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ROTFUCHS/157: Tribüne für Kommunisten und Sozialisten Nr. 203 - Dezember 2014


ROTFUCHS

Tribüne für Kommunisten und Sozialisten in Deutschland

17. Jahrgang, Nr. 203, Dezember 2014




Inhalt
  • Als Karl Liebknecht ins Zuchthaus ging
  • Meinst du, die Russen wollen Krieg?
  • Wismarer Schüler in Lübeck: Bekennermut im November 1989
  • Kohls Dresdner Rede gab den Auftakt - Amoklauf im Mantel Gottes
  • Operation OTPOR
  • KgU - Terroristen, die man als solche nicht bezeichnen darf
  • Ein seriöses Buch zur Kriegsschuldfrage
  • Hatte die EU ein Vorläufer-Modell?
  • Wie Feuer und Wasser: CDU in Ost und West
  • Schlagzeile im "Weser-Kurier": "Das war eine Konterrevolution"
  • Zur Mär vom "Unrechtsstaat"
  • Anfrage an den RF: Ist meine Ehe rechtsgültig?
  • Erinnerungen eines Export-Strategen
  • Gysi: Mauerfall war "ungeheurer Befreiungsakt"
  • "Olle Kamellen" - neu aufgewärmt
  • Dichtung und Wahrheit über Stralau
  • Rettungspakete und platzende Blasen
  • RF-Extra - Die Verbraucherpreispolitik der DDR
  • RF-Extra - Präsidentschaftswahlen in Afghanistan - Warlords ohne Ende
  • Bolivien: Evo Morales - Triumph der Moral
  • Wie steht es um die Kurden?
  • Putin würdigte Heldentaten der Roten Armee
  • Was geht in Hongkong vor sich?
  • Venezuela: Killer in Caracas
  • Damals in Buenos Aires
  • Brasilien: Dilmas Sieg wehrte Rechte ab
  • USA: Wo man Waffen wie Brötchen kaufen kann
  • Erinnerungen an Peter Edel
  • Zum Tode von Wolfgang Held
  • Tragik eines Widerstandshelden
  • Compañera Christa: Meine Kinderbücher landeten auf dem Müll
  • Erinnern an einen unvergessenen Puppenspieler
  • Gisela Steineckert: Hand aufs Herz
  • Leserbriefe

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Obamas Super-Bluff

Mit dem Aufnahmevermögen eines Erstklässlers erfuhr ich am 1. September 1939 aus dem "Volksempfänger" der Familie eines Berliner Schulkameraden, warum "Deutschland" nichts weiter übriggeblieben sei, als Polen "abzustrafen". Der "Überfall auf den Reichssender" im oberschlesischen Gleiwitz, bei dem, wie sich später herausstellte, von der SS in polnische Uniformen gesteckte KZ-Häftlinge verheizt worden waren, habe dem "Führer" keine andere Wahl als das Zurückschießen gelassen, hieß es in Sondermeldungen.

Der den Grund zur Auslösung des 2. Weltkriegs vorspiegelnden Erfindung der Goebbels-Propaganda sind inzwischen nicht wenige ähnlich geartete "Rechtfertigungen" anderer imperialistischer Massaker gefolgt.

Vor 50 Jahren - im Spätsommer 1964 - blickte ich an der Küste Nordvietnams auf die fast noch rauchenden Trümmer jener erst Tage zuvor durch "Vergeltungsschläge" der U.S. Air Force heimgesuchten Ortschaften. Auf Befehl Präsident Lyndon B. Johnsons waren als Revanche für einen unterstellten "Zwischenfall im Golf von Tonking" erste Angriffsziele in der damaligen DRV ausgewählt worden. "Kriegsschiffe" Hanois hätten die im Südchinesischen Meer operierenden U.S.-Zerstörer "Maddox" und "Turner Joy" aus "freien Stücken angegriffen", behauptete Washington. In Wirklichkeit ging es um die Ausweitung des Vietnamkrieges vom bereits heiß umkämpften Süden auf den sozialistischen Norden des Landes.

Doch auch die zweite "Gleiwitz-Lüge" - die erste war 1946 im Nürnberger Prozeß gegen die hitlerfaschistischen Hauptkriegsverbrecher geahndet worden - platzte unbarmherzig. Der "Maddox"-Kapitän erklärte bei einer Anhörung im US-Kongreß, keines der beiden Schiffe sei zu irgendeiner Zeit bedroht gewesen.

Übrigens konnte ich mir selbst einen Eindruck davon verschaffen, welcher Art wohl die meisten "Kriegsschiffe" Nordvietnams zu jener Zeit gewesen sein dürften: Die Marinesoldaten eines größeren Kutters mit aufmontiertem leichtem Flakgeschütz zeigten mir die in friedlichen Zeiten malerische Bucht von Ha Long, für deren Schutz sie Verantwortung trugen.

Was Lyndon B. Johnson recht war, konnte George W. Bush nur billig sein: Auch dieser wohl beschränkteste US-Präsident aller Zeiten wollte bei der Kolportage frei erfundener Vorwände zur Kriegsauslösung nicht ins Hintertreffen geraten: Bevor er 2003 Irak überfallen und damit eines der furchtbarsten Blutbäder der modernen Geschichte anrichten ließ, schickte er seinen Außenminister Colin Powell für eine Märchenstunde zum Sicherheitsrat der Vereinten Nationen. Der Herstellung chemischer Massenvernichtungswaffen durch Präsident Saddam Hussein, den die US-Besatzer nach seiner Entdeckung in einer Erdhöhle dem Henker übergaben, müsse im Menschheitsinteresse ein Riegel vorgeschoben werden, frömmelte Powell und präsentierte dabei angeblich authentische Fotos, die sich schon bald als Fälschungen erwiesen. Denn nach dem nur wenig später von Bush befohlenen Überfall auf Irak - ich hatte das Land zwischen Euphrat und Tigris gut zwei Jahrzehnte zuvor in seiner ganzen Widersprüchlichkeit kennengelernt - konnte nicht der geringste Anhaltspunkt für die Bagdad unterstellten Frevel ausfindig gemacht werden.

Doch der Super-Bluff beim Erfinden angeblich zwingender Kriegsgründe blieb Barack Obama vorbehalten: Er entdeckte nach der gelben und roten nun auch die islamistische Gefahr. Mit der ihren engsten nahöstlichen Verbündeten - Saudi-Arabien und Katar - durch die Obama-Administration übertragenen Finanzierung und Formierung der schwerbewaffneten Terrororganisation "Islamischer Staat in Irak und Syrien" (ISIS) verfolgte Washington weitgesteckte strategische Ziele. Dabei ist die Behauptung des Weißen Hauses, die ultra-islamistischen Killerbanden seien buchstäblich aus dem Nichts aufgetaucht, eine unverfrorene Lüge. Tatsächlich führen vom Westen ausgerüstete und instruierte islamistische wie andere Terroristen - darunter vor allem auch die "Freie Syrische Armee" - seit Jahren einen brutalen Vernichtungskrieg gegen die Zivilbevölkerung und die Streitkräfte der rechtmäßigen Regierung in Damaskus.

Während massive Bombardements der U.S. Air Force zur angeblichen Vernichtung der ISIS-Verbände auf dem Territorium Syriens - eines souveränen Mitgliedsstaates der Vereinten Nationen - nur vorgespiegelt sind, gelten die Luftschläge offensichtlich eher dessen Ölraffinerien als dem offiziell benannten Gegner. Sie haben - welch ein Wunder! - den Vormarsch der Terroristen bisher weder aufhalten wollen noch können. So entpuppt sich das "Eingreifen" der USA und reaktionärer arabischer Regimes als reine Farce.

ISIS wurde in der Regie des Pentagons und der NATO zu dem Zweck geschaffen, im nah- und mittelöstlichen Raum wesentliche Verschiebungen des Kräfteverhältnisses zugunsten des Imperialismus herbeizuführen, wobei perspektivisch vor allem auch Iran im Visier ist.

Die den Spuren der Erfinder des "Überfalls auf den Reichssender Gleiwitz", des "Zwischenfalls im Golf vom Tonking" und der "irakischen Massenvernichtungswaffen" folgenden "Kämpfer" gegen in der eigenen Retorte gezüchtete ISIS-Terroristen haben vor allem zweierlei im Auge: Es geht ihnen um den Sturz der antiimperialistischen Assad-Regierung Syriens und deren Ersetzung durch ein prowestliches Regime, das Schritte zur Blockade des einzigen russischen Mittelmeerstützpunktes an der syrischen Küste einleiten könnte. Zugleich will man die vor allem durch Öcalans in der BRD nach wie vor verbotene PKK und andere volksverbundene Kräfte repräsentierten Kurden der Türkei, Syriens und Iraks unterwandern, aufspalten, politisch enthaupten und in Ketten legen. Bei diesem untauglichen Versuch spielt Erdogans islamistisch-faschistoide Regierung, die den Weisungen der NATO folgt, eine besonders üble Rolle. Der vom Imperialismus gezeugte und protegierte "Islamische Staat" - Obamas Super-Bluff - stellt die jüngste Variante gezielter Irreführung der demokratischen Weltöffentlichkeit durch jene dar, welche sich in Lammfelle hüllen und mit Wolfspranken zuschlagen.

Klaus Steiniger

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Hoch Liebknecht! Nieder mit dem Krieg!

Das hier reproduzierte Flugblatt der Spartakusgruppe - der bei Marx gebliebenen Standhaften aus der alten SPD - drückt Solidarität aus. Sie gilt Karl Liebknecht, der wegen seiner mutigen Antikriegsrede am 1. Mai 1916 auf dem Potsdamer Platz Berlins zu einer Zuchthausstrafe verurteilt worden war.

Wir haben das bewegende Zeitdokument der wertvolle Einblicke vermittelnden Broschüre "Mehr als 100 Jahre Friedenskampf am Bodensee" entnommen. Sie wurde herausgegeben von einigen Kreisverbänden der Partei Die Linke und der VVN-BdA Bodensee/Oberschwaben.

Abschrift illegales Flugblatt der Spartakusgruppe vom Juli 1916

Illegales Flugblatt von 1916 nach Verurteilung von Karl Liebknecht

2½ Jahre Zuchthaus!

Arbeiter! Parteigenossen!

Der Streich ist gefallen. Zu 2½ Jahren Zuchthaus haben sie unseren Karl Liebknecht verurteilt. Weil er rief: Nieder mit dem Kriege! steckten ihn die Kriegsknechte in die Zuchthausjacke. Weil er für die Verbrüderung der Völker am 1. Mai demonstrierte, soll er im Hause der Verworfenen schmachten. Weil er für das Volk um Brot und Freiheit kämpfte, haben sie ihn in Ketten geschlagen.

Genossen! Werden wir das Schandurteil ruhig hinnehmen? Werden wir uns den blutigen Faustschlag ins Gesicht gefallen lassen?

Arbeiter! Ihr Frauen des Volkes!
Heraus aus den Betrieben

Ein machtvoller Proteststreik im ganzen Reich zeige der Säbeldiktatur, daß das deutsche Volk aufgehört hat, sich wie ein Hund zu ducken. Wir haben satt den Völkermord und seine Greuel! Wir haben satt die Not den Hunger und das Halseisen des Belagerungszustandes. Die Herrschenden sollen erfahren, daß hinter Liebknecht Hunderttausend, Millionen stehen, die ebenso wie er rufen:

Nieder mit dem Kriege!

Wie ein Donner soll dieser Ruf im ganzen Reich einschlagen und in die Schützengräben rollen. Wir wollen dann sehen, ob die Schergen es wagen werden, bei ihrem Schandurteil festzuhalten. Noch einmal: Ihr Männer und Frauen,

heraus zum Proteststreik!
Hoch der Zuchthäusler Liebknecht!
Nieder mit dem Kriege!

In Berlin fand am Dienstag, den 27. Juni abds. 8 Uhr eine imposante Demonstration statt. Ca. 25000 waren am Potsdamer Platz versammelt. Abgedrängt durch ein riesiges Polizeiaufgebot, bildeten die Demonstranten große Züge und sammelten sich um 10 Uhr am Alexanderplatz von neuem. Militär mit scharfen Patronen war aufgestellt in der Gegend des Potsdamer Platzes.

Am Mittwoch, den 28. Juni in der Frühe begann in Berlin der Proteststreik. Er umfaßte die folgenden Betriebe

Flugplatz Johannistal; Deutsche Waffen- und Munitionsfabriken Berlin; Deutsche Waffen- und Munitionsfabriken Abtlg. Wittenau; A.E.G. Turbine; A.E.G. Gerichtsstraße; A.E.G. Henningsdorf; Ludwig Löwe; Schwarzkopf Reinikendorf; Schwarzkopf, Werk Berlin; Löb Co.; Daimler Marienfelde; Argus Motoren; Max Hasse, Hasse Wrede; Panzer, Kudell, Borsig, Kornbusch, Borrmann, Bergmann, Knorrbremse, Lübke & Straen u. Andere

insgesamt etwa 55.000 Arbeiter der Munitionsindustrie!

Ein Hoch diesen braven Kämpfern um Frieden und Freiheit. Folgen wir alle ihrem Beispiel!

Von 10 Uhr früh gab es in der Lehrter Straße, vor dem Kommandanturgericht Unter den Linden, im Tiergarten große Demonstrationen.

In Braunschweig hat sich die Arbeiterschaft wieder als Vortrupp des deutschen Proletariats mit Ruhm bedeckt. Mit dem Schlag 12 Uhr am Dienstag wurden sämtliche Betriebe der Stadt geschlossen. Gänzlicher Generalstreik ist durchgeführt worden.

In Stuttgart gab es schon am 26. Juni eine große Demonstration auf der Plante. Die Menge zog unter dem Absingen der Internationale und Hochrufen auf Liebknecht zum Schloß und nach der Eßlinger Straße. Viele Demonstranten wurden verhaftet. Darunter die Genossen Crispien und Hörnle. Die Menge widersetzte sich den Verhaftungen, es kam zu scharfen Kämpfen mit der Polizei.

Nachrichten aus anderen Städten fehlen zur Stunde, da die Säbeldiktatur Telefon und Telegraf überwacht, damit die Wahrheit nicht durchdringt. Das wird ihr aber nicht helfen.

Ihr hemmt uns, doch ihr zwingt uns nicht!

Die deutsche Arbeiterschaft ist erwacht. Der Stein ist ins Rollen gekommen.

Mit diesem ersten Proteststreik ist der Kampf nicht zu Ende. Arbeiter, haltet euch bereit zum neuen Handeln! Der Polizeiknüppel kann euch von der Straße wegfegen, aber keine Macht der Erde kann euch zwingen, in die Betriebe zu gehen!

Hoch Liebknecht! Nieder mit dem Kriege!

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Ein Poem von 1961, das aktueller denn je ist

Wir veröffentlichen Jewgeni Jewtuschenkos berühmtes Friedensgedicht sehr bewußt in zwei Sprachen, um damit unsere tiefe Verbundenheit mit dem russischen Volk und allen in der einstigen Sowjetunion aufrecht gebliebenen Menschen, deren Rote Armee die Völker Europas vor dem deutschen Faschismus rettete, zu bekunden.

Meinst du, die Russen wollen Krieg?
Gedicht von Jewgeni Jewtuschenko

[Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Das Gedicht wurde nicht in den Schattenblick übernommen.]

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Wie sich Wismarer Schüler in Lübeck ihrer Haut zu wehren wußten

Bekennermut im November 1989

Nein, sie waren nicht "das Volk", als das sich gewisse Losungen Skandierende empfanden. Es gab weit mehr Bürger der DDR, die nicht der D-Mark hinterherlaufen und ihre gesicherte Existenz aufs Spiel setzen wollten. Sie sehnten sich nicht danach, in einem einheitlichen Deutschland unter Hegemonie der kapitalistischen BRD zu leben und traten für eine echte Reformierung ihres sozialistischen Vaterlandes ein.

Im folgenden möchte ich über ein Ereignis berichten, das sich mir für immer eingeprägt hat. Am 18. November 1989, dem ersten Samstag, an dem auch für Schulen die Fünftagewoche galt, statteten meine Frau und ich der benachbarten Hansestadt Lübeck einen Besuch ab.

Wir bummelten durch die Geschäftsstraßen. Lübeck gefiel uns. Es gab viele Möglichkeiten, die Stadt mit Wismar zu vergleichen. Ich hatte aber bald das Gedränge satt und kam auf den Gedanken, eine Schule aufzusuchen. Von Passanten erfuhr ich, daß die älteste Lübecker Lehranstalt das nahegelegene "Katharineum" sei.

Die Sekretärin meldete mich beim Direktor an. Dann begrüßte mich Oberstudiendirektor Dr. Bode. Nach kurzer Zeit gesellte sich auch sein Stellvertreter zu uns.

Ich unterbreitete Vorschläge für eine künftige Schulpartnerschaft, wobei mir unsere Beziehungen zu Schülern und Lehrern des Broniewski-Lyzeums im polnischen Koszalin vor Augen standen. Die Lübecker Kollegen nahmen meine Idee interessiert zur Kenntnis. Wir vereinbarten neue Treffen. Der Kontakt, um den es mir ging, war hergestellt.

In Wismar informierte ich die Schulleitung und das Kollegium. Wir erwarteten einen Gegenbesuch von Lübecker Lehrern und setzten auf eine ruhige, sachliche Atmosphäre. Doch eine Woche danach erschien ein Kollege Meyer, der sich als Vertreter der AG Jugendliteratur und Medien in der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) vorstellte. Er schlug mir vor, einem Schülergespräch in der NDRSendung "Studio 3" zuzustimmen. Der Wismarer Schulrat erhielt zeitgleich aus Lübeck folgendes Telegramm: "bitte transport sonnabend fuer schueler eos geschwister scholl nach luebeck sicherstellen. dank und gruss dr. bode katharineum zu luebeck."

Meine vorgesetzten Dienststellen erhoben keine Einwände. Herr Meyer wollte für den Transport ins Studio sorgen. Ernst Schwulow, unser an der Schule unterrichtender Fachberater für Staatsbürgerkunde, suchte in seinen 11. Klassen Teilnehmer zu gewinnen, deren Eltern einverstanden waren. Am 28. November erfolgte die Abfahrt der 17 Schüler. Es war schon dunkel, als wir in Lübeck ankamen. Dr. Bode erwartete uns am vereinbarten Treffpunkt. Im NDR-Produktionsatelier verteilte man die Jungen und Mädchen beider Schulen auf zwei Podeste. Eingeleitet wurde das Ganze durch den "Widerstandsbarden" Wolf Biermann mit einem seiner berühmt-berüchtigten Machwerke. Nach schwachem Publikumsbeifall begann die Diskussion, in deren Verlauf immer offensichtlicher wurde, daß sich die Erwartungen der Initiatoren nicht erfüllten. Unsere Schüler stellten Unsachliches richtig, ließen keine Pauschalverurteilungen der DDR zu, antworteten klug und stimmten am Ende gegen eine schnelle Vereinigung beider deutscher Staaten.

Die "Lübecker Nachrichten" zitierten die Antwort eines von ihnen: "Wir müssen erst aus eigener Kraft unsere Probleme lösen."

Um aber die erwünschte Tendenz in die Sendung hineinzutragen, platzte urplötzlich der Telefonanruf eines Zuschauers ins Rede- und Antwortspiel. Ich wurde gefragt: "Warum haben Sie es zugelassen, daß Kinder von Eltern, die Ausreiseanträge gestellt hatten, nicht in die EOS aufgenommen wurden?" Bis zum Sendeschluß hatte ich nur noch Zeit für einen einzigen Satz, mit dem ich nicht zufrieden war. Mein Lübecker Kollege, der das spürte, suchte vergebens, mich durch den Hinweis auf die generell rüde Art der westlichen Medien im Umgang mit Interviewten zu trösten.

Nach der Sendung stellten sich uns die "Macher" vor: Es handelte sich um den "Tagesschau"-Moderator Hanns-Joachim Friedrichs und Sabine Christiansen.

In den nächsten Tagen las ich Briefe, welche uns aus Ost und West erreichten. Eine 81jährige Potsdamerin schrieb u.a.: "Ich möchte Euch auf diesem Wege für Euer Verhalten und Eure ehrliche Stellungnahme danken. Ich hatte den Eindruck, daß Ihr in einem guten Verhältnis zu Eurem Staatsbürgerkundelehrer und Eurem Direktor steht, die sich im Gespräch wohltuend zurückhielten."

Im Brief eines Lüneburger Ehepaares hieß es: "Als ehemalige Schüler des Lübecker Katharineums haben wir uns über den gesamten Rahmen der Sendung gewundert und geärgert, insbesondere über das Verhalten der NDR-Redakteure und über die merkwürdige Zusammensetzung der Lübecker Schülergruppe. Auch angesichts des überdeutlich werdenden parteiergreifenden Stils der Redakteure haben uns Ihre mutigen Aussagen und Ihr selbstkritisches Suchen nach einem eigenen Weg sehr beeindruckt."

Ein Berliner schrieb: "Eure Mannschaft zeigte Selbstbewußtsein als Ausdruck von Wissen und staatsbürgerlicher Reife, kritische Betrachtungsweise, Ungeduld gegenüber Hemmnissen, die uns auf dem Weg zum Wohle aller stören."

Auch Zahnarzt Dr. Heinz Kleininger, Sohn jenes Oberstudiendirektors, der von 1924 bis 1945 Wismars Große Stadtschule, in deren Nachfolge die Geschwister-Scholl-Oberschule stand, geleitet hatte, meldete sich bei uns. "Ihren Auftritt in Lübeck mit Ihren netten Abiturienten fand ich einmalig. ... Ihre Frische hat mich voll für Ihre Jugendlichen eingenommen und begeistert. ... Es waren wirklich heikle Fragen, die von Ihren Schülern bestens beantwortet wurden. ... Für mich war es überraschend, daß die Lübecker für eine Wiedervereinigung waren, die Wismarer aber dagegen."

In der westdeutschen Presse hörte sich manches anders an. So las man im "Spiegel": "In einer bislang beispiellosen Begegnungssendung auf Nord 3 war Moderator Joachim Wagner von der geradezu 'staatsmännischen Sprache' der Jugendlichen irritiert." In den "Lübecker Nachrichten" hieß es: "Die Schüler und Lehrer aus den beiden fast benachbarten Städten taten sich schwer, miteinander ins Gespräch zu kommen. Manch ein 17jähriger äußerte sich nach der Art eines mit allen Wassern gewaschenen Politikers. Besonders die Schüler aus Lübeck erweckten den Eindruck, als hätten sie das Treffen am Leitfaden der Debatte vorbereitet, die am Vormittag im Bundestag stattgefunden hatte. Lebhafter und vor allem auch in wichtigen Punkten kontrovers schilderten die Altersgenossen aus Mecklenburg ihre Erfahrungen. Geradezu trotzig klang es, als einer der Wismarer versicherte, bei ihnen sei bereits lange vor der 'Wende' die Schulzeit in Ordnung gewesen."

Am 8. Juni 1990 vermeldete die "Ostseezeitung": "Mit 270 Schülern und 30 Lehrern fast geschlossen ist die EOS 'Geschwister Scholl' zu ihrer Partnerschule, dem Lübecker Katharineum, gereist. Sie wurden von ebenso vielen Eltern, Lehrern und Schülern empfangen, wie der Direktor der EOS, Oberstudienrat Dr. Harald Jörß, sehr erfreut mitteilte. Die Gastgeber hatten ausschließlich für private Unterkünfte gesorgt. Am Abend stand ein großes Schulfest auf dem Programm."

Noch traf man sich "auf Augenhöhe". Doch nach erfolgter Annexion der DDR gab es keine partnerschaftlichen Beziehungen mehr.

Weder der Staatsbürgerkundelehrer Ernst Schwulow noch ich durften vom Schuljahr 1990/91 an auf Weisung des amtierenden Schulrats, der sich nun Schulsenator nannte, weiter an der Schule unterrichten.

Dr. Harald Jörß, Magdeburg

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Kohls Dresdner Rede gab den Auftakt zur Einverleibung der DDR

Amoklauf im Mantel Gottes

Am 19. Dezember 1989 fand in Dresden ein Treffen statt, das Kohl als "Zäsur im Prozeß der Wiedervereinigung" und sein "Meisterstück" preisen sollte. Gorbatschow hatte am Vorabend der Begegnung von Modrow und dem BRD-Kanzler diesem einen Brief übersandt, in dem er jede Einmischung in die Angelegenheiten der DDR zurückwies. Dieser Staat sei Mitglied des Warschauer Vertrages und ein strategischer Verbündeter der UdSSR. Auch François Mitterrand und Margaret Thatcher legten sich quer und wurden deshalb noch Jahre später mit Kohls Zorn überschüttet. In der DDR besaßen die Verfechter einer "raschen Wiedervereinigung" noch keine Mehrheit.

Wie Horst Teltschik, Kohls damaliger Adlatus, in seinen Tagebuchnotizen verriet, hatte sich sein Chef auf die Dresdner Rede bis ins letzte Detail vorbereitet. Auch der "spontane" Schlußchoral "Nun danket alle Gott!" war vorprogrammiert. Im Gespräch Modrow/Kohl ging es um eine "Vertragsgemeinschaft", die Zusammenarbeit und gute Nachbarschaft fördern sollte. Am Nachmittag des 19. Dezember hielt der Bonner Kanzler an der Ruine der Dresdner Frauenkirche seine "historische" Rede. Von den später in der Elbestadt Regierenden wurde dieses Datum in den Rang eines Gedenktages erhoben.

Im Vorwort seiner "Erinnerungen" schrieb der "Architekt der deutschen Einheit": "Die Wiedervereinigung war ... bis zuletzt ein Balanceakt im Spannungsfeld des Kalten Krieges. Ich zitiere für die Situation, in der ich mich damals wiederfand, gerne Otto von Bismarck, denn es gibt kein besseres Bild: Wenn der Mantel Gottes durch die Geschichte wehe, solle man zuspringen und ihn festhalten. Dafür bedürfte es dreier Voraussetzungen: Erstens muß man einen Blick dafür haben, daß es den Mantel Gottes gibt. Zweitens muß man springen und - drittens ihn festhalten (wollen). Dazu gehört nicht nur Mut. Es bedarf vielmehr einer Paarung von Mut und Klugheit."

Wunderbar! Helmut Kohl sah den Mantel Gottes durch die Geschichte schweben und ergriff ihn, weil er den nötigen Mut und die Klugheit besaß. Der Gipfel der Bescheidenheit!

Mit dieser Kombination aus Sicherheit und Selbstbeweihräucherung sind die Kohlschen Erinnerungen von vorne bis hinten getränkt. Originalton: "Mein Schlüsselerlebnis im Prozeß der deutschen Wiedervereinigung war der Besuch in Dresden am 19. Dezember."

Worin aber bestand es? Der Kanzler trug der ihn feiernden Menge aus Dresdnern und nicht gerade zufällig Angereisten sein Vereinigungskonzept vor. Übrigens sprach er von "Menschen in Dresden" und nicht Dresdnern, weil er wußte, wie der Jubel und das Meer nagelneuer schwarz-rot-goldener Fahnen organisiert worden waren. Seine Rede betrachtete er als "Gratwanderung", den 19. Dezember als einen "großen historischen Tag, ein Erlebnis, das sich nicht wiederholen kann".

Übrigens gab sich der BRD-Kanzler in seiner Rede vor den Resten der Frauenkirche auch als Friedensstifter. Er werde dafür sorgen, daß von deutschem Boden nie wieder Krieg ausgehe, nahm er eine Anleihe bei der jahrzehntelangen Friedenspolitik der DDR. Damit ließ sich international punkten.

Die Forderung nach "Wiedervereinigung" wurde indes wie die Friedensheuchelei zu einer bloßen Tarnformel für den Weg zur "friedlichen" Liquidierung der sozialistischen DDR.

Später offenbarte der seinerzeitige DDR-Ministerpräsident Dr. Hans Modrow: "Kohl ging mit großer Distanz in die Verhandlungen. Er erwartete von mir Zustimmung zu vorbereiteten Erklärungen. Daher plauderte er ins Blaue hinein ... ein früher Sieger."

Nachträglich wurde beschrieben, welche politische Taktik und sprachlichen Tricks Kohl angewendet hatte, um seine wahren Absichten zu tarnen. Die visuelle Kraft der Bildausschnitte definierte den Einheitswillen der Ostdeutschen als unumgehbares Faktum, die Rolle Kohls als die eines umjubelten Kanzlers aller Deutschen und die Rolle Modrows als Interimsverwalter von Kohls Gnaden.

Auf diese Weise führte das Kanzleramt mitten auf dem Territorium des politischen Gegners seine Offensive um die Köpfe und Gefühle der Bürger der DDR. Wem Frieden, soziale Gerechtigkeit und Völkerfreundschaft am Herzen lagen, ahnte, was kommen würde. Andere, die nicht schnell genug Verhältnisse der Ausbeutung und des Krieges auch im Osten haben konnten, mögen gesungen haben: Nun danket alle Kohl, der ja außer Gottes Segen und Mantel auch die stärkeren Bataillone auf seiner Seite hatte.

Dem Kanzler diente das Treffen in Dresden nicht dazu, Probleme zu erörtern, Auseinandersetzungen zu führen oder Lösungen zu finden. Übrigens war seine "Visite" am 19. Dezember 1989 nicht der erste Aufenthalt des Bonner Regierungschefs in der Elbestadt. Auf Einladung Erich Honeckers hatte er bereits im Mai 1988 der sächsischen Metropole einen privaten Besuch abgestattet und dabei u.a. eine Aufführung in der Semperoper erlebt.

Zieht man das Fazit, dann dürfte kaum zu bestreiten sein, daß Kohl mit seiner Dresdner Inszenierung Erfolg hatte. Etwa 1550 Journalisten aus aller Welt berichteten über das Geschehen. Die Bilder von jubelnden Einheimischen und für diesen Zweck Angereisten, die Fahnen der BRD schwenkten und geradezu hysterisch inhaltslose Parolen wie "Deutschland, Deutschland" oder "Helmut, Helmut" und "Wir sind das Volk" skandierten, gingen um die Welt. Die Haltung der versammelten Menschen wurde in den Berichten der bürgerlichen Medien als Ausdruck der generellen Stimmung aller DDR-Bürger kolportiert und international verbreitet.

Helmut Kohl sagte wiederholt, er habe in Dresden die Weichen in Richtung "deutsche Einheit" gestellt und den "rollenden Zug" beschleunigt. Er fragte indes nie, wie viele Menschen dadurch landes- und europaweit unter die Räder gekommen sind. Man müßte hinzufügen: und wie viele damals jubelnde "Kälber" ihre Metzger selbst gewählt hatten.

Prof. Dr. Horst Schneider

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Wie US-Geheimdienste "unerwünschte Machtstrukturen" destabilisieren

Operation OTPOR

Die Geschichte kennt eine Vielzahl von Beispielen, wie durch inszenierte Überfälle, die eine "notwendige Vergeltung" erforderlich machten, das jeweils bestehende Kräfteverhältnis in einer Region oder darüber hinaus verändert wurde. Die Formen und Methoden der überwiegend geheimdienstlichen Unterwanderung und des Sturzes "unliebsamer" Regierungen sowie deren Ersetzung durch eigene Marionetten sind ständig weiter "verfeinert" worden.

Neue Kommunikationsmittel wie Skype, Facebook und Internet spielen im Kalkül der Organisatoren eine wichtige Rolle. William Engdahl, der bereits seit mehreren Jahren über Washingtons Geopolitik schreibt und gute Kontakte zu den Geheimdiensten der USA unterhalten soll, traf in einem Interview die Feststellung: "Kriegsführung durch gewaltlosen Kampf bedeutet nichts anderes, als daß die USA seit dem Ende des Kalten Krieges auf Staaten einwirken, um dort Regimes zu destabilisieren, die nicht der von Washington definierten globalen Agenda folgen."

Wer sind nun die Personen und Gruppen, welche sich vor den Karren der USA spannen lassen und deren Geschäfte besorgen?

Ich will das an einem konkreten Beispiel schildern: In den 90er Jahren wurde an der Belgrader Universität die Gruppe OTPOR (Widerstand) gegründet. Sie diente zunächst als Sprachrohr der Oppositionsbewegung gegen den später in willkürlicher Haft verstorbenen Slobodan Milosevic.

Einer der Gründer dieser Organisation ist der auch heute noch aktive Serbe Srdja Popovic, der in Interviews offen über seine Verbindungen zu Geldgebern in den USA spricht und in Medien ganz ungeniert als "Mister friedlicher Umsturz" bezeichnet wird.

Die Finanzierung von OTPOR ist selbst bei Wikipedia kein Geheimnis. Dort erfährt man, daß sie "über ein Geflecht von westlichen Organisationen mit geheimdienstlichem Hintergrund" erfolgt. OTPOR, das sich später bei CANVAS, dem "Zentrum für angewandte gewaltfreie Aktionen und Strategien" einklinkte, gibt sich als "Denkfabrik mit Trainingszentrum" aus, um seine wahre Funktion zu verschleiern. Doch das eigentliche Ziel bestand und besteht darin, regierungskritische Personen in für die USA strategisch wichtigen, ihnen aber nicht hörigen Ländern ausfindig zu machen und für Aufgaben zur Destabilisierung der dortigen Machtverhältnisse im Sinne der Vereinigten Staaten auszubilden.

Wichtig erscheint in diesem Zusammenhang auch die Schaffung von Zeichen der Auflehnung mit "Wiedererkennungswert" (Orange in der Ukraine, Tulpen in Kirgisien, Rosen in Georgien oder Jeans in Belarus). Charakteristisch ist der Mißbrauch von Symbolen der internationalen Arbeiterbewegung wie der geballten Faust, die besonders bei entsprechenden Strömungen im arabischen Raum, aber auch in Venezuela, Rußland und einigen früheren Sowjetrepubliken Verwendung findet. Erwähnenswert ist, daß sich Aleksandar Maric, einer der Gründer von OTPOR, in diesem Milieu als "Che Guevara" bezeichnen läßt.

Zum Zweck der Einflußnahme auf Jugendliche wurde in der CANVAS-"Denkfabrik" u.a. ein Videospiel entwickelt, welches per Internet oder CD eine enorme Verbreitung findet. Die Finanzierung erfolgt aus den USA.

Inhaltlich geht es dabei um den Kampf gegen eine abstrakte Staatsmacht mit unterschiedlichsten gewaltfreien Mitteln und Methoden. Als Grundlage für die Regisseure bei OTPOR und CANVAS dient das Buch des US-Politologen Gene Sharp "Von der Diktatur zur Demokratie", das detaillierte Strategien zum Umsturz unter den geschilderten Kriterien vermittelt. Es wird bei den OTPOR-Schulungen inzwischen weltweit genutzt.

Der bereits erwähnte Srdja Popovic macht in Interviews aus seinen Zielen kein Hehl. So verweist er darauf, daß OTPOR in Belgrad "Oppositionelle" aus einer ganzen Reihe von Ländern in Praktiken des angeblich gewaltfreien Widerstandes und Umsturzes unterweist und unterdessen in mindestens 37 Staaten aktiv ist. Es handele sich dabei um Länder, in denen "der Westen" seit Jahren "Oppositionsbewegungen" auf einen Machtwechsel vorbereite.

Ganz in diesem Sinne tauchte OTPOR schon 2004 erstmals in der Ukraine auf, wo Aktivisten der sogenannten Pora-Bewegung ausgebildet wurden, die dann zu den Organisatoren der "orangenen Revolution" gehörten und auch derzeit noch aktiv sind. Pora wurde mit "Hilfsgeldern" aus den USA seinerzeit auf die Beine gestellt. Mitglieder dieser Gruppierung besuchten u.a. einen "Crashkurs" im serbischen Novi Sad.

Auch in Georgien war OTPOR beim Umsturz führend beteiligt. Als Präsident Schewardnadse nach Protesten gegen die von seinen Anhängern betriebene Wahlfälschung zum Rücktritt gezwungen wurde, fiel der von dieser Gruppe unterstützten Studentenbewegung KMARA ein wichtiger Part zu. Einer ihrer Führer, ein gewisser Georgi Kandelaki, ließ damals wissen: "Nach unserem Aufenthalt in Belgrad kamen OTPOR-Beauftragte mehrmals nach Georgien. Bei ihrem zweiten Besuch wurde unweit von Tiflis eine Sommerschule organisiert, die 700 neue Aktivisten vorbereitete."

Ein "Aktivist" der ukrainischen "Demokratiebewegung Pora" namens Dmytro Potechnin machte in einem Interview kein Hehl aus der Tatsache, daß seine "Bewegung" erhebliche Beträge aus den USA und Ausbildungshilfe "in Sachen ziviler Ungehorsam" durch OTPOR erhalten habe. Er arbeite auch mit Leuten der belorussischen "Oppositionsbewegung Subr" zusammen, die besonders an dortigen Schulen und Universitäten aktiv seien. Das eigentliche Ziel aber, so Potechnin, sei ein Umsturz in Rußland.

Natürlich ist OTPOR nur ein Glied in der langen Kette subversiver Organisationen, die im Auftrag der US-Geheimdienste an der Destabilisierung souveräner Staaten mit - aus Washingtoner Sicht - "unerwünschten Regierungen" arbeiten.

Dietmar Hänel, Flöha

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Über Terroristen, die nicht als solche bezeichnet werden dürfen

Die "Helden" der KgU

Wenn man die Gerechtigkeitsvorstellungen eines gesellschaftlichen Systems begreifen will, ist es manchmal hilfreich, sich mit jenen zu befassen, welche den heute herrschenden Kräften dienten und deshalb von deren Gegnern verurteilt wurden. Wann ist jemand ein Terrorist und wann nicht? Ist der Versuch, eine Eisenbahnbrücke zu sprengen, ein Terrorakt oder die Tat eines Widerstandskämpfers? Wie immer kommt es auch hier auf den Klassenstandpunkt an.

B. wurde in Düsseldorf geboren. Über seine Jugend ist wenig bekannt. In den letzten Tagen des Zweiten Weltkrieges nahm er einen desertierten Soldaten der Wehrmacht fest, der keinen sinnlosen Tod mehr sterben wollte. Durch glückliche Umstände kam dieser mit dem Leben davon. B. wurde im November 1949 von der Justiz der gerade gegründeten DDR dafür zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. Die Strafe mußte er nur zur Hälfte verbüßen.

Der Mann fand danach bei einem volkseigenen Betrieb in Berlin Arbeit. Schon damals verfolgte er sinistre Pläne. Seine "Nebentätigkeit" bestand darin, daß er zwischen Juli 1950 und März 1951 Tausende antikommunistische Propagandaschriften wie den "Kleinen Telegraph" und die "Tarantel" in die DDR einschleuste. Dann zog ihn die berüchtigte "Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit" (KgU) als ihren Agenten an Land. In deren Auftrag schmuggelte er Flugblätter in die DDR ein und rekrutierte weitere "Mitarbeiter". Er wurde einer ihrer Anführer.

Bald beschäftigte sich B. mit Werkspionage und Sabotage. Es gelang ihm, eine Lieferung von 5000 Spiralfedern, die für seinen Betrieb bestimmt waren, in Westberlin beschlagnahmen zu lassen, was die betreffende Produktionsstrecke zunächst einmal lahmlegte.

1951 standen die III. Weltfestspiele der Jugend und Studenten in der DDR bevor. Der Mann der KgU verfolgte die Absicht, sie durch Terrorakte zu stören. Es sollten Anschläge auf HO-Kioske und Festsäulen verübt, Stinkbomben in die Menge geworfen werden. Dafür erhielt B. von seinem Westberliner KgU-Verbindungsmann Serien von Phosphorampullen und Brandsätzen. Das Vorhaben scheiterte am Unvermögen der Akteure.

B., der täglich mit seinen Kollegen im volkseigenen Betrieb zusammenarbeitete und dabei den netten Kumpel mimte, wollte nun dessen Starkstromanschlüsse sabotieren. Außerdem hatte er das Kraftwerk Klingenberg und den Berliner Rundfunk im Visier. Inwieweit diese Pläne über reine Gedankenspiele hinauswuchsen, ist ungeklärt. Es scheint so, als ob B. fieberhaft von einer Überlegung zur anderen sprang. Er war ein vom Haß auf die DDR Getriebener. Inzwischen hatte B. seine Mitstreiter instruiert, daß es gelte, "den Kommunismus zu bekämpfen, wo immer er auftritt". Verrat sollte mit dem Tode geahndet werden. Darauf leistete man einen "heiligen Schwur".

Die Gruppe wurde von Westberlin mit allem ausgerüstet, was sie für ihre Tätigkeit benötigte. Sie erhielt Waffen und ein eigenes Laboratorium am Kurfürstendamm, wo man Explosivstoffe und Geheimtinten herstellte. Auch Injektionsnadeln für Betäubungszwecke und Säuren, um Maschinen außer Gefecht zu setzen, waren vorrätig. Geld spielte für die KgU keine Rolle.

B. wollte einen Volkspolizeiposten in Dreilinden überfallen, um dessen Unterlagen in seinen Besitz zu bringen. Das Vorhaben scheiterte jedoch, weil das Fluchtfahrzeug beim ersten Versuch eine Panne hatte und sich beim zweiten mehr Polizisten als vermutet am Ort des Geschehens aufhielten.

Anfang 1952 plante B. die Sprengung der Eisenbahnbrücke bei Erkner, über die täglich der "Blaue Expreß" von Berlin nach Moskau fuhr. Dabei waren dessen Entgleisung und der mögliche Tod vieler Reisender anvisiert. Der Anschlag war für den 21. Februar vorgesehen. B. erhielt einen Sprengstoffkoffer und die Anweisung, das Zündkabel auf den Schienen zu installieren. Doch der Plan schlug fehl, da man nicht rechtzeitig ein Fluchtfahrzeug hatte beschaffen können. B. war wütend und nahm jetzt Verbindung mit dem amerikanischen Geheimdienst CIC auf. Der stellte ihn allerdings nur für Spionagedienste mit geringer Besoldung an.

Bei der KgU war man fest entschlossen, einen neuen Anlauf zu wagen. In der Nacht zum 1. März 1952 sollte die Eisenbahnbrücke bei Spindlersfeld in die Luft gejagt werden. B. war nun wieder zur Stelle. Er lieferte den Sprengstoffkoffer an die Terroristen ab und wies sie in der Handhabung ein. Am nächsten Morgen begab er sich zum Ort des Geschehens. Doch wieder wurde er enttäuscht. Volkspolizisten verhinderten die Tat. Die Attentäter waren noch vor dem Eintreffen von B. gestellt und verhaftet worden. Er selbst ahnte davon nichts. Doch am 5. März klickten auch bei ihm die Handschellen. Bereits zehn Tage später stand er vor dem Obersten Gericht der DDR. Dieses betrachtete es als erwiesen, daß er schwerste terroristische Anschläge geplant und bandenmäßig organisiert hatte. Am 15. März wurde B. von diesem Gericht, das gegen ihn seine erste Todesstrafe aussprach, verurteilt. Schon am 2. August 1952 wurde er in Dresden hingerichtet.

Auch aus heutiger Sicht kann kein Zweifel daran bestehen, daß B. ein klassischer Terrorist war. Würde derzeit jemand Anschläge auf Eisenbahnzüge planen, läge die Einordnung solcher Taten auf der Hand.

Doch die Geschichte des B., die sich wie ein Kriminalroman anhört, ist noch nicht zu Ende erzählt. 2005 wurde das Urteil des OG der DDR auf Betreiben einer obskuren "Arbeitsgemeinschaft 13. August" vom Berliner Landgericht für rechtsstaatswidrig erklärt und aufgehoben. Der Täter wurde rehabilitiert. Darüber hinaus erklärte das Tribunal der Sieger, er habe sich grundlos in Untersuchungshaft befunden.

Natürlich durfte bei all dem auch der unvermeidliche Hubertus Knabe nicht fehlen. Im September 2012 sorgte er dafür, daß ein ehemaliger Mitarbeiter des MfS der DDR deshalb zu einer Geldbuße von 1200 Euro verurteilt wurde, weil er B. auf seiner Internetseite als Banditen und Anführer einer terroristischen Vereinigung bezeichnet hatte.

Aus gutem Grund habe ich mich hier auf reine Faktendarstellung beschränkt. Das Gerichtsurteil und Knabes Kreuzzug für B. verraten mir, wie solche Leute mit Andersdenkenden umspringen würden, wenn sie freie Hand hätten. Wer die Methoden und die Ideologie des B. gutheißt, kann seinem "Stil" gegenüber nicht allzu sehr abgeneigt sein. Herr Knabe mag derlei Gebaren als Widerstand einordnen - ich nenne es faschistischen Amoklauf.

Ich bin davon überzeugt, daß es auch im bürgerlichen Lager nicht wenige sachlich denkende Menschen gibt, denen das haßerfüllte Treiben professioneller Brunnenvergifter entschieden gegen den Strich geht.

Ulrich Guhl

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Camille Bloch machte keinen Bogen um heiße Eisen

Ein seriöses Buch zur Kriegsschuldfrage

Mit der Vorgeschichte und Auslösung des Ersten Weltkriegs beschäftigt sich ein schon vor sehr langer Zeit verfaßtes Buch des namhaften französische Historikers Camille Bloch. Als Mitglied einschlägiger Institutionen des Frankreichs der Dritten Republik verfügte er über einen Fundus internationaler Presseerzeugnisse sowie offizieller Veröffentlichungen der in das Vorkriegsgeschehen verstrickten monarchistischen Staaten Europas, den er akribisch auswertete. "Obwohl bereits 1933 in Paris und 1935 in deutscher Übersetzung in Zürich erschienen, ist das Buch keineswegs überholt", betonte der Herausgeber und Verleger Helmut Donat in seiner Vorankündigung. "Im Dritten Reich verboten, zum ersten Mal der deutschen Öffentlichkeit zur Kenntnis gegeben", sei es ein wichtiger "Beitrag zur gegenwärtigen Debatte über die Kriegsschuldfrage ..." Es geht bei Bloch um die höchst aktuelle Auseinandersetzung mit dem von konservativen Historikern hochgejubelten Werk "Die Schlafwandler" aus der Feder des Australiers Christopher Clark, der die längst bewiesene Hauptschuld Deutschlands am Ersten Weltkrieg de facto in Frage stellt.

Clark bezieht sich weniger auf die nachgewiesenen Fakten, sondern ergeht sich in Mutmaßungen, stellt also Subjektives in den Vordergrund. Ihm geht es weniger um die Frage, welche Ursachen zum Krieg führten, als vielmehr um das "Wie". Alles, was nicht in sein Schema paßt, läßt er links oder - besser gesagt - rechts liegen. Der Name des Autors Bloch kommt bei ihm überhaupt nicht vor.

Die gegensätzliche Herangehensweise bei der historischen Analyse von Bloch und Clark charakterisiert Helmut Donat in seiner Einführung zu Autor und Werk mit den Worten: "Anders als Clark befaßt sich Bloch nicht mit der Psyche der europäischen Staatsmänner und besteht als kenntnisreicher Archivar auf der historischen Methode. Er lehnt Behauptungen oder Interpretationen ab, die sich auf Dritte oder fremde Autoritäten gründen, der Spekulation Tür und Tor öffnen und somit die Geschichte verfälschen. Bloch läßt die Fakten sprechen, stützt sich allein auf die Quellen, räumt dabei dokumentarischen Zeugnissen den größtmöglichen Raum ein ... Gleichwohl liest sich sein Buch wie ein moderner Polit-Thriller. In der enormen Menge der bis zum Tag des Erscheinens seines Buches veröffentlichten Dokumente findet sich - und so ist es auch heute noch - kein Indiz dafür, welches zu der Annahme berechtigt, daß es ohne die konzertierten Aktionen der deutschen und österreichischen Machthaber im August 1914 zu einem Krieg gekommen wäre. Demgegenüber mißt Clark den damals in Europa dominierenden Allianzen (Zweibund aus Deutschland mit Österreich-Ungarn und Entente aus Frankreich, Rußland und Großbritannien) zu gleichen Teilen eine Verantwortung für den Krieg bei. Serbien mit seiner Schutzmacht Rußland wird überdies eine ganz besondere Verantwortung unterstellt. Dagegen erfährt man bei Bloch von der überaus verantwortlichen Zurückhaltung Rußlands und Serbiens bei Übergabe des unannehmbaren Ultimatums Österreichs an Serbien. Clark geht so vor, den Ausdruck "Schuld" als "falschen Begriff" zu bezeichnen und ihn aus der Forschung über den Ersten Weltkrieg verbannen zu wollen. Dabei ist die Schuldfrage historisch eindeutig geklärt, die Beweise sind erdrückend. Camille Bloch führt sie einleuchtend vor.

Besonders hinzuweisen ist bei ihm auf das 14. Kapitel "Die russische Mobilmachung und die deutsche Sozialdemokratie". Bloch dokumentiert hier im Detail, wie es zu dem Umschwung in den Auffassungen der SPD als einer antimilitaristischen, die deutsch-österreichischen Kriegsvorbereitungen ablehnenden Partei und zur Bewilligung der Kriegskredite am 4. August 1914 gekommen ist.

So fragt sich: Wer hat noch immer ein Interesse daran, die deutsch-preußische Kriegsschuld am Ersten Weltkrieg zu leugnen? Was wird damit bezweckt?

Es sind die tonangebenden konservativ-reaktionären Kreise der Wirtschafts- und Finanzwelt mit den von ihnen installierten Politikern (an Bord auch wieder reformistische Kräfte aller Couleur) mitsamt dem Schwarm bürgerlicher Medienmacher, entsprechender Historiker und nach Orden gierender Militärs.

Sie sind sich darin einig, daß Deutschland in Gestalt der BRD wieder eine größere Rolle in der Welt spielen sollte oder - wie es heute heißt: Es muß wieder mehr Verantwortung übernehmen! "Die Propagandisten der Zeit nach 1918, allen voran die Historiker, leisteten mit ihren Unschuldsthesen einen gewichtigen Beitrag zu dem Bestreben von Militärs und Politikern, Deutschlands verlorengegangene Großmachtstellung zurückzugewinnen. Die heutigen Revisionisten sprechen sich zugleich vehement dafür aus, daß es sich bei der Wahrung seiner Interessen erneut auf Gewalt stützen solle", liest man bei Donat. Da macht es sich gut, die These zu verbreiten, die Deutschen hätten am Ersten Weltkrieg gar keine oder höchstens eine Teilschuld gehabt. Es sei kein imperialer Raub-, sondern ein Verteidigungskrieg infolge von Einkreisung gewesen. Ablenken und Verschleiern war und ist auch heute noch die Devise. Zur Irreführung gehörten die Dolchstoßlegende und das Bestreben, Zusammenhänge zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg zu leugnen.

"Entlastungslegenden wie 'Wir sind hineingeschlittert' oder ,Alle waren Schlafwandler' hindern die Deutschen weiterhin daran, mit ihrer Geschichte ins reine zu kommen ..." "Die Neuauflage der Unschuldskampagne (durch Clark plus Nachbeter) stellt dazu die intellektuelle Begleitmusik dar und erfüllt den Zweck, den weitgehend friedlich gesinnten Menschen nahezulegen, daß Deutschland wieder Weltpolitik zu betreiben habe und ein solcher Paradigmenwechsel keineswegs im Widerspruch zur Haltung des Kaiserreichs im Jahr 1914 steht ...", konstatiert Helmut Donat. Ein hochinteressantes Buch, das wie nach dem Ende des Ersten Weltkrieges vor nahezu 100 Jahren auch heute politisch brandaktuell ist.

Hans-Joachim Wagner, Berlin


Camille Bloch: Die Ursachen des Ersten Weltkriegs.
Donat-Verlag, Bremen 2014, 240 Seiten, 6 Abbildungen,
14,80 Euro, ISBN 978-3-943425-29-1

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Schon Hitlers Ribbentrop verfocht "Europäische Wirtschaftskonventionen"

Alter Wein in neuen Schläuchen

Deutschland beging 2014 "große Jubiläen": hundert Jahre Erster Weltkrieg, 75 Jahre Zweiter Weltkrieg, 25 Jahre "Sieg der friedlichen Revolution". So haben es Propagandisten des neudeutschen Geschichtsrevisionismus verkündet.

In den ersten großen Krieg sei das Reich "regelrecht hineingeschlittert", wird der Jugend vermittelt. Der zweite habe der Abwehr der Expansion des polnisches Staates gegolten. Die Berufsrevanchistin Erika Steinbach (CDU) - sie verlieh Angela Merkel erst unlängst einen eigens für sie entworfenen güldenen "Orden der Vertriebenen" - weiß es noch besser: Polen hatte "bereits 1933 mobil" gemacht. Der Einmarsch der Wehrmacht 1939 und damit die Auslösung des Zweiten Weltkrieges, seien "nur der zweite Schritt" gewesen.

Und wie steht es um den "Sieg der friedlichen Revolution"? Er bestand, wie man stolz erklärt, in der Beseitigung des "Unrechtsstaates DDR". Das war endlich ein Sieg. Er wurde im Kalten Krieg errungen, den einige US-Politologen ja als Dritten Weltkrieg einstufen.

Tatsächlich hatte der erste Friedensstaat in der deutschen Geschichte den Frevel begangen, für vier Jahrzehnte dem deutschen Imperialismus einen dritten Versuch zu verwehren, sich als Weltmacht zu etablieren.

Der erste Versuch, der zum "Platz an der Sonne" führen sollte, verfolgte als Nahziel die Beherrschung wesentlicher Teile Europas und die Ausweitung kolonialen Besitzes auf anderen Kontinenten. Theobald von Bethmann-Hollweg, Reichskanzler Wilhelms II., erklärte im September 1914: "Es ist die Gründung eines mitteleuropäischen Wirtschaftsverbandes durch gemeinsame Zollabmachungen, unter Einschluß von Frankreich, Belgien, Holland, Dänemark, Österreich-Ungarn, eventuell Italien, Schweden und Norwegen zu erreichen. Dieser Verband, wohl ohne gemeinsame konstitutionelle Spitze, unter äußerlicher Gleichberechtigung seiner Mitglieder, aber tatsächlich unter deutscher Führung, muß die wirtschaftliche Vorherrschaft Deutschlands in Mitteleuropa stabilisieren." Die gegenüber Rußland zu verfolgenden Ziele würden "später geprüft". Der erste Versuch, "deutsche Führung" und die "Vorherrschaft Deutschlands" durchzusetzen, kostete über 10 Millionen Menschen das Leben.

Mit dem zweiten Versuch wurde das angestrebt, was die SA-Mörderbanden schon frühzeitig hinausposaunt hatten: "Heute gehört uns Deutschland und morgen die ganze Welt." Als Ausgangsbasis betrachteten sie ein okkupiertes, vom deutschen Imperialismus beherrschtes Europa. Zu Hauptfeinden hatte Hitler schon Mitte der 20er Jahre den ersten sozialistischen Staat und den "Weltbolschewismus" erklärt. Der von der Beschwichtigungspolitik der imperialistischen Westmächte begleitete "weltgeschichtliche Kampf der arischen Rasse" gipfelte im Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion.

Große Teile des Kontinents waren vier Jahre nach Beginn des Krieges von den faschistischen "Neuordnern" versklavt, ausgeplündert und zerstört.

1943, als sich mit den Schlachten im Kursker Bogen und um Stalingrad bereits die Wende im Kampfverlauf abzeichnete, präsentierte Hitlers 1946 zum Tode verurteilter Außenminister Ribbentrop in einer Denkschrift seine Vorstellungen zur "Neuordnung". Darin hieß es: "Die Einigung Europas ist eine zwangsläufige Entwicklung ... Die Aufgabe des Europäischen Wirtschaftstages und seiner Ausschüsse ist die Vorbereitung und Durchführung europäischer Wirtschaftskonventionen zur Lösung der gemeinsamen wirtschaftlichen Aufgaben, z. B. für die Behandlung der europäischen Wirtschaftsprobleme unter dem Gesichtspunkt der Blockadefestigkeit, die Regelung des Warenaustausches nach dem Grundsatz der europäischen Präferenz gegenüber den außereuropäischen Ländern mit dem späteren Ziel einer europäischen Zollunion und eines freien europäischen Marktes, europäisches Zentralclearing und feste innereuropäische Währungsverhältnisse mit dem späteren Ziel einer europäischen Währungsunion."

Der zweite Versuch des deutschen Imperialismus endete mit der militärischen Niederlage und nahezu 60 Millionen Toten.

Die wichtigste geopolitische Nachkriegsschöpfung der USA in Europa, der westdeutsche Separatstaat BRD, galt in der Truman-Strategie des "Zurückrollens des Kommunismus" (Rollback) als Speerspitze.

Mit dem Marshallplan wieder in den Sattel gehoben, erlangte der deutsche Imperialismus schrittweise ein beachtliches wirtschaftliches Potential. Darauf gestützt nahm er Kurs auf Einfluß und Führungspositionen im Rahmen des westeuropäischen Integrationsprozesses.

Manche Begriffe aus der 43er Denkschrift wie die Einrichtung eines "Europäischen Wirtschaftstages" oder die Schaffung "Europäischer Wirtschaftskonventionen", nahmen bundesdeutsche Politiker als Leitfaden ihres Handelns mit auf den Weg durch die Institutionen, von der 1957 geschaffenen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) über die Europäische Gemeinschaft (EG) bis zur EU. Die Hegemonieansprüche des deutschen Großkapitals konnten Stück für Stück - diesmal ohne Wehrmacht - umgesetzt werden.

Für den Aufbruch zu einem dritten Versuch stand dem deutschen Imperialismus jedoch bis 1989 die sozialistische Staatengemeinschaft - auf deutschem Boden die DDR - im Wege. Deren mit der Konterrevolution erreichter Anschluß an die BRD schuf den erforderlichen Freiraum für den Expansionismus des deutschen Großkapitals.

Dieses beherrscht inzwischen die weite Bereiche Europas umspannende EU. Jeder dritte der umsatzstärksten transnationalen Konzerne auf ihrem Terrain ist deutsch. Mit geballter Kraft nutzen sie das Potential der EU, um die globalen Hegemonieabsichten der BRD voranzubringen und den Wirtschaftsblock unter deutscher Führung als "Global Player" aufzubauen. Der deutsche Imperialismus gibt nach den von Merkel und Schäuble durchgesetzten Maßstäben und Richtlinien den Ton für das weitere Vorgehen der EU an. Als Fraktionsvorsitzender der Unionsparteien im Bundestag hatte Kauder schon vor drei Jahren auf dem Leipziger CDU-Parteitag in ultranationalistischer Manier verkündet: "Jetzt wird in Europa deutsch gesprochen ... Wir spüren, daß wir dieses Europa in eine neue Zeit führen müssen." Der Koalitionsvertrag von CDU/CSU und SPD unterstreicht diesen Anspruch: "Gerade Deutschland - als größte Volkswirtschaft in Europa - kommt eine besondere Verantwortung für unseren Kontinent zu."

Um zu erreichen, daß in ganz Europa deutsch gesprochen wird, soll der Hauptgegner Rußland als Großmacht geschwächt und möglichst zu Fall gebracht werden. Während in den tonangebenden Medien der BRD Russophobie längst zum Tagesprogramm gehört, wird die politisch-militärische Einkreisung Rußlands fortgesetzt. Nach dem von der US-Administration und der BRD-Regierung gesponserten Kiewer Staatsstreich erklärte Ex-NATO-Generalsekretär Rasmussen im Namen des Kriegspaktes die Bereitschaft, dessen "Beziehungen zur Ukraine zu intensivieren". Es folgte der bestellte Aufnahmeantrag des Klüngels um "Premier" Jazenjuk.

BRD-Außenminister Steinmeier verkündete auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2014: "Deutschland muß bereit sein, sich außen- und sicherheitspolitisch früher, entschiedener und substantieller einzubringen."

Unterdessen ist die Neubesetzung der EU-Spitzenposten erfolgt. Das Führungstrio Juncker/Tusk/Mogherini trage "ganz unzweifelhaft eine deutsche Handschrift", urteilten renommierte Beobachter der Brüsseler Szene. Berlin habe über Juncker faktisch die Nominierung des EU-Leitungspersonals an sich gerissen. Die Zahl der BRD-Beamten, die Spitzenpositionen in den Brüsseler Apparaten einnehmen, ist inzwischen Legion.

Prof. Dr. Georg Grasnick

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Die CDU der DDR hatte mit Adenauers CDU nichts gemein

Ein unabhängiger Standpunkt

Ich gehörte bisher nicht zu den "RotFuchs"-Lesern und auch nicht zur Partei Die Linke, kann also manches, was in diesen Kreisen als selbstverständlich gelten wird, nicht wissen. Mich hat jedoch spätestens seit Mitte der 90er Jahre zunehmend gestört, daß in jenem Lager, das für sich in Anspruch nahm und nimmt, die sozialistische Sache zu vertreten, die DDR-Vergangenheit eher als Last denn als wichtiges und zukunftsweisendes Erbe empfunden und behandelt wurde und wird.

Vom Jahrgang 1939, war ich gerade 10 geworden, als die DDR gegründet wurde. Ich habe in ihr die achtklassige Schule besucht, an die ich noch immer mit großer Hochachtung zurückdenke. Anschließend erwarb ich den Facharbeiterbrief. Danach besuchte ich kurze Zeit die Arbeiter-und-Bauern-Fakultät in Potsdam und war dann auf dem Gebiet kirchlicher Sozialarbeit und Ausbildung tätig. An deren Ende entschied ich mich ganz bewußt für den Sozialismus. Bis 1989 habe ich in der DDRCDU (ich bitte zu unterstreichen, daß diese Partei nichts mit der Bonner CDU gemein hatte) für meinen Staat gewirkt. Denn die DDR war mein Staat, in dem mit dem Sozialismus ein neues Kapitel in der Geschichte unseres Volkes begonnen hatte, die auch nach der - meines Erachtens selbstverschuldeten - Niederlage vier Jahrzehnte meines Lebens bestimmte, an die ich gern und an deren Ende ich mit Zorn zurückdenke.

Ich will nicht verschweigen, daß ich 1989/90 aus meinem nationalen Gefühl heraus große Hoffnungen mit der Zusammenführung beider deutschen Staaten verband. Die aber legten sich in dem Maße, wie die Mechanismen, Strukturen und vor allem die sie lenkenden Kräfte immer deutlicher wurden. Diese "deutsche Einheit" war weder deutsch noch einig, sondern eine international kontrollierte, langfristig gesteuerte Angelegenheit, um letztlich ganz Deutschland an die Leine des USA-Imperialismus zu legen. Ich teile dennoch den - ich formuliere das einmal so - historischen Optimismus Prof. Dr. Götz Dieckmanns in seiner Ausarbeitung "Wir hatten einst ein Vaterland", die dem "RotFuchs" Nr. 199 beilag. Ich teile auch dessen Auffassung, das Erbe der DDR als kostbares Gut zu handhaben, unabhängig davon, daß wir auch Grund haben, Fehlern und Irrwegen nachzugehen und sie gründlich zu analysieren.

Dabei geht es nicht allein um die wissenschaftliche Aufarbeitung, so wichtig gerade sie ist; es geht auch um die Emotionen, um die Würde der Menschen, die in den über 40 Jahren (wobei auch die Entwicklungsstufe von 1945 bis 1949 ja nicht von der DDR-Geschichte zu trennen ist) in diesem Staat gelebt, gearbeitet und ihn mitgetragen haben, sonst wären seine Erfolge weder erreichbar noch erklärbar gewesen.

Die Politik der DDR war in die deutsche Geschichte eingebettet und mit der sie tragenden Nation verbunden.

Als es im Zusammenhang mit der Neufassung der sozialistischen Verfassung 1974 zu Unsicherheiten kam und manche meinten, es müsse eine besondere DDR-Nationalität geben, sorgte Erich Honecker mit der Aussage für Klarheit: "Staatsangehörigkeit: DDR; Nationalität: deutsch".

Zur Verbundenheit der DDR-Bürger mit ihrem Staat, die sich - wie Götz Dieckmann zutreffend feststellt - sogar aus den immer raffinierter eingefädelten Anstrengungen zur Diffamierung und Delegitimierung der DDR ablesen läßt: Die DDR-Bürger, zumindest der älteren Generation, fühlen sich in dem eiskalten Wasser des heutigen Alltagslebens einfach nicht wohl - im Gegensatz zu jener Geborgenheit, die sie trotz vieler Schwächen und auch unschöner Erscheinungen in der Deutschen Demokratischen Republik erlebten. Und man kann sich gar nicht genug bemühen, den Jüngeren weiterzugeben, daß diese Geborgenheit kein bloßes Gefühl, sondern verläßliche Wirklichkeit war. Es waren ja keine "anderen Menschen", die damals in der DDR zu Hause waren. Aber ihr subjektives Lebensgefühl war ein völlig anderes, weil es von einer ganz anderen Lebenswirklichkeit getragen wurde. Dabei gab es durchaus auch Probleme im Miteinander der Menschen, Kriminalität und andere unerfreuliche Phänomene.

Götz Dieckmann bedauert zu Recht den zunehmenden Verfall der moralischen Werte, auch jenen der bürgerlichen Werte. Ich kann ihm nur zustimmen. Und doch ist das Verhalten der "gelernten DDR-Bürger" noch immer von diesem Staat gekennzeichnet, sind bei ihnen in so großem Maße Miteinander und Füreinander bestimmend geblieben, daß dies auch auf die Jüngeren ausstrahlt. Halten wir das fest!

Man kann - zwei, drei wichtige Bereiche ausgenommen (etwa die falsche Weichenstellunq des Umgangs mit Handwerkern, Gewerbetreibenden und Kleinbetrieben sowie deren Auswirkungen in der allmählichen Verödung der Altstädte, oder auch die viel zu formell gehandhabte Bündnispolitik) - eigentlich nur staunen, was da insgesamt und im einzelnen geschaffen wurde, immer wieder unterbrochen von Rückschlägen, auch durch eigene Schuld.

"Wo sich auf Wohnungsämtern Hoffnungen verlieren und ein Parteitag sich darüber Sorgen macht ...", heißt es in dem Lied von Reinhold Andert aus dem Jahre 1972, das in der Beilage mit abgedruckt wurde. Fünf Jahre zuvor hatte ich geheiratet und mit meiner Frau und unserer neugeborenen Tochter eine Dachwohnung bezogen - lediglich zwei Räume und zunächst in erbärmlichem Zustand. Heute würde eine solche Wohnung wohl nicht mehr angeboten werden. Mittel für eine Renovierung waren beim VEB Gebäudewirtschaft nicht vorhanden, aber da ich dies in Eigenleistung übernahm, hatte die zuständige Mitarbeiterin ein Argument, mir die Wohnung zuzuteilen.

Nach einer weiteren Zwischenlösung zog auch unsere Familie 1974 in einen völlig neu errichteten Gebäudekomplex. Es handelte sich um eine der vielbegehrten Neubauwohnungen, die heute sehr zu Unrecht als "Platte" abqualifiziert werden.

Hunderttausende haben in den letzten beiden DDR-Jahrzehnten dort gute und preiswerte Wohnungen bekommen. Meine Familie hat sich in unserer "Platte" sehr wohl gefühlt.

Wenn ich mich heute - abermals als Mieter einer Hochhaus-Plattenwohnung - in meinem Kiez bewege, empfinde ich: Auch wenn sich die Rahmenbedingungen inzwischen verändert und keineswegs immer verbessert haben, erinnert hier noch vieles an die DDR-Sozialpolitik. Das wird auch nicht gänzlich getilgt werden können!

65 Jahre nach ihrer Gründung bin ich stolz auf unsere DDR, die - was auch immer berechtigterweise gegen einige ihrer Züge eingewendet werden mag - den gesellschaftlichen Fortschritt und die Lebensleistungen von Millionen ihrer Bürger repräsentierte.

Hans-Joachim Winter, Frankfurt (Oder)

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"Das war eine Konterrevolution"
[Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Der Beitrag wurde nicht in den Schattenblick übernommen.]

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Replik an die Kolporteure der Mär vom "Unrechtsstaat"

Die Koalitionsverhandlungen in Thüringen haben den Streit um den Charakter der DDR erneut entfacht. Die bürgerlichen Parteien bis zu den Führern der SPD werden niemals von einer Kriminalisierung der DDR ablassen. Tatsächlich hat sie ja den Krupps, Thyssens und ihresgleichen nach bürgerlicher Rechtsauffassung deren Eigentum gestohlen. Daß sie dabei auch Fehler beging und selbst mittelständisches Eigentum verstaatlichte, widerlegt diese Tatsache nicht. In Mecklenburg-Vorpommern wurden 1946 die Junker enteignet und deren Land mit der Bodenreform Klein-, Mittel- und Neubauern übergeben.

Auch das war und ist nach bürgerlichem Recht Diebstahl. Die DDR hatte sich wie kein anderes ehemals sozialistisches Land nicht nur deshalb der gnadenlosen Anfeindung durch die kapitalistische BRD - bis 1961 sogar bei offener Grenze - zu erwehren. Doch mit dem Zerfall der UdSSR waren auch ihre Tage gezählt.

Ein Schlußstrich beider Seiten und ein gemeinsamer Aufbruch Deutschlands hätten nahegelegen. Statt dessen begann die bis heute anhaltende "Delegitimierung der DDR". Deren Funktionsträger wurden verfolgt und kriminalisiert. Bis heute vergeht kein Tag, ohne daß die Medien der BRD ihr auf irgendeine Weise eins auswischen würden. Am übelsten agiert die "Stasi"-Unterlagenbehörde. Seit nun schon 24 Jahren ist sie - lebenslänglich und unentrinnbar - ein Käfig für Menschen, welche der DDR die Treue gehalten haben.

Ein konkretes Beispiel der Rachsucht ist die Verfolgung des DDR-Jugendweltmeisters im Eiskunstlauf Ingo Steuer, der als junger Mann eine IM-Erklärung unterschrieb. Nach 1989 führte er seine Sportart in Deutschland wieder zur Blüte. Doch nach wie vor verweigert ihm der Staat BRD die Anerkennung. So sieht die angebliche Einzelfallprüfung in der Praxis aus. Viele ehemalige DDR-Bürger stehen noch immer im gesellschaftlichen Abseits.

Nein, wir LINKEN sollten den Begriff "Unrechtsstaat DDR" nicht an uns heranlassen. Er war, ist und bleibt ein Kampfbegriff des Monopolkapitals und seiner Politiker gegen den Sozialismus schlechthin.

Ich würde den Thüringer Genossen und allen Sozialisten empfehlen, einen anderen Kampfbegriff für die DDR einzuführen: Erster Sozialstaat in der Geschichte Deutschlands. Die Erfinder der Wortverbindung "Unrechtsstaat DDR" haben deren positive Eigenschaften ganz tief unter den Teppich gekehrt. Dabei fällt es der BRD doch verteufelt schwer, für jedes Kind einen Krippen- oder Kindergartenplatz zu schaffen. Sie mag nicht an das umfassende Netz von "Polikliniken" erinnert werden und weicht mit dem Wort "Ärztehäuser" aus. Die einheitliche Sozialversicherung der DDR ist den Menschen im Westen unbekannt. In der BRD gibt es auch kein Gesetz über die Rechte der Frauen. Ihr ist das DDR-Bildungssystem ohne soziale Diskriminierung ebenso fremd wie der Begriff Kinderferienlager - zwei unserer Klassiker.

Einen garantierten Arbeitsplatz zu haben, war bei uns Verfassungsgrundsatz und Verfassungswirklichkeit. Den Bundesbürgern aus dem Westen werden solche und viele andere Tatsachen bewußt vorenthalten. All das ist für mich ein Grund, die Einführung des Kampfbegriffs "Sozialstaat DDR" vorzuschlagen.

Unseren Genossen in Thüringen empfehle ich, in Regierungsämtern nur Dinge zu beschließen, die jedermann Gutes bringen. Den einstigen DDR-Bürgern aber sollten sie den aufrechten Gang nicht verweigern. Mehr noch: Es müßte eine DDR-Erinnerungskultur geschaffen werden. Den Gedenkstätten für jene, welche sich im antifaschistischen Widerstand aufgeopfert haben, sollte ein Erinnerungskalender hinzugefügt werden - für die Grundsteinlegung zum ersten sozialistischen Wohngebiet einer Stadt, für die Gründung der ersten Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft eines Kreises, für den Bau des jeweils ersten Lehrlingswohnheims oder Kindergartens am Ort. Es gäbe da noch eine ganze Menge mehr, woran erinnert werden sollte.

Hans Brandt, Banzkow


Das im WiedenVerlag Crivitz-Schwerin 2014 erschienene Buch unseres Autors "Erinnerungen eines Chefredakteurs" (ISBN 978-3-942946-40-7) berichtet von seiner langjährigen Tätigkeit bei der "Schweriner Volkszeitung" und wird den Lesern des RF sehr als Lektüre empfohlen.

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Ist meine Ehe rechtsgültig?

Im Jahr 1962 war ich - damals 23 - 1. Sekretär der FDJ-Kreisleitung Zerbst. Meine Verlobte (seinerzeit war es noch üblich, sich zu verloben) wohnte in Magdeburg bei ihren Eltern, während ich in einer spärlich möblierten Dachkammer hauste. Da wir zusammensein wollten, aber auch, um uns als Wohnungssuchende anmelden zu können, beschlossen wir zu heiraten. Mein FDJ-Gehalt war nicht üppig und die Versorgungslage damals nicht gerade glänzend. Deshalb sollte unsere Hochzeit ohne viel Aufsehen "im Familienkreis" stattfinden.

Als Hilde Biermann, damals 1. Sekretär der SED-Kreisleitung Zerbst, eine Woche vor dem Ereignis davon erfuhr, war Schluß mit lustig. Ich wurde zu ihr beordert, um mir sagen zu lassen, daß die Heirat des 1. Kreissekretärs der FDJ, der überdies als Kandidat dem Büro der SED-Kreisleitung angehöre, keine "reine Privatangelegenheit" sei, sondern - in gewisser Weise - eine "Protokollveranstaltung".

Es wurde festgelegt, daß der 2. Sekretär der SED-Kreisleitung und mein Stellvertreter bei der FDJ gemeinsam "alles Notwendige" in die Wege leiten sollten. "Und Du redest mit Deiner Braut und der Familie", wurde mir beschieden. Jeder Widerspruch wäre hier zwecklos gewesen. Schließlich hatte ich ja bereits gelernt, "Freiheit als Einsicht in die Notwendigkeit" zu betrachten.

Also nahmen die Dinge ihren Lauf. Die FDJ-Kreisleitung kam auf Sammelfahrschein zum Polterabend nach Magdeburg. Am nächsten Vormittag erfolgte in Zerbst die Eheschließung. Pünktlich um neun holte uns der Wagen des 1. Sekretärs der FDJ-Bezirksleitung, übrigens ein Sachsenring, zum Festakt ab. Eltern und Schwiegereltern wurden mit Autos der SED-Kreisleitung und dem PKW der FDJ transportiert. Bei der Ankunft vor dem Zerbster Rathaus erwartete uns ein Spalier aus Jungen Pionieren und FDJlern.

Es wurden mehr Blumen überreicht, als die Braut tragen konnte. Der Saal des Standesamtes war überfüllt. Mitglieder und Mitarbeiter der Kreisleitungen von SED und FDJ, des Rates des Kreises und andere hatten sich eingefunden. Auch der Komsomolsekretär der bei Zerbst stationierten sowjetischen Panzereinheit war zugegen. Schließlich durfte ein Vertreter der Kreisdienststelle des MfS nicht fehlen. Die Festrede hielt der Sekretär für Agitation und Propaganda der SED-Kreisleitung. Er ließ uns wissen, daß "der Sozialismus siegt" und "die Ehe die kleinste Zelle des Staates" sei. Wir beide sagten aus voller Überzeugung "Ja" und bekundeten das auch durch unsere Unterschrift. Am Ende des Zeremoniells wurde mit Krimsekt angestoßen.

Seitdem war ich der festen Überzeugung, wir seien rechtmäßig verheiratete Eheleute. Doch nun kommen Zweifel auf. Warum? Wenn die DDR, wie man erneut aus Thüringen erfahren konnte, tatsächlich ein Unrechtsstaat war, wie durfte dann dieser eine "rechtmäßig geschlossene Ehe" beurkunden? Noch dazu, wenn die Heirat von SED und FDJ organisiert worden war!

Ob mir Herr Ramelow da mit einer Rechtsauskunft Klarheit verschaffen kann? Oder sollte etwa das richtungweisende Verhalten unseres Herrn Bundespräsidenten auch für andere als Orientierung gelten? Immerhin hat er ja seine im "Unrechtsstaat" mit christlichem Segen geschlossene Ehe stillschweigend zugunsten eines völlig neuen, dafür aber "streng rechtsstaatlichen" Modells der Zweisamkeit aufgegeben.

Bernd Freygang, Berlin

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Warum die Erfolgsbilanz des DDR-Außenhandels unterschlagen wird

Erinnerungen eines Export-Strategen

Vor 25 Jahren ging die DDR zugrunde. Als langjähriger Außenhändler stelle ich fest, daß man aus den Medien der BRD kaum Richtiges über die Exportbilanz des sozialistischen deutschen Staates erfahren kann. In den Berichten wurde allenfalls Schalck-Golodkowskis Bereich Kommerzielle Koordinierung (KoKo) Raum gegeben.

Um der Wahrheit näher zu kommen, will ich als inzwischen 85jähriger, der auf dieser Strecke Erfahrungen sammeln konnte, zum Sachverhalt Stellung nehmen.

1953 kam ich als junger Ingenieur in den VEB EKM, Kraftwerksbau, der für das damalige Energieprogramm der DDR geschaffen worden war. Von dort delegierte man mich in das Ministerium für Maschinenbau.

Seinerzeit fehlte es der DDR noch an wesentlichen Elementen der metallurgischen Industrie. Mit Hilfe der Planwirtschaft wurden der Wiederaufbau und die Neuentwicklung ganzer Industriezweige sinnvoll gelenkt und vorangetrieben. So schuf man die Möglichkeit, schon bald an die Aufnahme des Exports von Anlagen zu denken. Zu diesem Zeitpunkt machte sich das Fehlen eines geeigneten industriellen Partners für den Außenhandel mit Anlagen und Projekten bemerkbar. Unter Minister Heinrich Rau wurde das Zentrale Projektierungsbüro für Maschinenbau am 1. Juli 1954 in den VEB Industrieanlagen-Export (INEX) umgewandelt. Es entstanden die Außenhandelsbetriebe INVEST-EXPORT (IE) und CHEMIEAUSRÜSTUNGEN (CA). 200 Ingenieure aus den Exportbetrieben der DDR wurden im Ministerium für Außenhandel zusammengezogen.

Zuvor hatte INEX in Ägypten bereits Tender-Ausschreibungen über 284 km Freileitungen mit 42 Schaltstationen im Nil-Delta und die schlüsselfertige Errichtung des Kraftwerkes Damanhour für sich entschieden. Am 1. April 1954 schloß der Außenhandelsbetrieb IE mit der Volksrepublik China Verträge über die Projektierung und Lieferung von Ausrüstungen, die Überwachung ihrer Montage sowie die Inbetriebnahme und Leistungsbewertung ab. Es handelte sich um Dampferzeuger, Turbinen, Erzeugnisse der Geräte- und Regelungstechnik sowie um Feuerungen. Die Lieferungen aus volkseigenen Betrieben der DDR waren für die Kraftwerke in Chengshow, Dachiuang, Hanchang, Peking, Kanton, Datung, Ginsi und Namping (damalige Schreibweise) bestimmt.

Im August 1955 wurde ich als Ingenieur für Auslandseinsatz vom Ministerium für Außenhandel eingestellt und in der Handelspolitischen Abteilung bei der DDR-Botschaft in Peking eingesetzt. Für die zahlreichen Abstimmungen mit den örtlichen Bauorganisationen, den Einsatz der Fachkräfte aus der DDR und deren Betreuung bildete man im chinesischen Ministerium für Wasser- und Energiewirtschaft einen Bau-Stab unter Leitung des VEB Energie- und Kraftwerksanlagen (EKE). In dieser Zeit waren Hunderte Fachkräfte aus der DDR in China tätig, um die gelieferten Ausrüstungen bis zur Inbetriebnahme zu installieren. Neue Exportverträge konnten abgeschlossen werden, so für das Heizkraftwerk Taoting sowie 64 Kleinkraftwerke mit Dampferzeugern und Turbosätzen von 1,5 MW und 3,2 MW. Die Anbahnung für das Großkraftwerk Liauling mit Turbosätzen von 50 MW wurde weiter konzipiert.

Auch die Pläne für das Rundfunkteile-Kombinat DOC in Peking, das Meßgerätewerk MENA in Sian und das Schleifscheibenwerk Schach in Deschgshou konnten realisiert werden. Die Leistungen der Fachkräfte aus der DDR wurden gebührend anerkannt. Auch ich erhielt vor meiner Abreise die Freundschaftsmedaille der Volksrepublik China.

Ein anderes Betätigungsfeld lag für mich im Nahen Osten. Die DDR hatte mit der Vereinigten Arabischen Republik (VAR) 1958 in Kairo ein Kreditabkommen vereinbart. Der VEB INEX wurde für eine Reihe von Objekten, darunter eine Anlage zur Herstellung von Freileitungsmasten, eine Verzinkerei für 9000 t, eine Hartfaserplattenanlage und ein Lehrkombinat für Glas-Verarbeiter als Partner gewonnen. Gemeinsam mit Textimaprojekt fungierte INEX als Generalauftragnehmer für die Baumwollspinnerei in Sibin el Kom, Veredlungsanlagen in Shoura el Kema und in Tanta.

Von 1962 bis 1966 war ich Beauftragter des Generaldirektors des Außenhandelsbetriebes IE in Kairo. Ein Baustab für das Büro Invest Export hatte die Aufgaben zur Realisierung des erwähnten Abkommens zu lösen.

1967 übertrug man den Kombinaten, die jeweils mehrere Betriebe einer Branche zusammenfaßten, eigenständige Außenhandelsfunktionen. Damals war ich Direktor für den Export metallurgischer Anlagen des Schwermaschinenbau-Kombinats "Ernst Thälmann" (SKET), dessen Schwerpunkt zu dieser Zeit neben den Lieferungen an die UdSSR vor allem in der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien lag. Dabei ging es um Leistungen für das Walzwerk Zenica, das Buntmetall-Kombinat Prokulje und das Kaltwalzwerk in Smederrevo.

In Algerien wurden durch INEX ein Armaturenbetrieb und durch SKET ein Drahtwalzwerk ausgerüstet.

1977 nahm das Export-Volumen derart zu, daß im Ministerium für Außenhandel der DDR (MAH) unter meiner Leitung die Abteilung Anlagenexport gebildet wurde. Für Angebote von Außenhandelsbetrieben führte man eine reguläre "Verteidigung" ein, zu der die Vertreter der einzelnen Außenhandels- und Export-Betriebe, der Kombinate und anderer Stellen wie der Kreditkommission und der Deutschen Außenhandelsbank der DDR eingeladen wurden.

Das Anbahnungsvolumen beim Anlagenexport lag 1989 bei etwa fünf Milliarden Mark der DDR. Auch bei der Beratung von DDR-Regierungsdelegationen, die in das Nichtsozialistische Wirtschaftsgebiet (NSW) entsandt wurden, spielten kommerzielle Vereinbarungen über die Errichtung von Anlagen eine immer bedeutendere Rolle. Dabei ging es u.a. um Projekte in Iran, Ägypten, Irak, Syrien und Libyen.

1990 wurde diese erfolgreiche Entwicklung jäh beendet. Die BRD wickelte alles, was auch nur nach Volkseigentum roch, gnadenlos ab und steckte die dabei erzielten Gewinne ein. Wie viele DDR-Außenhändler wurde auch ich unter diesen Umständen nicht mehr gebraucht. Bei Anlagen mit Kredit-Bedingungen, die bereits in Betrieb waren, kassierte die BRD noch zu zahlende Raten, welche der DDR zustanden, ohne Hemmungen ein.

Diesen Text habe ich im wesentlichen aus dem Gedächtnis geschrieben. Ich konnte mich nur auf die Festschrift "INEX 1954-1964" stützen, deren Titelseite den Text illustriert. Wie es danach weiterging, versuchte ich zu rekonstruieren. Ich möchte diese Aufzeichnungen nicht abschließen, ohne den Autoren und Gestaltern des "RotFuchs" für ihre ständige Mühe zu danken.

Kurt Engel, Berlin

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Gysi: Der Mauerfall war "ein ungeheurer Befreiungsakt"

"Neues Deutschland" - immer öfter das inoffizielle Zentralorgan des rechten Flügels der Partei Die Linke - veröffentlichte auf der Titelseite seiner Ausgabe vom 8./9. November 2014 unter der völlig indifferenten Schlagzeile "Biermann spricht" seinen Bericht über einen Augenblick der tiefsten Schmach und Schande im Bundestag der BRD. Dort bezeichnete der "Ehrengast" die PDL-Abgeordneten als den "elenden Rest dessen, was zum Glück überwunden wurde".

Während der PDL-Fraktionsvorsitzende Gregor Gysi - immerhin ein studierter Jurist - die strafrechtlich relevante Sudelei des Lieblingsbarden der DDR-Schmäher unkommentiert ließ, betrachtete er die durch Schabowski eingeleitete Öffnung der gesicherten DDR-Staatsgrenze als "einen ungeheuren Befreiungsakt für die Bürger der DDR, die eine Diktatur und kein Rechtsstaat" gewesen sei. Damit stellte der gelegentliche Besucher der Berliner USA-Botschaft den von Merkel und Gabriel demonstrativ in die Arme geschlossenen antikommunistischen Bänkelsänger sogar noch in den Schatten. Die infame Verleumdung des deutschen Friedensstaates anläßlich des sogenannten Mauerfalls war ein Kniefall vor jenem deutschen Staat, welcher für konträre Ziele steht. Dessen Oberhaupt, das hier wohl kaum beschrieben werden muß, läßt keine Gelegenheit verstreichen, ohne die bereits in Jugoslawien und Afghanistan unter Beweis gestellte "militärische Eingreifbereitschaft" der Bundeswehr zu propagieren.

In gewisser Weise handelt es sich bei Gysis neuerlichem Seitenwechsel in Sachen DDR-Bewertung um einen Vorgang, der in seiner Tragweite an das Einknicken der SPD-Reichstagsfraktion im Sommer und Herbst 1914 erinnert.

Allein die Gewißheit, daß es in der heterogenen Bundestagsfraktion der Partei Die Linke außer eloquenten Mantelwendern auch nicht wenige Aufrechte gibt, die sich eher an der moralischen Größe eines Karl Liebknecht orientieren, bewahrt uns vor einer unangebrachten Pauschalisierung.

K. S.

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"Olle Kamellen" - neu aufgewärmt

Als bei den niedersächsischen Landtagswahlen 2008 eine außergewöhnliche Protestwelle empörter Bürger der Partei Die Linke zur Verblüffung ihrer Gegner 7,1 % aller abgegebenen Stimmen und damit eine stattliche Landtagsfraktion bescherte, erfanden die professionellen Rufmörder in gewissen Redaktionen die "Affäre Christel Wegner".

Eine Äußerung der auf der PDL-Liste gewählten DKP-Politikerin wurde grob verfälscht. Man unterstellte der Kommunistin, sie habe sich in einem Interview für die "Wiedereinführung der Stasi" ausgesprochen. Doch der Versuch, linken Kräften das Wasser abzugraben, fiel den Urhebern der Kampagne damals auf die Füße. Was folgte, war Friedhofsruhe: Die Aktivitäten der Landtagsfraktion der Partei Die Linke wurden regelrecht totgeschwiegen, obwohl sie Christel Wegner nicht zu den Ihren rechnete.

Man verfolgte einzelne Mandatsträger polizeilich oder unterstellte ihnen Skandale. 2008 wurde der Abgeordnete Patrick Humke wegen angeblicher "Tätlichkeiten" bei einer Schülerdemonstration derb ins Visier genommen. Nicht anders erging es dem profilierten Kunstschaffenden und PDL-Politiker Dr. Dieter Dehm, der im Juni 2009 wegen der "Schimpfwort"-Affäre bei einer Greenpeace-Aktion vor dem Landtagsgebäude zur Zielscheibe medialer Diffamierung wurde. Vor allem aber ging es darum, die Linksfraktion bei der nächsten Landtagswahl verschwinden zu lassen, was auch klappte: Durch den Verlust eines großen Teils von Protestwählern mußte die PDL das Feld ebenso schnell wieder räumen, wie sie es besetzt hatte.

Wer nun allerdings meint, mit diesem "Triumph" hätte die Verfolgung linker Systemkritiker in Niedersachsen ihr Ende gefunden, wurde spätestens am 19. September eines Besseren belehrt. Als Wochenthema der feuilletonistischen Regionalsendung "Hallo Niedersachsen" wurde einmal mehr der "Stasi-Popanz" strapaziert. Der tiefe Griff in die Mottenkiste des Hubertus Knabe, der erfolgreiche Kundschafter des MfS an den Pranger stellen wollte, erwies sich als Fehlschlag. Nach Edward Snowdens Enthüllungen über das gigantische Ausmaß westlicher Totalüberwachung und die parallelen Machenschaften bundesdeutscher Geheimdienste wirken die früher angestellten Behauptungen zur Dimension des MfS geradezu lächerlich.

Ziel der jüngsten Attacke war wiederum Dieter Dehm, der bereits als Redakteur einer Schülerzeitung inhaftiert worden war und anschließend jahrelanger Bespitzelung durch die entsprechenden Organe der BRD unterlag. Seit dessen 18. Lebensjahr füllte der Verfassungsschutz ganze Folianten mit Berichten über ihn. Inzwischen sind es bereits vier Bände.

Jetzt werden "olle Kamellen", die jeden Geschmack verloren haben, wieder aufgewärmt. Erneut wurde behauptet, Dehm, der damals noch SPD-Mitglied war, sei bis 1978 "IM" des MfS im "Kulturbetrieb der Bundesrepublik" gewesen. Nach dessen Wiederaussiedlung aus der DDR habe er als beruflicher Promoter Wolf Biermanns über den professionellen Querulanten und notorischen Antikommunisten, dem mangels weiterer Nützlichkeit ein erhoffter Aufstieg im Westen nicht so recht gelingen wollte, interne Berichte geliefert. Von Biermann stammt, wie Gisela Steineckert in der Mai-Ausgabe 2014 des RF wissen ließ, der Ausspruch, in der Politik sei "Verrat ein Mittel wie jedes andere". Obwohl es an Beweisen mangelt, wurde ausgerechnet auf Biermanns Bezichtigung zurückgegriffen, um Dieter Dehm in Verruf zu bringen. Der habe ihm "gestanden", von der "Stasi" auf ihn angesetzt worden zu sein, hüstelte Biermann in ein Mikrophon. Die Moral von der Geschicht': Trotz juristischer Teilerfolge im Bemühen um ein Ende der geheimdienstlichen Bespitzelung von Abgeordneten der PDL geht das Spiel mit gezinkten Karten weiter.

Dabei eröffnen gewisse Erklärungen, die DDR sei ein "Unrechtsstaat" gewesen, der Diffamierung all jener neue Spielräume, die prinzipielle Kritik am kapitalistischen System zu üben wagen.

Jobst-Heinrich Müller, Lüneburg

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Dichtung und Wahrheit über das Stralauer Durchgangsheim

CDU will von BRD-Übeln ablenken

Sobald auf Mißbrauchsfälle in westdeutschen, insbesondere katholischen Heimen, aufmerksam gemacht wird, führt man "Fälle" aus der DDR ins Feld, wo angeblich alles viel schlimmer gewesen sein soll. Derzeit geht es um das ehemalige Durchgangsheim der DDR-Jugendhilfe für die vorübergehende Aufnahme von Kindern und Jugendlichen auf der Halbinsel Stralau.

Sicher war der Aufenthalt in einem solchen Heim für die Betroffenen nicht gerade ein Zuckerschlecken. Doch wenn die Stralauer Erzieher die ihnen unterstellten Untaten wirklich begangen hätten, wären sie zu DDR-Zeiten bestraft oder zumindest entlassen worden.

Gefragt werden muß natürlich auch, warum die Senatsverwaltung für Jugend und Familie 1990 aus dem Stralauer Durchgangsheim 25 pädagogische Kräfte übernommen hat. Sie waren anschließend zum Teil in vergleichbaren Westberliner Einrichtungen beschäftigt.

Im "Bericht über ein Konzept des Abgeordnetenhauses von Berlin zur Zusammenführung der Notdienste" im Jahre 1992 wurde festgestellt: "Das früher als geschlossene Einrichtung geführte Durchgangsheim hatte die Aufgabe, aufgegriffene und polizeilich zugeführte Minderjährige ab dem 10. Lebensjahr aufzunehmen und an die bisherigen Wohnsitze zurückzuführen."

Das Gebäude in der heutigen Straße Alt-Stralau 34 entstand ab 1891 und wurde am 1. April 1894 als Schule eingeweiht. Seit 1920 hatte sie acht Klassenstufen. Das Haus wurde 1943 zu einem Lazarett umfunktioniert.

Nach dem Zweiten Weltkrieg diente das beschädigte Gebäude nicht mehr als Schule. 1951 wurde hier ein Hauptpflegeheim für Mädchen eingerichtet.

Zu Beginn der 70er Jahre entstand an gleicher Stelle das "Durchgangsheim für Kinder und Jugendliche Alt-Stralau". Nach Darstellung seines früheren Direktors war es "ein Heim der Jugendhilfe und hatte umfangreiche sozialpädagogische Aufgaben zu erfüllen".

Dort wurden Kinder und Jugendliche im Alter von 11 bis 18 Jahren aufgenommen, die keinen festen Wohnsitz in Berlin hatten. Obdachlosigkeit wurde in der DDR nicht zugelassen. Man wies aber auch schwererziehbare, straffällig gewordene oder kriminell gefährdete Jugendliche ein. Zu den Heimbewohnern zählten überdies verhaltensgestörte Kinder. Das Haus hatte die Funktion, solche Kinder und Jugendlichen wieder ins Elternhaus oder jenes Jugendhilfeheim zurückzuführen, in dem sie vorher untergebracht waren. Aus den vorhandenen Dokumenten geht hervor, daß sich auch "elterngelöste" Kinder im Heim befanden. Dieser zynisch klingende Begriff betraf Eltern, denen das Sorgerecht entzogen worden war. Ihre Erziehungsberechtigten hatten die Kinder mißhandelt oder verwahrlosen lassen. Schließlich befanden sich in Stralau außer verhaltensgestörten auch solche Heranwachsenden, deren Eltern wegen krimineller oder staatsfeindlicher Delikte inhaftiert worden waren. In etlichen Fällen hatten sie ihre Kinder bei der Flucht in den Westen einfach zurückgelassen.

Über jene, welche direkt aus dem Durchgangsheim entlassen wurden, sagte der von 1980 bis 1986 für die Einrichtung zuständige Arzt in einem Interview: "Wenn sie das Heim verließen, bekamen sie eine Ausbildungsstelle, eine Grundausstattung an Wäsche und Mobiliar für eine Wohnung, deren Miete sie für einen bestimmten Zeitraum nicht bezahlen mußten." Der Mediziner fügte hinzu: "Vertreten waren alle Altersgruppen. Die allein zurückgelassenen Kleinstkinder mußten erst einmal gesundgepflegt werden. Fast jedes Kind, das neu hinzukam, war erkrankt, mißhandelt worden oder befand sich in verwahrlostem Zustand."

Zum Haus I in Alt-Stralau 34 kam noch eine Außenstelle hinzu, die eher Internatscharakter trug. Hier waren, betreut von Pädagogen, vor allem solche Jugendliche untergebracht, die bereits eine Lehrstelle hatten und wieder in das normale Leben eingegliedert werden sollten. Sie wurden zu produktiven Tätigkeiten herangezogen. In dieser Zeit gab es an den Polytechnischen Oberschulen der DDR für alle Schüler Werkunterricht und einen Unterrichtstag in der Produktion.

Der erwähnte Arzt berichtete, daß man im Heim die Kinder wieder zu integrieren bemüht gewesen sei, und zwar durch Schule, Ausbildung und zeitweiligen Aufenthalt in einem Ferienheim. Die Kinder und Jugendlichen hatten Ausgang mit Erziehern.

Das Durchgangsheim war finanziell abgesichert und wurde materiell gut versorgt. Das galt auch für die Verpflegung. Es war ausreichend Küchenpersonal vorhanden, so daß für benachbarte Betriebe zusätzlich Abonnementsessen gekocht werden konnten, z. B. eine geschützte Werkstatt für Behinderte in Stralau. Die Zahl der Mitarbeiter des Heimes war relativ hoch. Zu den Angestellten gehörten bis 1990 auch zwei Krankenschwestern. Regelmäßig hielten ein Allgemeinmediziner, ein Hautarzt und ein Psychologe Sprechstunden ab.

Bei dem Durchgangsheim handelte es sich um eine gesicherte Einrichtung. Im Pförtnerhaus taten Volkspolizisten Dienst, wie das auch in zahlreichen Produktionsbetrieben und anderen Einrichtungen der DDR der Fall war. Da Gewaltausbrüche von Heiminsassen, vor denen sich besonders junge Erzieher fürchteten, vorkamen, gab es auch vergitterte Räume.

1991 wurde das Durchgangsheim in einen Jugend-Notdienst umgewandelt, der 1992 nach Alt-Stralau 50 umzog. Dort befand sich später eine Zweigstelle des Kinder-Notdienstes. Von März 1992 bis Juli 1996 wurde die Einrichtung teilweise als Übernachtungsmöglichkeit für obdach- und mittellose Jugendliche genutzt.

Angesichts des geschilderten Sachverhalts erscheint das forcierte Verlangen von CDU-Kommunalpolitikern, an dem Gebäude auf der Halbinsel Stralau eine "Opfer"-Gedenktafel anzubringen, als geradezu absurd.

Dr. Kurt Laser

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Das finanzpolitische Knäuel des Kapitals läßt sich entwirren (Teil 1) 

Über Rettungspakete und platzende Blasen

Ich habe satt, das ewige Wie und Wenn; es fehlt an Geld, nun gut, so schaff' es denn." Derart klagt der Kaiser Mephisto seine Nöte in Goethes 1. Akt des "Faust II". Aber der weiß Rat: "Ich schaffe, was ihr wollt, und schaffe mehr." Er luchst dem Kaiser die Unterschrift ab, läßt das Dokument vervielfältigen und anschließend als Papiergeld verbreiten. Dieses betritt - wenn auch in poetischer Urschöpfung - die Bühne, vorerst des Theaters. In der Weltgeschichte ist "fliegendes Geld" schon aus der Periode der chinesischen Ming-Dynastie um 1400 bezeugt.

Prof. Binswanger, Doktorvater des Super-Bankiers Josef Ackermann, zieht Vergleiche zwischen Mephistos Geldschöpfung und der Alchemie: "Eine wertlose Substanz wird in eine wertvolle verwandelt. Statt Blei zu Gold zu verwandeln, wird nun Papier zu Geld."

Im "Faust II" wird das Geld freilich noch durch nicht gehobene Goldschätze im Boden gedeckt. Und - so argumentieren die Verteidiger des Finanzkapitals - bei aller ökonomischen Narretei, welche die neuen Besitzer des alleinseligmachenden Papiers betrieben, sei es auch sinnvoll und vorwärtstreibend eingesetzt worden. Mephisto ist schließlich ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft. Im realen Kapitalismus fehlt allerdings der klug Lenkende, der das Teuflische zum Guten führt.

"Der Spiegel" fragt sich und seine Leser mit reichlich spätem Erschrecken am 3. August 2014: "Ist der Kapitalismus in eine Sackgasse geraten, wo Geld nicht mehr produktiv eingesetzt wird?" Nanu, hat er sich dummerweise verlaufen, wird er - die Karte oder das Navi im Blick - auf seine Straße der Erfolge zurückkehren?

Freilich ist er in seinen Auswüchsen nicht mehr jener originäre Kapitalismus, welchen Karl Marx einst analysierte. Aber bei allen Bestrebungen, ihn treffend zu charakterisieren - als Casino-Kapitalismus oder als Macht der Alchimisten und Zockerbanden - Kapitalismus bleibt Kapitalismus und seinen inneren Triebkräften, seinem Wesen unentrinnbar verhaftet.

Schauen wir uns an, wie Kapitalismus heute funktioniert und was sich seit den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts geändert hat.

Wir wissen, daß das Geld ursprünglich in die Produktion der Fabriken investiert wurde, um sich dort zu vermehren, also zu Mehrwert zu werden, den die Proletarier mit ihrer Arbeitskraft geschaffen haben. Anders ausgedrückt: um Geld in mehr Geld zu verwandeln, in Kapital. Das wurde dann wieder in die Fabrik gesteckt, um sich weiter zu vermehren, zu akkumulieren, wie es in der Ökonomen-Sprache heißt. Mit anderen Worten: zu noch mehr Kapital zu werden. So funktionierte, vereinfachend gesagt, das klassische Modell des Industriekapitalismus. Das ist auch heute noch die Grundform der kapitalistischen Produktionsweise.

Nun kam es aber seit den 70er Jahren zu bisher unbekannten Ausmaßen der Überproduktion, die selbst bedrohliche Überproduktionskrisen der Vergangenheit weit in den Schatten stellten. Sie betrafen vor allem die Schlüsselindustrien. Den USA machten Europa und Japan mit ihren extrem hohen Produktionskapazitäten bei vergleichbaren Gütern die Marktquoten streitig. In der Folge stürzten die Gewinne - z. B. der Automobil- und der Konsumgüterindustrie sowie anderer Hauptzweige - dramatisch ab. Sie waren aber dennoch so gewaltig, daß es aus privatkapitalistischer Sicht unsinnig gewesen wäre, sie in die Fabriken zu reinvestieren. Wenn zu viele Autos auf Käufer warten, wird man das Geld nicht in Fabriken stecken, die noch mehr Autos herstellen.

Darüber hinaus hatten sich die Produktivkräfte so entwickelt, daß die menschliche Arbeitskraft aus einem Nachfragefaktor zu einem Kostenfaktor geworden war. Die Arbeiter wurden ohne Vergütung in großer Zahl entlassen. Eine Rückkoppelungswirkung trat ein: Bei sinkenden Löhnen und um sich greifender Arbeitslosigkeit fehlte der Masse potentieller Konsumenten das Geld. "Autos kaufen keine Autos", heißt es. Und wo nicht konsumiert wird, stehen immer mehr Bänder still.

So stiegen die großen Unternehmen in die Finanzwirtschaft ein, erhöhten also nicht mehr den Kapitalstock, sondern begaben sich mit ihren industriell erzeugten Gewinnen auf den Geldmarkt. Dort aber benötigte man neben Anbietern auch Abnehmer. Es gibt Schuldner und Gläubiger. Da die Schlüsselindustrie immer weniger in Frage kommt, Geld aber "arbeiten" muß, gilt es, in den Mittelschichten und bei eigentlich Besitzlosen Märkte zu schaffen.

Hier beginnt die alchemistische Phase des Finanzkapitalismus. Es wird auf Teufel-komm-raus Geld verliehen - für privaten Konsum, Hauskäufe, Urlaubsreisen und auch an jene, welche es gar nicht zurückzahlen können. Man verleiht Unsummen an Klienten, die eigentlich gar keine sind.

Am Anfang war es so, daß die USA Riesenmengen Dollars druckten, um ihren Krieg in Vietnam zu finanzieren. Präsident Nixon trennte den Dollar dann von der ohnehin nur noch theoretisch bestehenden Golddeckung. Geld entstand nun zunehmend ohne den früher üblichen Umweg über die Fabriken. Schließlich stellten es die Banken selbst her, indem sie fiktives Geld zu verleihen begannen, das es vorher gar nicht gegeben hatte. Indem Banken Schuldner produzieren, schöpfen sie Geld, und so entstehen enorme Vermögen buchstäblich aus dem Nichts. (Banken müssen heute in der Euro-Zone nur 1 % der von ihnen verbuchten Beträge bei der Europäischen Zentralbank als tatsächlich vorhandenes Bargeld deponieren, die restlichen 99 % können sie ihren Kunden als Kredite gutschreiben.)

Die Zauberformel der Alchimisten der Finanzindustrie sind inzwischen raffinierte Techniken geworden, um Kredite unterschiedlichster Qualität in sogenannten Paketen zu bündeln, die sie weltweit verkaufen. Vor allem europäische Banken haben da zugegriffen.

Als sie dann jedoch unter der Last fauler Kredite zusammenzubrechen drohten, sprangen die Staaten ein, um ihnen Rettungspakete zuzuwerfen. Aus dem Nichts zauberten die Kapitalisten sogenannte Blasen, die irgendwann platzen und Menschen wie Staaten - man denke an Spanien, Griechenland, Portugal und jüngst auch Argentinien - ins Elend stürzen. Doch das Spiel geht weiter - nichts wäre in einer Schuldenökonomie schlimmer als keine neue Blase!

Bernd Gutte

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RF-Extra

Wie der Mangel an Flexibilität zum Selbsttor führte

Die Verbraucherpreispolitik der DDR

Der bereits lebhaft diskutierte Beitrag von Dr. Dieter Krause im August-RF hat mich - einen auf diesem Gebiet jahrelang verantwortlich tätig Gewesenen - angeregt, den Problemkreis der Verbraucherpreise nach dem Maß meiner Kenntnisse und Erfahrungen in einen politischen Zusammenhang zu stellen. In der Tat waren die von Genossen Krause aufgeworfenen Probleme - und auch viele andere - durchaus nicht unbekannt. Sie standen im Mittelpunkt kritischer Debatten in Fachkreisen verschiedener Ebenen.

Es ist keinesfalls mein Anliegen, alle getroffenen Preisentscheidungen in der DDR zu rechtfertigen. Doch sie aus heutiger Sicht bewerten und beurteilen zu wollen, zwingt dazu, sich die jeweiligen Situationen, Zielstellungen und historischen Bedingungen vor Augen zu führen.

Auf dem VIII. Parteitag der SED hatte Erich Honecker 1971 das sozialpolitische Programm der Partei begründet. Ein ganz wesentlicher Aspekt war dabei zweifellos das Konzept stabiler Verbraucherpreise. Es beinhaltete - kurz skizziert - folgende Eckpositionen: Die Preise für die elementarsten Bedürfnisse der Menschen wie Wohnen, Energiebezug, Nahverkehr und Grundnahrungsmittel sollten so gestaltet sein, daß alle Bürger der DDR unabhängig von ihrem jeweiligen Einkommen dabei problemlos mithalten konnten.

Hier wurde ein deutlicher Kontrapunkt zur im Kapitalismus geübten Praxis gesetzt, steigende Kosten grundsätzlich auf die Endverbraucher abzuwälzen. Hauptsache der Profit stimmt, lautet dort die Devise. Wie die Konsumenten damit zurechtkommen, ist Nebensache. Ein deutliches Beispiel dafür sind die Mieten, die Zug um Zug soweit heraufgesetzt werden, daß Menschen aus niedrigeren Einkommensgruppen sukzessive aus ihren angestammten Wohngebieten verdrängt werden.

Der Preis ist in dieser Gesellschaft eines der wichtigsten Instrumente zur Umverteilung des gesellschaftlichen Gesamtvermögens zugunsten der Kapitaleigentümer und Leistungsanbieter. Nicht zufällig wurden gerade die Immobilienhaie aber auch Einzelhandelsoligarchen wie die Albrechts, Otto, Tengelmann u.a. zu den reichsten Leuten dieses Landes.

Die Anbieter von Produkten und Leistungen für Endverbraucher - Versicherungen, Banken, Telefon- und Verkehrsunternehmen, Immobilienkonzerne, Energie-, Wasser- und Gaslieferanten, Handelshäuser, Krankenkassen sowie Unternehmen der Pharmaindustrie -, beschäftigen hochprofessionelle Fachleute und wissenschaftliche Gremien zu dem einzigen Zweck, sich immer wieder neue Mittel und Methoden auszudenken, um den Konsumenten das Geld aus der Tasche zu ziehen. Der "Normalkonsument" ist ihnen hoffnungslos ausgeliefert.

Eine sozialistische Preispolitik aber mußte all dem einen Riegel vorschieben. Deshalb wurden Verbraucher- und Industriepreise von Beginn an staatlich festgelegt. Sie galten für sämtliche Eigentumsformen.

Dieser Stabilitätsaspekt - die Unveränderbarkeit einmal festgesetzter Preise - war aus der Erwägung zustande gekommen, daß jegliche Erfolge bei der Produktion von Konsumgütern und auf dem Gebiet der Dienstleistungen sowie sämtliche Lohnerhöhungen nicht, wie im Kapitalismus üblich, durch Preisanstieg wieder aufgezehrt werden dürften. Jeder Werktätige sollte verläßlich planen können, was er bei wachsendem Einkommen mit seinem zusätzlich verdienten Geld anfangen wollte. Die ihm zur Verfügung stehenden Mittel sollten ohne Abzüge der Steigerung des Lebensniveaus dienen.

Diese Grundposition habe ich als selbst mit der Preispolitik Befaßter damals durchaus verstanden, vertrete sie im Prinzip auch heute noch und würde sie künftigen Architekten linker Zukunftsprojekte empfehlen wollen, allerdings keineswegs in ihrer extrem starren und dogmatischen Auslegung.

Um auf die von Genossen Krause erörterte Brot-für-Rindermägen-Problematik einzugehen: Seinerzeit wurde - und ich meine nicht völlig unberechtigterweise - so argumentiert, daß das Konsumgut Brot - gewissermaßen als Symbolnahrungsmittel für elementarste Lebensbedürfnisse der Menschen - im Preis nicht verändert werden dürfe, selbst wenn dadurch die Herstellungskosten nicht mehr gedeckt werden könnten. Niedrige Preise für Brot und andere Nahrungsmittel sollten allen Bürgern das Gefühl der Sicherheit in der Grundversorgung vermitteln.

Nicht anders als bei Brot verhielt es sich auch mit den Aufkaufpreisen für die verschiedensten Agrarprodukte aus privatem Anbau.

Jemand brachte z. B. eine bestimmte Menge Mohrrüben zur Aufkaufstelle und erhielt dafür - nehmen wir einmal an - 50 DDR-Mark. Anschließend kaufte der Lieferant das eigene Gemüse dann für 20 DDR-Mark zurück. Obwohl das viele für Wahnsinn hielten, wurde dabei der Hintergedanke verfolgt, einerseits möglichst viel Gemüse und Obst aufkaufen zu können, andererseits aber die Endverbraucherpreise nicht heraufzusetzen, weil eine solche Maßnahme ja die Masse der Käufer träfe. Ich erinnere mich an Analysen, denen zufolge etwa 10 % solcher Nahrungsgüter auf die geschilderte Weise "vergeudet" wurden.

Obwohl das durchaus kein stichhaltiges Argument ist, möchte ich darauf hinweisen, daß die heutige Verschwendung von Nahrungsmitteln - allein wegen Überschreitung äußerst knapp bemessener Verfallsdaten - bestimmt wesentlich höher sein dürfte.

Die durchaus sinnvolle Politik stabiler einheitlicher Preise bedeutet indes keineswegs, daß sämtliche Preisentscheidungen aus sozialen Erwägungen a priori vernünftig waren und tatsächlich die beabsichtigte Wirkung erzielten. Bisweilen trat gerade das Gegenteil ein.

Das sozialpolitische Programm der SED von 1971, in dessen Rahmen die hier skizzierte Preisbildung zu den wichtigsten Säulen der damals beschworenen Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik gehörte, ging von einer recht stabilen Situation aus. Doch bereits wenige Jahre nach Verkündung dieser preispolitisch gutgemeinten Strategie hatten sich die ökonomischen Rahmenbedingungen deutlich verschlechtert. Die Weltmarktpreise für Erdöl waren drastisch angestiegen, was sich auch auf die DDR sehr negativ auswirkte.

Dieser Umstand löste in höchsten politischen Gremien der Republik lebhafte Diskussionen aus, die in Forderungen mündeten, eine Korrektur am sozialpolitischen Konzept vorzunehmen. Mir wurde später bekannt, daß Erich Honecker in einer Sitzung des Politbüros rigoros entschieden habe, solche Überlegungen grundsätzlich einzustellen und alle diesbezüglichen Analysen, Entwürfe und Berechnungen zu vernichten.

Vielleicht mag dem der Gedanke zugrunde gelegen haben, daß ökonomische Probleme nur in der Wirtschaft selbst zu lösen seien, nicht aber - wie im Kapitalismus - durch Abwälzen auf die Schultern der Konsumenten. Zudem glaubte der Generalsekretär damals noch fest daran, daß die weitere Verwirklichung des sozialpolitischen Programms (man denke an die Erfolge im Wohnungsbau) auch mit solchen, wie man meinte, zeitweiligen Schwierigkeiten fertigwerden könnte. Ziemlich sicher ist anzunehmen, daß bei all dem auch die negativen Erfahrungen des 17. Juni 1953 eine maßgebliche Rolle gespielt haben dürften. Damals hatten unpopuläre Maßnahmen, insbesondere auf administrativem Wege erfolgte generelle Normerhöhungen, die DDR an den Rand einer Katastrophe gebracht. Dies durfte keinesfalls erneut passieren.

Ich glaube dennoch, daß Erich Honeckers unverrückbare Entscheidung eine weit in die Zukunft reichende Wirkung hatte. Bis zum bitteren Ende wurde an der dogmatischen Handhabung der Politik stabiler, sprich: unveränderbarer Preise festgehalten - mit deutlich negativen Konsequenzen, wie sich herausstellte. Denn die wirtschaftliche Realität richtete sich natürlich nicht nach den subjektiven Wünschen und Erwartungen der Parteispitze. So gerieten die "starren" Verbraucherpreise immer mehr in Widerspruch zur tatsächlichen Aufwandsentwicklung, die trotz Erhöhung der Arbeitsproduktivität nicht abgefangen werden konnte. Eine fundamentale Rolle spielten dabei die erhöhten Weltmarktpreise für eine große Skala von Produkten.

Um das Problem zu "lösen", wurde versucht, durch eine entsprechende Preisbildung für sogenannte neue Erzeugnisse einen gewissen Ausgleich zu schaffen. Das aber machte die Situation eher noch schlimmer. Auf dem Markt erschienen innerhalb ein- und derselben Erzeugnisgruppe "alte" Waren zu äußerst niedrigen Preisen neben "neuen" mit deutlich höheren, wobei deren "Neuheitsgrad" mitunter kaum wahrnehmbar war.

Dies wurde von den DDR-Bürgern verständlicherweise als Verletzung der ihnen zugesagten Politik stabiler Verbraucherpreise empfunden, zumal mehr und mehr Erzeugnisse unterer Preiskategorien aus dem Angebot verschwanden. Um dem entgegenwirken zu können, wurde die sogenannte Preisgruppenplanung eingeführt, wodurch die Betriebe mit bestimmten Anteilen der Produktion in der unteren, mittleren und oberen Preisgruppe beauflagt wurden.

Diese - man kann fast sagen - verzweifelten Versuche, die sozialpolitische Zielstellung der Verbraucherpreispolitik trotz allem noch irgendwie retten zu wollen, schlugen fehl.

Die Preisstützungen für Erzeugnisse und Leistungen, bei denen stabile, also über lange Zeiträume unveränderte Preise galten, stiegen unaufhörlich, bis sie schließlich fast an die 80-Milliarden-DDR-Mark-Grenze stießen.

Betroffen war der weitaus größte Teil der den Gesamtkonsum ausmachenden Waren und Leistungen: Wohnungsmieten, Energie, Nahverkehr, Gebühren und Versicherungen, Grundnahrungsmittel, Baumaterialien, etliche Textilien, technische Konsumgüter u. v. m. Die Subventionen belasteten aber nicht nur den Staatshaushalt der Republik empfindlich, sondern waren auch eine Ursache dafür, daß der Eindruck von DDR-"Mangelwirtschaft" entstehen mußte. Denn die - auch im Ergebnis der sozialpolitischen Grundkonzeption - weiter gestiegenen Löhne und Gehälter (einschließlich Leistungsprämien) erzeugten ein finanzierbares Verlangen nach Waren und Leistungen, das nicht mehr abgedeckt werden konnte.

Ich möchte hier ausdrücklich feststellen, daß das Angebot in diesen beiden Kategorien bis zum Schluß sogar noch gesteigert wurde, während die Kluft zwischen Kaufkraft und Angebot zu "stabilen" Preisen schneller wuchs, so daß alles, was auf den Markt kam, schnell wieder "abgeräumt" wurde. Die Spareinlagen der DDR-Bevölkerung betrugen zuletzt fast 200 Milliarden DDR-Mark. (!) Dahinter verbarg sich nicht nur bewußter Konsumverzicht zur Zukunftsabsicherung. Die Kauflust hätte sich bei entsprechendem Angebot schnell aktivieren lassen. Überdies leisteten die niedrigen Preise und Tarife der Vergeudung Vorschub. Das wurde besonders bei Elektroenergie spürbar.

In der Wohnungswirtschaft führten unterbelegte Quartiere mit überzähligen Räumen dazu, daß zu große Wohnungen beibehalten wurden, statt nach angemessenen Ausschau zu halten. Zugleich fehlten die Mittel für Sanierung und Werterhaltung vorhandenen Wohnraums, die statt dessen zur Stützung der Mieten (zuletzt etwa 16 Milliarden DDR-Mark im Jahr!) vergeudet wurden.

Diese Probleme und "Mangelerscheinungen" haben zweifellos die Grundstimmung der DDR-Bevölkerung sehr negativ beeinflußt. Auch die zum Teil überzogenen Preise für neue Erzeugnisse wirkten in gleicher Richtung. Mir ist das aus vielen Eingaben bekannt, die an die staatlichen Organe und Parteileitungen bis hin zu Erich Honecker gerichtet wurden. Nach meiner Erinnerung betraf rund die Hälfte von ihnen jene Fragen, auf die sich auch Dr. Dieter Krause bezogen hat.

Die hier geschilderten Probleme blieben den auf diesem Gebiet Verantwortlichen nicht verborgen. Ende der 80er Jahre wurden mehrere Entscheidungsvorlagen dazu ausgearbeitet und dem Politbüro vorgelegt. Dabei verzichtete man bewußt darauf, die Frage der Preise für Brot und andere Grundnahrungsmittel auch nur aufzuwerfen. Es ging um solche hochsubventionierten Erzeugnisgruppen und Waren wie Blumen, Campingartikel. Werkzeuge, Haushaltsgeräte, Modelleisenbahnen u. a. Auch Wohnungsmieten und Energiepreise spielten jetzt eine Rolle, einschließlich finanzieller Maßnahmen zur Vermeidung sozialer Härten. Alle diesbezüglichen Vorschläge wurden indes durch Erich Honecker abgelehnt. Zwar gab es jetzt kein direktes Verbot weiteren Arbeitens in dieser Richtung mehr, doch letztlich waren alle Anstrengungen auf Sand gebaut.

Die Situation erwies sich als so verfahren, daß ein radikaler Schnitt notwendig gewesen wäre. Uns wurde klar, daß ein "Weiter so!" weder ökonomisch noch politisch länger zu rechtfertigen war. Aber für einen grundlegenden Wandel war die Zeit abgelaufen. Hinzu kam: Die Versorgungslage der Bevölkerung spitzte sich immer mehr zu, und wenn dann noch Preiserhöhungen hätten durchgedrückt werden sollen, würde das - so mag man an der Partei- und Staatsspitze gedacht haben - die Konterrevolution auslösen. Daß sie trotzdem nicht aufzuhalten war, steht auf einem anderen Blatt.

Aus meiner Sicht gab es eine erschreckende Unwilligkeit und Unfähigkeit, auftretende Probleme bei der Verwirklichung prinzipiell richtiger strategischer Zielstellungen rechtzeitig und gründlich zu analysieren, um notwendige Lösungsschritte festlegen zu können. Dazu gesellte sich eine unsägliche Beratungsresistenz im Hinblick auf viele durchaus vernünftige Überlegungen von Fachleuten, denen man auch politische Kompetenz nicht absprechen konnte. (Ich denke dabei nur an den damaligen Preisminister Walter Halbritter.) Vorlagen wurden ohne jegliche Diskussion einfach "abgeschmettert". Hinzu kam ein unbegreifliches Mißtrauen in bezug auf die Einsichtsbereitschaft der Bürger. So war es strikt untersagt - und hier tat sich Günter Mittag einmal mehr besonders hervor - über Preisfragen öffentlich zu schreiben oder zu sprechen. Intern wurde zwar immer gefordert, daß diesbezügliche Entscheidungen erklärbar sein sollten, offensiv erläutern durfte man sie aber nicht. Dadurch haben wir uns selbst großen Schaden zugefügt, zumal die gegnerische Propaganda gierig die hier geschilderten Themen aufgriff und deshalb in den Augen eines großen Teils der DDR-Bevölkerung oft glaubhafter erschien als unsere eigene Argumentation.

Peter Elz, Königs Wusterhausen


Unser Autor war Abteilungsleiter im Amt für Preise beim Ministerrat der DDR.

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Wettlauf in der Sackgasse: Afghanistans Präsidentschaftswahlen

Warlords ohne Ende

Ein Ringen um den Kopf des toten Kalbes nannten die Afghanen das bereits im März 2013 de facto eröffnete Wahlkampftheater um das Präsidentenamt am Hindukusch. Der erste Wahlgang fand am 5. April 2014 statt. Einmal mehr ging es um Postenverteilung unter Warlords. Verbal verlangten alle Parteien "saubere Wahlen". "'Haltet den Dieb!' schreien alle Diebe", sagt man in Afghanistan, dessen Volk seit 2001 viele solcher Wahlen ertragen mußte.

Mahmud Karsai, ein Bruder des bisherigen Präsidenten, hatte schon am 8. März 2013 vorsorglich verlangt, alle Kandidaten für das Präsidentenamt sollten sich unterschriftlich verpflichten, die Wahlergebnisse im April 2014 ohne Widerspruch zu akzeptieren.

Was aber wird aus Hamid Karsai?

Nach der Verfassung durfte er nicht zum dritten Mal kandidieren.

Doch Karsai hat sich noch rechtzeitig vor seinem Abgang auf dem schwer bewachten Gelände des Präsidentenpalastes ein Haus errichten lassen. Auf welcher gesetzlichen Grundlage dies geschehen ist, bleibt sein Geheimnis. Er beabsichtigte also überhaupt nicht, nach Ende seiner Amtszeit den Palast zu verlassen und betrachtet sich offenbar als selbsternannter Berater seines Nachfolgers. Seit einiger Zeit versucht er verzweifelt, seinen ramponierten Ruf als CIA-Mann und Pudel der USA zu verbessern.

Ende Juli 2013 hatte Hamid Karsai aus seiner Entourage eine Wahlkommission zusammengebastelt. Zu deren Chef wurde Ahmad Jusuf Nuristani, ein in den USA ausgebildeter Anthropologe und Bürger der Vereinigten Staaten, ernannt.

Unter den Anwärtern auf das Präsidentenamt befanden sich die erstaunlichsten Typen: Einer von ihnen war Zalmai Khalilzad, ein gebürtiger Afghane, der in der Bush-Ära US-Botschafter in Afghanistan gewesen war.

Schon im Sommer 2013 bewarben sich 27 Personen, darunter nur eine Frau, die ihre Kandidatur bei der "Unabhängigen Wahlkommission" (IEC) angemeldet hatten. "Kaiser" Karsai sah auf einmal ziemlich nackt aus, weil fast die Hälfte seiner Kabinettsmitglieder, Behördenchefs und zahlreiche Provinzgouverneure oder ihm ergebene Parlamentarier zurücktraten, um sich in letzter Minute als Präsidentschaftskandidaten oder deren Stellvertreter registrieren zu lassen. Einige gaben sich vor der IEC ziemlich martialisch. Die ehemaligen Modjahedin-Kommandanten und derzeitigen Warlords erschienen mit Dutzenden Bewaffneten. Einer von ihnen war der wegen Kriegsverbrechen und ethnischer Säuberungen großen Stils berüchtigte Abdul Rab Mohammad Rassoul Sayyaf. Er ist jener Islamist, welcher nicht nur Osama Bin Laden nach Afghanistan geholt hatte, sondern auch als einer seiner besten Freunde galt. Als Parlamentsabgeordneter in Kabul machte er sich aus verständlichen Gründen stark, ein Amnestiegesetz für Kriegsverbrecher zu erlassen.

Ein anderer Bewerber war der Karsai-Vertraute Gul Agha Shirzai, Gouverneur der ostafghanischen Provinz Nangrahar, der alles verkörpert, was für die Modjahedin-Kommandanten und Warlords typisch ist: Gier, Grausamkeit, Verachtung für Menschenrechte. Als Minister für Städtebau in Karsais erstem Kabinett begleitete Shirzai persönlich seine Heroinfracht im Flugzeug von Helmand nach Kabul.

Der ehemalige Verteidigungsminister General Abdul Rahim Wardag wollte auch Präsident werden.

Er hatte 7,5 Millionen Dollar an die Abgeordneten gezahlt, um durch diese bestätigt zu werden. Sein Sohn ist als Inhaber einer Sicherheitsfirma stets den US-Besatzern zu Diensten.

Kurz nach der Registrierung wurde über die Hälfte der Bewerber wegen doppelter Staatsbürgerschaft von der Liste gestrichen. Insgesamt disqualifizierte man 17 von 27 Präsidentschaftskandidaten, die im Besitz ausländischer Pässe, meist der USA, waren.

Auch an Gewalt fehlte es nicht. So erschossen die Taliban am 17. September 2013 Amanullah Aman, den Chef der Wahlkommission in der nordafghanischen Provinz Kundus. Anfang Februar 2014 wurden zwei Wahlhelfer Abdullahs in der westafghanischen Stadt Herat ermordet.

In Afghanistan ist alles wie eine Ware käuflich und verkäuflich. Der Ein- und Verkauf von Kandidaten spielte auch diesmal eine enorme Rolle. Wo eine Kandidatur zugunsten des aussichtsreicheren Bewerbers zurückgezogen werden sollte, floß Geld.

Auch Mohammad Atta Noor, der schlaue und machtbesessene "König von Balkh", handelte nach dem Motto: Lieber den Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach. Er zog es vor, ein regionaler Herrscher zu bleiben, statt Bürgermeister von Kabul zu werden.

Zum ersten Mal fanden bei Fernsehduellen inhaltliche Debatten statt. Der Finanzfachmann Ahmadzai stellte sogar "einen detaillierten Zehnjahresplan zur Schaffung von Arbeitsplätzen" vor. Eine Farce! Abdullah und Ahmadzai kündigten an, als erste Amtshandlung die sofortige Unterzeichnung des sogenannten Sicherheitsabkommens - also des Besatzungsabkommens mit den USA - zu vollziehen, was Afghanistan in ein Militärprotektorat der Vereinigten Staaten - auch ohne Kampftruppen - verwandelt. Obwohl Karsai das Abkommen hatte ausarbeiten lassen und auf der Ratsversammlung (Loya Jirga) am 20. November 2013 die von ihm einbestellten Delegierten dazu aufforderte, dem Dokument zuzustimmen, weigerte er sich am Ende, es zu unterzeichnen. Das war seine späte Rache an Barack Obama, der ihn 2009 hatte ablösen wollen.

Der Wahlkampf am Hindukusch trug deutlich US-Charakter. Zahlreiche bestellte Schreihälse begleiteten die Kandidaten. Sie stimmten nach fast jeder unbedeutenden Aussage ein so ohrenbetäubendes Geschrei an, daß der Kandidat kaum noch zu verstehen war.

In der Endphase des Schlagabtauschs wurde mit harten Bandagen gekämpft. In manchen Provinzen sollen sogar Waffen verteilt worden sein, um dem Einfluß von Kandidaten auf die Wahlkommission Nachdruck zu verleihen. Fast sämtliche Bewerber warfen sich gegenseitig vor, von hohen und höchsten Regierungsbeamten protegiert zu werden.

Die 16 EU-Wahlbeobachter aus dreizehn europäischen Ländern trauten sich kaum aus ihrem Luxushotel "Serena" in Kabul heraus. Sie kehrten dem mit 100 Millionen US-Dollar aus dem Ausland finanzierten Urnengang wegen Anschlagsgefahr den Rücken und reisten ab, bevor die Abstimmung überhaupt stattgefunden hatte. Sie konnten nur wenige Wahllokale in Kabul besichtigen und stellten dort nicht ganz so massive Fälschungen wie 2009 fest, berichtete der WDR. Nur einen Tag nach der Abstimmung aber wurden 162 Beschwerden bei der IEC eingereicht, am 9. April waren es dann schon 1500.

Es gab wie in der Vergangenheit "Geisterwahllokale" mit gähnender Leere, doch bis an den Rand gefüllten Wahlurnen. Selbst im Westen Kabuls, wo zwei Millionen schiitische Hazarah wohnen, fehlten die Wahlzettel schon am Mittag. Das war in 15 von 34 Provinzen des Landes der Fall. Offenbar hatten einige Wähler mehrfach abgestimmt.

Das in der Hauptstadt ansässige Afghanistan Analyst Network (AAN) berichtete, es habe insgesamt 13,5 Millionen Wahlberechtigte gezählt. Andere Quellen sprachen von 12, 15 und 21 Millionen. Im Umlauf waren 21 Millionen Wahlkarten. Man schätzte, daß über 30 Prozent mehr Karten "auf dem Markt" gewesen sind, als es Wahlberechtigte gab. Damit waren Stimmenkauf und Manipulation programmiert. Vor allem auf dem Land, wo kollektiv gewählt wurde, verkauften lokale Anführer die Stimmen ihrer Untertanen gegen Geld und Regierungsposten im voraus an Zwischenhändler.

Die ARD-Südasien-Korrespondent in Sandra Petersmann fand dies alles gar nicht so schlimm und attackierte "Berufsnörgler". Bald danach reihte sie sich selbst unter diese ein. "Der Staat ist schwach und korrupt und kann sich allein nicht finanzieren. Gewalt gehört nach wie vor zum Alltag, die Armut ist allgegenwärtig", stellte sie fest. Nach Bekanntgabe der Vereinbarung zwischen Ahmadzai und Abdullah fügte Petersmann am 21. September hinzu: "Was mich unendlich traurig macht, ist die Tatsache, daß so viele Millionen Afghanen zweimal ihr Leben riskiert haben für eine Wahl, die ihnen gestohlen worden ist. Die Wähler waren im Angesicht von Todesdrohungen unendlich mutig. Sie wollten Wandel. Nicht sie haben gefälscht, sondern jene, welche jetzt gemeinsam regieren werden. Es verbietet sich, nach dieser Wahlfarce von der ersten demokratischen Machtübergabe in der afghanischen Geschichte zu sprechen."

Während US-Präsident Barack Obama die Wahlen als "entscheidend für die demokratische Zukunft Afghanistans" bezeichnete, sprach Ex-NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen von einem "historischen Moment". Der außenpolitische Kommentator der FAZ, Klaus-Dieter Frankenberger, sah darin sogar eine nachträgliche Rechtfertigung für den Bundeswehreinsatz am Hindukusch.

Am 15. Mai wurde das "amtliche Endergebnis" verkündet. Demnach erhielt Abdullah 45 % (überwiegend der Tadschiken und Hazaras) und Ashraf Ghani Ahmadzai 31,6 % (vor allem der Paschtunen, Usbeken und Turkmenen). 52 % der Afghanen hätten an der Abstimmung teilgenommen. Meine Gesprächspartner in Afghanistan waren übereinstimmend der Meinung, die USA hätten darüber entschieden, wer in Kabul Präsident werden dürfe. Alles andere sei nur billiges Theater. Sowohl Ahmadzai als auch Abdullah kündigten an, die Beziehungen zur Besatzungsmacht USA und dem wichtigsten Nachbarn Pakistan rasch zu verbessern. "Die größte Gefahr für den schwachen afghanischen Staat sind nicht die Taliban, sondern ist eine korrupte, als illegitim betrachtete Regierung", sagte man mir in Kabul.

Am 14. Juni 2014 fand dann die Stichwahl statt. Nach wochenlangem Streit und gegenseitigen Vorwürfen der Kandidaten gab die Wahlkommission am 7. Juli das vorläufige Ergebnis bekannt. Demnach sollte Ahmadzai 56 % und Abdullah 44 % des Votums erhalten haben. Ahmadzai hätte demnach die Zahl seiner Stimmen verdoppelt und Abdullah nur 16 % hinzugewonnen.

Das amtliche Ergebnis sollte am 22. Juli verkündet und der Nachfolger Karsais am 2. August in sein Amt eingeführt werden. Doch eine neue Runde des Streits und wechselseitiger Betrugsvorwürfe begann. Ashraf Ghani Ahmadzais unglaubwürdige Aufholjagd wurde damit begründet, seine gut organisierte Sippe habe im Osten des Landes den Frauen erlaubt, an der Stichwahl teilzunehmen.

Schon am 8. Juli hatte sich Abdullah zum Sieger ausgerufen. Seine Anhänger verlangten, er solle eine Parallelregierung bilden. Die Wahl sei gefälscht worden, er werde niemals eine Niederlage einräumen, erklärte Abdullah. "Tod Ashraf Ghani! Tod der Wahlkommission!" riefen Demonstranten in Kabul und Herat.

Am 8. Juli machte die US-Administration deutlich, daß sie der von Diplomaten als "dramatisch" beschriebenen Krise in Afghanistan nicht länger von der Seitenlinie aus zuschauen werde. US-Präsident Obama telefonierte mit Abdullah und Ahmadzai und drohte mit dem Ende der militärischen und finanziellen Unterstützung. Danach wurden beide Kandidaten "von zehn verschiedenen Seiten" täglich unter Druck gesetzt, um den Weg zur Bildung einer "Regierung der nationalen Einheit" zu ebnen.

Am 8. August reiste Außenminister Kerry nach Kabul und setzte im Ergebnis eines vierzehnstündigen Verhandlungsmarathons in der US-Botschaft eine schriftliche Vereinbarung zur gemeinsamen Regierungsbildung durch. Ahmadzai erklärte nun plötzlich, er wolle mit Abdullah zusammenarbeiten. "Was uns verbindet, ist viel mehr als das, was uns während des Wahlkampfes getrennt hat", heuchelte er. Die Kontrahenten waren damit einverstanden, alle angeblich 8,1 Millionen abgegebenen Stimmen noch einmal zu überprüfen zu lassen.

Die NATO wollte bis zu ihrem Gipfeltreffen im südwalisischen Newport am 4. und 5. September wissen, wer sich in Afghanistan fortan Präsident nennen dürfe, um mit diesem das Besatzungsabkommen unter Dach und Fach zu bringen. Es soll die "westliche" Präsenz nach dem offiziellen Abzug der ISAF-Truppen zementieren. Karsai lehnte es ab, nach Wales zu reisen, was als sein "letzter Affront" bewertet wurde.

Nach der 100 Millionen Dollar verschlingenden Wahlfarce gab es am Ende doch noch einen "Befreiungsschlag". Er ähnelte dem Hornberger Schießen. Es fand zwar eine Zeremonie statt, aber ein Ergebnis der Neuauszählung, die immerhin unter Aufsicht der UNO stattfand, ließ weiter auf sich warten. Abdullah habe nicht wie 2009 als Verlierer dastehen wollen, hieß es. Deshalb sei Ahmadzai am 21. September "auf seinen Wunsch" von der Wahlkommission zum neuen Präsidenten erklärt worden. "Das geschah, ohne ein konkretes Wahlresultat zu veröffentlichen", stellte die "New York Times" fest.

Die Vereinbarung zwischen Ahmadzai und Abdullah über ein Spiel mit verteilten Rollen ist verfassungswidrig. Für die Afghanen ändert sich am totalitären Regime nichts. "Der Kampf um die Demokratie ist in Afghanistan gescheitert, gesiegt haben die Taliban", urteilte die Prager Zeitung "Mlada Fronta Dnes".

Unter massivem Druck westlicher Politiker, besonders aber der USA, einigten sich die beiden wichtigsten Räuberhäuptlinge Ahmadzai und Abdullah am 21. September auf die Bildung einer "Regierung der nationalen Einheit". Acht Tage später wurde Ahmadzai in das Amt des Präsidenten eingeführt, am 30. September unterzeichnete er das Sicherheitsabkommen mit den USA. Das von dort importierte und mit dem Virus der afghanischen Warlords infizierte System am Hindukusch wird weiterhin auf äußerst schwachen Füßen stehen. Dessen politischer, ökonomischer und militärischer Status dürfte der eines vom Westen - vor allem von den USA - abhängigen Protektorats sein.

Dr. Matin Baraki

Ende RF-Extra

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Boliviens erster indigener Präsident wurde mit 61 % wiedergewählt

Evo Morales - Triumph der Moral

Der erste indigene Präsident Boliviens hat seine zweite Wiederwahl mit einem Stimmenanteil von 61 % souverän gewonnen. Bei seiner ersten Kandidatur im Jahr 2005 hatte Evo Morales 54 % des Votums der Wahlberechtigten unter 10,1 Millionen Bolivianern erhalten, 2009 waren es sogar 64 %. Der profilierte Linkspolitiker und populäre Führer des Movimiento al Socialismo (MAS) - der Bewegung zum Sozialismus -, dessen moralische Integrität, Volksnähe und menschliche Lauterkeit selbst von politischen Gegnern nicht in Abrede gestellt werden können, widerstand damit der Wühltätigkeit durch die US-Botschaft angeleiteter konterrevolutionärer Kräfte. Dennis Racicot, der Vertreter des Hohen Kommissariats der Vereinten Nationen, bezeichnete den Wahlakt anerkennend als "demokratisches Fest".

Während die Linke bei den parallel abgehaltenen Wahlen zu Senat und Abgeordnetenhaus weniger erfolgreich abschnitt, hatten die gegen Morales aufgebotenen rechtsbürgerlichen Präsidentschaftsbewerber keine Chance. Mehr als sechs Millionen Bürger Boliviens durften am Wahlakt teilnehmen, darunter erstmals auch zahlreiche Emigranten mit bolivianischer Staatsangehörigkeit in 70 Städten aus Ländern Amerikas, Asiens, Afrikas und Europas.

Mit seinem neuerlichen Sieg sicherte der von sozialistischen Vorstellungen inspirierte Staatschef die Kontinuität des 2005 eingeleiteten Prozesses tiefgreifender sozialökonomischer Umgestaltungen in dem zwar äußerst ressourcenreichen, aber aufgrund des Lebensniveaus großer Teile der Bevölkerung als arm geltenden Andenlandes.

Zum Abschluß seiner Wahlkampagne hatte Evo Morales auf einer Großkundgebung in Cochabamba noch einmal an den geringschätzigen Slogan seiner pseudoliberalen Gegner erinnert, demzufolge "der Bauer und der Indio nur zum Wählen zu gebrauchen" seien. In der kurzen Zeit seit 2005 hätten die Bauernbewegung und Boliviens Urbevölkerung gezeigt, daß sie auch zum Regieren imstande wären. Seine im Wahlkampf oft wiederholten losungsgleichen Worte "Schluß mit der Privatisierung und dem Ausverkauf unserer Reichtümer!" zündeten und erwiesen sich als einer der Schlüssel zum großen Triumph am 12. Oktober.

Beim Meeting in Cochabamba kündigte Evo Morales Investitionen von 300 Millionen Dollar für den Bau eines dort angesiedelten Komplexes zur Herstellung besonders hochwertiger Medikamente an, was zur landesweiten Zahlungsbefreiung der Patienten führen solle. Bolivien genieße inzwischen international Respekt und Kredit, weil die Regierung dem Volk seine Würde wiedergegeben habe.

Morales und die MAS waren mit einem attraktiven und den Massen verständlichen Zwölfpunkteplan in den Wahlkampf gegangen. Hauptziel sei es, das als zurückgeblieben geltende Land binnen weniger Jahre in die Spitzengruppe der Staaten Lateinamerikas zu führen, verkündete Morales das wichtigste Anliegen seiner Präsidentschaft. 2013 habe Bolivien eine Wachstumsrate von 6,8 % erreicht, für 2014 seien 5,1 % und für 2015 abermals 6,8 % prognostiziert worden. Die staatlichen Rücklagen, die 2006 bei nur 8 Milliarden Dollar gelegen hätten, betrügen jetzt immerhin schon 33 Milliarden. Enorme Gewinne verspreche sich der Plurinationale Staat Bolivien - so die offizielle Bezeichnung des Landes, in dessen Bevölkerung die Nachkommen der Urvölker überwiegen - aus der industrialisierten Gewinnung von Lithium. Die Andenrepublik verfüge über 85 % der Weltvorräte dieses ebenso gefragten wie seltenen Metalls.

Als einer der Hauptaspekte des Morales-Planes, der inzwischen vom Wahlprogramm zur Regierungsagenda geworden ist, gehört die Zielsetzung, den Anteil extrem Armer - er lag 2005 bei 38 % und beträgt gegenwärtig immer noch 18 % - auf neun Prozent zu senken. Derzeit sind etwa 100 der 339 Gemeinden Boliviens noch von krasser sozialer Not betroffen.

Unter der dritten Präsidentschaft des populären Staatschefs werden die Einstellung des Imports von Benzin und die Entwicklung der Atomenergie zu friedlichen Zwecken sowie die Schaffung von 1500 neuen Arbeitsplätzen für Hochschulabsolventen Priorität haben.

Zu den vorrangigen Anliegen der Morales-Regierung zählten die hundertprozentige Sicherstellung der Trinkwasserversorgung in den Metropolen und die 90prozentige Deckung des Bedarfs der Dorfbevölkerung bis 2020. Fünf Jahre später will Bolivien die lückenlose Versorgung aller Landesteile mit Elektroenergie garantieren.

Zu den sozialen Maßnahmen gehört der Bau von vier zentralen Krankenhäusern mit Spitzentechnologie auf den Gebieten Kardiologie, Neurochirurgie, Nephrologie, Onkologie und Gastroenterologie. Hinzu kommt die Errichtung von 40 weiteren Hospitälern, die ebenfalls modern ausgestattet sein werden.

In den allgemeinbildenden Schulen will man zur Wissenserweiterung neue Fächer in den Lehrplan aufnehmen. Überdies sollen drei Stadien in La Paz, Cochabamba und Santa Cruz sowie etliche Sportzentren und Schwimmbecken in ländlichen Gegenden gebaut werden.

Das freie Bolivien setzt sich zum Ziel, auch im Wohnungsbau aufzuholen. Während von 43.000 neuen Mehrfamilien- und 40.300 Einfamilienhäusern die Rede ist, sollen 125.000 reparaturbedürftige Wohnungen instandgesetzt werden.

So steht es um die soziale Programmatik eines Staates, der heute an der Seite des sozialistischen Kuba und im Bunde mit Venezuela, Nicaragua, Ecuador und anderen antiimperialistisch regierten Ländern des Subkontinents zu den Wegbereitern im Ringen um ein besseres Leben für alle zählt.

Doch wo Wind ist, da fehlt es auch nicht an Gegenwind. Als US-Diplomaten getarnte Geheimdienstler führen den Reigen jener an, welche Boliviens kühne Pläne durchkreuzen und das Andenland wieder in frühere Abhängigkeiten verstricken wollen. Von ihnen wird die Gegenoffensive stabsmäßig organisiert. Nach der Abberufung eines als "Taube" betrachteten Botschafters hat das State Department einen als Hardliner bekannten "Falken" an die Spitze seiner Vertretung in La Paz gestellt. Dessen Auftrag lautet, der Equipe von Evo Morales so viele Knüppel wie irgend möglich zwischen die Beine zu werfen. Zugleich unterstützt Washington die rechten und restaurativen Kräfte sowie den Rassismus gegen die heute in Bolivien staatstragenden Indigenas auf jede nur denkbare Weise.

Doch wie auch immer die Dinge liegen mögen: Die innere und äußere Reaktion muß die Tatsache in Rechnung stellen, daß Evo Morales, der Bannerträger einer neuen Moral, nun schon dreimal hintereinander mit absoluter Mehrheit gewählter Präsident des Plurinationalen Staates Bolivien ist, dessen Volksmassen unter seiner Führung einen Weg beschritten haben, der mit Respekt und Bewunderung von fortschrittlichen Menschen in aller Welt begleitet wird.

RF, gestützt auf "Granma", Havanna, und "Solidaire", Brüssel

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Zur Situation eines über drei Staaten verteilten tapferen Volkes

Wie steht es um die Kurden?

Derzeit sehen sich die etwa 30 Millionen Kurden, welche seit dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches nach dem Ersten Weltkrieg über drei Staaten verteilt sind, einmal mehr schwerster Bedrohung ausgesetzt.

In der Türkei, wo die Mehrheit von ihnen - vor allem in Ostanatolien - lebt, werden sie durch das islamistisch-faschistoide Regime Erdogans erneut brutal angegriffen. Zum ersten Mal seit Beginn der Verhandlungen mit Ankara, die zur Einstellung der Kampfhandlungen beider Seiten geführt hatten, sind Stellungen der kurdischen PKK wieder von der türkischen Luftwaffe bombardiert worden. Während der zum Präsidenten gewählte türkische Diktator seine Panzer an der Grenze zum kurdisch-besiedelten Norden Syriens demonstrativ auffahren ließ und zugleich wilde Drohungen an die Adresse Assads richtete, rührte seine Armee keinen Finger, um den Kurden im Nachbarland gegen die Killerbanden des "Islamischen Staates" (IS) zu Hilfe zu kommen. Kurdenführer Öcalan befindet sich noch immer in der Haft seiner Peiniger.

In Irak ist die Situation der Kurden verworren. Einerseits konnten sie unter dem 2003 durch die US-Okkupanten in Bagdad ans Ruder gebrachten Regime im ölreichen Norden des Landes ihre Autonomie stabilisieren, andererseits kehrten die USA - auch zur Verstärkung ihrer Kontrolle über die Kurden - in das nahöstliche Land zurück.

Als Vorwand diente ihnen die Abwehr einer Offensive der im Auftrag des Pentagons durch Saudi-Arabien und Katar geschaffenen, dann aber der US-Kontrolle offenbar entglittenen IS-Terroristen. Die Obama-Aministration ernannte sich selbst zur Schutzgöttin der kurdischen Peschmerga-Kämpfer, wobei es ihr in erster Linie darum ging, die Ölquellen der Region fest in den Griff zu bekommen. Hier gilt jetzt die Devise: Die Kurden in der Umarmung erwürgen! Zu den Würgern gehören alle, die sich im Zeichen vermeintlicher Waffen- und Ausbildungshilfe für die Peschmerga unterdessen in Nordirak eingenistet haben, so auch die Bundeswehr. Die hier angeblich erwiesene Hilfe des "Westens" zielt vor allem darauf ab, die Kurden an die Kette des Imperialismus zu legen und ihre relative Selbständigkeit innerhalb des irakischen Staates zu begrenzen.

Ein Wort zu den Kurden Syriens. Sie hatten sich im Nordosten des Landes - mit Billigung oder Duldung durch Damaskus - ein relativ hohes Maß an Unabhängigkeit erkämpft. Da sie mit den Kurden der PKK enge Verbindungen pflegen, steht ihre physische Vernichtung, vor allem aber der Sturz Assads, auf Erdogans über die eigenen Grenzen reichender Zielskala. Die U.S. Air Force bombardierte im syrischen Kurdengebiet übrigens höchst selektiv die "Gotteskrieger" des IS, dafür aber mit Vorliebe dortige Ölraffinerien. Im Visier Ankaras und Washingtons befinden sich trotz gegenteiliger Beteuerungen und einzelner Operationen augenscheinlich nicht die Killer des IS, die bei gewolltem Einsatz gegen sie binnen kürzester Frist militärisch schachmatt zu setzen gewesen wären.

Es ist doch grotesk: Die mächtige imperialistische Militärkoalition sieht sich außerstande, eine von ihr selbst geschaffene Reservearmee niederzuwerfen. Inzwischen weiß man, daß neben der durch Washington inzwischen als "reguläre Streitmacht" des Landes anerkannten "Freien Syrischen Armee" und einem ganzen Rudel Diversantengruppen vor allem auch die "Kämpfer" des IS in Syrien schon seit Jahren Ströme von Blut vergossen haben.

Doch zurück zu den Kurden, die in ihrer Gesamtheit fast ein Jahrhundert lang die größte ethnische Gruppe ohne einen eigenen Staat sind. Inzwischen hat sich ihr politisches Gewicht wesentlich verstärkt. In Irak hatten sie sich schon unter Saddam Hussein erstmals eine gewisse Selbständigkeit errungen, nachdem der Norden des Landes in der Folge des Golfkriegs von 1991 zu einer von der UNO überwachten Flugverbotszone erklärt worden war. Im Ergebnis der US-Aggression (2003) nutzten bürgerliche Kräfte unter den irakischen Kurden, denen auch Peschmerga-Kämpfer zuzuordnen sind, die für sie günstige Situation, um drei besonders ölreiche Provinzen unter ihre Kontrolle zu bringen. Mit Erbil als Zentrum verwandelte sich Irakisch-Kurdistan - nicht zuletzt durch umfangreiche Energielieferungen in die Türkei - aus der ärmsten in eine der entwickelteren Zonen des Landes.

Auch in den Kurdenprovinzen der Türkei veränderte sich die Situation erheblich. Während Ankara noch Jahrzehnte zuvor unzählige kurdische Siedlungen bei Strafexpeditionen niederbrennen und viele tausend Angehörige der Volksgruppe grausam massakrieren ließ, sah sich die türkische Regierung letztendlich zum Manövrieren und der Bereitschaft gezwungen, in Verhandlungen mit der verhaßten PKK einzutreten.

Vom Einfluß der Linkskräfte in Ostanatolien und darüber hinaus zeugt die Tatsache, daß bei den diesjährigen Präsidentschaftswahlen ein kurdischer Politiker antiimperialistischer Orientierung mit rund einem Zehntel der Stimmen den dritten Rang einnehmen konnte. Auch im Parlament der Türkei sollte man das Gewicht kurdischer Abgeordneter nicht unterschätzen.

Und was Syrien betrifft, sei dem bereits Gesagten hinzugefügt: Vor fünf Jahrzehnten entzog Damaskus einem Fünftel der Kurden des Landes - sie stellen insgesamt etwa 10 % der Bevölkerung dar - die syrischen Pässe und schickte Hunderttausende über Nacht in die Staatenlosigkeit. Heute gewährt ihnen die vom Imperialismus angefallene Assad-Regierung, gezwungenermaßen oder nicht, ein hohes Maß an Selbständigkeit. Übrigens scheint Damaskus die Kontrolle über den nördlichen und östlichen Teil der arabischen Republik inzwischen weitgehend verloren zu haben.

Noch immer vergießt das dreigeteilte kurdische Volk Ströme von Blut. Doch Terror und Verfolgung zum Trotz setzt es seinen Kampf für einen einheitlichen kurdischen Nationalstaat beherzt fort, verteidigt es seine von der Reaktion verbotenen Organisationen und deren in Ketten gelegte Vorkämpfer. Seine Forderungen "Freiheit für Öcalan!" und "Bedingungslose Aufhebung des Verbots der PKK!" finden auch in der BRD, wo die Partei fortschrittlicher Kurden nach wie vor auf dem Index steht, immer mehr Unterstützung. Dafür gibt es gute Gründe.

RF, gestützt auf "The New Worker", London, und "Solidaire", Brüssel

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Vermächtnis der Befreier Europas
[Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Der Beitrag wurde nicht in den Schattenblick übernommen.]

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Wie das U.S. State Department bei der Operation "Occupy Central" Regie führt

Was geht in Hongkong vor sich?

Das Ziel der US-Strategie in Hongkong liegt auf der Hand: Die einstige britische Kronkolonie, die erst 1997 mit einem bis 2047 geltenden Sonderstatus an China zurückgegeben wurde, soll weiter als Epizentrum der subversiven Wühltätigkeit gegen die Volksrepublik ausgebaut werden.

Die taktischen Methoden der zweifelsfrei von US-Behörden installierten "Occupy Central"-Kampagne sind - selbst in der Wahl ihrer Slogans - mit den zur Destabilisierung unerwünschter Regimes vom Imperialismus weltweit angewandten Praktiken absolut deckungsgleich.

Es geht darum, das Territorium Hongkongs - auf den Inseln wie auf dem angrenzenden Festland - so unregierbar wie nur irgend möglich zu machen.

Die Unruhen in der chinesischen Küstenmetropole müssen daher in das Spektrum der verschiedenfarbigen "Revolutionen" eingegliedert werden, bei deren Inszenierung die imperialistische Hauptmacht längst Perfektion erlangt hat. Auch im Falle Hongkongs spielen zwei vom U.S. State Department eigens für solche Zwecke ins Leben gerufene politische Diversionszentralen mit pseudoseriösem oder akademischem Anstrich eine Schlüsselrolle: das National Endowment for Democracy (NED) und dessen Filiale, das National Democratic Institute (NDI).

Als eine der zentralen Figuren im Spiel um die politische Kontrolle über die 7,2 Millionen Einwohner zählende Stadt wurde Benny Tai - ein Jura-Dozent der Universität Hongkong - aufgebaut. Seine Karriere kann unschwer nachvollzogen werden: Mr. Tai wurde durch die "South China Morning Post" als "Hauptorganisator" der Hongkonger Krawalle bezeichnet, dem "nicht minder prominente Ko-Organisatoren" zur Seite stünden. Zu den "politischen Schwergewichten" hinter den für die Straßenunruhen mißbrauchten überwiegend jüngeren Leuten rechnet das in Hongkong erscheinende Blatt auch die Vorsitzende der sogenannten Civic Party, einen früher der katholischen Diözese vorstehenden Kardinal und den Gründerchef der Democratic Party.

In welcher Küche die von ihnen servierte Mahlzeit zubereitet worden ist, wird nicht verschwiegen. "Benny Tai besucht regelmäßig durch das NED und das NDI finanzierte und organisierte Diskussionsforen. Erst unlängst sprach er auf der vom NDI ausgerichteten Konferenz "Ein Demokratieentwurf für Hongkong". Auch Martin Lee, Jimmy Lai und Joseph Zen, die zu den Rädelsführern der "Occupy Central"-Bewegung gerechnet werden, sind kaum getarnte Mitarbeiter des U.S. State Department.

Medienmogul Jimmy Lai hat sich erst im Juni dieses Jahres mit dem früheren Weltbank-Präsidenten Paul Wolfowitz getroffen. Der war zwischen 1989 und 1993 stellvertretender Kriegsminister der USA und gibt sich jetzt als "reisender Gelehrter" des von der US-Hochfinanz betriebenen American Enterprise Institute aus. Die Begegnung der beiden Herren fand auf Lais privater Yacht statt. Übrigens sind die Geschäftsbeziehungen zwischen dem Hongkonger "Freiheitsidol" und dem US-Magnaten schon älteren Datums. "Jimmy Lai zahlte dem früheren Pentagon-Vizechef 75.000 Dollar für dessen Hilfe in Myanmar", ließ die "South China Morning Post" ihre Leser wissen. Dabei sei es um "Projekte" gegangen, an denen Mr. Lai ein "besonderes Interesse" bekundet habe.

Als "Studentenführer" tat sich beim Hongkonger Aufruhr gegen die legitime Staatsmacht Joshua Wong hervor, der zeitweilig durch die Polizei arretiert wurde und dadurch in den Blickpunkt einer gegen die Volksrepublik China gerichteten Kampagne geriet. Auch er verdankte seinen Aufstieg dem NDI des U.S. State Department, an dessen "Technikprogramm" er bereits 2012 teilgenommen hatte.

Die Civic-Party-Vorsitzende Audrey Eu Yuetmee (die Schreibweise der Namen ist anglifiziert) teilte ihre kostbare Zeit nicht minder zwischen der Teilnahme an Veranstaltungen der U.S.-Agentenzentralen NED und NDI.

Bei einer vom National Democratic Institute ausgerichteten "Feier zum Internationalen Frauentag" trat sie als "Festrednerin" auf. Übrigens werden auch die Unkosten des sogenannten Hongkonger Frauenrates durch das NDI beglichen.

Es versteht sich von selbst, daß den "Occupy Central" tragenden Kräften überdies von einer ganzen Reihe dubioser Nichtregierungsorganisationen (NGOs) unter die Arme gegriffen wird. Zu deren illustrem Kreis gehört das "zufällig" auch vom NED geförderte Hongkong Transition Project, das sich die "Verwandlung der Einwohner aus Subjekten in Bürger" zum Ziel zu setzen vorgibt. Nebel, nichts als Nebel! Auch das Referendum "Pro-Democracy", welches die hinter "Occupy Central" stehenden Kräfte zur Rechtfertigung ihrer umstürzlerischen Aktivitäten Anfang 2014 abhielten, zielte auf ein Anheizen gegen Beijing gerichteter Stimmungen.

Wie der britische "Guardian" berichtete, sollen an der inoffiziellen Abstimmung 730.000 Personen - ein Fünftel der Wahlberechtigten Hongkongs - teilgenommen haben. Die subversive Operation stellte offenbar einen Stimmungstest im Vorfeld der für 2017 vorgesehenen Wahl einer eigenständigen Verwaltung des Territoriums dar.

Die Organisatoren der jüngsten Unruhen wollen erreichen, daß dabei erklärte Gegner der VR China ans Ruder gelangen. Bereits 2006 richtete das NDI eine spezielle Schule für Kandidaten und Kampagne-Manager ein, nachdem es im Jahr zuvor einen Sechs-Monate-Lehrgang "für junge politische Führer zum Erwerb von Fähigkeiten im Aufbau einer Partei oder Gruppe" durchgeführt hatte.

2012 wurden "Hongkonger Persönlichkeiten eines breiten ideologischen Spektrums" vom NDI darin unterwiesen, "wie eine Koalitionsregierung zu größerer legislativer Verantwortung führen" könne. Fazit: "Occupy Central" ist eine zur Wahrnehmung fremder Interessen vom U.S. State Department und der CIA sowie Kreisen der Wall Street und der Londoner City geschaffene antikommunistische Sturmtruppe.

Übrigens steht sie keineswegs allein auf weiter Flur: In Tibet und Xinjiang, das von den USA gestützte gewalttätige Separatisten grundsätzlich nur als "Ost-Turkistan" bezeichnen, gibt es mit "Occupy Central" synchronisierte Bestrebungen, die einheitliche chinesische Staatsmacht systematisch zu untergraben.

RF, gestützt auf "New Eastern Outlook", Moskau

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Gruß nach Ontario

Die "Deutsche Rundschau Kanada", mit der der RF seit Jahren im Austausch stand, hat ihr Erscheinen einstellen müssen. Trotz weltweiter Verbreitung unter Deutschsprachigen konnte das Blatt finanziell nicht länger durchhalten.

Wir nutzen die Gelegenheit vor den Fest- und Feiertagen, Chefredakteur Juri Klugmann und seiner Frau Yvonne mit Dank für die interessante Lektüre herzlich zu grüßen und ihnen zu den Weihnachtstagen wie für 2015 alles erdenklich Gute zu wünschen.

Klaus Steiniger, Chefredakteur des RF

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Killer in Caracas

Der Brandanschlag auf ein Gebäude des Kommunistischen Jugendverbandes Venezuelas, der sich in der letzten Oktoberdekade in Caracas ereignete, hat weltweite Proteste ausgelöst.

Schon am 1. Oktober war dort ein grauenhafter politischer Mord, der von Videokameras aufgezeichnet wurde, geschehen. Die Täter betraten das Haus des erst 23jährigen Robert Serra, der 2010 als jüngster Abgeordneter in die venezolanische Nationalversammlung gewählt worden war. Sie töteten ihn und seine Lebensgefährtin Maria Herrera durch eine Serie von Messerstichen.

Der Jurastudent Serra war nach der durch Präsident Hugo Chávez inspirierten Debatte über Weg und Ziel der Vereinigten Sozialistischen Partei Venezuelas (PSUV) als einer der Führer ihres Jugendverbandes ins Visier fanatischer Reaktionäre geraten.

Als Redner bei der Trauerfeier für Robert Serra kündigte Präsident Nicolas Maduro entschlossene Maßnahmen gegen "kalkulierten und geplanten Terror" an. Während viele tausend Einwohner der Hauptstadt deren Straßen säumten, um des linken Nachwuchspolitikers zu gedenken, twitterte der bei den letzten Wahlen geschlagene faschistoide Rechtskandidat und CIA-Agent Henrique Capriles, er bedaure zwar den Tod Serras, wobei dieser jedoch nur einer von 50 "in unserem mißhandelten Heimatland täglich ermordeten Venezolaner" sei. Die Attacken der durch die einheimische Reaktion und deren auswärtige Hintermänner vorgeschickten Terroristen erfolgen exakt nach einem Plan, dessen Verwirklichung im Sturz der die nationalen Interessen verfolgenden Regierung der Bolivarischen Republik Venezuela kulminieren soll.

In der ersten Hälfte dieses Jahres sind im Verlauf von der Reaktion angezettelter Unruhen zahlreiche Menschen gewaltsam ums Leben gekommen. Auch die von den Unternehmern betriebene Hortung wichtiger Nahrungsmittel und anderer Artikel des täglichen Bedarfs sowie die Währungsmanipulationen zur weiteren Verschärfung der Inflation erfolgen nach einem abgestimmten Konzept der konterrevolutionären Kräfte. Es geht ihnen dabei um die systematische Destabilisierung des Landes, wobei die Schuld an unerträglichen Zuständen der Regierung zugewiesen werden soll.

Doch das politische Gewicht Nicolas Maduros, der den Spuren des großen Venezolaners Hugo Chávez zu folgen bemüht ist, konnte nicht erschüttert werden. Ende September ergab eine Umfrage, daß 71 % der Landesbürger sein Amt respektieren.

Mit weiter schwindenden Wahlchancen befürchtet die innere Reaktion ein Auseinanderbrechen. Ihre in konspirativen Aktionen verstrickten Rädelsführer Maria Corina Machado und der zur Zeit arretierte Leopoldo Lopez, die schon bisher massiv aus den USA finanziert wurden, setzen auf weit mehr auswärtige Hilfe bei dem von ihnen angestrebten Umsturz. Neuerdings sollen neben der CIA auch Kreise des spanischen Geheimdienstes dabei eine Rolle spielen. Anvisiert wird vor allem die "Ausschaltung" von PSUV-Kadern der mittleren Ebene. Kaum weniger als 300 durch Regierungen vorgeschickte "Nichtregierungsorganisationen" befassen sich derzeit mit der Schaffung terroristischer Strukturen in Venezuela.

Am 22. September übergab Innenminister Miguel Rodriguez Torres in Caracas der Öffentlichkeit ein entlarvendes Video. Es zeigte eine Beratung des rechtsextremen Studentenführers Gomez Saleh mit kolumbianischen Paramilitärs. Saleh verwies dort auf Verbindungen zu Expräsident Álvaro Uribe in Bogotá. Mit seiner Hilfe seien "Explosivkörper" im Wert von 8000 Dollar für "Zwecke der sozialen Säuberung in Venezuela" bereitgestellt worden.

Unter den 20 auf der "Hitliste" verzeichneten "Zielpersonen" stand auch der Name des PSUV-Abgeordneten Robert Serra.

Fidel Castro äußerte sich über den jungen Märtyrer in seiner wöchentlichen Kolumne. Unter der Überschrift "Helden unserer Zeit" las man, der in Caracas verübte grausame Mord passe völlig ins Bild dessen, was von den Todfeinden der Revolution Tag für Tag angekündigt werde. Fidel schloß mit den Worten: "Ruhm und Ehre dem jungen venezolanischen Revolutionär Robert Serra und seiner Lebensgefährten Maria Herrera!"

RF, gestützt auf "People's World", New York

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Damals in Buenos Aires

Argentiniens 1976 errichtete und bis 1983 bestehende Militärdiktatur, die Tausende Antifaschisten auf grausamste Weise hatte ermorden lassen, war gerade erst gefallen, als ich Hermann Axen begleitend in journalistischem Auftrag nach Buenos Aires flog. Schon am Morgen nach unserer Ankunft begab sich der DDR-Außenpolitiker - ein Überlebender des faschistischen Vernichtungslagers Auschwitz - zur Casa Rosada, wo ihn Argentiniens Präsident Raúl Alfonsin zu einem Gedankenaustausch erwartete.

Auf dem Platz vor dem Präsidentenpalast erblickten wir die bereits legendären "Madres de la Plaza de Mayo". Schon seit Monaten harrten sie dort aus, um Auskunft über den Verbleib ihrer unter der Diktatur als Säuglinge geraubten und von Faschisten-Familien zwangsadoptierten Kinder zu erhalten.

Unter den Müttern sah man auch Großmütter, deren Töchter fast unmittelbar nach der Geburt ihrer Kinder von den Faschisten umgebracht worden waren. Uns bot sich ein erschütterndes Bild. Die Begegnung mit den jungen und älteren Frauen steht mir noch heute vor Augen.

Bis jetzt konnten 114 der etwa 500 nachgewiesenen Fälle von Kindesraub und Zwangsadoption verläßlich aufgeklärt werden. Noch immer setzen die "Großmütter von der Plaza de Mayo", wie man sie inzwischen nennt, den anfangs für aussichtslos gehaltenen Kampf fort. In diesem Sommer konnte ihre Sprecherin Estela de Carlotto nach jahrelanger Suche ihren Enkel, den Musiker Guido, der zuvor unter anderem Namen gelebt hatte und nach eigenen Zweifeln an seiner Identität die wahre Herkunft hatte ermitteln lassen, überglücklich in ihre Arme schließen. Laura, seine leibliche Mutter und Estelas Tochter, hatte ihren Sohn am 26. Juni 1978 in einem Geheimgefängnis der Faschisten zur Welt gebracht. Nur zwei Monate später wurde sie von rechtsradikalen Militärs ermordet.

Das bewegende Foto in Kubas "Granma" erinnerte mich lebhaft an das schöne Gesicht Estela de Carlottos, deren leidenschaftliches Engagement sich mir schon 1984 tief eingeprägt hatte.

Klaus Steiniger

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Dilmas Sieg wehrte Angriff der Rechten ab

Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff gewann im zweiten Wahlgang gegen ihren Herausforderer Aécio Neves von der rechtssozialdemokratischen Partei Brasiliens (PSDB) und wird für die nächsten vier Jahre weiter an der Spitze des größten lateinamerikanischen Landes stehen, um den von ihrem Vorgänger Lula da Silva begonnenen Kurs der Arbeiterpartei (PT) fortzuführen. Das Oberste Wahlgericht stellte für Rousseff 51,64 % fest, während Neves auf 48,36 % kam.

Der RF wird sich diesem Thema in seiner Januarausgabe gründlicher zuwenden.

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USA: Wo man Waffen wie Brötchen kaufen kann

In den Vereinigten Staaten gibt es derzeit 270 Millionen Schußwaffen in Privathand - 90 auf 100 Einwohner. Obwohl die USA im Waffenbesitz pro Kopf der Bevölkerung sogar noch von der Schweiz ausgestochen werden, behaupten sie in anderer Hinsicht souverän den Spitzenrang: Nirgends ist die Zahl der Todesopfer durch Waffeneinsatz so hoch wie in den USA.

Michael Moore ging in seinem Film "Bowling for Columbine" davon aus, die Ursache der ständigen Schießereien zwischen Zivilisten sei vor allem im krankhaften Verfolgungswahn zu suchen, der jeden Aspekt des Lebens der Amerikaner durchdringe, wobei sie sich dessen gar nicht bewußt seien. Doch Paranoia allein ist als Begründung dafür unzureichend, daß es in den USA jährlich etwa 40.000 "Schußwaffen-Tote" gibt, von denen 12.000 Ermordete sind.

Im Jahre 1963, als die US-Bürgerrechtsbewegung noch in den Kinderschuhen steckte, wurden zwei schwarze Jugendliche von einem rassistisch gestimmten Mob angegriffen. Sie suchten in einer Kirche Zuflucht, die daraufhin von der Menge mit samt den Teenagern niedergebrannt wurde. Beide fanden den Tod. Damals profilierte sich Martin Luther King durch die Worte: "Uns muß nicht nur die Frage besorgt machen, wer die jungen Leute ermordete, sondern wir sollten auch etwas über das System, die Lebensart und die Philosophie wissen, welche die Mörder hervorbrachten."

Diese Art von "Philosophie" führt dazu, daß die Lösung örtlicher wie territorial übergreifender sozialer oder ökonomischer Probleme in den USA oft genug unter dem simplen Motto: "Blast doch die Übeltäter weg!" erfolgt. Aber nicht nur "gewöhnliche" Bürger werden ermutigt, zur Waffe zu greifen, um sich selbst zu schützen.

Auch jede US-Regierungsbehörde oder deren Unterabteilungen handeln entsprechend. So schaffte z. B. das US-Landwirtschaftsministerium 40 halbautomatische Maschinengewehre an. Der US-Postdienst bat um Offerten für Munitionssortimente, um sein Arsenal an einsatzfähigen Handfeuerwaffen modernisieren zu können. Auch die Verwaltung der Sozialversicherung gab die Lieferung von 174.000 "Rounds" eines als "Heiliger Punkt" bezeichneten Munitionstyps in Auftrag, dessen pseudoreligiöser Name allein damit zusammenhängt, daß an der Einschußstelle beim Getroffenen ein großes Loch entsteht. Den Vogel in Sachen "Selbstschutz" aber schoß die Nationale Verwaltung des Meteorologischen Dienstes der Vereinigten Staaten ab. Sie bestellte, statt sich ums Wetter zu kümmern, 46.000 Gurte Munition.

Doch die US-Regierungsbehörden kaufen keineswegs nur Waffen und Munition. Sie formieren auch eigene Einsatzkommandos für bürgerkriegsartige Situationen. Ist tatsächlich mit Anschlägen auf den Wetterdienst zu rechnen? Oder auf das Agrarministerium, das Amt für Eisenbahnpensionäre oder die Naturschutzbehörde? All diese Institutionen verfügen inzwischen über ganze Arsenale zur Ausrüstung ihrer paramilitärischen Sonderformationen.

Als Nikita Chruschtschow 1959 den Vereinigten Staaten einen offiziellen Besuch abstat tete, zeigte er sich überzeugt, daß dieses Land überhaupt keiner Armee bedürfe, da ja die Polizei bereits über sämtliche Waffen verfüge, um den "Job" des Heeres zu tun.

Ist es da ein Wunder, daß man bisweilen ganz durchschnittliche US-Bürger trifft, die beim Einkauf von Milch und Brötchen "für alle Fälle" eine Maschinenpistole umgeschnallt haben? Im Jahr 2003 durchsuchten uniformierte und mit halbautomatischen Waffen ausgerüstete Beamte des US-Dienstes für Fischereiwesen und Wildhege die Wohnung eines gewissen George Norris und zwangen ihn, sich in seiner Küche aufzuhalten, während sie den Besitz des Hausherrn bis in den letzten Winkel inspizierten. Gegen den in Verdacht Geratenen lag "äußerst Schwerwiegendes" vor: Ihm war Orchideen-Schmuggel zur Last gelegt worden, obwohl er die Pflanzen tatsächlich legal eingeführt hatte. Wie sich herausstellte, bestand sein Delikt lediglich in der nicht ganz vollständigen Ausfüllung eines Fragebogens.

Überreaktion? Zweifellos. Eine gefährliche Überreaktion? Auch das. Hätte George Norris in dieser Situation irgendwie unbedacht reagiert, wäre mit absoluter Gewißheit sofort geschossen worden.

RF, gestützt auf "The Guardian", Sydney

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Erinnerungen an Peter Edel

Peter Edel war ein geliebtes, verwöhntes Kind aus bürgerlicher Familie mit künstlerischen Ambitionen. Sein Onkel hat in Deutschland zur Popularisierung der Plakatkunst beigetragen, und künstlerische Talente steckten auch in dem Jungen, der schon frühzeitig malte und zeichnete.

Aber dann wurde er als Halbjude von der Schule gewiesen. Sein Vater versuchte unterzutauchen, während die blonde Mama aus Ostpreußen wenigstens den Sohn retten wollte.

Es war ein Zufall, daß sie sich an der Wohnungstür begegneten, aber als er begriff, mit wem er sprach, rannte er Käthe Kollwitz hinterher, und auf dem U-Bahnsteig verabredeten sie heimlichen Unterricht. Ihre Lehre für ihn: Näh deine eigene Jacke, sei es mit groben Stichen. Und wäre diese Jacke aus Sackleinwand, so sei das immer noch besser, als Brokat vortäuschen zu wollen.

Wir wissen, was dann kam. Er hielt zu Esther, seiner Kindheitsliebe. Sie heirateten, hungerten gemeinsam, fürchteten sich, hofften, gingen manchmal heimlich ins Kino und taten zur Todesstrafe für ihre Herkunft die Gefährdung durch eine zweite hinzu: Sie leisteten Widerstand, klebten nachts Plakate: "Wer Bücher verbrennt ..." Haß und Verfolgung, sogar Verachtung mußten sie hinnehmen. Aber Esther hat bis zuletzt geglaubt, Peter werde überleben. Das stand auf einem Zettel, den er in seinem Koffer fand, als sie schon fort war, auf ihrem eigenen Leidensweg, der in Auschwitz nach medizinischen Experimenten endete. Dort war auch Peter Edel, und er glaubte bis zu seinem Tod, er habe Esther einmal in Auschwitz gesehen.

Wie überlebt ein Mensch fünf Konzentrationslager, zuletzt Sachsenhausen, wo er zur Gruppe der Häftlinge gehörte, die englisches Geld fälschen sollten? Ein Himmelfahrtskommando, in dem die Männer trotzdem versuchten, die mögliche Herstellung zu sabotieren. Bei seiner Befreiung in Mauthausen war er immer noch ein ganz junger Mann. Er fand Helga, später nicht nur seine und Sakowskis, sondern auch meine Fernseh-Dramaturgin und enge Freundin. Peter Edel war mein Freund. Also erzähle ich, was ich von ihm gelernt habe, und was ich ihm geben konnte. Als ich ihn das erste Mal am Rednerpult erlebte, war das für mich eine prägende Erfahrung. Er hatte keinen Zettel, las also nicht ab. Seine Rede war klangvoll und streng geformt und kam so leicht, als hätten die Wörter und Argumente einander schon immer gesucht. Sein schöner Kopf war durch die freie Rede frei - und ich habe verstanden, welch eine Chance darin liegt, ganz bei den Zuhörern zu sein. Daran habe ich mich seither, über fünfzig Jahre, gehalten.

Ich konnte ihm nichts anderes geben als meinen Respekt, meine unstillbare Lust aufs Zuhören, das mir in reichem Maße zuteil wurde, und meinen durch ihn bestärkten Instinkt für gefährliche und gefährdende politische Situationen. Ich brachte ihm einen großen Bruder mit ein, der ihn mit dem Auto fuhr, und ihn mit eingeschmuggelten Presseerzeugnissen versorgte, und der tolerierte, daß Edel mit seiner Aktentasche das Auto zerkratzte, weil ihm mitunter alle Gesten entglitten.

Im Restaurant hatte er immer Angst, dem anderen sei die letzte Portion serviert worden und er müsse hungrig bleiben. Und die Nächte, das Wegtauchen in den Traum, haben Helga viel Schlaf gekostet. Er leuchtete ihr oft mit der Taschenlampe ins Gesicht, um zu glauben, daß er lebte. Die Häftlingsnummer 164 145 trug er bis zu seinem Tod.

Wir haben Seite an Seite auch sehr schmerzhafte politische Konflikte und Krisen durchgestanden, in denen ich nicht nur die eigene Integrität verteidigen mußte, sondern auch den Freund, dem herabsetzende Angriffe galten. Es ging dabei um viel mehr als um die eigene Arbeit oder Partei. Die hat uns damals eine heiße Kartoffel in die Hand gedrückt, dabei getan, als hätte sie nichts mit den Problemen zu tun - und uns hinterher getadelt, daß alles so gekommen ist.

Wer "Die Bilder des Zeugen Schattmann" im Fernsehen erlebt hat, der weiß viel über Peter und Esther. Was war es, das ihm dann die Kraft gegeben hat, eine zweibändige Autobiographie anzufangen, obwohl es schon Anzeichen der tötenden Krankheit gab?

Wir wohnten da als Nachbarn, hätten uns vom Balkon aus sehen können, so hat er es aufgeschrieben, aber einfacher war doch, mich anzurufen und zum Vorlesen einzuladen. Das Tröstende und das Unerträgliche. Wir haben Mazze gegessen, obwohl er auf den jüdischen Teil seiner Identität nur anekdotischen Wert legte. Er konnte aber wunderbar Witze erzählen, die nur er erzählen durfte.

Es gab etwas anderes, gegen das frühe Herkunft, Leiden und auch menschliche Enttäuschungen niemals ankamen: Er war und blieb sein Überleben lang ein undogmatischer, durchblickender, unbeirrbarer Linker. Auch da hatte ich viel zu lernen.

Einen einzigen Wunsch habe ich ihm nicht erfüllt. Ich war nicht mit Helga und ihm in der Gedenkstätte Auschwitz. Das konnte ich nicht. Ich glaubte seine Erfahrung bei uns gut aufgehoben. Daß er, ehrend, im Pergolenweg beigesetzt würde, war ihm recht. Ich verstand das, denn er war lobsüchtig, im tiefsten Wesen nicht von den Schlägen und vielfachen Erniedrigungen heilbar. Etwas in ihm konnte bis zum Ende nicht glauben, daß er so viel wert sei wie jeder andere. Seine Bewegungen waren meist elegant, aber manchmal warf er Gläser um und verlor gänzlich die Fähigkeit, Gesten zu koordinieren.

Viel später habe ich an seinem Grab in Friedrichsfelde eine Genugtuung empfunden. Nun durfte Helga neben ihm liegen, was das Protokoll der Partei vorher nicht gestattete.

Sie und ich, wir haben nicht geschafft, das Kulturhaus in Weißensee, dem sein Name abgesprochen werden sollte, zu erhalten. Sie haben es durch unsere Aktion nicht umbenannt, aber als wir gingen, sagten wir: "Nun werden sie alle Zuwendungen streichen und lassen das Haus verkommen, dann haben sie ihr Ziel ja auch erreicht."

Es kam so. Peter Edels "Wenn es ans Leben geht" kann man manchmal antiquarisch kaufen. Ich wünschte mir eine Neuauflage. Es ist ein Lehrbuch über menschliche Größe und ein Stück deutscher Geschichte, die keiner von uns verdrängen sollte. Und ich denke noch immer, worin wir uns einig waren. Es muß verteidigt werden. Auch im Namen von Peter Edel.

Gisela Steineckert

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Zum Tod des Weimarer Schriftstellers Wolfgang Held

Einer trage des anderen Last

Schon in der Schule schrieb er gern Aufsätze, Geschichten voller Abenteuer und Phantasie. Als Kind einer sozialdemokratisch geprägten Großfamilie, in der Mitte Weimars wohnend, sog er befremdliche Situationen und Geschehnisse in der von Faschisten zu nationalistischen Zwecken mißbrauchten Stadt unter dem Ettersberg auf. Nach dem 11. April 1945, dem Befreiungstag Buchenwalds, wollte er den Jahre zuvor von der Gestapo als Kommunist verhafteten Onkel Rudi in dem Lager besuchen, wo sich die Häftlinge selbst befreit hatten. Er tat das, um sich zu überzeugen, was dort geschehen war: Etwas, wovon die meisten Weimarer nichts gewußt haben wollten.

Solcher emotionalen Erlebnisse entsinnt sich Wolfgang Held in seinem Buch "Ich erinnere mich", das 2014 im Weimarer Eckhaus-Verlag erschienen ist. Damit setzte er einen Schlußpunkt unter sein Lebenswerk. Die Zahl der Kinderbücher, Reportagen, Romane, Erzählungen und Filmszenarien für die DEFA und das Fernsehen der DDR aus seiner Feder ist buchstäblich Legion.

Mut und wertvolle Ratschläge für die ersten schriftstellerischen Schritte gab ihm der 1954 von Prag nach Weimar übersiedelte und schon 1957 verstorbene Dichter Louis Fürnberg. Wie beim Aufbau einer neuen antifaschistisch-demokratischen Gesellschaft im Osten Deutschlands schöpferische Potentiale mobilisiert wurden, erlebte Wolfgang Held zunächst als Volkspolizist, später als Journalist. Es war kräftezehrend bis zum Umfallen. Eines Tages spuckte seine Lunge Blut, und Wolfgang Held mußte ins Sanatorium einrücken - ein Vorgang, den er später in dem eindrucksvollen Film "Einer trage des anderen Last" (DEFA 1988) künstlerisch verdichtete. Nach der Genesung wandte er sich intensiv dem Schreiben zu. Zunächst arbeitete er einige Jahre bei der Erfurter Bezirkszeitung "Das Volk". Mit Reportagen, Kinder- und Jugendbüchern schrieb er sich frei. 1960 wurde er in den DDR-Schriftstellerverband aufgenommen, deren Sozialkommission er umsichtig leitete.

Wolfgang Held betreute von 1959 bis 1966 den Zirkel Schreibender Arbeiter im VEB Büromaschinenwerk Sömmerda. Das war für ihn eine wahre Fundgrube an Alltagsgeschichten. Eine landesweite Aufbruchsstimmung, die auch ihn anregte, sich Bildung und Kultur anzueignen, bestimmte damals die allgemeine Lebensatmosphäre in der DDR. Arbeiterfestspiele und gewerkschaftlich organisierte Theaterfahrten, auch zu Klassikerinszenierungen im Deutschen Nationaltheater Weimar, gehörten für viele Produktionsarbeiter zur Normalität.

Das Kollektiv des DEFA-Films "Zeit zu leben", dessen Szenarist Wolfgang Held war, erhielt 1969 den DDR-Nationalpreis. Dieser Streifen drückte die Stimmung jener Jahre aus. Auf berichtenswerte Konflikte war Wolfgang Held im Büromaschinenwerk gestoßen. Er verdichtete sie auch humorvoll. Die Musik gab dem Ganzen eine wunderbar poetische Frische. Es war, aus heutiger Sicht, die "Mitte der DDR-Zeit". Weitaus schwieriger gestalteten sich dann die 70er Jahre.

Damals lernte ich Wolfgang als Freund, Genossen und bescheidenen Menschen kennen. Er besuchte in jener Zeit öfter Parteiversammlungen in der Weimarer Kreisredaktion unserer Zeitung, obwohl er inzwischen nicht mehr beim "Volk" angestellt war. Mitunter besaß er eine überraschend andere Sicht auf politische und ökonomische Vorgänge in der DDR - jedenfalls nicht jene, welche uns gerade im Parteilehrjahr vermittelt wurde. Er kam viel herum und benannte Widersprüchliches, auf das er hier und dort gestoßen war. Bloßes Theoretisieren mochte er nicht. "Die Wahrheit ist immer konkret", meinte er. Wolfgang Held machte Mut, offen mit "heißen Eisen" umzugehen. Beschönigung der Realität, auch in der sozialistischen Presse, nütze nur dem Gegner.

Als der Zirkel Schreibender Arbeiter des VEB Weimar-Werk, den der Schriftsteller Walter Stranka leitete, 1974 mit dem Literatur- und Kunstpreis der Klassikerstadt ausgezeichnet wurde, gratulierte uns Wolfgang Held spontan und freute sich über die Würdigung.

Zu Helds Fernsehfilm "Zweite Liebe - ehrenamtlich" (1977) gab die beispielhafte Sportförderung in der DDR den Anstoß. 1983 entstand aus dem Stoff des Films sein Jugendbuch "... auch ohne Gold und Lorbeerkranz".

Verfilmt wurde später Helds 1986 erschienenes Buch "Laßt mich doch eine Taube sein" über den zuvor kaum gewürdigten Kampf der jugoslawischen Partisanen in Slawonien gegen die hitlerfaschistischen Okkupanten. Einer der Hauptdarsteller war Gojko Mitic.

Nachdem Harry Thürk Anfang der 80er Jahre den Vorsitz des Erfurter Bezirksverbandes der DDR-Schriftsteller aus gesundheitlichen Gründen hatte aufgeben müssen, nahm Wolfgang Held dessen Platz ein. Mit sehr viel Feingefühl wurde er den Anforderungen gerecht.

Auf einer Versammlung des Verbandes im Frühjahr 1990 machte er einigen in nebulösen Freiheitsvorstellungen gefangenen jüngeren Autoren unmißverständlich klar, was sie in der BRD erwartete: das Diktat des Marktes! Es könne nun jeder schreiben, was er wolle und drucken lassen, wo er wolle. Er müsse es nur bezahlen können. Es gäbe unzählige Verlage, die auf Autoren warteten. Eine politische Zensur bestehe nicht, man könne sogar einen eigenen Verlag gründen, falls genügend Geld dafür vorhanden sei. Die Qualität des Geschriebenen spiele keine Rolle. Unter diesen Umständen werde die Masse der westdeutschen Autoren nicht vom Verkauf ihrer Bücher leben können. Jetzt bestimme das Großkapital, wer und was auf dem Markt für Literatur Chancen besitze.

Es war auch für Wolfgang Held ein Schock, daß Millionen in der DDR gedruckte Bücher, darunter Werke der Weltliteratur, wie Müll entsorgt und Hunderte Bibliotheken geschlossen wurden.

Da die meisten DDR-Verlage insolvent waren und aufgekauft wurden, ergriffen einige Autoren die Initiative zu Eigengründungen. Wolfgang Held riet mir, mich an den Schriftsteller Dietmar Beetz zu wenden, der in Erfurt die Edition D. B. betreibt.

Der beliebte Autor und Freund besuchte des öfteren unser dicht bei Weimar gelegenes Kromsdorf. Er kam vor allem auch wegen der dort vom Thüringer Filmbüro gezeigten Streifen, die nach Büchern von Harry Thürk, Armin Müller und ihm gedreht worden waren. Als Wolfgang Held im Herbst dieses Jahres von uns ging, empfanden wir echten Schmerz. Doch die Gewißheit tröstete uns, daß sein Werk und Wirken als fester Bestandteil der DDR-Literaturgeschichte fortleben wird.

Werner Voigt, Kromsdorf

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Erich Hackl ging den Spuren der Familie Salzmann nach

Tragik eines Widerstandshelden

Was hat ein Kollegen-Mobbing in einem Grazer Kanzleibüro um 1995 mit den Verfolgungen und Massenmorden des längst untergegangenen Nazireiches zu tun? Der nach Tat sachen dokumentarisch gestalteten Geschichte über "Die Familie Salzmann" setzt der österreichische Schriftsteller Erich Hackl die Kennzeichnung "Erzählung aus unserer Mitte" hinzu - und geht den Geschehnissen auf den Grund. Die Figur des Hugo Salzmann bildet den Kristallisationspunkt: Er, als deutscher Kommunist ein leidvoll geprüfter Widerstandskämpfer und standhaft auch in der restaurativen Nachkriegs-BRD, zahlt für seine tief verinnerlichte Härte einen hohen Preis: Die Beziehung zu seinem Sohn mißlingt. Einfühlsam beleuchtet Erich Hackl in "Familie Salzmann" die emotionalen Kosten und Risiken eines ehrenvollen, kompromißlosen Klassenkämpfertums.

"Eine Familiengeschichte ..., die quer durch beide deutsche Staaten, durch Österreich, Frankreich, die Schweiz verläuft, über drei Generationen und ein Jahrhundert", heißt es zusammenfassend im Klappentext der 2010 erschienenen Ausgabe des Züricher Diogenes-Verlages. Der österreichische Autor, Jahrgang 1954, erkundet: Wie und warum hat die beiläufige Bemerkung des Büroangestellten Hanno Salzmann über seine Großmutter, die im KZ leiden mußte, zum zerstörenden Komplott gegen ihn geführt? Hackl folgt zuerst den Spuren jener Großmutter und entwickelt den Erzählstrang bis in die Tiefe der Familienhistorie.

Juliana Sternad hatte eine Jugend in Armut und mit härtester Arbeit hinter sich, als sie 1931 als Neunzehnjährige von der heimatlichen Steiermark aus auf Stellensuche ging. Im rheinland-pfälzischen Bad Kreuznach lernte sie ihren Mann kennen, den Metalldreher Hugo Salzmann. "Für (ihn) gab es ... nie einen Moment des Zweifelns, auch nicht die Versuchung, die gesellschaftlichen Verhältnisse als naturgegeben hinzunehmen. ... Mit siebzehn wurde er zum Organisationsleiter des Kommunistischen Jugendverbandes, mit zweiundzwanzig zu dem der Kommunistischen Partei gewählt, war Vorsitzender der Roten Hilfe und des Roten Frontkämpferbundes."

Als begabter Redner, umsichtiger Organisator und geachteter Stadtverordneter wurde er - dieser "Rädelsführer der Kommune" - den Nazis zum Feind. Noch in der Nacht des Berliner Reichstagsbrandes flieht er, um der sofort einsetzenden Verhaftungswelle gegen führende KPD-Genossen zu entkommen. Er muß Juliana und den drei Monate alten Sohn Hugo verlassen und übersteht in den darauffolgenden 12 Jahren Verfolgung, Illegalität, Exil und Zuchthaushaft. Juliana aber lebt mit dem Sohn jahrelang unter äußerst bedrückenden Bedingungen. Sie begibt sich mit dem kleinen Hugo zuerst an die Saar, später ins Pariser Exil, wo die Familie für kurze Zeit wieder vereint ist.

Hier begegnen die Salzmanns unter anderem der Genossin Lore Wolf, die später in ihrem Buch "Ein Leben ist viel zu wenig" die Erinnerung wiedergibt "an die Gegenwart einer jungen blonden Frau, die einen Jungen von etwa drei Jahren an der Hand führte, dessen dunkle Augen traurig aus dem kleinen blassen Gesicht schauten". Salzmann wird 1939 festgenommen und nach Nazideutschland abgeschoben. In der Nacht vor seiner Auslieferung und später noch viele Male quält ihn die Sorge: "Werde ich die Familie noch mal sehen. Werde ich das alles überleben? Da war auch die Fassungslosigkeit darüber, daß deutsche Menschen eine Brutalität duldeten, Verbrechen sahen, sie mitmachten - bis zu ihrer eigenen Vernichtung."

Julianas Leidensweg führt über das Pariser Polizeigefängnis in das Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück, wo sie im Dezember 1944 an Typhus zugrunde geht. So wächst der kleine Hugo bei seiner Tante Ernestine in der Steiermark auf. Als der Nazispuk vorbei ist und der 15jährige seinen Vater 1946 endlich wiedersieht, hat sich dieser mit aller Kraft in die politische Arbeit im heimatlichen Bad Kreuznach gestürzt. Für ein verbindendes Gespräch zwischen Vater und Sohn kann der ältere Hugo keine Zeit und Konzentration aufbringen. Es unterbleibt.

Die Entfremdung vertieft sich 1953, als der Jungkommunist und FDJler Hugo Salzmann in die DDR übersiedelt - eine Flucht vor der familiären Misere und aus dem vorerst mißlungenen Berufsstart. Er gerät mitten in die dortigen Nachkriegswirren, die sich im Krisenjahr 1953 verschärft hatten, stößt als Zuwanderer aus dem Westen auf die harten Maßnahmen der Spionageabwehr der DDR und wohl auch auf inkompetente Funktionsträger.

Danach beginnt er sich aus dem gesellschaftlichen Leben zurückzuziehen, heiratet und hat mit seiner Frau zwei Söhne: 1959 zuerst den schwerbehinderten Peter. Die Sorge der jungen Eltern richtet sich auf bestmögliche Behandlung für das Kind. Weil sie sich im westlichen Ausland den Zugang zu medizinischer Hochtechnologie erhoffen, kehren die drei von einem Verwandtenbesuch in Österreich nicht zurück.

Doch Vater Salzmann in Bad Kreuznach hatte eigens wegen dieser Reise für die Zuverlässigkeit seines Sohnes vor den Genossen, jetzt Führungspersönlichkeiten in der DDR, gebürgt. Er beschuldigt diesen des Verrats und bricht mit ihm, von dem er längst innerlich weit entfernt ist.

Die Familie bleibt entzweit, auch als 1969 der jüngere Sohn Hanno geboren wird. Nur eine Begegnung hat dieses Kind mit seinem Großvater. 1975 ist Hugo Salzmann der Ältere, gedemütigt von Berufsverbot und Ausgrenzung, Bildhauer geworden. In Holz und Ton formt er nun seine Ideen von Unterdrückung und Widerstand. Eine solche Figur als Großvaters Geschenk wird Hannos einziges Andenken an ihn bleiben.

Hugo Salzmann starb 1979. "Unversöhnt ist er gegangen", schrieb Lore Wolf. In den Weingärten - einem Stadtteil Bad Kreuznachs - gibt es seit Oktober 2004 eine Hugo-Salzmann-Straße.

Wie der erwachsen gewordene Hanno mit dem jüdisch klingenden Familiennamen im Kollegenkreis als "Buchenwald-Bubi" geschmäht und schließlich suspendiert wird, weil er sich wehrt, zeigt schlaglichtartig den latenten Antisemitismus in Österreich.

Erich Hackl hat ein Buch voll warmer Teilnahme geschrieben, das konfliktträchtige Momente des Scheiterns und Versagens bewußt nicht ausklammert. Er - ein Nachgeborener - hat damit den Unbeugsamen, ihrem Heldentum und zugleich der bitteren Tragik mancher Lebensläufe ein anrührendes Werk geschaffen.

Marianne Walz


Erich Hackl: Familie Salzmann. Erzählungen aus unserer Mitte. Diogenes, Zürich 2012, 184 Seiten, 9,90 €

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Compañera Christa: Für junge und junggebliebene RotFüchse

Meine Kinderbücher landeten auf dem Müll

In einer Wegwerfgesellschaft wird alles zur Wegwerfware. Auch Menschen und Bücher. Bitter zeigte sich das für uns Schriftsteller der DDR in den Jahren 1990/91. Aus geachteten Autoren wurden plötzlich "Müll-Literaten". Das war keine Qualitäts-, sondern eine Markt- und Machtfrage. Die unliebsamen Bücher aus dem verlorenen Land DDR kamen zu Hunderttausenden auf die Müllhalden. Unwerte Literatur, unwerte Literaten. Unter den weggeworfenen befanden sich auch meine Bücher, zum Teil in kompletten Nachauflagen bis zu 20.000 Exemplaren, so auch "Der Engel mit dem goldenen Schnurrbart", "Moritz in der Litfaßsäule" und "Ein Schneemann für Afrika".

Die Verlage hatten gehofft, mit Nachauflagen beliebter Titel zu überleben. Doch der große Ausverkauf erwischte auch sie. Auf der Müllhalde lag man in bester Gesellschaft. Nicht nur neben geachteten DDR-Kollegen, sondern auch im Kreis von Weltliteraten, deren Werke in DDR-Verlagen gedruckt worden waren. Eine brutale Art von Zensur! Wegwerfen oder Verbrennen - wo ist da der Unterschied? Der Schock saß tief.

Als ich von Dr. Martin Weskott vor einigen Jahren nach Katlenburg eingeladen wurde, um in der Reihe "Literaten von der Müllhalde" zu lesen, war mir das eine Ehre. Ich hatte aus Zeitungen von diesem aufrechten Mann erfahren, der in selbstloser Art Hunderttausende DDR-Bücher von den Müllhalden rettete, um sie im Rahmen der Aktion "Brot für die Welt" nutzen zu können. Bücher zu Brot - das war eine wahrhaft urchristliche Tat.

Zum Glück ist das Gedächtnis des Volkes nicht auszulöschen. "Was einmal war, bleibt in der Welt." Hölderlins Worte sehe ich als Hoffnung, denn verbittert will ich nicht sein. Neben meiner Tätigkeit als Schriftstellerin war ich festangestellte Filmautorin im DEFA-Studio Potsdam-Babelsberg. Zum 1. Januar 1991 bekam ich zusammen mit Tausenden anderen Mitarbeitern die Entlassung. Das war mein 50. Geburtstag! Geschenk der Neuen Herrlichkeit nannte ich das. Im Treuhandpapier zur Abwicklung des künstlerischen Großbetriebes DEFA-Studio für Spielfilme stand zynisch: "Die Immobilien müssen entsorgt werden." Wir wurden gleich mit entsorgt. Und damit begannen die Sorgen. Ein Knecht der Treuhand, ein bekannter Filmregisseur, rief den Entlassenen in der Presse hinterher: "Die DEFA riecht nicht gut." Unsere Filme aus vierzig Jahren hatten die neuen Herren gar nicht erst gesehen.

Ich mußte Geld verdienen, denn uns drohte eine Hausvertreibung, die wir nur dadurch verhindern konnten, daß wir unser einst gekauftes Haus noch einmal bezahlen mußten. So wurde ich Vorleserin meiner Bücher. Zum Glück bekam ich viele Einladungen in Schulen und Kinderbibliotheken, von Flensburg bis St. Gallen, von Frankfurt/Oder bis Frankfurt/Main. Vorleserin ist ein schöner, sinnvoller Beruf. Man erreicht seine Zuhörer hautnah und kann mit leisen poetisch-humanistischen Geschichten etwas gegen die Verblödungsmaschine Fernsehen und andere immer brutaler und primitiver werdende Medien tun. Aber es ist Schwerstarbeit, denn die Waffen sind ungleich: Vogelschleuder gegen Rakete.

Was ich auf diesen Fahrten durchs verlorene Land, in Zügen, auf Bahnhöfen und Straßen, in Schulen, Kinderbibliotheken und Hotels erlebte, werde ich irgendwann aufschreiben und es "Die Einsamkeit der Vorleserin" nennen. "Blühende Landschaften" waren nur wenige zu entdecken, wohl aber einst idyllische Täler, zugebaut mit Supermärkten, Autohäusern und Baumärkten. Und ich sah die brachliegenden Areale der Großindustrie, "entsorgt" von den überflüssigen Arbeitern. Die Knechte und Mägde der Treuhand mit den gierigen Händen teilten das Eigentum meines Volkes unter sich auf und verbreiteten Schimpf und Schande über alles, um ihr mieses Werk schönzureden.

Ich sah geschlossene Kulturhäuser, Bibliotheken, Kindereinrichtungen und Jugendklubs. Zunehmend spürbar war für mich bei den Lesungen, daß die Kinder als Spiegelbilder der Gesellschaft aggressiver als früher auf mich wirkten und kaum noch zuhören konnten. Viele waren verhaltensgestört, vor allem in Gegenden mit hoher Arbeitslosigkeit. Mir fielen auch Klassenstärken von mehr als dreißig Kindern auf - eine Folge der Massenentlassung von DDR-Lehrern nach der "Wende". Das wochen-, monate- und jahrelange Herumreisen spielte mich kaputt. Körperliche und nervliche Zusammenbrüche häuften sich und ließen mich kaum noch kreativ sein. Bücherschreiben war zur Liebhaberei geworden. Ich fühlte mich wie in eine Falle geraten und landete nach zehn Jahren in einer Klinik. Dort hatte ich Zeit, über alles nachzudenken.

Warum ist in den letzten 25 Jahren so viel geistiges Blut geflossen? Warum werden so viel Lügen und Verleumdungen gegen ein Land aufgehäuft, das eine gerechte, solidarische Gesellschaft für alle Menschen angestrebt hatte? Nennt sich das Vereinigungs- und Entspannungspolitik, wenn Tag für Tag aus fast sämtlichen Medien die Lüge vom "Unrechtsstaat DDR" verkündet wird - bis hin zum Bundespräsidenten? Immer wieder sät man nur Haß. Horrorgeschichten werden aufgewärmt, Dinge aufgebauscht oder totgeschwiegen, damit die jüngeren Generationen sich kein objektives Bild von der DDR machen können. Wann endlich wird man uns, die wir den Sozialismus wollen, als Andersdenkende akzeptieren?

Warum können Ost- und Westdeutsche nicht mit selbstverständlicher gegenseitiger Achtung einander begegnen, um gemeinsam für eine gerechtere, friedlichere Gesellschaft zu wirken? Vom Staat DDR soll nichts übrigbleiben, außer "Stasi" und Mauer. Während sich Wolf Biermann, an dessen Haltung sich 1976 die Geister schieden, dem Kapital andient, wurden aufrechte Schriftsteller der DDR wie Christa Wolf, Stefan Heym, Stefan Hermlin und andere von geistigen Scharfrichtern der "Neuen Herrlichkeit" öffentlich an den Pranger gestellt. Das aber, was wir geschaffen haben, ist in der Welt und wird bleiben - als künstlerischer wie als dokumentarischer Ausdruck unserer Zeit.

Warum wurde ein Volk, das sich vom Rausch vermeintlich grenzenloser Freiheit und der D-Mark blenden ließ, wobei nicht wenigen ein besserer Sozialismus vorschwebte, derart abgestraft? Massenarbeitslosigkeit, ein ungleiches Lohn- und Rentengefüge, Kinderarmut, Obdachlosigkeit, Existenzangst so vieler Menschen, die durch wuchernde Mieten und Preissteigerungen ihren Lebensunterhalt nicht mehr bestreiten können und sich deshalb umbringen - das alles kannten wir nicht. Der Baum DDR wurde gefällt, viele seiner Früchte und die Wurzeln aber bleiben

Christa Kožik


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Buchcover:
Auch diese Erfolgstitel von Christa Kožik ließen die Schmäher der DDR "entsorgen": "Moritz in der Litfaßsäule", "Der Engel mit dem goldenen Schnurrbart", "Ein Schneemann für Afrika"

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Erinnern an einen unvergessenen Puppenspieler

In diesem Jahr haben wir einen der Großen des DDR-Fernsehens verloren. Hans Schröder, der "Vater" vieler Bewohner des legendären Märchenwaldes, ist 86jährig in Berlin verstorben. Wenige Jahre vor seinem Tod übergab der unvergessene Pionier des DDR-Kinderfernsehens dem "RotFuchs"-Archiv etliche Skizzen und Fotos aus seinem reichen Fundus. Mit einigen Entwürfen von der Hand des Meisters wollen wir alte und junge RF-Leser erfreuen und Hans Schröders liebevoll gedenken.

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Gisela Steineckert: Hand aufs Herz

Ihr Lieben! Kommt, kommt zu Weihnachten, kommt ganz so wie früher, erwartungsvoll, ein bißchen überfordert, aber hungrig nach allem.

Nach schönem Tischschmuck und üppiger Atzung, schönen Geschenken und daß sie wie früher im dunklen Schlafzimmer zu leichtem Griff hingestellt wurden oder ihres besonderen Wertes wegen hier versteckt sind, damit Dramaturgie möglich ist. Die Reihenfolge der Abholungen muß erst mit einem großen grünen Stoffwürfel erspielt werden. Schummeln und Streit sind erlaubt.

Laßt uns sein wie früher, es muß duften, und das geduldige Mutterherz hat große Ohren, bei großzügigem väterlichem Ausschank, ganz wie früher, aus der großen Pulle, damals Intershop - nur die Flasche werdet ihr nun nicht mehr anstaunen, macht nix. Es wird gütige alte Augen geben über eure Geschenke, die zum Fest nicht mehr ganz so gut passen wie zu dem Zeitpunkt, als sie Schnäppchen waren. "Hätten wir lieber, aber das gab's nicht", gilt ja nun nicht mehr, denn anscheinend gibt es nun alles. Nicht gerade etwas Bestimmtes, da kannst du dir auch heute die Hacken ablaufen, aber solche Hacken hattet ihr eigentlich nie, jedenfalls ist mir nicht erinnerlich, daß wir je Bauklötzer gestaunt hätten.

Kommt zu zweit, auch wenn ihr gerade verzankt seid, weil der liebe aktuelle Partner eigentlich nicht schon wieder hierherkommen wollte, da er doch bei den eigenen Angehörigen gerade zu Weihnachten nie mehr auftaucht - was alle dort richtig finden, weil er sowieso nichts zum inneren Frieden beigetragen hat. Wir erfahren schnell, daß er eine Persönlichkeit ist, welche gegen alles revoltiert, was es schon immer gegeben hat, wobei er mit "immer" seine eigene Lebenszeit meint.

Zu dem, was es statt dessen geben sollte, hat er weniger Meinung, und wir haben noch am selben Abend den Eindruck, daß er mit dem Wechseln einer Glühbirne überfordert wäre. Aber das stellen wir sofort lernwillig in Frage, weil wir uns in diesem und jenem auch schon getäuscht haben, wenn auch nicht sehr.

Wir haben von den nächsten Generationen bereits viele Pläne zur Veränderung der Welten gehört, langweilige und bombastische, vorzüglich solche, von denen nie wieder jemand sprach - und das war auch gut so. Wir wissen, der neue Dauerredner des Abends bleibt, nach mürrischem Eintritt, schließlich als Letzter zurück, wenn die anderen schon zum Aufbruch drängeln, froh über alle doch entstandenen Überraschungen und Freuden, gerührt und irgendwie halbwegs entschlossen, von nun an unsere Familie an die erste Stelle zu setzen und dauernd beim anderen aufzutauchen, was zum Glück morgen auf sein Alltagsmaß zurückgestuft wird.

Jetzt, am frühen Abend, wollen und sollen sie den häuslichen Gemütlichkeiten zustreben, wenn auch nicht sofort. Sie werden ausreichend bepackt sein, aber auch ein bißchen überfressen. Ente ist ja wirklich irgendwie - nein, war schon richtig, aber ihr sollt doch nicht immer - was? Was? Nicht so viel Geld ausgeben, so lange in der Küche stehen ... ach so. Wir sagen nicht, daß sie Ihrs immer gekriegt haben, das wissen sie und wir in unserer Patchworkfamilie, und vermutlich ist es kein Geheimnis, daß wir die alten Bräuche im Grunde der Enkelin zuliebe beibehalten. Aber die ist ja auch ganz anders, ein wunderbarer Mensch, für den ich im Wald Weihnachtspilze suchen würde, wissend, daß es sie nicht gibt.

Die Lieben mit dem schlechten Gewissen sagen, alle müssen mal runterfahren. Klar, Pfingsten sind die Geschenke am geringsten, aber ihr habt das Glück, daß ihr fast nie Zeit habt und immer erst im letzten Moment ... alles in Ordnung. Wir sind sehr altmodisch, ich jedenfalls fange immer im Februar an, die Geschenke zu sammeln und mein Blusenfach zu füllen. Kriegskinder sind so, und als DDR-Bürgerin hatte ich keinen Grund, meine Gewohnheiten zu ändern. Da war ein neues Buch von der ersten Auflage ein richtig großes Geschenk, so billig es auch im Vergleich zu heute war.

Einmal kam mein Verlagsleiter Rudi Chowanetz von der Leipziger Messe und sagte: "Du bist überzeichnet, zweimal." Damit meinte er, daß eine Erstauflage von zwanzigtausend Gedichtbänden zu niedrig gewesen sei. Ich wollte gerade geschmeichelt gucken, da fügte er hinzu: "Alle! Manche noch viel mehr." Deswegen waren die "Prinzenbücher" mit den vielen wunderbaren Zeichnungen aller bekannten Pflanzen und Tiere so ein großes Geschenk. Aber "Clochemerle" auch, und damals lasen die Leute in der U-Bahn dieses freche Werk, denn es gab zum Glück noch keine I-Phones oder Handys. Mit deren Besitz werden Benutzer zu manisch-panischen Meldern, die keinen Kontakt zu anderen Lebewesen brauchen.

Nein, ich werde dieses Thema heute nicht auf den übervollen Tisch bringen.

Ihr werdet gehen, ihr Lieben, nachher. Ihr macht natürlich das meiste anders. Und wundert euch wieder, jedes Mal. Du wärmst vor dem Essen immer noch die Teller, kostet Strom. Und: Essen fertig, Küche fertig?

Wißt ihr was? Macht mir eine Urenkelin, damit das Angebot an wunderlichen Weibern fortgesetzt werden kann. Legt sie mir in den Arm, und ich werde lachen und heulen, denn was immer in der Welt geschieht, sie kann mit solchem empfindlichem Leben im Arm nicht am Ende sein.

Die alte Platte? Der altmodische Plattenspieler steht ja nur deswegen noch an seinem Platz - für diesen Augenblick, in dem das Jahr sich neigt und wir uns, die noch Fremden eingeschlossen, haben dürfen. Siehe, die Seele vergräbt schlechte Augenblicke, unpassende Anrufe, versäumte Gelegenheiten und Änderungen, die wieder nicht eingetreten sind. Aber: Wir sind zusammen, jetzt, noch!

Ich verspreche der Enkelin mit einem Blick, daß wir morgen ganz allein über alles reden werden, und ich war vor eurem Auftauchen bemüht, eine gute Betriebsleiterin und Mutter Erde gleichzeitig zu sein.

Haben wir heute eure Seele erreicht? Mir scheint, daß ihr jetzt anders schaut. Als wenn ihr die anderen wieder einmal wahrnehmt. Wie sie waren, und wie sie geworden sind.

Keiner von uns hat immer alles richtig gemacht. Wir lieben uns noch, wir sind noch eine Familie, und draußen gibt es noch eine große Welt, in der wieder einmal ein Plan umgesetzt wird, der alles Lebendige gefährdet.

Wir wollen das heute nicht unerträglich vertiefen, aber laßt mich doch glauben, daß es euch angeht und ihr eine Meinung dazu habt.

Wir können uns auch streiten, nicht gerade jetzt, aber ab morgen jederzeit. Es wäre ein göttlicher Augenblick, an frühere Gewißheit anzuknüpfen: Zu den Dingen der Welt sind wir uns einig. Was hast du denn gedacht?

Um ehrlich zu sein, ich freue mich auf euch. Egal, wie immer ihr hier anlandet, wahrscheinlich ein bißchen zu spät, überfordert, unausgeglichen, sichtlich bemüht, uns auch diesmal den Vorlauf an Erfahrung zu verzeihen. Manches Ritual lebt ja noch: Wir tauchen den Löffel erst in die Suppe, wenn alle am Tisch sitzen und einander guten Appetit gewünscht haben. Mit Blick in die Augen, und vielleicht nehmen wir uns sogar wie früher bei den Händen, das ist doch schön. Das macht man nicht mehr? Haben Kantinenbesucher heute keine Manieren?

In unserer Familie bleiben gerade die sehr lebendig und werden weitergereicht. Sie sind doch ein wichtiger Teil der Kultur. Wir lesen ja auch alle noch, und manchmal kriegen wir ein Buch geschenkt, das vorher unsere Gabe war. Auch gut!

Frohe Weihnachten, nicht trotz, sondern in Familie!


Nicht der Krieg ist revolutionär, der Friede ist revolutionär.
Jean Jaurés

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Leserbriefe an RotFuchs

Herzlichen Glückwunsch zum 65. Gründungstag der DDR! Angesichts der sich noch verstärkenden Hetze gegen die Deutsche Demokratische Republik wird es immer deutlicher, welchen historischen Stellenwert sie in der Geschichte Deutschlands einnimmt. Das Märchen vom "Unrechtsstaat" soll nur von den Realitäten des Kapitalismus und der sozialistischen Alternative dazu ablenken.
Als Iraner richte ich meine Glückwünsche auch über die RF-Kollektive hinaus. Sie gehen an alle Menschen, die den Sozial- und Friedensstaat DDR schätzten, weiterhin in Ehren halten und für die Rückgewinnung seiner Errungenschaften kämpfen.

Ghassem Niknafs, Hamburg


Der klassenkämpferische Geist der Gewerkschaft der Lokomotivführer (GDL) und die feste Haltung ihres Vorsitzenden Claus Weselsky beeindrucken mich sehr. Diese von allen bürgerlichen Medien der BRD geschmähten und verunglimpften Kollegen verdienen unsere uneingeschränkte Solidarität.
Gut, daß es neben gleichgeschalteten Verbänden auch solche wie die GDL und ver.di gibt, wo man noch unabhängig zu denken gewohnt ist.

Saskia Schmidt, Leipzig


Seit vielen Jahren lese ich jeden Monat gierig den "RotFuchs". Ich bin 50 und lebe noch bei meinen Eltern, ehemaligen Mitarbeitern der DDR-Sicherheitsorgane. Meine Erwartungen haben sich auch 25 Jahre nach der sogenannten Wende in keiner Weise erfüllt. Ich bin nach wie vor arbeitslos. Aber es ist gut zu wissen, daß Ihr unserer so geliebten und friedlichen DDR ein ehrendes Gedenken bewahrt.
Mit Stolz und Dankbarkeit blicke ich auf meine Zeit in ihr zurück. Bitte macht weiter so, und laßt Euch niemals kleinkriegen!

Stefan Krauß, Leipzig


Unlängst nutzte ich einen Aufenthalt in Trier, um das Karl-Marx-Haus aufzusuchen. Die dortige Dauerausstellung "Karl Marx 1818-1883. Leben - Werk - Wirkung bis zur Gegenwart" will Denkanstöße liefern und Neugier darauf wecken, sich vertiefendes Wissen anzueignen. Ich finde, daß sie diesem Anspruch durchaus gerecht wird - einem "DDR-Kind", das sich seit über 40 Jahren im Selbststudium mit Leben und Werk von Karl Marx sehr intensiv auseinandersetzt, allerdings nichts wirklich Neues zu offenbaren hat. Es ist bedauerlich, daß es dort kaum Gegenstände aus dem Besitz der Familie Marx gibt. Diese landeten meist in Pfandleihhäusern und konnten oft nicht wieder ausgelöst werden.
Ins Gästebuch des Museums schrieb ich, die Tatsache, daß sich dieses Haus in Trier befindet, dürfte ihm eine lange Zukunft sichern. Ein Standort in der DDR hätte längst einem Supermarkt oder Denkmal zur Huldigung der Konterrevolution von 1989/90 weichen müssen.
Der "RotFuchs" ist das einzig wirklich geeignete Medium, um mich als Gleicher unter Gleichen zum Marxismus bekennen zu können. Mir hat der Trier-Besuch einmal mehr gezeigt, daß ich mich auf dem "richtigen Dampfer" befinde und es keinen Grund gibt, von Bord zu gehen.

Hans-Dieter Rosenbaum, Golßen

Über die faktenreiche und treffsichere Stellungnahme von Günter Sarge im RF 201 habe ich mich sehr gefreut. Mir hat gefallen, daß er die berechtigte Kritik an Petra Paus dämlicher Äußerung (bei sicher sehr verständlichem persönlichem Ärger) bemerkenswert sachlich und ohne kränkende Vokabeln formuliert hat. Ich mag nicht übersehen, daß Petra Pau in den Untersuchungsausschüssen des Bundestages konsequent antifaschistische Positionen verteidigt. Deshalb halte ich den von Günter Sarge gewählten souveränen, nicht herabsetzenden oder gar beleidigenden Ton ihr gegenüber für gut und richtig. Er spricht behutsam von einer "Wissenslücke". Diese Art des Umgangs mit politischen "Nachbarn" steht meiner Meinung nach dem "RotFuchs" gut zu Gesicht. Die unbestreitbaren Tatsachen, die Genosse Sarge dargelegt hat, sind ja vielen Jüngeren wirklich nicht bekannt, was ich aus mancher Debatte weiß.
Ich arbeitete schon im Rundfunk mit Genossen wie Hans Jacobus und Hein Geggel zusammen, die als Juden aus Nazideutschland emigrieren konnten, oder die wie Gustav Hertzfeldt, damals mit mir Volontär im Jugendfunk, später Botschafter und stellvertretender Außenminister, der als 16jähriger jüdischer Junge illegal in Berlin überlebt hatte. Aber wir haben damals selbst im engsten Kreis der Mitarbeiter nie die Frage gestellt, ob jemand Jude ist, wie Genosse Sarge richtig schreibt. Ich denke, das hatte seine Ursache nicht zuletzt darin, daß unsere älteren Lehrmeister von sich aus niemals solche "Kennzeichnungen" vorgenommen haben.
Beim Fernsehen arbeitete ich lange Jahre mit dem Genossen Liebeskind zusammen, über den mir ein Bekannter eines Tages sagte: "Das ist ein Jude, nicht wahr?" Das hatte in unseren vielen Gesprächen über Sendungen und Programme nie eine Rolle gespielt. Erst nach dem Ende der DDR, als die giftige Lüge vom angeblichen Antisemitismus der SED in Mode kam, erinnerte ich mich wieder an diese Frage. Doch da war Genosse Liebeskind schon gestorben.

Heinz Grote, Berlin


Allmorgendlich werfe ich einen Blick in die bürgerliche Tagespresse, damit sich meine Widerstandsborsten aufrichten. Heute bedurfte es nur einer knappen Notiz unter der Überschrift "Grabschändung am Ehrenmal". Gemeint war der in unserer Kreisstadt gelegene sowjetische Friedhof, welcher - dem Bericht zufolge - kurz zuvor "geschleift" worden sein sollte. Ich begab mich zum Ort des Geschehens. Dort sah ich, daß von 24 kleinen Obelisken mit den Namen der hier beerdigten Rotarmisten in neun Fällen die metallenen roten Sterne abgebrochen worden waren, 15 hatten die Grabschänder umgeknickt.
Bei uns waren zuvor wochenlang Plakate der REPs, der NPD und der AfD geklebt worden. Diese Rechtsaußen-Parteien haben bei den Landtagswahlen im Landkreis 19,3 % der Stimmen erhalten.
Als ich den Ort der Schmach betrachtete, überkamen mich Wut und Scham. Mich empört, daß das Andenken der auch für unsere Befreiung gefallenen Sowjetsoldaten so geschändet wird.

Cornelia Noack, Beeskow


In bezug auf die Ukraine wird in verschiedenen Medien der angeblich mächtigsten Frau der Welt eine vermittelnde, ja sogar ausgleichende Rolle zugeschrieben. Ihr tatsächliches Verhalten konterkariert diese Vorstellung jedoch auf drastische Weise. Aus dem Munde der Kanzlerin vernahm man Worte wie diese: "Ein beliebiger Einmarsch, selbst wenn er sich humanitär nennen sollte, ist eine Invasion, und das ist eine rote Linie, die kein Staat überschreiten kann." Dieser Satz richtete sich direkt gegen die Hilfe, die Rußland der Ostukraine erwies. Übrigens konnte ja in diesem Zusammenhang von einem "humanitären Einmarsch der Russen" überhaupt keine Rede sein. Moskau schickte Hunderte LKW-Ladungen mit Hilfsgütern nach Lugansk.
Hat die BRD-Regierung jemals derartige Erklärungen abgegeben, wenn die USA "humanitäre Hilfe" im eigenen geostrategischen Interesse geleistet haben? Oder wenn eine "humanitäre Katastrophe" nach der anderen herbeigebombt wurde? Und wie verhält es sich mit den Transall-Maschinen der Bundesluftwaffe, die mit "Hilfsgütern" nach Irak abheben, vorausgesetzt, sie sind intakt?
Die NATO betreibt eine skrupellose, ideologisch nur leicht verbrämte Außenpolitik, die einzig und allein auf die Erweiterung ihres Machtbereiches abzielt.

Reiner Neubert, Berlin


Immer größere Flüchtlingsströme kommen aus armen und kriegsgeschüttelten Ländern nach Europa. Die Flüchtlinge können in ihrer Heimat wegen der dort herrschenden Armut und der Gefahr für Leib und Leben nicht länger bleiben. Sie hoffen verzweifelt, in Europa durch Arbeit ein normales Leben führen zu können, wobei sie wissen, daß der Weg dorthin höchst gefährlich ist. Tausend Gefahren lauern: Hunger, Durst, Krankheiten, Überfälle und vor allem Schiffskatastrophen. Doch die Verelendeten haben keine andere Wahl, als ihr Leben aufs Spiel zu setzen. Tausende sind auf dem Weg zum Ziel bereits umgekommen. Es ist eine Schande, daß Menschen auf dieser reichen Erde hungern, verdursten und so sterben müssen!

Dr. Ernst-Ludwig Hischer, Rostock


Die bundesdeutsche Außenpolitik ist seit dem Anschluß der DDR maßgeblich für Krisen in Europa mit verantwortlich. So hat Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP) schon 1991 mit seiner vorauseilenden Anerkennung Kroatiens und Sloweniens zur Balkankrise und zum Zerfall Jugoslawiens aktiv beigetragen. Sein Nachfolger Joschka Fischer (Grüne) sorgte 1999 dafür, daß die UÇK zum bestimmenden Faktor in Kosovo wurde und die Abspaltung dieses Landesteils von Serbien bewußt betrieben werden konnte. Der amtierende Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) hat mit seiner Politik der Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Ukraine die Akzeptanz einer auf undemokratische Weise ans Ruder gelangten Regierung die Krise dort mit verursacht.

Prof. Dr. Harry Conrad, Dresden


Der "Tagesschau" vom 21. Oktober zufolge finanziert die BRD indirekt den Krieg der von den US-Hauptterroristen als Terrororganisation bezeichneten IS in arabischen Ländern. Demnach plündert diese Kriminellen-Armee Museen und andere Kulturstätten der betroffenen Region systematisch aus. Ihre Kommandos entwenden dort ausgestellte Wertgegenstände, vor allem antiken Ursprungs, und verbringen sie illegal nach Deutschland, wo sie dann in einem Münchner Auktionshaus versteigert werden. Der IS soll damit im Durchschnitt tägliche "Erlöse" von 2 bis 2,5 Millionen Dollar erzielen. Ein aufschlußreicher Vorgang!

Manfred Schwallmann, Schwarzenberg


Dieter, der Sohn unseres Nachbarn und von Beruf Landmaschinentechniker, flog einst mit einer Gruppe jugendlicher DDR-Bürger im Auftrag der FDJ nach Somalia. Die jungen Leute sollten dort eine Reparaturwerkstatt aufbauen. Alle technischen Einrichtungsgegenstände wurden aus der DDR geliefert. Die Gruppe hatte aber nicht nur Reparaturleistungen zu erbringen, sondern vor allem auch die Aufgabe, junge Somalier zu unterrichten und an die Technik heranzuführen, bis diese dazu imstande waren, ihre Werkstatt selbst zu leiten. Diese Form der Solidarität nannten wir "Hilfe zur Selbsthilfe". Sie war Teil der Außenhandelsbeziehungen sozialistischer Industriestaaten mit noch unterentwickelten Ländern der Dritten Welt.
Demgegenüber nutzen die hochentwickelten kapitalistischen Staaten ihre Überlegenheit, um schwächere "Partner" schamlos auszubeuten, sich ihrer Bodenschätze zu bemächtigen und die Bevölkerung in Abhängigkeit zu halten. Das aber kritisiert im Westen niemand, während die DDR als "Unrechtsstaat" diffamiert wird.

Gerda Huberty, Neundorf


Dem Artikel Gerhard Franks im Oktober-RF stimme ich zu. Jedes Jahr suggeriert man uns, 1990 habe es eine Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten gegeben. Herr Frank hat dazu die richtige Position bezogen und den Vorgang als Annexion benannt. Es handelt sich um die einseitige, endgültige Eingliederung eines Territoriums mit eigener Gebietshoheit in eine andere geopolitische Einheit. Über Nacht galten sämtliche Gesetze und Verordnungen der BRD auch im Osten. Selbst das Grundgesetz, über das als Verfassung eines vereinten Staates hätte abgestimmt werden müssen, wurde den DDR-Bürgern übergestülpt. Bei Bildung, Verkehr, Gesundheitswesen und auf anderen Gebieten herrscht regionale Kleinstaatlerei.
Um von eigenen Mängeln abzulenken, hat man für die DDR den Begriff "Unrechtsstaat" erfunden. Vergleichbares kenne man im Westen nicht. Und was ist mit Obamas Guantánamo?

Jochen Weißhaar, Radebeul


Die Erklärung der Thüringer Linken ist unwürdig, beschämend und selbstzerstörerisch. Um an der Verwaltung der kapitalistischen Ordnung mitwirken zu dürfen, waren sie bereit, sich untertänigst an der Delegitimierung der DDR zu beteiligen.
Sicher gab es auch Unrecht in der DDR. Doch wer kennt ein Land, in dem es das zu keiner Zeit gegeben hat? War in der BRD alles rechtens beim Verbot der KPD, den Berufsverboten, im Umgang mit Funktionsträgern der DDR, bei der Festlegung von Strafrenten, bei der Abschiebung von Flüchtlingen, beim Vorgehen gegen antifaschistische Demonstranten oder gar beim Überfall auf Jugoslawien?
Die Thüringer Erklärung läßt unerwähnt, daß die überwiegende Mehrheit der DDR-Bevölkerung große Leistungen vollbracht hat, um ein einfaches, aber menschenwürdiges Leben für alle zu ermöglichen, wozu soziale Absicherung und die Gewährleistung eines hohen Bildungsniveaus gehörten. Wir sind stolz darauf, daran mitgewirkt zu haben.
Wenn die Partei Die Linke nur noch auf Regierungsbeteiligung ausgerichtet ist, wird sie unglaubwürdig und überflüssig.

Horst Neumann, Bad Kleinen


Die Tatsache, daß Gregor Gysi vor seinem üblichen Rückzieher den pauschalisierenden Haßbegriff "Unrechtsstaat" für die DDR de facto akzeptierte, halte ich für eine schallende Ohrfeige, die den redlichen Mitgliedern an der Basis verpaßt wurde. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, daß namhafte Persönlichkeiten wie Friedrich Schorlemmer und Peter-Michael Diestel den Gebrauch dieser diffamierenden Vokabel aus dem Kalten Krieg nicht mitmachen. Gewisse "Linke" haben demnach einmal mehr rechts überholt! Wäre ich Parteimitglied, würde ich das nicht länger aushalten und einen Schlußstrich ziehen.

Joachim Spitzner, Leipzig


Es fällt mir nicht leicht, nach 51 Jahren Mitgliedschaft in SED, PDS und Partei Die Linke das Handtuch zu werfen und zu sagen: Jetzt ist es genug!
Im Protokoll zum 2. Sondierungsgespräch in Thüringen zwischen der Partei Die Linke (28 % des Wählervotums), SPD (14 %) und Bündnis 90/Grüne (5 %) ist zu lesen, die DDR sei ein Unrechtsstaat gewesen und ein Koalitionsvertrag nur denkbar, wenn sie als solcher gekennzeichnet würde. Damit verbunden sei die "schonungslose Aufarbeitung der Alltagsdiktatur" in der DDR. Nur weil sie mit einer Stimme Mehrheit regieren will, läßt sich Die Linke in die Ecke treiben.
Im Sozialkunde- und Geschichtsunterricht ist hierzulande die Gleichsetzung von "nationalsozialistischem totalitärem Staat" und "totalitärem diktatorischem sozialistischem Regime" bereits gang und gäbe. Eine linke Partei müßte wenigstens darauf drängen, auch die Alltagsdiktatur des sogenannten Rechtsstaates BRD zu kennzeichnen, in dem nach dem KPD-Verbot 250.000 Ermittlungsverfahren gegen Kommunisten und andere Linke liefen, während Naziverbrecher in höchsten Ämtern verblieben. Übrigens wurde auch Bodo Ramelow lange Zeit bespitzelt.
Ich war 25 Jahre in der DDR Lehrerin an Schulen und Hochschulen. 1991 verlor ich das Recht auf Arbeit und wurde erwerbslos. Ich bin froh, in einem sozialistischen Rechtsstaat gelebt, studiert und gearbeitet zu haben. Daher begrüße ich es, daß man sich von tatsächlich geschehenem Unrecht distanziert und nach dessen Ursachen fragt.

Dr. Gisela Sonntag, Jena


Sicher stand am Beginn das ehrliche Bemühen, in Thüringen einen Politikwechsel herbeizuführen, um das Leben der Menschen im Kapitalismus erträglicher zu machen. Aber nach der Wahl, vor allem seit dem Beginn der Koalitionsgespräche, wurde aus dem Streben nach Veränderungen immer mehr das Streben nach Macht, koste es, was es wolle. Welch hoher Preis wird da gezahlt! Was die Aufarbeitung der DDR-Geschichte betrifft, gibt es zahlreiche Forschungen, die auch in Büchern ihren Niederschlag fanden. Die Autoren waren anerkannte Wissenschaftler und Zeitzeugen, die alles aufschrieben, historisch einordneten und die Erwähnung von Fehlern nicht aussparten. Es würde auch guttun, mal wieder bei Marx nachzuschauen, steht doch das Grundlagenwissen schon im Manifest.
Über das Thüringer Koalitionspapier waren wir so empört, daß wir erwogen, diese Partei, die wir nicht mehr als Heimat empfinden, zu verlassen. Doch wir werden uns wehren! Wir lassen uns unsere Identität nicht nehmen! Wir haben unsere Erfahrungen, unser Wissen und unsere Argumente. Die werden wir einbringen und nicht zu Kreuze kriechen. Das geben unsere Biographien nicht her.
Fazit: Für uns war die DDR kein Unrechtsstaat.

Dagmar und Bernhard Schmidt, Suhl


Die Abwertung der DDR als Unrechtsstaat durch den Thüringer Landesverband der Partei Die Linke war zwar ein bedeutsamer Schritt zur Regierungsfähigkeit, politisch aber ein Skandal. Die gegenüber potentiellen Koalitionspartnern in Thüringen bekundete vorauseilende Verurteilung der DDR als "Unrechtsstaat" ist sowohl unter dem Aspekt sachlicher Korrektheit als auch ihrer politischen Zulässigkeit prinzipien- und charakterlos. Die Bezeichnung "Unrechtsstaat" ist weder ein staatsrechtlicher noch ein völkerrechtlicher Terminus, sondern schlicht und einfach ein Schmähwort.
Wenn sich Dr. Peter-Michael Diestel in Sandra Maischbergers Talkshow gegen die Bezeichnung der DDR als Unrechtsstaat verwahrt, angebliche Sozialisten aber bedenkenlos bereit sind, die Hetzarien ihrer Gegner mitzusingen, dann ist über die politisch-moralische Qualität solcher Leute alles gesagt.
Eine entschiedene Wende der Parteiführung hin zu einer konsequenten, den Prinzipien der eigenen Programmatik folgenden linken sozialistischen Politik ist dringend geboten.

Reiner Hofmann, Panketal


Es ist nicht rechtens, wenn Genossin Henning-Wellsow (die thüringische PDL-Landesvorsitzende - RF) Standpunkte Andersdenkender zum "Unrechtsstaat" DDR mit der Bemerkung abwertet: "Brauchen wir nicht." Als langjährige Mitglieder der Partei empfinden wir das als eine schmerzhafte Ohrfeige. Da fragt man sich, was denn die Meinung der Basis eigentlich noch wert ist. Basisdemokratisch kann man das bestimmt nicht nennen. Sie schaut von einem hohen Sockel herunter, was sich evtl. als tiefer politischer Fall erweisen könnte - nicht nur für sie, sondern für die ganze "Linke".
Mit welchem Recht maßen sich deren Unterhändler eigentlich an, für einen Koalitionsvertrag so weitreichende gesellschaftspolitisch relevante Wertungen zur DDR abzugeben, die mit dem Programm der Partei nicht vereinbar sind?

Claudia und Matthias Schwander, Chemnitz


Auf der Regionalkonferenz der Partei Die Linke hat der sächsische Landesvorsitzende Rico Gebhard bei der Auswertung der Landtagswahl erklärt, wer behaupte, daß die Ereignisse der Jahre 1989/90 in der DDR eine Konterrevolution gewesen seien, der habe mit ihm in einer Partei nichts zu suchen. Ich habe Rico Gebhard gegenüber betont, daß es für mich parteipolitisch von existentieller Bedeutung sei zu erfahren, ob in der Partei Die Linke wissenschaftliches marxistisches Denken noch geduldet werde.
Die Konterrevolution verlief zweifellos in bestimmten Etappen. Die Losung der ersten "Wir sind das Volk" zielte noch nicht auf die Wiedereinführung der Herrschaft des Kapitals. Die Losung der folgenden Etappe "Wir sind ein Volk" hatte bereits die Vereinigung mit der BRD im Auge. Dieser Slogan war der Ausgangspunkt zur Restauration kapitalistischer Macht- und Eigentumsverhältnisse. Darin aber bestand die Konterrevolution.

Siegfried Kretzschmar, Zwenkau


Ich erinnere mich an einen im Bundestag sehr heftig angegriffenen Thüringer Mandatsträger namens Gerhard Riege, der sich das Leben nahm. In seinem Abschiedsbrief schrieb er: "Mir fehlt die Kraft zum Kämpfen und zum Leben. Sie ist mir mit der neuen Freiheit genommen worden. Ich habe Angst vor der Öffentlichkeit, wie sie von den Medien geschaffen wird und gegen die ich mich nicht wehren kann. Ich habe Angst vor dem Haß, der mir im Bundestag entgegenschlägt, aus Mündern und Augen und der Haltung von Leuten, die vielleicht nicht einmal ahnen, wie unmoralisch und erbarmungslos das System ist, dem sie sich verschrieben haben. Sie werden den Sieg über uns voll auskosten. Nur die Hinrichtung ihres Gegners gestattet es ihnen, die Geschichte umzuschreiben. ..."
Sollten Gerhard Riege und dessen Freunde in Thüringen schon vergessen sein?

Paul Jattke, Chemnitz


Wenn Verantwortungsträger der Grünen (und teilweise auch der SPD) der DDR vorwerfen, sie habe keine unabhängige Justiz besessen und sei eine Parteidiktatur gewesen, dann klingt das wie eine Botschaft von der Insel der Seligen.
Gab es etwa in der BRD eine unabhängige Justiz? Als der damalige Justizminister Klaus Kinkel (FDP) seinen Richtern und Staatsanwälten den Auftrag erteilte, die DDR zu delegitimieren, was diese auch mit Eifer taten, war von Unabhängigkeit keine Spur zu bemerken.
Was aber die Frage der Diktatur betrifft, so ist der Staat bekanntlich stets das Machtinstrument der jeweils herrschenden Klasse. In der BRD besteht demnach eine Diktatur des Kapitals, allerdings mit einer gehörigen Soße aus "Demokratie, Freiheit und Menschenwürde" übergossen.
Wozu also das Treten gegen die untergegangene DDR?

Thomas Hentschel, Hoppegarten


In bürgerlichem Sinne war die DDR kein Rechtsstaat. Manches an ihr war sicher auch spießig und kleinbürgerlich, ja, hatte fast schon etwas Katholisches, was ihre Staatsführung leider nie ablegen konnte. Sie war aber auch kein "Rechts"staat wie die Bonner Republik der 50er und 60er Jahre. Die verhängte über Bürger, welche sich ihrem Willen widersetzten, Berufsverbote ohne Ende. Auch die KPD Max Reimanns traf der Bannstrahl, weil zu ihrem ideologischen Rüstzeug der marxistische Begriff Diktatur des Proletariats gehörte. Der tatsächliche Verbotsgrund aber war ihr Widerstand - als einziger Partei - gegen die Aufrüstung der BRD.
Ich bin in der DDR geboren. Meine Eltern flohen 1959/60 zu ihren Verwandten nach Rheinland-Pfalz, weil sie, wie es hieß, "von der Stasi verfolgt und bespitzelt wurden". So die offizielle Familiengeschichte. Meinen 1961 tragisch verunglückten Vater wollten die Amerikaner als Agenten in die DDR zurückschicken, was er ablehnte. Später stellte sich heraus, daß er mit Lebensmitteln geschoben hatte und die Kriminalpolizei ihm auf die Spur gekommen war.

Hartmut Bethge, Dreisen


In ihrem Beitrag "Ein verlorenes Land trägt man im Herzen" (Oktober-RF) bringt die bekannte Kinderbuchautorin und Filmemacherin Christa Kozik das zum Ausdruck, was unzählige frühere DDR-Bürger bewegt: den Verlust der sozialistischen Heimat. Die vorgebliche Wiedervereinigung mag hier und dort Verbesserungen im Alltag des einzelnen, was Versorgungsfragen, Reiseerleichterungen und andere Dinge betrifft, gebracht haben. Aber in den Grundfragen - Sicherheit des Arbeitsplatzes, solides Gesundheitswesen, gebührenfreie Bildung für alle, keinerlei Verstrickung des Staates in kriegerische Aktivitäten - gab es einen herben Rückschlag. Sehr zu Recht erinnert sich Christa Kožik an die Worte von Peter Hacks, daß ihm ein schlechter Sozialismus immer noch lieber sei als der beste Kapitalismus.
Für mich steht außer Frage, daß die weitere gesellschaftspolitische Entwicklung eines Tages die Chance zum erneuten Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft auf deutschem Boden eröffnen wird. Dann aber gilt es, diese besser zu nutzen und die Überlegungen der Vordenker des Sozialismus - Marx, Engels, Lenin, aber auch Liebknecht, Luxemburg u. a. - durch qualifizierte Führungskräfte umzusetzen.

Helmuth Hellge, Berlin


Da ich einerseits zu den im Leserbrief von Oberst a.D. Hans Linke (RF 201) kritisierten "hochrangigen Militärs der Grenztruppen der DDR und ihrer Offiziershochschule" gehöre (zuletzt als Stellvertreter des Kommandeurs für Ausbildung und Forschung), andererseits "RotFuchs"-Leser und Besucher entsprechender Veranstaltungen bin, sei mir eine Replik gestattet. Ja, es gab bereits Anfang 1990 eine Kontaktaufnahme von Lehrstuhlleitern der Sektion Gesellschaftswissenschaften (!) mit dem BGS, und es kam zu diesem Papier, "das jeder Würde entbehrt". Diese Herren (die Anrede "Genosse" war bereits abgeschafft) nahmen sich damals ihre vermeintlich demokratischen Rechte. Darauf hatte die Führung der Offiziershochschule kaum noch Einfluß. Die Politorgane waren am 15. Februar 1990 bereits aufgelöst worden.
Ein Buch zur Geschichte der Offiziershochschule kam aus unserer eigenen Feder leider nicht zustande. So nahm sich der im Westen sozialisierte und dem Antikommunismus durchaus verhaftete Dr. Lapp das Recht, ein Buch darüber zu verfassen. Uns blieb die Möglichkeit, dessen sachliche Richtigkeit zu beeinflussen und eigene Standpunkte darin zu publizieren. Was soll daran verwerflich sein?
Natürlich enthält das Buch auch Formulierungen, die uns - ich rechne mich selbst dazu - nicht gefallen. Leser heben indes auch die Sachlichkeit des Textes hervor. Das ist schon viel.

Oberst a. D. Dr. Rolf Ziegenbein, Dresden


Am 12. Oktober nahmen wir in Bad Frankenhausen das Monumentalbild Werner Tübkes über den Großen Deutschen Bauernkrieg in Augenschein. Dort behauptete man, der Maler habe sich zum Inhalt nie geäußert. In der DDR wußte indes fast jeder, wozu der Rundbau eigens errichtet wurde, gewissermaßen über den Gebeinen der Toten dieser Schlacht.
Bei der jetzigen "Neuinterpretation" wird vieles weggelassen. Selbst Thomas Müntzer wurde nicht besonders herausgestellt - er war halt nur ein Prediger. Andererseits bezeichnete man dort die ausbeuterischen und barbarischen Feudalherren als "Herrscherpersönlichkeiten".
Im Treppenhausbereich zeigte man Werke des Pariser Grafikers Fred Deux. Ein Ehepaar, frühere DDR-Bürger, meinte dazu, es handle sich um "entartete Kunst". Kommentar: "So jemand wie der wäre früher in Buchenwald gelandet." Als ich fragte, ob sie Faschisten seien, kuschten beide.
So etwas kann man 24 Jahre nach dem "Beitritt" der DDR zur Alt-BRD heute im Osten erleben. Die DDR-Bürger hatten das einst besser gewußt.

M. und A. Bauer, Holzminden


Der Beitrag von Herbert Mies "Die Metamorphose des Valentin Falin" erregt meinen energischen Widerspruch. Nicht, weil ich Falin verteidigen will, sondern weil mir die Art und Weise, wie der Autor sich mit ihm "auseinandersetzt", nicht gefällt. Als Lenin gegen Kautsky - einen Renegaten - polemisierte, tat er das sachlich, argumentativ überzeugend und beweiskräftig.
Herbert Mies stellt fest, daß bereits vor Falin der "Kollaps" der UdSSR durch Ligatschow und Ryschkow eingehend beleuchtet worden sei. Diese Bücher sind m. E. verläßliche und beachtenswerte Publikationen zum Thema, besonders jenes von Ryschkow. Warum aber ignoriert Herbert Mies die von ihm selbst festgestellte Tatsache, daß Falins Buch bereits 1997 veröffentlicht wurde, also viele Jahre früher.
Übrigens bin ich - im Unterschied zu H. Mies - nicht der Meinung, mit den Veröffentlichungen Ligatschows, Ryschkows und einiger anderer sei die Serie der Betrachtungen zu diesem Thema abgeschlossen. Wenn der Sozialismus eine Zukunft haben will, und das sollte er nach Lage der Dinge unbedingt, dann wird und muß man sich weiter vom marxistischen Standpunkt aus theoretisch und politisch-praktisch gründlich damit beschäftigen, wozu nicht zuletzt der "RotFuchs" Wesentliches leistet und sicher auch in Zukunft leisten wird.

Prof. Dr. Werner Kühn, Berlin


Den Beitrag von Herbert Mies möchte ich zum Anlaß nehmen, mich zu Valentin Falins Buch "Konflikte im Kreml" zu äußern. Insbesondere habe ich mich mit seinem Kapitel "Zur Devisensituation der UdSSR" beschäftigt, denn mit dem Wissen, daß der Quell des Reichtums aus der Natur und der Arbeit erwächst (Marx), erfährt es besonderes Gewicht. Falin erklärt die angespannte wirtschaftliche Situation der UdSSR Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre und verweist besonders auf ihre Auslandsverschuldung. Sie lag damals um 50 % höher als der Jahresexportumsatz in Devisen. 1988 mußten 10,3 Mrd. Rubel oder 60 % der Devisenerlöse für Schuldentilgung bereitgestellt werden. Das Zahlungsbilanzdefizit erreichte am 1. April 1988 die Summe von 10,1 Mrd. Rubel.
Die Hauptursache der entstandenen Krise war die von Energieträgern und Rohstoffen bestimmte Struktur des sowjetischen Exports. Sie belastete auch die DDR-Wirtschaft ab Mitte der 80er Jahre, da die Vorzugspreise beim Bezug von Erdöl aus der UdSSR seitdem entfielen.
Falin gelangt zu dem Schluß, daß es an der Inkompetenz damaliger Staatsfunktionäre lag, wirtschaftliche Zusammenhänge nicht zu erkennen, d. h. das System ökonomischer Gesetze, die unabhängig vom menschlichen Bewußtsein existieren, im täglichen Leben zu verwirklichen. Es rächte sich, daß die Mehrheit der Partei- und Staatskader nicht über das Studium von Marx und Lenin erzogen wurde, sondern durch die Vermittlung von Parolen wie "Der Sozialismus siegt", "Vorwärts zu neuen Taten" und "Von der Sowjetunion lernen, heißt siegen lernen".

Wolfgang Schröder, Schöneiche


Heute ist der 3. Oktober. Am "Tag der Einheit" denke ich natürlich an die vor 65 Jahren gegründete DDR. In diesem Zusammenhang möchte ich auf die von Horst Jäkel herausgegebene Buchreihe "Spuren der Wahrheit" aufmerksam machen. Als Erscheinungstag des Bandes X (DDR - Meilensteine der Geschichte) wurde nicht zufällig der 7. Oktober gewählt. 70 Zeitzeugen vermitteln darin, was für sie das Leben in der DDR ausmachte. Auch ich habe mich beteiligt. Es würde mich freuen, wenn zahlreiche Leser unserer Zeitschrift die Beiträge von 70 Autoren zur Kenntnis nähmen, zumal sich unter ihnen 20 "RotFüchse" befinden.

Werner Wild, Magdeburg


An Schadenfreude mangelt es mir nicht, wenn Frau von der Leyen mehr als 100 Fehler bei der Bundeswehr "entdeckt". Was bedeutet das? Die Armee der BRD vermasselt ihre eigene Kriegsbeteiligung. Ich denke, das ist das Beste, was sie tun kann.

Karl Scheffsky, Schwerin


Klaus Steinigers Leitartikel "In der Maske des Rechtspopulismus" (RF 200) findet meine volle Zustimmung. In einer Sache ist er allerdings zu optimistisch gewesen: Der Hindenburgdamm im Berliner Stadtbezirk Steglitz wurde im Juli 2014 nur symbolisch nach der jüdischen Hochspringerin Gretel Bergmann benannt. Das geschah zur Unterstützung des Antrags der Linkspartei im Abgeordnetenhaus, Hindenburg endgültig aus der Berliner Ehrenbürgerliste zu verbannen. Doch die Straße heißt weiter Hindenburgdamm, und was aus dem Antrag wird, bleibt abzuwarten.
Eine verspätete Korrektur möchte ich auch noch zu dem ausgezeichneten Beitrag "Die Schlachtbank der Völker" (RF Extra, 189) nachreichen. Dort heißt es: "Bulgarien, Serbien, Griechenland und Montenegro brachten der Türkei eine schwere Niederlage bei und setzten der byzantinischen Herrschaft in weiten Teilen ein Ende." Tatsächlich handelte es sich aber um die Herrschaft der Osmanen. Sie hatten 1453 Byzanz (Konstantinopel) erobert.

Dr. Kurt Laser, Berlin


Eine Bemerkung zu Wolfgang Harich, der acht Jahre seines Lebens hinter DDR-Gefängnismauern verbringen mußte. Dennoch blieb er seinen kommunistischen Idealen treu. Nicht unerwähnt sollte bleiben, daß der letzte SED-Generalsekretär Egon Krenz die Rehabilitierung Harichs angeregt hatte. 1991 besuchte ihn dieser und wollte wissen, wieso er das getan habe. Beide sprachen mehrere Stunden miteinander. Harich meinte, die Geschichte der DDR sollte nicht Antikommunisten und Hassern dieses Staates überlassen bleiben. Er holte Egon Krenz in den Vorstand der "Alternativen Enquete-Kommission Deutsche Zeitgeschichte". In "Herbst 89" schreibt Krenz: "Wolfgang Harich hätte mich als seinen politischen Gegner betrachten können. Ich war Funktionär in der Partei gewesen, die ihn 1956 fallen ließ. Er erwies sich mir gegenüber bis zu seinem Tode als väterlicher Berater."

Gerd-Rolf Rosenberger, Bremen-Blumenthal


Im Oktober-RF lasen wir den Bericht über das DDR-Museum Tutow. Wir hatten gar nicht gewußt, daß nur 50 km südlich von Stralsund eine so schöne Einrichtung besteht. Nach der Lektüre des RF-Berichts gab es für uns nur einen Wunsch: Auf nach Tutow! Unsere Erwartungen wurden voll erfüllt. Das Kollektiv des Museumsleiters Spiegel leistet dort eine gute Arbeit.
Wir wurden freundlich aufgenommen. Es ertönten Friedenslieder, von Kindern gesungen. Als fast 83jähriger kann ich nur sagen: Wie schön, daß ich so etwas noch erleben durfte! Eine Stunde lang war ich wieder zu Hause - in der DDR. Auch im Namen unserer Gruppe danke ich den Freunden in Tutow.

Wolfgang Nicolas, Stralsund

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Solidarische Grüße enger Verbundenheit all unseren Lesern und Mitstreitern in Ost und West sowie den Kampfgefährten überall auf der Welt zu den Weihnachtstagen und zum neuen Jahr!

Mehr denn je gilt es, den Kragen hochzustellen, um mit Bekennermut und Treue zur sozialistischen Sache jeglicher Unbill zu trotzen. Vor 25 Jahren haben sie uns das Kreuz gebrochen, doch nicht das Rückgrat!

Auf ein Neues!

Redaktion und Förderverein des RF

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Der im Februar 1998 gegründete "RotFuchs" ist eine von Parteien unabhängige kommunistisch-sozialistische Zeitschrift.

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RotFuchs Nr. 203, 17. Jahrgang, Dezember 2014
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veröffentlicht im Schattenblick zum 25. Dezember 2014


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