegs die Augen vor diesen Schwierigkeiten und vergessen nicht, daß Proletariat und Kleinproduktion zwei verschiedene Dinge sind.

Wir vergessen nicht, daß es verschiedene Klassen gibt, daß die kleinbürgerliche anarchistische Konterrevolution die politische Vorstufe des Weißgardistentums ist. Wir müssen das mit klarem, nüchternem Blick sehen und uns bewußt sein, daß hier einerseits maximale Geschlossenheit, Standhaftigkeit und Disziplin innerhalb der proletarischen Partei und anderseits eine ganze Reihe wirtschaftlicher Maßnahmen notwendig sind, die wir einstweilen infolge der Kriegsverhältnisse nicht durchführen konnten. Wir müssen anerkennen, daß es notwendig ist, Konzessionen zu erteilen und für den Bedarf der Landwirtschaft Maschinen und Geräte zu kaufen, damit durch deren Austausch gegen Getreide zwischen dem Proletariat und der Bauernschaft solche Beziehungen hergestellt werden, die unter den Verhältnissen der Friedenszeit die Existenz der Bauernschaft sicherstellen." (LW, Bd. 32, S. 185 ff.)

Warum ist dieser lange Auszug auch heute und zukünftig nützlich?

In bezug auf den welthistorischen Übergang von der kapitalistischen zur kommunistischen Gesellschaftsformation mit ihrer niederen, der sozialistischen Phase war an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert die theoretische und praktische Entwicklung des Russen Wladimir Uljanow (Lenin) eine die Weltgeschichte maßgeblich beeinflussende Tatsache. Es ist beeindruckend zu studieren, wie schöpferisch dieser junge Mann die Erkenntnisse von Marx und Engels und praktische politische Erfahrungen der deutschen Sozialdemokratie unter komplizierten Bedingungen des russischen Reiches in den ersten zwei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts - und zwar immer im Interesse der werktätigen Bevölkerung - unter den schnell wechselnden realen nationalen und internationalen Bedingungen angewendet und weiterentwickelt hat. Der zitierte Rechenschaftsbericht an den X. Parteitag der KPR (B) ist ein Musterbeispiel dafür. Er bezeugt Lenins Fähigkeit, die sich ständig verändernden räumlichen, zeitlichen und inhaltlichen Zusammenhänge von der Oktoberrevolution bis Anfang 1921 und deren mögliche weitere Entwicklung vorurteilsfrei und sachlich im Interesse der werktätigen Massen erfassen und darlegen zu können. Das ist lehrreich hinsichtlich der damit eingeleiteten weltgeschichtlichen Epoche der Entwicklung des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus.

Prof. Dr. Eike Kopf

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Zum 125. Geburtstag Walther Victors im Friedrich-Engels-Jahr 2020

Ein Leben lang auf Spuren der Klassiker

Der Geburtstag des Mitbegründers des wissenschaftlichen Kommunismus liegt zwar erst im November (28.11.), doch ist das für uns Anlaß, an einen der Engels-Forscher zu erinnern, der sich vielfach literarisch und publizistisch mit der Persönlichkeit des Fabrikantensohnes aus Barmen beschäftigt hat: Walther Victor. Er wurde am 21. April 1895 in Bad Oeynhausen als Sohn eines Tonwaren-Fabrikanten geboren, im Todesjahr von Engels.

Beide erlebten schon als Kinder die häßlichen Gesichter des prosperierenden industriellen Kapitalismus im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts.

Wie kam ich, Jahrgang 1938, auf beide? Ich wurde als 14jähriger Schüler "Bücherausleiher" im Halberstädter staatlichen Kinderheim "Makarenko" - ja, das hatte man mir als einem der Oberschüler schon zugetraut! -, und es gab für mich nichts Spannenderes, als den Gesetzen der Natur "auf die Sprünge" zu kommen. Ich war von der Marx-Engels-Grundschule in die Käthe-Kollwitz-Schule gewechselt.

Bald hatte ich die kleine Marx-Biographie von Walther Victor gelesen (Kinderbuchverlag, Berlin 1953). Den nächsten Schritt vollzog ich in der 11. Klasse, als ich, ohne daß mich jemand dazu aufgefordert hatte, Engels' "Dialektik der Natur" und "Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen" zu lesen begann. Zwei Jahre später schrieb ich an den Schriftsteller Victor, der mich zu sich einlud.

Ein Besuch in Berlin-Pankow war 1957 die Folge. Mit einem kleinen Packen Bücher, die er mir schenkte, verließ ich das Haus in Richtung meines Regiments. Ein Buch in diesem Packen hieß "Köpfe und Herzen" (Volksverlag, Weimar 1949). Auch "Marx und Heine" lag dabei (1953). In meiner NVA-Zeit fand ich am Ende alles so spannend, daß ich mich von dem Wunsch trennte, Meteorologie zu studieren, und mich statt dessen für Germanistik und Geschichte entschied.

Jetzt begann ich, mein Leben tiefer zu begreifen, ihm auf den Grund zu gehen. Mich interessierten brennend der konfliktvolle Weg des jungen Sozialdemokraten Walther Victor in den 20er Jahren und seine Wege im Kampf gegen Krieg und Faschismus. Schon in den 20er Jahren beschäftigten ihn, angeregt von dem österreichischen Bildungspolitiker und Publizisten Josef Luitpold Stern (1886-1966), nunmehr nach dem Porträt "Mathilde" (1931), Untertitel "Ein Leben um Heinrich Heine", unbedingt zu erforschen, ob Friedrich Engels verheiratet gewesen sei oder nicht. Victor hatte schon Jahre vor seinem Exil in Archiven und Bibliotheken nach Dokumenten gesucht und 1932 das Buch "General und die Frauen" veröffentlicht (Büchergilde Gutenberg, Berlin, später in Zürich und Hamburg). Hierzu heißt es später in Victors "Köpfe und Herzen": "Das Parteiarchiv der Sozialdemokratie ließ mich wissen, daß Engels nicht verheiratet gewesen sei und daher auch keine Frau da sei, über deren Bedeutung für sein Leben man etwas zu sagen vermöchte. Als ich unter Hinweis auf das von mir gesammelte Material darauf bestand, daß diese Auffassung irrig sei, wurde ein Gutachten des offiziellen Biographen Gustav Mayer (1871-1948) herbeigeholt, der versicherte, daß man über mein Thema kaum eine volle Druckseite schreiben könne, geschweige denn ein Buch. Professor Mayer hat diesen Standpunkt später revidiert. Lange nach dem Erscheinen meines Buches gelang es mir 1937 in London an Ort und Stelle die Tatsache dokumentarisch zu belegen, daß Engels Lizzie (1827-1878) geheiratet hatte, und auf einem lange Jahre bereits nicht mehr benutzten katholischen Friedhof ihr grasüberwachsenes verwittertes Grab bloßzulegen, auf dessen Marmorsockel sich der Altmeister zu dieser Heirat mit seinem Namen bekannt hatte. Die wertvollste Hilfe hatte mir freilich bei meiner Arbeit Friedrich Engels' letzte Gefährtin geleistet, die Frau, die seine letzten fünf Lebensjahre als seine Hausgenossin und vertraute Sekretärin geteilt hatte: Louise Freyberger." - (1860-1950, geschieden 1886 von Karl Kautsky). Soweit Victor 1949.

Das DDR-Zentralantiquariat Leipzig hat 1982 "General und die Frauen" als Reprint herausgebracht. Im Nachwort betonte der Publizist Harald Wessel, daß zum Zeitpunkt der Ersterscheinung "... der riesige Fundus des Engels-Nachlasses noch weitgehend unerschlossen" war und somit das Buch kein Werk der Geschichtswissenschaft sein wollte und konnte. So sah Victor das auch. Es war "eine freie Nachzeichnung" in "Rembrandtschen Farben", eine Formulierung aus der "Neuen Rheinischen Zeitung" 1850, eine Formulierung, die Wessel ebenso zutreffend für Victor findet.

Aus heutiger Sicht ist erstaunlich, wie einfühlsam Friedrich Engels die unterschiedlichen Gefühlswelten von den aus Irland eingewanderten Geschwistern Mary (1823-1863) und Lizzie Burns (1827-1878), mit denen er in Manchester in einer Art Wohngemeinschaft zusammenlebte, wahrnimmt und nicht selten taktvoll vermittelt, wenn er Gefühlsverwirrungen erlebt. Er lernt dabei einiges an Konflikten in der harten sozialen Welt der englischen Frauen kennen. "Vom Erlebnis zur Theorie", so der Untertitel des Buches 1932, meint damit den konfliktvollen Weg des einzelnen zu einer tieferen, kämpferischen Weltsicht.

Der ehrenvolle Beiname "General" für Friedrich Engels hat seinen Ursprung in der aktiven Teilnahme Engels' 1849 im badischpfälzischen Feldzug innerhalb der bürgerlichen Revolution 1848/49. Hier erwarb er sich durch Scharfsicht und Tapferkeit den ehrenvollen Spitznamen seiner Genossen.

Mit "Goethe. Ein Lesebuch auf das Jahr 1949" (bis 1987: 37 Auflagen) begann der Thüringer Volksverlag, Weimar, eine später vom Aufbau-Verlag fortgeführte, bis 1989 reichende Klassiker-Edition, die Victor als Autor und Herausgeber begründete. Dem "Goethe" folgten Heinrich Heine, Kurt Tucholsky, Lessing, Shakespeare, Kleist und bald auch sozialistische Autoren, z. B. Brecht und Bredel - schon im ersten Jahrzehnt der DDR ein populäres Bildungsprogramm. Jedes Buch kostete nur 6,50 Mark der DDR, über Jahrzehnte!

Hier muß auch das kleine Friedrich-Engels-Porträt "Der beste Freund" (Kinderbuchverlag, 1959) genannt werden, das 1968, gemeinsam mit dem Karl-Marx-Porträt "Der Mann, der die Welt veränderte", in einem Band ("Marx und Engels. Ihr Leben und ihr Werk, aufgeschrieben für junge Leser") erschien, illustriert von Werner Klemke.

Im letzten Lebensjahrzehnt lag dem ersten Heinrich-Heine-Preisträger der DDR (1957, gemeinsam mit dem Satiriker und KZ-Buchenwaldhäftling Karl Schnog) besonders am Herzen, auf den 150. Geburtstag von Engels hinzuweisen (1970): "Morgenlicht der Erkenntnis" heißt diese kleine Schrift. Sie war schon 1965 als Sonderdruck der Parteizeitung "Das Volk", Erfurt, veröffentlicht worden und fand Aufnahme in den Band "Goethe - gestern und morgen" (Aufbau-Verlag, Berlin und Weimar 1970). Ausgehend von einem Goethe-Porträt Georg Dawes (1781-1829) beschreibt Victor die Weltsicht des 70jährigen Dichters (1819), die des "West-östlichen Divan". Victor skizziert die innere Verbindung zwischen der im frühen 19. Jahrhundert aufkommenden wirtschaftlichen und geistigen Globalisierung in Europa, Asien und Amerika, widergespiegelt in den Annäherungen der Kulturen, ihrem Austausch und ihren Anregungen. Dabei komme der klassischen Literatur und ihrem Humanismus als eine unschätzbare Quelle für die Zukunft der Menschheit eine tragende, produktive Kraft zu.

Es ist unverständlich, daß die große Weimarer Stadtbücherei in der geschichtsträchtigen Steubenstraße seit einigen Jahren nur noch vier kleine Goethe-Anekdotenbücher von Victor in ihrem Bestand hat, obgleich in Weimarer Verlagen im 20. Jahrhundert 41 Bücher von Victor erschienen sind. Der Schriftsteller wurde 1966 mit dem Literatur- und Kunstpreis der Stadt Weimar ausgezeichnet. Hier wird wie in vielen anderen ostdeutschen Bibliotheken versucht, mit den Büchern auch einen Teil unserer Geschichte auszusortieren.

Werner Voigt
Kromsdorf

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Erinnerungen an Auguste Lazar

[Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
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"Egonek" - Auf der richtigen Seite der Barrikade

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BUCHTIPS

I. Gün / B. Hopmann / R. Niemerg (Hrsg.): Gegenmacht statt Ohnmacht
100 Jahre Betriebsverfassungsgesetz.

Der Kampf um Mitbestimmung, Gemeineigentum und Demokratisierung Schon vor hundert Jahren forderten eine Million Berliner Beschäftigte in einem großen Streik "entscheidenden Einfluß auf Produktions-, Lohn- und Arbeitsverhältnisse". Sie konnten sich nicht durchsetzen.

Auch für heutige Betriebsräte ist die Frage nach ihren Rechten fundamental. Kolleginnen und Kollegen erhalten zum Beispiel Firmenhandys, über die sie zu jeder Tageszeit von ihren Vorgesetzen erreichbar sind. Oder das Unternehmen will Überstunden anordnen. Oder Arbeitsplätze werden umstrukturiert, alte Tätigkeiten fallen weg, neue Arbeiten kommen hinzu. Die Kollegen haben Angst, ihren Arbeitsplatz zu verlieren, Angst vor zusätzlichen Belastungen. Kann der Betriebsrat Maßnahmen der Betriebsleitung verhindern? Kann er sie abändern? Kann er die Folgen mildern?

Es ist das Betriebsverfassungsgesetz, in dem wir Antworten auf diese Fragen finden. Es legt fest, in welchem Umfang "Arbeitnehmerinnen" und "Arbeitnehmer" Gegenmacht aufbauen können. Seine Geschichte ist eine lange Geschichte des Klassenkampfes, bei dem allzu viele und viele grundlegende Kapitel von den Unternehmern gewonnen wurden. So können Betriebsräte bis heute nicht den Einsatz von Leiharbeitskräften verhindern, nicht die Ausgliederung von betriebsinternen Tätigkeiten an Fremdfirmen mit miserablen Löhnen, nicht Massenentlassungen, sie können nicht die Umstellung von Rüstungsproduktion auf zivile Produktion (Konversion) oder die Schaffung von umweltfreundlichen Ersatzarbeitsplätzen in der Autoindustrie (Transformation) erzwingen.

VSA-Verlag, Hamburg 2020. 160 S., 14,80 €


W. Kohlert / F. Pfäfflin: Das Werk der Photographin Charlotte Joël
Porträts von Walter Benjamin bis Karl Kraus, von Martin Buber bis Marlene Dietrich

Über Charlotte Joël (1887-1943), die Photographin vieler berühmter Porträts, ist bis heute wenig bekannt. Bis in die 30er Jahre hat sie fünfundzwanzig Jahre lang ein Atelier in der Hardenbergstraße geführt, nahe dem Berliner Bahnhof Zoo. Als Jüdin mußte sie es aufgeben; 1943 wurde sie in Auschwitz ermordet.

Viele von denen, die vor ihrer Kamera saßen, tragen große Namen: Walter Benjamin und seine Familie etwa, Martin Buber, Marlene Dietrich, die spätere Frau Theodor W. Adornos Gretel Karplus, Karl Kraus oder Gustav Landauer. Ihre liebevollen Aufnahmen von Kindern erschienen in Zeitschriften und wurden von Postkartenverlagen herausgegeben. Doch von ihr selbst ist kein Porträt überliefert.

Wer war diese Frau, die so einen bedeutenden Kundenkreis hatte? Persönliche Aufzeichnungen sind nicht bekannt. Nur in wenigen erhaltenen Briefen gibt sie etwas von sich preis.

Werner Kohlert (Autor, Kameramann und Regisseur) hat zusammengetragen, was über ihr Leben, ihre Arbeit und ihr jüdisches Schicksal in Erfahrung zu bringen war. Friedrich Pfäfflin (Verlagsbuchhändler, ehem. Leiter der Museumsabteilung des Schiller-Nationalmuseums in Marbach) hat über Jahre in öffentlichen und privaten Sammlungen ihre Photographien aufgespürt und den Werkkatalog erarbeitet.

Mit einem Essay von Werner Kohlert und einem Katalog des photographischen Werks von Friedrich Pfäfflin.
Wallstein-Verlag, Göttingen 2020. 332 S., 208 farbige Abbildungen, 24,90 €



Wolfram Wette (Hrsg.): "Hier war doch nichts!"
Waldkirch im Nationalsozialismus
(Reihe Waldkircher Stadtgeschichte)

In vielen Ortschaften, Gemeinden und Kleinstädten hört man über die NS-Zeit sagen: "Bei uns ist alles nicht so schlimm gewesen!" Oder: "Hier war doch nichts!" Aber trifft das wirklich zu? Drückt sich darin vielleicht nur eine lokale Variante der Verdrängungshaltung aus, die sich nach 1948/49 ausbreitete?

Für Waldkirch richten 27 Autorinnen und Autoren - stellvertretend für viele andere - den Blick auf das wirkliche Leben. Sie fragen: Was war denn anderswo schlimmer als hier? Wo war anderswo? Gab es im faschistischen Deutschland so etwas wie eine Insel, die von den braunen Stürmen der Zeit verschont blieb? Wie ist es zu erklären, daß es zu der Überzeugung von geringer Belastung und weitgehender Schuldlosigkeit gekommen ist?

Wie vollzog sich die Etablierung der Nazi-Diktatur? Gab es Widerstand? Wie wurde der Weltkrieg 1939 bis 1945 erlebt und verarbeitet? Wie ging man im "Städtle" nach 1945 mit den Verbrechen und mit den Tätern um? Und was tut man heute, um aus der Vergangenheit Lehren zu ziehen?

Auf diese und viele andere Fragen geben die Beiträge des Sammelbandes Auskunft. Ergänzt werden sie durch etwa 300 Bilder und durch historische Texte, die zum Weiterdenken anregen.

Ein außergewöhnliches Buch, das die gesamte Breite des politischen und gesellschaftlichen Lebens im Faschismus in einer deutschen Kleinstadt erkundet und gründlich beleuchtet - achtzig Jahre nach dem Beginn des Zweiten Weltkrieges.

Donat-Verlag, Bremen 2019. 528 Seiten, 297 Abbildungen, 29,80 €

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Das Prager-Haus in Apolda, ein Lern- und Gedenk-Ort

Die jüdischen Händler Salomon Prager und sein Sohn Bernhard betrieben in diesem Haus ihren Fellhandel und einen Handel mit Fleischereibedarfsartikeln. Nachdem sie das viel zu kleine Vorgängerhaus abgerissen hatten, errichteten sie mit bescheidenen finanziellen Mitteln 1925 dieses Haus. Im Untergeschoß stellte Bernhard einen Wanddurchbruch her, der einen Zutritt zu einem weiteren Raum gewährte, in dem Prager seine Eisschränke und Fleischereimaschinen zu Präsentation und Kauf vorhielt. Dieser Raum befand sich damals zwischen dem Westgiebel und dem Mauerende. Im Verkaufsraum hinter dem Rolladen nahm er die Felle und Därme entgegen, die ihm Landwirte und Viehhalter zum Kauf anboten. In den Wirtschaftsräumen hinter dem Haus wurden diese dann gereinigt, getrocknet und an Kürschner geliefert.

Nach dem Abriß benachbarter Häuser um die Jahrtausendwende mußte man auch um den Abriß dieses authentischen jüdischen Handelshauses fürchten. Deshalb gründeten 2007 geschichtsbewußte Menschen den Prager-Haus-Verein, um das Haus zu retten und darin einen Erinnerungsort an jüdisches Leben im 20. Jahrhundert sowie an Widerstand und Verfolgung 1933 bis 1945 einzurichten. Der Lern-, Gedenk- und Treff-Ort wurde im Oktober bzw. November 2018 eröffnet. Mit einem "Treff bei Pragers" sollen mit Vorträgen und Konzerten jüdische Kultur, Geschichte und Gegenwart bekanntgemacht werden.

Gang der Erinnerung
Der Besucher, der durch die Haustür das 1925 errichtete Haus betritt, öffnet zunächst eine weitere doppelflügelige Haustür, um 1900 im Jugendstil gebaut, die zwei Pferdeköpfe zeigt. Der Verein rettete sie, als 2012 die Stadtvilla des jüdischen Pferdehändlers Louis Fleischmann abgerissen wurde.

Im Gang der Erinnerung informieren vier Tafeln über die soziopolitischen Vorgänge in der Stadt und Umgebung von Apolda zwischen 1933 und 1945. Eine erste Tafel über die 20er Jahre, die vor den vier Tafeln hängt, beschreibt das Aufkommen der demokratiefeindlichen NSDAP als Bündelung und Hort des Antisemitismus und des Antibolschewismus. Wer seine Kenntnisse über die geschichtlichen Daten der faschistischen Periode weiter konkretisieren will, kann sich dazu gegen eine Spende eine Broschüre mitnehmen. Auf der Wand gegenüber wird auf einer Tafel die Bau- und Umwandlungsgeschichte des Prager-Hauses in einen Lern- und Gedenkort dargestellt.

Museum
In diesem Raum befand sich das Geschäftslokal des Fellhändlers Salomon Prager und seines Sohnes Bernhard. Hier wurden - wahrscheinlich über einen Tresen - die bei der Viehhaltung der Groß- und Kleinbauern sowie Gartenbearbeiter anfallenden Felle und Därme aufgekauft und im Hofbereich hinter dem Haus in einer Fellküche gereinigt und zur Weiterverarbeitung vorbereitet.

Oben links ist vom Putz freigelegt ein Eisenträger zu sehen, der die Wandöffnung zum Nebenraum möglich machte, in dem Prager Eisschränke und Fleischereimaschinen ausgestellt hat. Die Maueröffnung wurde später wieder durch Hohlblocksteine verschlossen.

Heute wird hier das Leben der jüdischen Bewohner Apoldas im 20. Jahrhundert dargestellt. Auf vier Übersichtstafeln und den dazu gehörigen Glasvitrinen wird das Schicksal der Familien Peller, Prager, Strasser und Raphael dargestellt. Hervorgehoben wird das Leben von Max Peller, dessen Geige in einer eigenen Vitrine gezeigt wird. Auf ihr hat er vor seiner Deportation gespielt. Wenn der Besucher den Raum betritt, wird er mit einer leisen Geigenmelodie empfangen, die zu Pellers Lieblingsstücken gehörte: Fritz Kreislers "Liebesleid und Liebesfreud", mit der er sich seiner Verlobten besonders verbunden wußte. In seinen Briefen aus Auschwitz nach Weimar kommt er oft auf die Geigenmusik zu sprechen, welche die Liebenden verbunden hat und verbinden wird.

Treppenaufgang
Daß die Prager-Familie zu den eher wirtschaftlich Schwachen in der jüdischen Glaubensgemeinschaft wie Bürgerschaft gehörte, macht die Konstruktion dieses Treppenaufgangs sichtbar. Um in dem kleinen Häuschen den für den Händler dringend benötigten Platz einzusparen, wurde die Treppe so konstruiert, daß sie vom Hof aus zugänglich war und gegen die Witterung mit einer Dachschräge geschützt wurde.

Heute dient die Wand des Aufgangs zur Präsentation der Namen der Apoldaer Opfer des Faschismus, von denen 21 Personen mit einem Porträtfoto gezeigt werden. Von der überwiegenden Zahl der uns namentlich bekannten 133 Apoldaer Opfer gibt es bisher keine Fotos. Die Thementafel am Beginn des Aufgangs enthält auf der unteren Zeile die Symbolik für die Zuordnung der jeweiligen Person zu einer bestimmten Opfergruppe des Faschismus:

Davidstern - Juden / T4-Logo - Kranke und Behinderte / Rote Fahne - Arbeiterwiderstand / Wehrmachtsdeserteure - Holzschnitt von Otto Pankok "Jesus zerbricht das Gewehr" / Kleidungsaufnäher "OST" - Zwangsarbeiterinnen und ihre Kinder

Medienkabinett
In diesem Raum, der früher durch eine Trennwand in zwei Räume geteilt war, hat die Prager-Familie Bernhard, Gertrud und Fanny Katzenstein zwischen 1940 und 1942 gewohnt, als sie nach der Kündigung durch ihre "arische" Vermieterin Frieda Miltsch ihre Wohnung in der Adolf-Hitler-Straße 39 (heute: Bahnhofstraße) aufgeben mußten und in ihr ehemaliges Handelshaus in der Sandgasse 8 (heute: Bernhard-Prager-Gasse) zwangseingewiesen wurden. Heute ist hier die Technik installiert, mit deren Hilfe Besuchergruppen Fotos und Filme zu Verfolgung und Widerstand 1933 bis 1945 gezeigt werden können. Außerdem wird hier eine Handbibliothek untergebracht, die Schülern und anderen Interessierten zur Verfügung steht, wenn sie sich mit der weiteren Erforschung und Aufbereitung von Schicksalen verfolgter und widerständiger Menschen auseinandersetzen wollen.

Hofraum
Dieser kleine ehemalige Wirtschaftshof des Fellhändlers war der Zugang zu seinen Nebengebäuden, die aus einfachen Ziegelsteinen errichtet sind. Wenn man den Hof betritt, ist rechterhand der Eingang zur heutigen Teeküche, in der sich früher ein Lagerraum befand. Daran schließt sich eine "Abtropfkammer" an, in der die in der Fellküche vorgereinigten Felle abtropfen konnten, bevor sie zur weiteren Trocknung in Pragers Fellhaus in der Buttstädter Straße gebracht wurden. Anschließend befindet sich ein weiterer Raum, der möglicherweise einen Kaninchen- oder Ziegenstall aufnahm. Darüber wurde in einer schmalen Dachkammer das Heu als Winterfutter aufbewahrt. Den Abschluß des Hofes bildete Pragers Fellküche. Im Rücken des Hofraumes, direkt unter dem Fenster der Treppeneinhausung, steht der Grabstein der Eheleute Curt und Cella Müller-Hollenhorst, den uns die Nachfahren freundlicherweise zur Verfügung stellten, als die Grabstelle auf dem Friedhof aufgelöst wurde. Die jüdische Ehefrau Cella hatte sich ihrer Deportation entzogen und wurde von einem hilfsbereiten Ehepaar in einem Schrank versteckt, bis das Naziregime untergegangen war.

Ehrenwand für Förderer
Der ehrenamtlich tätige Verein, der sich seit Beginn stark um Spenden und Fördermittel bemühen mußte, will mit dieser Spenderwand Personen und Institutionen mit einer gravierten Tontafel ehren, die eine Geld- oder Sachspende im Wert von mehr als 100 Euro für das Projekt gegeben haben. Sie dient zugleich als Anreiz für neue Besucher, vielleicht auch in den Geldbeutel zu greifen.

Ehemalige Fellküche
Dieser große Raum, der heute als Veranstaltungsort dient, bestand zu Pragers Zeit aus zwei hintereinander liegenden Räumen. Links war die Eingangstür, durch die man einen Raum betrat, der rechterhand von einer Wand begrenzt wurde, an den sich ein Schornstein anlehnte. In dem rechterhand liegenden Raum, der die eigentliche Fellküche darstellte, war einst ein Bottich mit Feuerung aufgestellt. Hier wurden die aufgekauften Felle in einem heißen Sud gekocht, um sie von Fleisch- und Fettresten zu reinigen. Dort wurden auch die angelieferten Därme gereinigt.

Heute (nach Beseitigung von Trennwand und Schornstein) wurde die gesamte Front durch eine Glasfaltwand zum Hof ersetzt. Sie kann bei günstigem Wetter vollständig geöffnet werden und ermöglicht dann mit der Hoffläche einen erweiterten Versammlungsort, in dem Konzerte, Vorträge und Lesungen stattfinden. Hier finden sich die Besucher zum "Treff bei Pragers".

Schalom - Frieden
In der Ritterstraße 19 betreibt der Prager-Haus Apolda e.V. eine Dokumentationsstelle zu Widerstand und Verfolgung 1933 bis 1945 in Thüringen. In dieser Geschäftsstelle, die in den Wintermonaten zugleich den Versammlungsort der Vereinsmitglieder darstellt, befinden sich das Archiv und die Bibliothek des Vereins. Die Bibliothek besteht aus mehreren tausend Titeln, die den Themenbereich der Dokumentationsstelle umfassen.

Der Lern- und Gedenkort Prager-Haus Apolda befindet sich in der Bernhard-Prager-Gasse 8 in 99510 Apolda. Das Prager-Haus ist in den Monaten April bis Oktober an den Wochenenden samstags und sonntags jeweils von 14 bis 17 Uhr zur Besichtigung geöffnet. Besuche von auswärtigen Gruppen sind täglich möglich nach rechtzeitiger telefonischer Anmeldung:
Tel. 036453-121 712 oder 0152-04 934 420 oder per E-Mail: peter.franz.taubach@gmx.de oder prager-haus-apolda@gmx.de

Der Verein ist daran interessiert, daß ihm Dokumente, Fotos, Erinnerungsstücke und sonstige Informationen zur Verfügung gestellt werden. Spenden für die Unterstützung der Arbeit des Prager-Haus-Vereins werden dankend entgegengenommen.

(Gestützt auf Material des Prager-Haus-Vereins)

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"Radikalenerlaß" und Berufsverbote

Am 28. Januar 1972 beschlossen der damalige BRD-Kanzler Willy Brandt (SPD) und die Ministerpräsidenten der Länder den sogenannten Radikalenerlaß. Mitten in der "Entspannung" der Beziehungen zu den sozialistischen Ländern Europas führte er für Bewerbungen zum öffentlichen Dienst der Bundesrepublik verschärfte Regeln ein, wie sie ansonsten nur für westliche Geheimdienste, genauer: für die von ihnen zu erteilenden Stufen der Sicherheitsfreigaben, gelten. Genommen wird nur, wem keinerlei Kontakt zu linken Organisationen, Personen, Treffen, Demonstrationen etc. nachgewiesen werden kann. Das sollte nun für alle staatlichen Einrichtungen gelten. Renate Bastian weist in dem von der Heinz-Jung-Stiftung mit Sitz in Frankfurt am Main herausgegebenen Sammelband "Wer ist denn hier der Verfassungsfeind! Der Radikalenerlaß, Berufsverbote und was von ihnen geblieben ist" darauf hin, daß der Beschluß auf einem militärischen Vorläufer fußte: "Bereits im Februar 1971 erließ die Bundesregierung auf NATO-Festlegungen basierende 'Richtlinien für die Sicherheitsüberprüfung von Bundesbediensteten'".

Es versteht sich, daß bei solchem Ursprung der Erlaß auf bekennende Faschisten nur angewandt wurde, wenn sie in der Öffentlichkeit zu sehr aufgefallen waren. Das war bundesdeutsche Praxis seit 1949 - und ist es bis heute. Am 12. Oktober berichtete die "Tagesschau", das Bundesinnenministerium habe gerade erklärt, "für den Verfassungsschutz sei bei der Gesamtpartei AfD die Schwelle zum Verdachtsfall nicht erreicht".

Die Zahl der mit Schnüffelei und Bespitzelung zur Strecke gebrachten "Linksextremisten", also den einzigen "Verfassungsfeinden", die bundesdeutsche Dienste und ihnen angeschlossene "Forscher" kennen, war um so beachtlicher. Tradition verpflichtet: Der Verfassungsschutz war in den 70er Jahren personell und gesinnungsmäßig weithin noch eine direkte Fortsetzung des Reichssicherheitshauptamtes. Ulla Jelpke faßt die seit 1972 erzielten Ergebnisse in dem Sammelband so zusammen: "Bis 1990 wurden rund 3,5 Millionen Angehörige und Bewerber für den öffentlichen Dienst vom Verfassungsschutz überprüft. 11.000 Berufsverbots- und 2200 Disziplinarverfahren wurden eingeleitet, 1250 Bewerber abgelehnt und 265 bereits im öffentlichen Dienst Tätige entlassen. Betroffen waren Postboten und Zöllner, Lokomotivführer und Friedhofswärter, Verwaltungsangestellte, Professoren, Juristen und Ärzte sowie insbesondere Lehrer und Sozialpädagogen."

Bei diesem Einsatz gegen Millionen Menschen mußte der lupenreine Rechtsstaat Bundesrepublik auf eine juristische Grundlage verzichten. Es ging schließlich darum, in großem Stil Grundrechte zu mißachten, also lupenreines Unrecht durchzusetzen. David Salomon zitiert im Band den Juristen Peter Römer, der 2009 festhielt, der Begriff der Verfassungsfeindlichkeit sei "ein politischer Kampfbegriff und kein Rechtsbegriff und schon gar nicht ein Verfassungsbegriff". An die Stelle von Recht rückte Willkür. Die Empörung im In- und Ausland über die Berufsverbote war allerdings so groß, daß einige Bundesländer ab Ende der 70er Jahre offiziell auf die Anwendung verzichteten, während andere, wie Bayern und Baden-Württemberg, verdeckt oder offen bis heute weitermachen. Mitherausgeber Dominik Feldmann zeigt, daß an die Stelle der "Regelanfrage", des Auskunftsbegehrens zu einem Bewerber beim Verfassungsschutz, heute Fragebogen und Verwaltungsvorschriften etwa nach Beamtenrecht getreten sind.

In vier Abschnitten haben die Autorinnen und Autoren des Bandes eine kleine Enzyklopädie zum Thema geschrieben. Sie stellen den Erlaß von 1972 in die Kontinuität der Verfolgung von Demokraten, Sozialisten und Kommunisten in bürgerlichen deutschen Staaten - angefangen von den Karlsbader Beschlüssen 1819 über das Sozialistengesetz bis zum KPD-Verbot 1956. Sie schildern sieben konkrete Berufsverbotsfälle und erinnern an die wirkungsvolle Solidarität im In- und Ausland mit den Opfern.

Schließlich legen sie exemplarisch an den Verfahren gegen Silvia Gingold, Michael Csaszkóczy und Kerem Schamberger dar, wie die rechtswidrige Praxis heute aussieht. Klar wird: Die Regierenden haben gelernt. Die Berufsverbote für Millionen DDR-Bürger wurden beinahe ohne öffentlichen Gegenwind, also effizient, verwirklicht. Es war 1990 noch viel einfacher geworden, Recht den Bach runtergehen zu lassen.

Arnold Schölzel

Heinz-Jung-Stiftung (Hg.): Wer ist denn hier der Verfassungsfeind! Radikalenerlaß, Berufsverbote und was von ihnen geblieben ist. Papyrossa-Verlag, Köln 2019. 230 Seiten, 18 Euro

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Das Ticken der Stille

Unlängst war ich Zuhörer bei einer Autorenlesung. Es las eine nicht unsympathische ältere Dame, die von einer Wanderung im Thüringer Wald berichtete, wo sie am Rand einer Lichtung auf einer Bank behaglich gerastet habe, um die Mittagszeit sei es gewesen, schattenkühl und ein mildes Lüftchen habe geweht. - Das war so übel nicht und ließ mich aufhorchen. Doch, ach, meine positive Erwartung wurde sogleich enttäuscht, denn die Autorin (statt Sprachmagie walten zu lassen) sagte wörtlich: "Das Schönste aber war diese wunderbare Stille des Waldes." Dagegen war sachlich nichts einzuwenden - das Ärgerliche an diesem Satz war aber die platte Benennung, das abgegriffene Etikett, das die Stille gerade nicht sinnlich vergegenwärtigte, sondern leblos und stumm ließ. Die Autorin hätte ein Faszinosum beschwören können, wenn es ihr gelungen wäre, die Stille selbst zum Sprechen zu bringen, sie aussparend zu vergegenwärtigen, so daß sie den Zuhörer sinnlich in ihren Bann gezogen hätte, oder wenn die Autorin, einen Ratschlag Edgar Allan Poes befolgend, die ihr vorschwebende Stimmung nicht beschrieben, sondern erzeugt hätte. Statt dessen hatte sie die Stille mit dem denkbar abgegriffensten Attribut zugekleistert und damit erledigt. Es kam aber noch schlimmer, denn wenige Sätze später sprach die Autorin schon wieder von dieser "wunderbaren Stille", und, als könnte Wiederholung die Sache steigern, sagte sie nach einer Weile gar zum dritten Mal "diese wunderbare Stille". Danach fiel ihr wohl ein, daß ihr Deutschlehrer an den Rand ihres Aufsatzheftes gelegentlich "W.i.A.!" (Wechsel im Ausdruck) geschrieben hatte, und also - als es wieder einmal soweit war, daß sie ihrer Bewunderung der Stille emphatisch Ausdruck verleihen wollte - sagte sie nicht "wunderbare Stille", sondern "wunderbare Ruhe". Doch war ihrem Unvermögen damit nicht geholfen; denn auch wenn sie das schmückende Beiwort zusätzlich durch ein anderes ersetzt und etwa "lautlose", "absolute", "andächtige" oder gar "feierliche Stille" gesagt hätte, die Hände gefaltet und raffaelisch die Augen aufgeschlagen hätte - ihr Grundirrtum war, daß sie in Unkenntnis Wittgensteins nicht schweigen wollte über das, von dem wir nicht reden können, über Stille als Lautlosigkeit oder Ruhe als Bewegungslosigkeit können wir ebensowenig sprechen wie über das Nichts.

Denn schon die Alten wußten: De nihilo nil nisi nil. Stille läßt sich nur ahnbar, fühlbar und erlebbar machen auf indirekte Weise: durch Verlautbarung der allerleisesten Geräusche, die gewöhnlich von irgendeinem Lärm (vom Getöse eines Düsenjets, vom Pfeifen des Windes, von Donnergrollen oder dem Gesang einer Wandergruppe) übertönt werden.

Was die Autorin nicht konnte, war: schweigen. Schweigen und lauschen. Statt selbst ganz Ohr zu sein, mußte sie sprechen, sagen, benennen, während die Kunst der poetischen Gestaltung gerade darin bestanden hätte, das Unsichtbare im Sichtbaren erscheinen zu lassen, das am äußersten Rand der Stille gerade noch Vernehmbare zu vergegenwärtigen und den unsagbaren Rest durch Aussparung, durch Verschweigen als erahnbaren Urgrund suggestiv erfahrbar zu machen, so wie es Theodor Storm in seinem Gedicht "Abseits" gelingt, wo es heißt: "Kaum zittert durch die Mittagsruh ein Schlag der Dorfuhr, der entfernten ..." oder wie es in einem Gedicht eines anderen Autors heißt: "Kein Wagenrollen mehr, kein Sensendengeln und keines Menschen Laut. Von Ferne nur, verirrt, ein Hahnenschrei." Was der Autorin fehlte, war die Schulung der Ästhetik, der Wahrnehmung, der neben Denken, Fühlen und Ahnen wichtigsten geistigen Fähigkeit. - Und ich tröstete mich an diesem Tag mit der Gedichtzeile Hans Magnus Enzensbergers: "Ich lausche dem Wind wie ein Strauch."

Lauschen - das ist's! Lauschen mit allen Sinnen, bewußtes Wahrnehmen des Leisen und Leisesten, vom Fiepen einer Spitzmaus über das Rascheln eines welken Blattes, das über den Boden hinstreift, das Prickeln des Schnees an der Fensterscheibe, das träge Aufschlagen einzelner Tropfen, die vom Kaminkranz aufs Bleiblech der Abdeckung fallen, bis zum kaum noch vernehmbaren Summen eines winzigen Insekts - dies alles erlauschen und zur Sprache, zum Sprechen bringen, soweit Sprache nur reicht, bis an die äußerste Grenze des Sagbaren, wo das Unsagbare beginnt, das Wittgenstein das Unaussprechliche oder auch das Mystische nennt, das Geheimnis erahnen, staunend verstummen angesichts des indirekt Vergegenwärtigten, einer geheimnisvollen Welt jenseits der Sprache - hier innehalten und des Unsagbaren innewerden, hier verweilen und sich versenken, sich öffnen den raunenden, kaum vernehmbaren Stimmen, "die" (so Theodor Storm) "über der Tiefe sind".

Einen, einen einzigen Augenblick in meinem Leben hat es gegeben, da ich dem, was man die absolute Stille nennen könnte, so nah war, wie es näher kaum geht. Es war auf einem Spaziergang, einem Rundweg, der in halber Höhe des Runebergs um die Ruine der Runeburg führt. Dort rastete ich im Schatten eines überragenden Felsens auf einer Bank, dehnte die Glieder und blickte hinaus in die am Horizont bläulich verdämmernde Ferne. Es war in der Mittagszeit, die Sonne stand im Zenit, kein Laut der Stadt drang herauf, Ginster strahlte golden am Hang - der Wind, die Luft hielt den Atem an. Da war es: ein winziger Laut - war's ein leises Knacken? Ein Knistern? Ein Ticken? Das Ticken einer Uhr? Gar meiner eigenen Armbanduhr? Ich hob die Hand an mein Ohr, aber da war nichts - und war doch anwesend, spürbar, irgendwo ringsum, wiederholte sich in unregelmäßigen Abständen nur weniger Sekunden - es war, so dachte ich, wie das Ticken der Stille, der Stille selbst, die sich verlautbarte, sich meinem Ohr erschloß, oder doch der leiseste, gerade noch wahrnehmbare Ton an ihrem äußersten Rand, da das Mysterium begann, und mit einem Mal, während ich immer noch rätselte, hatte ich eine Eingebung, kam mir bei: dies ist das Platzen der Ginsterschoten, die ihren Samen entleeren. Ich kroch heran an einen der goldenen Büsche, grub meinen Kopf in ihn hinein und fand meine Ahnung bestätigt. Der Ginster war reif, er lebte wie alles Lebendige und gab sein Leben weiter für weitere Generationen in weiteren kommenden Sommern. Alles floß, und ich war darin.

Ist es zuviel gesagt, wenn ich dies eine mystische Erfahrung nenne? Ich glaube nicht. Denn wenn auch an jenem Mittag ein Rätsel sich löste - das Geheimnis, das Mystische, von dem Wittgenstein und andere Autoren sprechen, ist mir geblieben und begleitet seither und fortan mein Leben, und auch wenn ich die Augen schließe und es nicht sehe, so höre ich's doch in meinem Innern, wie es sagt: "Horch! Ich bin da!"

Theodor Weißenborn

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Rote Lieder - 50 Jahre Festival des politischen Lieds

"Wir sind überall auf der Erde ..."

Vom 15. bis 21. Februar 1970 fand in der DDR-Hauptstadt das 1. Festival des politischen Liedes statt. Die Zeit ist gerannt wie toll! Vorerst leider in die Irre, schaut man auf die globalen Miseren der Gegenwart und erinnert sich dabei an die hoffnungsvollen Weltläufe zu Festivalzeiten.

Bei Abruf sind sie noch immer parat: die gestochenen Bilder von der zwei Jahrzehnte währenden Festivaltradition. Trifft man heute auf Leute, die vor, auf oder hinter der Bühne beteiligt waren, so sprechen sie von einem Stück nie verlorener guter Lebenszeit. Die Geschichte dieses Festivals steht eindrucksvoll in den kulturellen Annalen der DDR. Einerseits, weil das Berliner Treffen bald schon als wichtiges, manche meinten: das wichtigste Podium der progressiven Musikwelt wahrgenommen wurde. Es führte Lieder und andere Musikschöpfungen, welche die internationalen Entwicklungen mit ihrem damals unverkennbar linken Richtungssinn begleiteten, auf kommunikative Weise vor einem großen, engagierten Publikum zusammen. Zugleich war es auch der Premierenanlaß für viele Lieder der Singebewegung, die manchmal bis heute nachklingen. Nicht zuletzt die Ohrwürmer des neben der FDJ mitveranstaltenden Oktoberklubs, der jedes Jahr auf ein neues, aktuelles Programm hinarbeitete. Die Ideenwelt des Festivals schärfte bei Mitgestaltern wie Besuchern neben ästhetischen Maßstäben das Bewußtsein aufrechter Solidarität und politischer Verbundenheit mit den um ihre nationale und soziale Freiheit kämpfenden Völkern. Das war lebensprägend für uns alle. Es gab eine große Sehnsucht, sich in der Weite dieses linken Einverständnisses aufgehoben zu fühlen.

Aus Geburtstagsfeiern wurde ein Festival

Zu keiner Zeit war der Oktoberklub dem Feiern abgeneigt. Wenn er Geburtstag hatte, lud er sich Lieder-Gäste ein. Anfangs war deren Zahl klein und kam von gleich nebenan. Zu "2 Jahre Oktoberklub" standen die Budapester "Gerilla"-Formation und Thomas Natschinski mit seiner Gruppe als Gratulanten auf der Bühne. Ein Jahr später schauten Gäste aus Polen, Ungarn, Spanien und Westdeutschland vorbei. In den Endsechzigern stellte sich der Oktoberklub erstmals Zukunftsfragen. Die schnell gewachsene Popularität ließ Befürchtungen aufkommen, man könnte inhaltlich wie organisatorisch stagnieren. Ein Ruck sollte her, und so entstand die Idee, im Veranstaltungskalender der DDR einen neuen inhaltlichen Punkt zu setzen: ein alljährliches internationales Festival des politischen Liedes. Dessen Organisation würde zweifellos auch dem Zusammenhalt des Klubs guttun. Die künftigen Dimensionen dieser "Ruck-Idee" waren allerdings nicht zu erahnen.

Nach einem denkwürdigen Anlaß für den Auftakt mußte man 1970 nicht lange suchen. Lenin wurde 100. Da war "Vorwärts die Zeit!" - dem "Zeit-Marsch" von Majakowski und Eisler entnommen - eine passende Parole. Ich erinnere mich, wie uns die italienische Gruppe "II Contemporaneo" das Gewerkschaftslied "La Lega" ins Ohr setzte, das wegen seines musikalischen Drives bald mehrsprachig nachgesungen wurde. Oder wie Gisela May nach Programmen von Andert, Demmler und mir meinte, die Singebewegung habe ihre politische Aktualität und Verständlichkeit bei den "Großen" gelernt, mit denen sie Tucholsky, Brecht und Eisler meinte. Das war viel Lorbeer für den Anfang, aber die große Interpretin, die auch Pädagogin war, kannte die Kraft von Ermutigungen.

Das Festival setzte auf Haltungen hinter den Tönen. Wo es an artifizieller Brillanz fehlte, konnten Entstehungsgeschichte und Authentizität der politischen oder sozialen Botschaft ein Lied durchaus zum Leuchten bringen. Doch erlebten wir schon zum 2. Festival bei den Auftritten von "Quilapayun", Isabel Parra oder der finnischen Gruppe Agit-Prop um Kaj Chydenius - und später bei vielen Künstlern mehr -, daß gerade die Symbiose von Haltung und künstlerischer Gestaltungskraft jene populären Wirkungen erzeugt, die Songs den Weg ins Langzeitgedächtnis ebnen.

Ideelles Andocken an die Kämpfe der Zeit

Lieder, die den Weg nach Berlin fanden, hatten an die nationalen wie die globalen Kämpfe der Zeit angedockt und bezogen linkerseits einen Standpunkt. Unser Bewußtsein von den Siegen und Niederlagen erhielt mit ihnen einen Klang. Besonders eindrucksvoll war die sommerliche Spezialausgabe "PLX", die zu den X. Weltfestspielen in Berlin über 100 Gruppen und Solisten aus 45 Ländern und fünf Kontinenten zusammenführte. Sie fanden Hunderttausende Zuschauer an den Veranstaltungsorten, auf den Straßen und Plätzen. Reinhold Andert und ich hatten unseren Festivalsong "Wir sind überall auf der Erde!" genannt. Das war in Berlin zum Greifen nah. Was für ein beglückendes Gefühl, mit Gleichgesinnten aus allen Ecken der Welt gemeinsam zu kämpfen und zu singen! Damals zum Beispiel mit den "Iritis" vom Sieg der Unidad Popular in Chile. Nur Wochen später kamen die Nachrichten von Pinochets blutigem Putsch und vom Tod Salvador Allendes. Daß "Inti lllimani" und "Quilapayun" zu jener Zeit in Europa gastierten, bewahrte sie vor dem Schicksal Victor Jaras, der im Zentralstadion von Santiago ermordet wurde.

Noch so viel mehr klang in den Liedern der Festivals. Der sandinistische Sieg in Nikaragua bei den Gebrüdern Godoy, die Sehnsucht Lateinamerikas nach nationaler Selbstbestimmung, indigener Würde und Befreiung von der Rolle als Hinterhof der USA bei Mercedes Sosa, Atahualpa Yupanqui, Leon Giecho oder den Gebrüdern Viglietti. Der revolutionäre Stolz Kubas bei Pablo Milanes, Silvio Rodriguez oder der Gruppe Manguare. Der Triumph der portugiesischen Nelkenrevolution bei José Afonso. Die Solidarität mit den Kämpfern gegen die südafrikanische Apartheid bei Miriam und Bongi Makeba oder Abdullah Ibrahim. Die Niederlage der amerikanischen Aggressoren in Vietnam ("Alle auf die Straße, rot ist der Mai. Alle auf die Straße, Saigon ist frei!"). Dann die Songs aus dem Alltag der kapitalistischen Länder Westeuropas und Nordamerikas, über Streiks, Aktionen gegen Wettrüsten und Krieg, soziales Elend, Arbeitslosigkeit und Bildungsmiseren (von Billy Bragg, Eric Bogle, bots, Fria Proteatern sowie von unseren westdeutschen Sängerfreunden Franz Josef Degenhardt, Fasia Jansen, Dietrich Kittner, Dieter Süverkrüp oder Hannes Wader). Proletarische und antifaschistische Traditionen lebten in Vorträgen von Ernst Busch und Konstantin Simonow, von Gisela May, Esther Bejarano, Lin Jaldati oder Aleksander Kulisiewicz. Die delegierten Gruppen aus den europäischen sozialistischen Bruderländern waren mehrheitlich noch auf der Suche nach wirklichkeitsnahen Songthemen, während Shanna Bitschewskaja aus der Sowjetunion oder Katarzyna Gärtner, Maryla Rodowicz und Czeslaw Niemen aus der Volksrepublik Polen dicht an ihren Realitäten blieben. Mit der Zeit weitete sich bei den Veranstaltern die Begriffswelt des Politischen, so daß auch Künstler wie Herman van Veen, Heinz Rudolf Kunze, Ina Deter, die "1. Allgemeine Verunsicherung" oder "El Teatro del Arte Flamenco" umjubelte Gäste waren.

An zwei Höhepunkte der Festivalgeschichte erinnere ich mich besonders gern. Zum einen an den Auftritt von Pete Seeger im Februar 1986. Fast zwei Jahrzehnte nach seinem ersten DDR-Programm in der alten Sporthalle an der Karl-Marx-Allee rief Pete mit einer Hootenanny vom Feinsten all das in Erinnerung, was die amerikanischen Folk- und Protestsongs einst der Singebewegung und dem von ihr kreierten Festival in die Wiege gelegt hatten. Der zweite war die denkwürdige Aufführung des "Canto General" unter Leitung von Mikis Theodorakis 1980 im Großen Saal des Palastes der Republik. Der "Canto" nach Texten von Pablo Neruda war einst von Präsident Salvador Allende zur Unterstützung der Kämpfer gegen die faschistische Junta in Griechenland in Auftrag gegeben worden. Nach dem Putsch in Chile wurde er als Hommage an den chilenischen Widerstand, aber auch an die zu Grabe getragenen Volksvertreter Salvador Allende und Pablo Neruda in Theodorakis' Heimat Griechenland uraufgeführt, wo inzwischen die Junta gestürzt war. Ideengehalt, Entstehungsgeschichte und ästhetisches Konzept machten die Berliner Aufführung zu einem umjubelten Ereignis, und der Erfolg bot Mikis Theodorakis die Gelegenheit, dem DDR-Publikum viele weitere Teile seines Schaffens vorzustellen.

Das Milieu einer linken Veranstaltungskultur

Das Festival bestach unter den DDR-Großveranstaltungen auch durch seine organisatorische Andersartigkeit. Nach der Arbeitsweise des Oktoberklubs trugen vor allem ehrenamtliche Festivalgestalter, die nicht selten Teile ihres Jahresurlaubs dafür hergaben, ein hohes Maß an Verantwortung. Programm-Macher, Künstler- und Tourneebetreuer, Räumer, Ticket- und Transport-Verantwortliche, Ideentüftler für die volksfestartigen Polit- und Familien-Kirmessen, Redakteure der Festivalzeitung FZ oder der ideensprühende grafische Gestalterstab um den "Oki"-Erfinder Peter Porsch - sie und viele Ungenannte gaben dem Festival eine Handschrift, die als neuartig, erlebnisreich und kommunikativ empfunden wurde. Zu diesem politischen Bekenntnis-Event, das eben auch Spaß machte, war der Andrang sehr groß. Die Karten haben wollten, mußten sich einen Tag vor Kassenöffnung am Klub- und Organisationszentrum "Haus der jungen Talente" anstellen. Also lag vor ihnen eine kalte Februarnacht. Da hatten die Veranstalter eine Idee: Nummer ziehen, reinkommen, singen und Tee trinken. Diese "Anstehnacht" war bald ein ebenso kultiges Event noch vor der Festivaleröffnung wie die öffentliche "Vorstellsinge" von bereits angereisten Gruppen und Solisten im stets überfüllten Foyer des Palastes der Republik. Mit der Zeit hatte eine solche linke Veranstaltungskultur ihr offenes, ganz und gar nicht elitäres Milieu geschaffen. Junge Leute, die mit dem Sozialismus etwas am Hut hatten, fühlten sich hier wohl. Nicht ohne Grund hatten DDR-Journalisten beweglicher Denkungsart seinerzeit danach gefragt, ob der Singebewegung, mit ihrer Tendenz zu eingreifendem Denken und selbstbewußter Behauptung linker Ideale, mit ihren Formen kreativer Planung und Organisation, die doch so viel Raum für persönliches Engagement und kommunikative Bindungen einräumten, nicht etwas Modellartiges für eine demokratische, sozialistische Lebenskultur innewohnen würde. Eine große Niederlage später liegt uns das Ja auf diese Frage, die eigentlich eine Hoffnung war, noch auf den Lippen.

Dr. Hartmut König
Panketal


Hartmut König, geboren 1947 in Berlin, war Mitbegründer der ersten deutschsprachigen DDR-Beatband "Team 4" und des "Oktoberklubs"; Autor und Komponist zahlreicher Lieder ("Sag mir, wo du stehst"; Songtexte für den DEFA-Film "Heißer Sommer"); studierte Journalistik in Leipzig, 1974 Promotion; ab 1976 Sekretär des Zentralrates der FD]; 1989 stellvertretender Kulturminister

(Aus "Mitteilungen der Kommunistischen Plattform", 2/2020)

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Großmutters unentbehrliche Semmelsuppe

Von Polen droht an der Grenze Sachsens die "afrikanische Schweinepest". Über deutsche Grenzen bewegen sich mit modernster Kriegstechnik - Natur und Umwelt schädigend - NATO-Truppenverbände, einschließlich Soldaten der Bundeswehr (auch aus Standorten in Sachsen und Thüringen). Sind derartige Manöver mit ihrer zerstörerischen Wirkung auf die Natur und den Frieden der Menschen eine neue Form von "Geschenken" einiger am Frieden und an der Völkerfreundschaft zweifelnder Politiker? Bedarf es dieser irritierenden und eskalierenden Maßnahmen wirklich? Ist Rußland so gefährlich, wie dargestellt?

Ist es ein Wunder, angesichts dieser beängstigenden politischen und klimatischen Großwetterlage, daß bei mir der Magen zu streiken begann?! Es ist der Zorn auf alle diejenigen Politiker und Verantwortlichen, die in ihre eigene Tasche wirtschaften und das Wohl und Wehe der Gemeinschaft anscheinend vergessen haben.

Wenn mir Magen und Darm als Kind zu schaffen machten, half mir Großmutters schlesische Semmelsuppe: In eine große Schüssel wurde eine Semmel vom Bäckermeister Hanusa oder Zinnecker zerpflückt, leicht mit Salz bestreut und mit einigen Streifen dünn geschnittener Butter bestrichen. Darauf kam dann kochendes Wasser. Die Suppe schmeckte mir so gut, daß ich auch ohne Leibbeschwerden meine Großmutter um Zubereitung bat. Und diese nahrhafte Erinnerung machte ich mir jetzt zu eigen, und siehe: sie wirkte. Einfache Mittel helfen mitunter bei einem sachlichen, analytischen Umgang mit den Fragen und Problemen unserer Zeit, was ja von entscheidender Bedeutung für das eigene Urteilsvermögen ist.

So ist festzustellen, daß viele Menschen nicht erkennen, daß sich in der AfD ein die Arbeit, das Leben und die Existenz bedrohendes Gift besonderer Art verbirgt. Wenn ich von Gift spreche, erinnere ich mich aus meiner beruflichen Tätigkeit an den lebensgefährlichen Virus Botulin. Er existiert verkapselt durch Verschmutzung in einem Milieu ohne Sauerstoff. Wenn zum Beispiel eine von ihm befallene Dauerwurst angeschnitten wird, bringt der freigesetzte Sauerstoff den Virus Botulin zur lebensbedrohlichen Wirkung.

Bei der "Vergiftung" des Denkens und Fühlens der Menschen geht es nicht sofort lebensbedrohlich zu. Da wird erst getestet, wie aufgeschlossen die Menschen zur Aufnahme und Verwertung von "Giften" sind. Ist dies geschehen, entstehen durch Manipulationen verheerende Abhängigkeiten.

Ich frage mich immer mehr, ob die gegenwärtige Form der parlamentarischen Demokratie in Deutschland noch in der Lage ist, die Aufgaben von morgen zu bewältigten und glaubwürdige Maßstäbe für andere zu setzen. Deutschland kann und darf sich seiner historischen Verantwortung niemals entziehen!

Der moderne Kapitalismus mit dem jüngsten Erbe zweier Weltkriege und der Periode eines kalten Krieges ist offensichtlich am Ende seines "Lateins" und im Grunde genommen im Widerspruch zur sozialen Frage in der (schon lange nicht mehr) so genannten sozialen Marktwirtschaft.

Dr. Wilfried Meißner
Chemnitz

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Wie die Akademie der Wissenschaften überlebte

[Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Der Beitrag wurde nicht in den Schattenblick übernommen.]

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Sachsens "König" und seine "Verdienste"

In der "Freien Presse" vom 29. Januar war viel Lobenswertes anläßlich des 90. Geburtstages von "König Kurt", wie er sich von seinen Getreuen gern nennen ließ, zu lesen. Bei seinen Geburtstagen war er immer ein Mann der Superlative, der selbstgefällige Professor Kurt Biedenkopf. Genügte ihm für die Feier zum 70. noch die Aura der Semperoper, mußten es zu seinem 90. nun die Frauenkirche und 1600 geladene Gäste sein, die Bundeskanzlerin inklusive. Der bedeutende Anlaß einer Geburtstagsfeier für einen Politikpensionär hat die ausrichtende Stiftung der deutschen christlichen Partei im Überschwang die Worte Jesu vergessen lassen: "Steht nicht geschrieben: Mein Haus soll ein Bethaus heißen ...", als er die Händler und Geldwechsler aus dem Tempel zu Jerusalem trieb? Die aus dem gegebenen Anlaß gehaltenen Lobreden indes waren ätzend und unchristlich. Allerdings entglitt Frau Merkel auch der Satz, "daß manche Erwartungen von Menschen, deren Leben 1998/90 eine herbe Zensur erfuhren, in den zurückliegenden 30 Jahren enttäuscht worden sind". Da gefror das Lächeln in den Gesichtern mancher Gäste. Nachdem der Professor 1990 an der Leipziger Universität ein paar Monate über die Segnungen der Marktwirtschaft philosophiert hatte, stieg er dann gleich selbst als sächsischer Ministerpräsident in die Umsetzung der Heilslehre verantwortlich ein. Bereits 1992 hatte Sachsen die Rekordzahl von 310.000 Arbeitslosen erreicht. Die Deindustrialisierung Sachsens tobte. Auch in meiner Heimatstadt Zschopau flogen über 5000 Menschen auf die Straße. MZ, der ehemals weltgrößte Hersteller von Zweiradfahrzeugen, wurde durch die "untreuen" Bosse der Treuhand und kriminelle "Berater" aus dem Westen in die Pleite geritten. Der Wirtschaftsprofessor hatte dafür natürlich eine andere Erklärung: "Es zeigte sich immer mehr, daß der Markt uninteressiert war. Und dann können Sie es nicht mehr machen. Sie können den Markt nicht zwingen." Der Markt war es! Das mußte den Sachsen wirklich mal gesagt werden. Aber wo sind die Aufbauleistungen des damaligen Ministerpräsidenten? Beschränkten sie sich nicht darauf, daß er an der Auswahl derer beteiligt war, die sich um des zu erwartenden hohen Profits willen am Kampf um die Filetstücke der sächsischen Wirtschaft beteiligten? War er gar selbst interessiert? Immerhin trat er im Gefolge mehrerer dubioser Affären zurück. Aber indes muß man ihm lassen, wie sein derzeitiger Nachfolger Kretschmer gerade auf der Jubelfeier herausfand: Biedenkopf war "der erste und auch der einzige Mensch, ..., der freiwillig und mit privatem Geld Literatur zum Marxismus-Leninismus gekauft hat." Aber Herr Professor! Und auch noch mit privatem Geld!

Da war er bei der "Tagebuchaffäre" nicht so besonnen, ließ sich seine Buchausgabe vom Freistaat einfach mit 307.900 € bezuschussen. Über Jubilare wird traditionsgemäß nur Gutes gesagt. Um der Ausgewogenheit halber soll aber bezüglich der einst beobachteten Verhaltensweisen des Jubilars auch ein kritisches Wort seines Weggefährten Helmut Kohl zitiert werden: "Das war hinterfotzig und dreckig. Aus und Feierabend!"

Norbert Staffa
Großolbersdorf

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Aufmarsch der Ewiggestrigen

Wo sie recht hat, da hat sie recht, die CDU, unsere staatstragende Partei. Mit ihren Frontmännern, dem Generalsekretär Paul Ziemiak, ihren Kandidaten für den Vorsitz Friedrich März, Norbert Röttgen, Armin Laschet, und auch mit dem Berliner Parteivorsitzenden Kai Wagner bangen sie geradezu um die Wette um die Glaubwürdigkeit und wittern den Verrat an Grundsätzen ihrer Partei. Es gehe nicht nur "um Glaubwürdigkeit der CDU für ganz Deutschland", sondern auch um die "eigene Zukunft" seiner Partei, so Spahn, der seine Kandidatur zugunsten von Armin Laschet, dem Ministerpräsidenten von NRW, zurückgestellt hat. So etwas nenne ich Haltung. Denn das Beschwören von Glaubwürdigkeit und Grundsätzen wird von einer Wurzel gespeist, die bis heute immer wieder neue Triebe hervorbringt. Die Wurzel hat einen Namen: Antikommunismus als Staatsräson. Es gibt aber auch ein Synonym für Grundwerte und -überzeugungen im Verständnis der CDU - und das heißt Dogmatismus. Ein Dogmatiker ist nämlich derjenige, der sich in den Beschlüssen seiner Partei bestens auskennt, das Leben und die realen politischen Prozesse aber nur dann anerkennt, wenn sie mit den Parteibeschlüssen übereinstimmen.

Einer der Großen aus der Nomenklatura der CDU, Wolfgang Schäuble, seines Zeichens gegenwärtiger Bundestagspräsident, hat das Maß mit den Worten gefüllt, daß die Linkspartei noch immer Spurenelemente der SED enthalte. Die Fußspuren, die vom faschistischen Hitler-Regime bis tief in die Bundesrepublik geführt haben, sowohl personell wie auch politisch und ideologisch, blendet er selbstredend aus. Das muß er auch. Andernfalls müßte er seine Partei, bevor von Substanz, Werteerhalt, Aufbruch und Zukunft schwadroniert wird, auffordern, sich endlich ihrer eigenen Geschichte zu stellen. Sie müßte also exakt das tun, was sie von der Linkspartei gebetsmühlenartig fordert. Aber genau dazu ist die CDU - als ewiggestrige und selbstgerecht bis in die Haarspitzen - nicht in der Lage, weil sich davor scheut, die Geburtsurkunde ihrer Grundwerte zu veröffentlichen.

In dieser Urkunde ist juristisch abgesegnet, daß Nazi-Deutschland kein Unrechtsstaat war. Der namhafte Jurist Gustav Radbruch, Reichsjustizminister für kurze Zeit in der Weimarer Republik, hatte nach 1945 vergeblich versucht, den Begriff "Unrechtsstaat" in die Sprache der Justiz einzuführen. Er wollte ihn nur einem Staat zuweisen, der "das Recht gar nicht erst anstrebt und ganzen Bevölkerungsgruppen die Existenzberechtigung abspricht". Das, so sein Befund, träfe einzig und allein auf Nazi-Deutschland zu. Doch seine Forderung prallte an der braunen Wand der bundesdeutschen Juristenschaft unter der Obhut Konrad Adenauers und seiner grauen Eminenz Hans Globke ab. Die Juristen empfanden die Bewertung mehrheitlich als Nestbeschmutzung und weigerten sich erfolgreich, das "Dritte Reich" so zu klassifizieren. Um so erfolgreicher waren die Juristen darin, im Zuge des von Adenauer letztlich angeordneten KPD-Verbots Menschen, die schon als antifaschistische Widerständler zwischen 1933 und 1945 mit der Justiz "Bekanntschaft" gemacht hatten, in Gefängnisse oder gleich in Zuchthäuser zu schicken.

Eine Rückschau auf die eigene Parteigeschichte würde möglicherweise Prozesse des Nachdenkens in Gang setzen. Deshalb müssen sie mit aller Macht und dogmatischer Phraseologie unter dem Deckel gehalten werden. Viel zu tief ist im Werteverständnis der Christdemokraten der Antikommunismus als Staatsräson in der CDU/CSU verankert. Deshalb durfte das Etikett "Unrechtsstaat" nur der DDR angeheftet und Bestandteil der Staatsräson der Bundesrepublik werden. Wir haben volles Verständnis dafür, daß es schwierig ist, sich vom Dogma bzw. von dieser ewiggestrigen Sichtweise zu emanzipieren.

Hans Schoenefeldt

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McCarthyismus (Folge 1)
"Kalter Krieg" und öffentliche Meinung

[Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Der Beitrag wurde nicht in den Schattenblick übernommen.]

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LESERBRIEFE

Vielen Dank für die regelmäßige Zusendung Eurer hochinteressanten Monatszeitschrift! Ich wünsche Euch viele weitere gute Resultate im theoretischen und politisch-ideologischen Kampf gegen den Kapitalismus und für unsere sozialistische Sache, nicht nur in Deutschland.
Bei uns in Polen spitzt sich die politische Situation weiter zu. Der Präsidentschaftswahlkampf findet zwischen zwei bürgerlichen Kandidaten von der Partei "Recht und Gerechtigkeit" (PiS) und der Bürgerlichen Plattform statt. Es ist in Wirklichkeit ein Kampf zwischen dem konservativ-katholischen Flügel der Bourgeoisie, der eine Außenunterstützung in den USA sucht, und dem liberalen Flügel der Bourgeoisie, unterstützt von der EU und ganz besonders von führenden Kräften des deutschen Kapitals. Doch beide sind streng antikommunistisch, antisozialistisch, Pro-NATO, Gegner Volkspolens, der Sowjetunion sowie jetzt Feinde Rußlands. Im Kern handelt es sich um eine politische Rollenverteilung.
Beide Seiten sind verantwortlich für die juristische Verfolgung der Kommunistischen Partei Polens, deren führende Funktionäre seit mehr als sechs Jahren auf der Strafbank der Strafgerichte in Dabrowa Górnicza und Katowice sitzen. Das ist eine Schande, aber Polen ist jetzt zum Übungs- und Tummelplatz autoritärer, neofaschistischer Elemente geworden, die gegen jegliche Bestrebungen fortschrittlicher, demokratischer und friedensliebender Kräfte zu Felde ziehen.

Prof. Dr. Zbigniew Wiktor, Wroclaw


Zu Anton Latzo: Der Frieden im Baltikum wird bedroht, RF 265, S. 5
Ich freue mich darüber, daß der "RotFuchs" dem Friedensgedanken so viel Raum widmet. Für besonders gelungen halte ich den Beitrag von Prof. Dr. Anton Latzo "Der Frieden im Baltikum wird durch die NATO bedroht" im Februar-RF. Darin weist er u. a. nach, daß die NATO und die USA die Brandstifter sind. Diese Tatsache können auch die salbungsvollen Erklärungen des US-Verteidigungsministers, die er regelmäßig abgibt, nicht widerlegen. Die von ihm und seinesgleichen strapazierten "Werte" der USA existieren nicht. Es sind einzig und allein die über allem stehenden Interessen dieses Staates. Sie dienen nicht dem Frieden und der Völkerverständigung. Ich hoffe nur, daß es Rußland und China gelingt, den Weltgendarmen in die Schranken zu weisen. Zugleich ist es dringend notwendig, daß sich die friedliebenden Menschen der Welt, besonders auch in Deutschland, der gefahrvollen Situation bewußt werden und sich aktiv für den Friedenserhalt einsetzen.

Reinhardt Koblischke, Aschersleben


Bundespräsident Steinmeier klagte auf der im Februar durchgeführten Münchner Sicherheitskonferenz über "die zunehmend destruktive Dynamik der Weltpolitik". Über Rußland sowieso, über die Chinesen wegen deren "selektiver Akzeptanz des Völkerrechts". Streitobjekte seien "Hoheitsrechte über Inseln, Felsen, Sandbänke und maritime Rechte". Und man höre, über die USA, wegen mangelhafter transatlantischer Zusammenarbeit. Vielen ist die derzeitige transatlantische Präsenz in der BRD mit 36.000 US-Soldaten in elf Hauptstandorten, den US-"Enklaven" Ramstein und Grafenwöhr sowie 20 Atomwaffen auf dem Fliegerhorst in Büchel schon zuviel - nichts spräche gegen deren drastische Reduzierung. Europa müsse ran, so der Bundespräsident. "In der Mitte Europas darf kein ängstliches Herz schlagen." Aber schreiten wir nicht schon recht forsch voran? Im Baltikum wird ein neuer Eiserner Vorhang errichtet. 37.000 Soldaten karrt die NATO in diesem Frühling bis 100 Kilometer vor St. Petersburg, deutsche Panzer inklusive. Die BRD ist Weltmeister des Waffenexports. Kein IS-Terrorist könnte ohne westliches Kriegsgerät auch nur einen Schuß abgeben. Deutschland ist bald Rüstungsweltmeister. Zwei Prozent vom Bruttoinlandsprodukt heißt die magische Zahl, deren möglichst baldige Erreichung beschworen wird.

Norbert Staffa, Großolbersdorf


Global wächst erneut die Angst vor "den Deutschen", die schon zweimal im letzten Jahrhundert die Welt in Brand gesetzt haben. Wieder rücken deutsche Truppen vor, zündeln in Asien wie in Afrika und reichen dem US-Brandstifter Trump von Ramstein aus die Zündfackeln zu.
Das Mißtrauen vieler Völker gegenüber Deutschland wird in Anbetracht der deutlich spürbaren innenpolitischen Rechtsentwicklung, zunehmend mit neofaschistischen Auswüchsen, wieder größer. Freilich ist nicht zu übersehen, daß es in der BRD auch Millionen Deutsche gibt, die sehr wohl aus der Geschichte gelernt haben und den Herrschenden kritisch und protestierend "auf die Finger schauen", ihnen gelegentlich auch parlamentarische "Daumenschrauben" anlegen. Doch Einzelaktionen wirken wie "ein Tropfen auf einen heißen Stein".
In Deutschland gibt es zu viele politische Wetterscheiden, die einen einheitlichen Proteststurm gegen Kriegstreiberei wie das bevorstehende, bisher größte gegen Rußland gerichtete NATO-Manöver "Defender" im April und Mai schwächen.

Manfred Wild, Berlin


"An Worte läßt sich trefflich glauben" sagt Mephisto in der Schülerszene des "Faust". Schon immer wurden wichtige politische Begriffe im Kapital-Interesse geschönt, ihre wirkliche Bedeutung soll den Massen verborgen bleiben. So wurde lange Zeit in der BRD das Wort "Kriege" durch "friedenschaffende Einsätze" ersetzt. Bis heute spricht man offiziell von "Nationalsozialismus", einem Begriff, mit dem die Nazis heimtückisch das Nationalgefühl auch bei Sozialisten und sozial eingestellten Bürgern ansprechen wollten. In der DDR wurde dagegen von Anfang an wahrheitsgemäß von "Hitlerfaschismus" oder "Nazi-Faschismus" gesprochen. Auch in anderen europäischen Ländern ist stets von "Faschismus" oder "Nazismus" die Rede, wenn es sich um deutsche Politik zwischen 1933 und 1945 handelt. Ebenso irreführend wird in der BRD von "Machtergreifung" statt wahrheitsgemäß von "Machtübertragung" gesprochen.
Mit dem amerikanischen europaweit gebrauchten Begriff "Defender" verhält es sich etwas anders. Hier wird ein Begriff nicht beschönigend verändert, sondern bewußt mit gegensätzlicher Bedeutung besetzt. Er ist eine Lüge oder, wie man heute sagen würde, ein "Fake". Wer soll denn mit dem großen NATO-Aufmarsch gen Osten verteidigt werden? Gegen welchen Feind? Es geht hier eindeutig nicht um Verteidigung, sondern um Aggression gegen den fiktiven Feind Rußland: Schon immer wurden Angriffskriege mit angeblich notweniger "Verteidigung" begründet, so auch der von Deutschland angezettelte 2. Weltkrieg. Angesichts einer solchen Bedrohung und der Gefahr eines Krieges gegen Rußland müssen alle linken europäischen Kräfte öffentlich den Begriff "Defender" als Lüge entlarven und sofortigen Widerstand gegen den riesigen NATO-Aufmarsch unter US-Führung mit europäischer Beteiligung organisieren. Dazu bedarf es vor allem der Aufklärung. Eile ist geboten!

Eva Ruppert, Bad Homburg


Die gegenwärtige Situation hierzulande und weltweit besorgt mich zutiefst. Als 1939 Geborener gehöre ich zu der ersten Generation, die in keinen Krieg ziehen mußte. Mein Großvater überlebte den ersten Weltkrieg, meine Eltern fielen dem zweiten Weltkrieg zum Opfer.
Frieden sollte das höchste Gut auf Erden sein. Was ich nicht verstehen kann, ist, daß 75 Jahre nach dem verheerenden Weltkrieg das größte Manöver ("Defender 2020") nach Beendigung des kalten Krieges in Europa stattfindet. 20.000 der 37.000 beteiligten Soldaten der US Army werden samt Kampfpanzer über den Atlantik nach Europa verschifft. Allein für den Transport von etwa 7.060 Fahrzeugen werden 15.885 Millionen Liter Diesel benötigt. Es werden riesige Mengen an CO2 ausgestoßen und ein ungeheurer Energieverbrauch für das Manöver veranschlagt - auch unter klimapolitischen Gesichtspunkten ein unverantwortlicher Vorgang!
Und Deutschland dient als "strategische Drehscheibe" im Zentrum Europas und als "rückwärtiges Einsatzgebiet" in einem möglichen Krieg gegen Rußland. Eine größere Provokation gegenüber Rußland kann es nicht geben. Die BRD müßte aus ethischen, moralischen und auch ökonomischen Gründen dieses Manöver ablehnen. Statt dessen erleben wir, daß hier mehr als 37.000 ausländische Militärangehörige stationiert werden. Dazu zählen Amerikaner, Briten, Franzosen, Belgier, Niederländer und Kanadier. Und das soll dem Frieden dienen? Geht es nicht eher um die Gier nach Rußlands Rohstoffen? Damit die Bevölkerung das nicht erkennt, wird Rußland als die Inkarnation des Bösen dargestellt - und China gleich dazu.
"Defender 2020" leistet weder zur Friedenssicherung noch zum Klimaschutz einen Beitrag. Die russische Führung betont, einen 22. Juni 1941 werde es nicht wieder geben. Es ist zu hoffen, daß keiner während des Manövers aus Versehen einen falschen Knopf drückt.

Georg Ehmke, Werder


Betrachtet man die Entwicklung in der Welt, vor allem in den letzten 30 Jahren, so kann man zu dem Schluß kommen, die Menschheit richte sich selbst zugrunde. 1989/90 hatten die vermeintlichen Sieger der Geschichte durchaus die Möglichkeit, das gemeinschaftliche Leben auf diesen Planeten zum Guten zu wenden. Doch das war offensichtlich nicht gewollt. Es läßt aufhorchen, wenn die meisten Nationen, die sich in Davos trafen, das Bild vom Untergang des Lebens auf der Erde an die Wand malten, sollte der sich immer mehr beschleunigende Klimawandel nicht schnell und radikal gestoppt werden. Völlig entgegen dieser Erkenntnis wird das größte NATO-Manöver seit 25 Jahren an der Grenze zu Rußland in Szene gesetzt. Wie läßt sich das mit Ressourcen- und Klimaschutz in Einklang bringen? Es ist doch wohl genau das Gegenteil und bedroht den Frieden. Rußland immer wieder als Feindbild hinzustellen, ist in meinen Augen absurd. Wer sich mit der Geschichte auseinandersetzt, wird erkennen: In den letzten 300 Jahren waren es nicht die Russen, die angegriffen haben. Im Gegenteil, sie waren die Opfer, weil sich manch Möchtegern-Eroberer ein Stück von dem großen und reichen Land einverleiben wollte. Dazu gehörte übrigens auch Polen! So sehr ich auch Greta Thunberg und ihren Einsatz gegen den uns alle bedrohenden Klimawandel befürworte und bewundere, so sehr würde ich mir wünschen, daß diese weltweite Bewegung noch deutlicher Abrüstung und Frieden auf ihre Agenda setzt. Rüstung und Krieg gehören zu den größten Klimakillern, und klar ist: Ohne Frieden ist auch die Rettung des Klimas sinnlos.

Ralf Kaestner, Bützow


Als ich hörte, daß der FDP-Politiker Thomas Kemmerich im Februar mit Hilfe der Höcke-Partei zum Ministerpräsidenten gewählt wurde, war ich nicht überrascht. Denn historische Parallelen zu diesem Vorgang gibt es auch zur ersten Bundestagswahl 1949. Wie bekannt, wurde Konrad Adenauer am 15. September 1949 mit der Mehrheit einer einzigen Stimme (seiner eigenen!) zum Kanzler gewählt.
Es ist daran zu erinnern, daß im ersten Bundeskabinett auch zwei Vertreter der rechtsextremen Deutschen Partei (DP) saßen. "Die Deutsche Partei (DP) war eine rechtsgerichtete politische Partei in Deutschland. Sie wurde 1945/1946 gegründet und erreichte ihre größte Bedeutung in den 50er-Jahren. Damals war sie auch an der Bundesregierung beteiligt", ist in einer Internet-Enzyklopädie zu lesen. Diese Partei hatte mit 939.934 Stimmen 17 Mandate erreicht. Im übrigen errang die KPD 1.361.706 Stimmen, konnte aber nur 15 Abgeordnete in den Bundestag delegieren. Adenauer hatte keine Skrupel, sich von der DP, zusammen mit der FDP, zum Bundeskanzler wählen zu lassen und gemeinsam mit ihr eine Regierung zu bilden. Als "Belohnung" räumte er der DP sogar zwei Ministerposten ein.
Die "Neue Zeit" (Zeitung der DDR-CDU) zitiert am 16. September 1949 unter dem Titel "DP fordert Einfluß" eine Entschließung der Deutschen Partei, in der es heißt: "Die Fraktion der DP hat Dr. Adenauer ihre Stimme gegeben, um die Bildung einer Regierung ohne SPD zu ermöglichen. Ihre Beteiligung an der Regierung wird jedoch von dem Regierungsprogramm und ferner davon abhängen, welchen Einfluß Herr Dr. Adenauer bereit ist, den Vertretern der Deutschen Partei in seinem Kabinett einzuräumen."

Johann Weber, Niederbayern


Wie vor 90 Jahren: Erste Faschisten-Regierung in Thüringen ... Die AfD kommt aus der CDU und der FDP. "Bürgerliche Demokratie" ist das Pseudonym für die Diktatur der Bourgeoisie. Großbanken und Rüstungsmonopole haben vor neun Jahrzehnten die Hitler-Faschisten benutzt für ihre Kriege, Raubzüge und die Massenvernichtung von Menschen.
Heute steht die Menschheit erneut vor existentiellen Problemen:
- Kriegsgefahr, verursacht durch die Weltherrschaftsbestrebungen des US-NATO-Imperialismus gegenüber Rußland und China;
- zunehmende Rechts-Entwicklung (Nationalismus, Rassismus, Antisemitismus) in den USA und in deren Vasallen-Staaten, besonders in der EU;
- verantwortungsloser Raubbau an der natürlichen Umwelt (Abholzung der Wälder, Verschmutzung der Gewässer, Vergiftung der Böden, Verschlechterung des Klimas).
Die Verursacher sind die gleichen wie vor knapp einem Jahrhundert.
Was tun? Aufstehen! Widerstehen!

Horst Jäkel, Potsdam


Es ist ein Skandal, wenn ein Bundespolizist eine Person, die sich auf dem Gelände der Augustusburg in Sachsen zum traditionellen Motorradtreffen in Montur, Haarschnitt und Gestik als Adolf Hitler präsentiert, diese nur fotografiert, ansonsten aber keine andere Amtshandlung unternimmt. Als Vertreter eines staatlichen "Schutz"organs hätte der Polizist doch Maßnahmen ergreifen müssen, um eine solche Provokation zu unterbinden. Leistet ein solches Verhalten nicht der weiteren Ausbreitung von Haß, Gewalt und faschistischer Ideologie direkten Vorschub? Das Geschehen offenbart, wie tief rassistisches und faschistisches Gedankengut auch in staatlichen Strukturen etabliert ist - ein Grund für den Innenminister und die Justizorgane, endlich dagegen vorzugehen.

Hans-Georg Vogl, Zwickau


Zu Esther Bejarano: Offener Brief ... und Victor Grossman: Traditionen ..., RF 264, S. 3 u. 4
Sehr berührt haben mich die Worte Esther Bejaranos zu dem Vorhaben des Berliner Senats, der VVN-BdA die Gemeinnützigkeit zu entziehen. Ein Skandal, den sich die in Berlin Regierenden da leisten! Gut, daß Ihr den Bericht Victor Grossmans "Die Täter urteilen über die Opfer" gebracht habt. Da werden Erinnerungen an den "verordneten" Antifaschismus in der DDR wach. Wir "Alten" (85) wurden seit 1945 erzogen, gegen Krieg, Faschismus und deren Verursacher zu kämpfen.
Ich hoffe, die rot-rot-grüne Koalition in Berlin kann sich zu einer Korrektur des Urteils der Finanzbehörde entschließen.
Von meiner Partei, der PDL, erwarte ich, daß sie dazu eine klare Position bezieht. Welchen Weg werden wir einschlagen? Meiner Meinung nach steht die Frage so: Entweder Sozialismus oder Barbarei! Die wichtigsten Menschheitsprobleme - Krieg und Fluchtbewegungen, ökologische Katastrophen, soziale Ungleichheit - stehen zur Lösung an. Solange es Kapitalismus gibt, so lange wird es Profitstreben, in erster Linie durch Ausbeutung, Unterdrückung und Krieg, geben. Gelöst werden sie zum Wohle der Menschheit nur auf dem Weg zu einer sozialistischen Gesellschaftsordnung. Darauf muß die Strategie der PDL ausgerichtet sein.

Werner Wild, Magdeburg


Nicht selten wird, wenn es um Antifaschismus geht, von "gewaltbereiten Linken, linken Krawallmachern, linken Chaoten und Linksextremismus" geredet. Menschen, die sich eindeutig gegen die Rechtsentwicklung einsetzen, werden diskreditiert und sogar verfolgt. Das hat System, denn diese Rechtsentwicklung ist schon längst tief in der Gesellschaft verankert. Den Herrschenden ist, scheint es, ein Faschist lieber als ein "linker Chaot".
Mir jedoch ist ein Antifaschist lieber als ein braver Wutbürger oder "Patriot", der am Ende mit Neonazis gemeinsame Sache macht! Im übrigen ist Antifaschismus nicht der sogenannte Linksextremismus, sondern vernünftiger, humanistischer Menschenverstand, der unbedingt verteidigt werden muß.

René Osselmann, Magdeburg


Der Generalsekretär der SPD Lars Klingbeil fordert den "Aufstand der Vernünftigen". Haß und Gewalt gehen mehr und mehr um, Kommunalpolitiker müssen um ihr Leben fürchten, werden bedroht, und es wird gemordet. Das ist weder ein Ost- noch ein West-Problem, sondern ein Problem von rechts. Der soziale Nährboden ist bereitet. An rechten Tongebern aus West hat es nie gefehlt ...
Schweigeminuten, die wir seit Rostock, Lichtenhagen, Hoyerswerda, Solingen bis Hanau, über NSU u. a. reichlich in guter Absicht geleistet haben, sie haben nichts daran geändert, nicht verhindert, daß Mord und Gewalt mehr und gefährlicher werden, daß Drahtzieher und Ideologen des Rassismus und Faschismus längst die Parlamente erobert haben. Findet sich hinter manchen Schweigeminuten nicht die schweigende Mehrheit wieder, mehr noch, viele derer, die bis heute und seit Jahrzehnten aus den regierenden Parteien heraus die Stichworte für Haß, Hetze, Rassismus, Feindbilder, Vorurteile und Diffamierungen geben und gegeben haben, was die angeblich Verwirrten, Wahnsinnigen, Psychopathen und Gewalttäter erst geistig schafft. Wer hindert die Sarrazin bis Höcke endlich daran, ihr begeistertes Publikum zu finden? Ist das die Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, die rechts eingeräumt wird und unter denen zugleich antifaschistische Organisationen mit Verboten oder Entzug der Gemeinnützigkeit bedroht werden? Wir brauchen Trauer, aber viel mehr noch Wut und Forderungen, laute Töne und kein Schweigen mehr, Aufstehen in den Parlamenten gegen die Verursacher, die Hetzer und Hasser, die Demagogen auf allen politischen Ebenen, in Bundeswehr, Polizei, Justiz, Wirtschaft, Medien bis in jede Kommune. Weniger Schweigeminuten - mehr Minuten des Aufstehens und Sagens, was ist, wie Rosa es forderte.

Roland Winkler, Aue


Zu Raimon Brete: Leserbrief im RF 264, S. 30
Die "Wirtschaftswoche" gehört nicht zu meiner ständigen Lektüre. Aber wenn ich den Gastbeitrag von Dietmar Bartsch gelesen hätte, wäre ich genauso ärgerlich geworden wie Raimon Brete. Das XIII. Plenum des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale charakterisierte im Dezember 1933 den Faschismus an der Macht als "die offene terroristische Diktatur der am meisten reaktionären, chauvinistischen und imperialistischen Elemente des Finanzkapitals". Diese Einschätzung zitierte Dimitroff in seinem Referat auf dem VII. Weltkongreß der Kommunistischen Internationale 1935. Die Definition bedeutete nicht, daß Hitler und die anderen Naziführer unmittelbare Befehlsempfänger der Bankiers und Großindustriellen waren. Sie waren Teil des Systems und trafen durchaus eigenständige Entscheidungen, die mitunter auch einzelne Angehörige der Kapitalistenklasse betrafen. Die Definition umfaßte auch nicht alle Bereiche des Faschismus, wie den internationalen Faschismus, faschistische Bewegungen oder die Beeinflussung der Massen, die Massenbasis. Doch es war und bleibt eine richtige Einschätzung des Faschismus und ist keineswegs eine vulgär-marxistische These.

Dr. Kurt Laser, Berlin


Dem Freiheitskampf des südafrikanischen Volkes - der durch die historische Persönlichkeit und Rolle Nelson Mandelas inspiriert und geführt wurde - gilt meine ganze Bewunderung. Dessen Sieg über die Apartheid ist nicht vergessen, doch er ist gefährdet, und das macht mir große Sorge. Die Zersplitterung der ehemaligen Widerstandskämpfer, die weitere Verfestigung der früheren Klassenstruktur, in der die ungelösten gesellschaftlichen Widersprüche immer deutlicher zutage treten, lassen befürchten, daß die Vision Nelson Mandelas eines freien, unabhängigen, friedlichen Südafrikas zunichte gemacht wird.

Eberhard Kunz, Berlin


Leserbriefe von Roland Winkler aus Aue lese ich immer mit großer Aufmerksamkeit. Sie treffen stets genau den "Punkt". Zu einem seiner Beiträge, in dem er sich zu den unerträglichen Verleumdungskampagnen gegen die DDR, die ja im Herbst vergangenen Jahres Hochkonjunktur hatten, möchte ich noch meine persönliche Meinung sagen. In den Augen der in Westdeutschland Regierenden war unsere Staatsgrenze zur BRD ein "Eiserner Vorhang".
Für uns garantierte sie 40 Jahre lang ein Leben in Frieden und Sicherheit. Ich bin in den frühen 50er Jahren in die Schule gegangen, habe danach eine ordentliche kostenlose Berufsausbildung genossen, später eine Meisterschule besucht und dann in verantwortlichen Positionen als Leiter gearbeitet und die DDR längere Zeit im Ausland vertreten - kein Gedanke an ein Verlassen unserer Republik und der Familie!
Was wir über den Kapitalismus gelernt haben, erleben wir jetzt. Das Dilemma dieser Gesellschaft ist der Kapitalismus selbst. Der Mensch spielt keine Rolle mehr, nur der Maximalprofit. Man warf uns vor, den "Mangel" zu verwalten. Was macht heute die BRD? Ausländische Fachkräfte müssen her, damit sowohl Profit gesichert wird als auch "Löcher gestopft" werden. Ich habe es selbst erlebt, wie hochkarätige Leute - besonders während der Messen - abgeworben wurden, was der DDR-Volkswirtschaft riesigen Schaden zufügte.
Meine Familie und ich haben gern in der DDR gelebt. Was dann 1989/89 inszeniert wurde, war keine "friedliche Revolution", sondern eine Konterrevolution. Seit Bestehen der DDR galt für die westdeutsche Seite der Satz: Die DDR muß wieder weg! Doch ich lebe in meinen Erinnerungen nicht mit Wehmut, sondern mit Stolz.

Lothar Heimann, Crimmitschau


Zu Manfred Sohn: Fünf nach zwölf, Beilage zum RF 264
Manfred hat recht mit seiner Aufforderung, nicht den Kampf um den Sozialismus zugunsten der Ökologie zurückzustellen, sondern klarzumachen, daß erst der Sozialismus die Voraussetzung schaffen kann, die Umwelt als die andere Quelle neben der Arbeit als Grundlage für ein menschenwürdiges Leben zu würdigen und zu behandeln. Seine "Selbstkritik" der Linken bedarf aber ihrerseits der Kritik. Sie läßt die Notwehr-Situation außer acht, in der sich der Sozialismus von 1917 bis 1989 befunden hat.
Solange neben sozialistischen Staaten der Kapitalismus besteht, muß und wird dieser alles daran setzen, den Sozialismus zu vernichten. So war es, und so wird es auch in Zukunft sein. Als in der Sowjetunion der Bürgerkrieg gewonnen war, mußte sie sich sofort auf künftige Aggressionen des Kapitalismus vorbereiten, und das unter äußerstem Zeitdruck. So begann eine Periode der Fünfjahrespläne, die insgesamt das Riesenland industrialisierte. Unter diesem Zeitdruck mußten Gesichtspunkte der Nachhaltigkeit zweitrangig bleiben. Stalin brachte das 1929 auf den Punkt: "Wir sind hinter den fortgeschrittenen Ländern um 50 bis 100 Jahre zurückgeblieben. Entweder wir schaffen es, diese Strecke in zehn Jahren zu durchlaufen, oder wir werden zermalmt." Das ist gelungen, unter unvorstellbaren Opfern. Eine Position, die verteidigt werden muß.
Anders sah es in den letzten 30 Jahren der Sowjetunion aus: Unter Chruschtschow und Gorbatschow wurde der Sozialismus paralysiert, ohne daß die Nachhaltigkeit einen höheren Stellenwert erhalten hätte.

Fritz Dittmar, Hamburg


Das Corona-Virus hat sich mit Hilfe der bürgerlichen Medien in einen politischen Virus verwandelt. Fast könnte man auf die Idee kommen, daß es in Washington gezüchtet wurde, zumindest kam es der Trump-Regierung wie gerufen. Ihre zunehmend aggressive, mit Sanktionen gepflasterte Außenpolitik richtet sich in erster Linie gegen China, das drauf und dran ist, die USA als ökonomische Weltmacht auf Platz zwei zu verdrängen. Um das zu verhindern, sind alle Mittel recht! Fast alle, denn den Einsatz von Atomwaffen riskiert man vorläufig noch nicht, weil man nur zu gut weiß, daß die eigenen Überlebenschancen gleich null sind. Deshalb sollten wir die Ohren spitzen, wenn die Diskussion über die Ursache des Corona-Virus die mögliche Entwicklung einer biologischen Kriegswaffe einbezieht. Immerhin geht Dr. Francis Boyle, ein Kenner der Biowaffen-Szene, diesen Schritt. Boyle, der für die USA den Gesetzestext zur Umsetzung der Biowaffenkonvention ausgearbeitet hat, sagt: "Das Corona-Virus ist eine offensive Waffe zur biologischen Kriegsführung." (Geopolitics & Empire, Ende Januar) Und es ist kein Geheimnis, daß die US-Regierung seit Jahrzehnten trotz Verbot intensive Forschungen über biologische Kriegsführung hat durchführen lassen. Anders als eine "normale" Waffe oder eine Bombe, deren Einsatz auf den Anwender Rückschlüsse erlauben, ist der Verursacher für den Ausbruch einer Epidemie in einem Ballungsraum schwer bis gar nicht zu ermitteln.
Und noch etwas: Das russische Fernsehen hat auf die Unterschiede der Berichterstattung über das Corona-Virus und die amerikanische Grippeepidemie hingewiesen. Schon mal was von letzterer gehört? In dieser Saison sind weit über 10 000 US-Bürger an der Grippe gestorben, aber die Mainstream-Medien melden das mit keinem Wort ...

Hans Schoenefeldt, Berlin


In Ergänzung der im "RotFuchs" regelmäßig erscheinenden Buch-Tips möchte ich auf interessante DDR-DVDs aufmerksam machen, so zum Beispiel auf eine DVD-Box mit solchen Filmen von Scheumann & Heynowski wie "Piloten im Pyjama". Viele Dokumentationen der beiden DDR-Ausnahmepublizisten sind in dieser Zusammenstellung erfaßt. Oder ich denke an die Reihe "Der Augenzeuge 1946 bis 1955", deren Beiträge stets im Vorprogramm zu Kinofilmen liefen. Sie sind in einschlägigen Geschäften oder im Internet (etwa bei der Firma "Buschfunk") zu erwerben.

Gerd Schulz, Waldau


Zu Dr. Dieter Luhn: Vor 70 Jahren ..., RF 265, S. 29
Mit Begeisterung habe ich den Artikel von Dieter Luhn im "RotFuchs" gelesen. Ich hatte das Glück, 1962/1963 Studentin an der JHS "Wilhelm Pieck" am Bogensee zu sein.
Dieses Studium an der JHS hat mein ganzes Leben bis in die heutige Zeit geprägt.
Vor mir liegt ein Foto, das am 17.11.1962 bei der Abschlußfeier mit den afrikanischen Freunden gemacht wurde - darauf zu sehen ist u. a. Enoch. Er war ein junger Journalist aus Ghana und hatte eine Delegierung der "Jungen Welt" an die JHS zum Studium des ML. Nach seinem Studium ist er nach Ghana zurück und war dort für den Jugendverband seines Landes tätig. Ich selbst war nach dem Studium in unserem Jugendverband im VEB Chemische Werke Buna tätig und später nach einem Studium an der GHS "Fritz Heckert" bei der Gewerkschaft. Danke für diesen sehr interessanten Artikel! Ich bin froh, daß ich die Geschichte unserer Republik mitgestalten durfte.

Waltraud Kreß, Neubrandenburg


Zu Arnold Schölzel: Staatsterrorismus bedroht alle, RF 265, S. 1
Mit Klaus Steinigers Tod verloren wir einen exzellenten Kenner der Geschichte des vergangenen Jahrhunderts, hervorragenden Analysten und kenntnisreichen Marxisten, der nicht nur Gründer unseres "RotFuchs", sondern auch Spitzen-Leitartikler war.
Zunächst fürchtete ich, es könnte kein gleich guter Autor gefunden werden. Zum Glück habe ich da falsch gelegen. Arnold Schölzel ist ein würdiger Nachfolger. Schon zu seinen "junge-Welt"-Zeiten schätzte ich ihn sehr. Nun an der Spitze unseres RF beweist er wieder seine Fähigkeiten. Aufgrund seiner "späten Geburt" kann er natürlich nicht auf so langes eigenes Erleben wie Klaus zurückblicken, aber seine auf marxistischem Fundament basierende Analysefähigkeit und daraus resultierende Vermittlung politischen Wissens sind überaus lobenswert. Sein Leitartikel im letzten "RotFuchs" veranlaßt mich, ihm auf diesem Wege Dank zu sagen.

Wolfgang Reinhardt, Nordhausen


Der im Februar 1998 gegründete "RotFuchs" ist eine von Parteien unabhängige kommunistisch-sozialistische Zeitschrift.

HERAUSGEBER: "RotFuchs"-Förderverein e. V.
Postfach 02 12 19, 10123 Berlin

Das Impressum für die obenstehende Ausgabe ist zu finden unter:
www.rotfuchs.net/files/rotfuchs-ausgaben-pdf/2020/RF-267-04-20.pdf

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Quelle:
RotFuchs Nr. 267, 23. Jahrgang, April 2020
Internet: www.rotfuchs.net


veröffentlicht im Schattenblick zum 13. Juni 2020

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