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ROTFUCHS/130: Tribüne für Kommunisten und Sozialisten Nr. 176 - September 2012


ROTFUCHS

Tribüne für Kommunisten und Sozialisten in Deutschland

15. Jahrgang, Nr. 176, September 2012



Inhalt

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EU - Fanal, Falle oder Farce?

Um es gleich vorwegzunehmen: Für jene, welche die Falle "Europa" aufgestellt und den Köder darin ausgelegt haben, ist die EU natürlich alles andere als eine Farce oder ein Flop. Aus der Sicht der Monopole ist sie keine Fiktion, sondern die Gans, welche die goldenen Eier legt. Für jene aber, die in die Falle gehen sollen oder bereits in ihr gefangen sind, steht die nackte Existenz auf dem Spiel. Unlängst wurde in Brüssel, das wegen des dort stationierten Apparats aus hochdotierten Schranzen und Wanzen fälschlicherweise als Hauptstadt der EU gilt, obwohl sich die eigentliche Kommandozentrale wohl eher an der Spree befindet, ein neuer Leiter des dortigen Büros der Berliner Rosa-Luxemburg-Stiftung vorgestellt. Mit Klaus Sühl nehme "ein ausgewiesener Europäer" diesen Platz ein, urteilte das ND. Stammte seine Vorgängerin etwa aus Afrika? "Es gibt heute kein faszinierenderes Thema als Europa", verkündete der promovierte Philosoph - bisher Direktor des Europäischen Informationszentrums mit "Erfahrungen im Regierungsdienst von Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg" - sein Credo.

Ähnlich Euphorisches zum "Fanal Europa" und dessen Rang ist schon seit langem vom stellvertretenden DKP-Vorsitzenden Leo Mayer aus München zu vernehmen, auch wenn die Formulierungen natürlich voneinander abweichen. Er hat - offenbar gegen erhebliche Widerstände in den eigenen Reihen - seine Genossen per "Beobachterstatus" in die recht umstrittene Europäische Linkspartei geführt.

Als Marxisten machen wir kein Hehl daraus, daß wir das in allen Fugen krachende und keineswegs als Erfolgsmodell verkäufliche Europa-Projekt der Kapitalisten und ihrer Weggefährten ohne Wenn und Aber zurückweisen. Während nicht wenige Roßtäuscher und von diesen hinter das Licht Geführte die trübe Brüsseler Brühe noch immer als kristallklares Erfrischungsgetränk ausgeben und davon schwadronieren, die europäischen Nationalstaaten hätten sich historisch überlebt, weshalb sie der Abschaffung bedürften, vertreten wir in Übereinstimmung mit Marx und Lenin eine ganz andere Position. Dieses "vereinigte Europa" ist doch lediglich die Einheit der Schafe im Magen des Wolfes. Das EU-Projekt stellt die bisher höchste Eskalationsstufe der Aushebelung des auf den Beziehungen zwischen Nationalstaaten beruhenden Völkerrechts dar. Wäre es denkbar, daß z. B. Venezuela, Brasilien, Chile, Argentinien, Uruguay, Ekuador, Bolivien oder gar Kuba - bei aller notwendigen Zusammenarbeit im lateinamerikanischen Raum - auf ihre Nationalstaatlichkeit zugunsten eines Sammelbeckens unter Vorherrschaft der USA verzichten würden?

Die EU öffnet keineswegs die Tür zu mehr Gleichheit und Gleichberechtigung bei Wahrung der nationalen Souveränität historisch gewachsener Staaten, sondern führt zur Dominanz von imperialistischen Peitschenschwingern hinter dem Rauchvorhang vermeintlicher Partnerschaft. In Brüssel gibt es keine echte Kooperation, sondern nur die erzwungene Koexistenz von Fallenstellern und deren potentiellen Opfern. Selbst hochrangige Strohmänner wie der Top-Lobbyist José Manuel Barroso, der 1974 noch in Portugal als Ultralinker posierte, hängen an den Strippen der eigentlich Mächtigen. Daran ändert auch die Tatsache nichts, daß Italiens erfahrener Banker-Premier Mario Monti und andere der Geschäftsführerin des Staates der deutschen Monopole gelegentlich in die Parade zu fahren vermochten. Solches Tauziehen darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß in Brüssel vor allem das Deutschlandlied intoniert wird.

Unverkennbar ist es das Ziel derer, die diesen Hymnus der Chauvinisten schon vor 70 Jahren sangen, den Zweiten Weltkrieg mit Hilfe der EU und möglichst ohne militärische Mittel nachträglich doch noch zu gewinnen. Die BRD will - im kontinentalen Maßstab - das sein, was die USA seit der Verkündung des "Amerikanischen Jahrhunderts" weltweit anstreben, wobei deren Trauben - vor allem angesichts des unaufhaltsamen Aufstiegs der Volksrepublik China - inzwischen immer höher hängen. Längst gibt es in der EU Sieger und Besiegte. Der Euro gehört dabei zu den Verlierern. Seine Schwäche ist - neben dem Absturz des Dollars - ein wesentlicher Faktor der Weltwährungskrise. Auch wenn der Gedanke an ein Ausbrechen aus seiner Phalanx derzeit kaum realistisch erscheinen dürfte, bedauern einige EU-Mitgliedsländer unterdessen vermutlich ihren Beitritt zur Eurozone. Da es keine soziale Harmonie zwischen den Klassen innerhalb eines Landes geben kann, widerspricht es auch marxistischer Betrachtungsweise, völlig indifferent von "den Europäern" oder "Europa" zu reden, ohne deren dominierende Kräfte klar zu benennen. Auch in dieser Frage ist ein fester Klassenstandpunkt der einzig verläßliche Kompaß. Etliche Abgeordnete des kommunistisch-sozialistischen Spektrums im Europa-Parlament - darunter auch zwei couragierte Frauen mit PDL-Mandat - stochern da nicht im Nebel.

Als Orientierungshilfe sollte uns das Wissen darum dienen, daß sich so erfahrene marxistisch-leninistische Parteien des Kontinents wie die griechische KKE und die portugiesische PCP, die seinerzeit nicht auf den eurokommunistischen Leim gekrochen waren, heute einer aus Brüsseler Töpfen geförderten Europäischen Linkspartei mit ebenso gutem Grund versagen. Andere sehen leider davon ab, sich bei Lenin Rat zu holen, der schon vor 100 Jahren, als erstmals über das Für und Wider "Vereinigter Staaten von Europa" gestritten wurde, Roß und Reiter genannt hat. Unter kapitalistischen Vorzeichen komme eine solche Integration entweder nicht zustande oder sie sei reaktionär, zerstörte er bereits damals das Kartenhaus aus Illusionen, denen leider nicht wenige redliche Linke bis heute anhängen. Der langen Rede kurzer Sinn: Die EU ist Flop, Farce, Falle und Fiktion, aber keineswegs ein Fanal. So waren jene Athener Genossen gut beraten, die im Frühsommer auf ein erneut von der Akropolis heruntergelassenes Spruchband der KKE die Worte schrieben: Nieder mit der Diktatur der Europäischen Union der Monopole!

Klaus Steiniger


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

Ein Hamburger Magazin sieht ein Gespenst in Europa ...

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McCarthy läßt grüßen!

Die McCarthy-Ära ist als finsterste Periode des Gesinnungsterrors in die jüngere Geschichte der Vereinigten Staaten eingegangen. Schon kurze Zeit nach dem Sieg der Antihitlerkoalition - er wurde vom atomaren Massenmord der Truman-Administration in Hiroshima und Nagasaki überschattet, mit dem in Wahrheit der Kalte Krieg gegen die Sowjetunion eingeleitet worden war - entfesselte USA-Senator Joseph McCarthy seinen Amoklauf gegen Andersdenkende. Der Hauptschlag dieses mit Schaum vor dem Mund agierenden Scharfmachers richtete sich gegen die seit den 30er Jahren einfluß- und prestigereiche KP der USA. Die damals etwa 80.000 Mitglieder zählende Partei wurde von ihren Massenverbindungen - besonders in der Gewerkschaftsbewegung - abgeschnitten und nahezu in den Untergrund getrieben.

Parallel zum Wüten der Hexenjäger wurde der nicht minder berüchtigte "Ausschuß zur Untersuchung unamerikanischer Tätigkeiten" des US-Repräsentantenhauses installiert. Während man unzählige bewährte Antifaschisten aus dem Staatsdienst entließ, setzte die Red Squad des FBI sämtliche Bürger, die man als Kommunisten betrachtete oder die mit solchen auch nur bekannt waren, auf schwarze Listen. Das State Department verweigerte oder entzog ihnen die Auslandspässe.

Wer aber ins Visier der McCarthyisten geriet, fand kaum noch einen einträglichen Job und büßte viele seiner staatsbürgerlichen Rechte ein. Während 11 Führer der KP der USA - unter ihnen Gus Hall und Henry Winston - in New York zu hohen Freiheitsstrafen verurteilt wurden, machte man in der Filmmetropole Hollywood Jagd auf fortschrittliche Drehbuchautoren, Regisseure und Darsteller. Als Hauptbelastungszeuge trat dabei der Seifenpulver-Reklamestar und spätere US-Präsident Ronald Reagan auf.

In Europa geschah ähnliches nur in Franco-Spanien, im Portugal der Faschisten Salazars und in der freiheitlich-demokratischen Bundesrepublik Deutschland. Jahrzehnte später ergänzte das Griechenland der Schwarzen Obristen den Reigen der Finsterlinge.

Das Adenauer-Regime, das schon wenige Jahre nach Zerschlagung der Nazi-Diktatur den Terror gegen kommunistische Überlebende der Konzentrationslager und Zuchthäuser entfesselte und sich im August 1956 das grundgesetzwidrige Verbotsurteil gegen die KPD beim Bundesverfassungsgericht verschaffte, erwies sich als BRD-Spielart des McCarthyismus. Es ließ Zehntausende Antifaschisten ins Gefängnis werfen. Bei den Gesinnungsprozessen saßen Nazi-Juristen einmal mehr über Nazi-Gegner zu Gericht.

Durch ihre berüchtigte Praxis der Berufsverbote gegen Lehrer, Briefträger und Lokführer stellte sich die BRD selbst an den Pranger der Welt.

Wer indes geglaubt hatte, der Gesinnungsterror gehöre lediglich zu den unauswaschbaren dunklen Flecken der BRD-Vergangenheit, wurde spätestens mit Kinkels berüchtigter Delegitimierungsrede auf dem Juristentag 1990 eines anderen belehrt. Während Köhlers Treuhand den umfassenden Raub des DDR-Volksvermögens vollzog, wurden zugleich die schlimmsten antikommunistischen Massenverfolgungen seit Hitlers Tagen in Szene gesetzt. Der bundesdeutsche McCarthyismus führte zur Ausschaltung sämtlicher Kader des sozialistischen deutschen Staates und des überwiegenden Teils der DDR-geprägten Intelligenz.

2011 erfuhr die skrupellose Gesinnungsschnüffelei eine abermalige Eskalation. Merkels ebenso unbedarfte wie naßforsche Ministerin Kristina Schröder (CDU) übernahm den Staffelstab der deutschen McCarthyisten. Allen Vereinen, Verbänden und Stiftungen, welche öffentliche Gelder in Anspruch nehmen, wurde eine "Demokratie-Erklärung" aufgezwungen. Sie müssen sich nicht nur selbst zur Staats- und Gesellschaftsordnung der BRD unterschriftlich bekennen, sondern auch dafür Sorge tragen, daß ihre "Partner" ebenfalls "clean" sind. Obwohl an der Grundgesetztreue der Kommunisten seit Max Reimanns historischer Erklärung niemals gezweifelt werden konnte, zielt die berüchtigte "Extremismusklausel" der Familienministerin vor allem auf sie und alle anderen, die links vom rechten Flügel der PDL stehen. Wer solche Kräfte unter seinen Partnern toleriert, verliert damit jeden Anspruch auf staatliche Zuwendungen.

Politisch angepaßte, charakterlich labile oder inzwischen sogar selbst dem bürgerlichen Lager zuzuordnende Funktionsträger in Betracht kommender Organisationen haben sich dieser erpresserischen Drohung gebeugt. Andere bewiesen Format und blieben standhaft. So der Pirnaer Verein "Akubiz". Er hatte 600 Euro zur Herstellung eines Flyers beantragt, der an ein sächsisches Außenlager des KZ Flossenbürg erinnern sollte. Als es die "Akubiz"-Verantwortlichen indes ablehnten, Schröders infame "Loyalitätserklärung" zu unterschreiben, wurden ihnen die Mittel kurzerhand verweigert. Der Verein gab nicht auf und klagte vor dem Dresdner Verwaltungsgericht. Dieses bezeichnete Schröders "Extremismusklausel" als rechtswidrig. Die Forderung der Merkel-Ministerin, vom Staat finanziell unterstützte Vereine hätten bei der Auswahl von Themen oder Referenten ihrer Partner auf deren "Verfassungstreue" zu dringen, verstoße gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung, befanden die Richter.

Übrigens enthält die der bürgerlichen Demokratie hohnsprechende "Demokratie-Erklärung" mehr als deutliche Hinweise darauf, welche staatlichen Organe der BRD "Aufschluß über eine mögliche extremistische Ausrichtung der Partner zu geben" in der Lage seien: Man müsse nur "die Berichte der Verfassungsschutzbehörden des Bundes und der Länder" zu Rate ziehen, heißt es in Frau Schröders McCarthy-Papier.

Handelt es sich hier nicht exakt um jene Institution, welche wegen der Beseitigung von Akten und Beweismitteln über Neonaziaktivitäten in der BRD erst jüngst den Offenbarungseid leisten mußte? War deren vermeintlich rechtsstaatliches Wirken - Akzent auf rechts - nicht so diskreditiert, daß selbst ihr oberster Chef trotz frommsten Augenaufschlags nicht länger gehalten werden konnte? Und ist es nicht aufschlußreich, daß uns diese Lektion in Sachen Polizeistaat ausgerechnet durch Leute erteilt wird, die uns ohne Unterlaß mit ihrer Mär von der angeblich flächendeckenden Überwachung der DDR-Bürger durch die "Stasi" zu langweilen wagen? Wer im Glashaus sitzt, soll nicht mit Steinen werfen.

McCarthy läßt grüßen!    RF

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22 Jahre Deutsche Einheit: Das I.-X. Gebot

[Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Der Beitrag wurde nicht in den Schattenblick übernommen.]

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Blutzoll eines Preisliedes
Hoffmann von Fallersleben schuf die Hymne des deutschen Chauvinismus

Immer wieder entsetzt es mich, wenn ich junge Männer mehr oder weniger inbrünstig und anscheinend gedankenlos zu Beginn eines Länderspiels der BRD-Nationalmannschaft das "Deutschlandlied", möglichst noch im Verein mit einer Kanzlerin, welche DDR-Schulen absolviert hat, singen sehe. Hat je einer von ihnen darüber nachgedacht, was er da singt?

Nach dem Erringen des Weltmeistertitels 1954, also im zehnten Jahr nach der Niederwerfung des deutschen Faschismus durch die Sowjetarmee und die anderen Staaten der Antihitlerkoalition, wurde in Bern bereits wieder dieses "traditionsreiche" Lied intoniert. Die "Bunte Illustrierte" schrieb damals: "Den Deutschen aber bricht das Lied aus der Brust, unwiderstehlich. Soweit ihnen die Tränen der Freude nicht die Stimme im Hals ersticken, singen sie alle, alle ohne Ausnahme, das Deutschlandlied. Niemand, auch nicht ein einziger, ist dabei, der von 'Einigkeit und Recht und Freiheit' singt. Spontan, wie aus einem einzigen Munde kommend, erklingt es 'Deutschland, Deutschland über alles in der Welt'."

Rechtskonservative Befürworter dieser Hymne führen stets folgende Argumente zugunsten des Gesanges ins Feld: Der Dichter Heinrich Hoffmann von Fallersleben sei - zumindest zeitweilig - ein fortschrittlicher Zeitgenosse gewesen; die edle Absicht seines "Liedes der Deutschen" wäre in ihr Gegenteil verkehrt worden; die Komposition sei nach ihrer Entstehung blitzschnell und spontan zu beispielloser Popularität gelangt.

Alle drei Trümpfe stechen nicht. Hoffmann von Fallersleben lebte in einer sehr bewegten Zeit. Die ursprüngliche Sogwirkung des Dreiklangs der Französischen Revolution - Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit - fand bald ihr Ende. Napoleons Heere rückten in Deutschland ein. In ihrer Zersplitterung entdeckten die Deutschen im Kampf gegen das Napoleonische Joch die einigende Parole.

Neben echten Freiheitskämpfern gewannen nun jene in Deutschland Einfluß, die den Widerstand gegen die Fremdherrschaft unter reaktionären Parolen organisierten. Sie wandten sich gegen die Ideale der Französischen Revolution und besonders gegen die Aufklärung. Dabei kristallisierten sich zwei Strömungen heraus. Eine fortschrittlich-demokratische Bewegung, die sich weigerte, die großen Ideen von 1789 zu verraten. An ihrer Spitze standen Heinrich Heine und Ludwig Börne. Die andere Tendenz war offen reaktionär. Sie richtete sich gegen alles "Fremde". In ihr taten sich besonders Turnvater Jahn und die Burschenschaften hervor. In seinem wohl bekanntesten Gedicht "Was ist des Teutschen Vaterland?" schrieb Ernst Moritz Arndt:

"So weit die deutsche Zunge klingt
und Gott im Himmel Lieder singt:
Das soll es sein!
Das, wackrer Deutscher, nenne dein!
Das ist des Teutschen Vaterland,
wo Zorn vertilgt den welschen Tand,
wo jeder Franzmann heißet Feind
wo jeder Teutsche heißet Freund.
Das soll es sein!
Das ganze Teutschland soll es sein!"

1818 schloß sich Hoffmann von Fallersleben der Bonner Burschenschaft an, die im Jahr zuvor beim Wartburgfest nicht nur Symbole der Fürsten, sondern auch Bücher verbrannt hatte.

Die fürstliche Despotie verfolgte beide Strömungen, und Hoffmann verlor seine Professur.

Beim Entstehen des "Liedes der Deutschen" im Jahre 1841 stand er zwar noch zwischen den Lagern, aber bereits mit einem ausgeprägten Bekenntnis zu den deutschtümlerischen Burschenschaftstendenzen. Er polemisierte offen gegen Leute wie Heinrich Heine und ächtete sie als vermeintliche "Kosmopoliten". Er warf ihnen den "Traum von einer allgemeinen Weltbürgerlichkeit" vor. Seine eigene Lyrik habe sich von jeder Bezugnahme auf das Ausland ferngehalten, sei eben "rein deutsch", äußerte er sehr viel später.

Die Burschenschaften entwickelten den Kaisermythos in Form des Barbarossa-Kults und huldigten einem aggressiven Fremdenhaß und Rassismus.

Hoffmann von Fallersleben schrieb in dieser Zeit monarchistische, militaristische und antisemitische Texte. Einer berührt nach der Hamburger Gauck-Rede vor Bundeswehroffizieren ganz besonders:

"Krieg ist Leben, Leben ist Krieg.
Wie gewohnt zu jeder Zeit Krieg und Streit.
Laßt uns gewöhnen an Krieg, an Tod und Sieg!
Lustig voran, Mann für Mann!"

Das Deutschlandlied war nie eine Volkshymne und noch weniger ein Lied der Revolution, sondern wurde von den Akteuren des Jahres 1848 mit Verachtung gestraft. Hoffmann selbst bekannte 1871, daß sein Lied inzwischen zur Makulatur geworden sei. Bismarck-Anhänger und militante Antisemiten verhalfen ihm erst nach dem Tod des Texters zu größerer Popularität. Sein "Siegeszug" aber begann mit der Niederlage von 1918. Der deutsche Chauvinismus blühte nach dem Desaster an den Fronten nun erst recht auf. Aus Protest gegen die Versailler Verträge sangen die Abgeordneten der Weimarer Nationalversammlung am 12. Mai 1919 "Deutschland, Deutschland über alles". 1922 wurde das "Lied der Deutschen" von Reichspräsident Friedrich Ebert - Noskes Kumpan - zur Nationalhymne verklärt.

Schon zuvor war die konterevolutionäre Brigade Ehrhardt beim Kapp-Putsch unter fliegenden Fahnen und mit dem Deutschlandlied auf den Lippen durch das Brandenburger Tor gestürmt. Nach dem Machtantritt der Hitlerfaschisten wurde es neben dem Horst-Wessel-Lied der SA zur Nationalhymne Nazi-Deutschlands. 1933 schrieb ein gewisser Gerstenberg: "Begeisterter als jemals seit den ersten Monaten des Weltkrieges braust heute Hoffmanns 'Lied der Deutschen' als nationales Bekenntnislied himmelwärts. Als Adolf Hitler am 17. Mai vor dem Reichstag und der Welt das deutsche Friedensbekenntnis staatsmännisch weise und kraftvoll ablegt, da stimmt der Reichstag einmütig das Deutschlandlied an."

Das Intonieren und Absingen dieser schändlichen Hymne ist für immer mit der Errichtung der Konzentrationslager, der Zerschlagung der Arbeiterbewegung, der Reichsprogromnacht 1938, dem Einmarsch der faschistischen Wehrmacht in fast alle Länder Europas, der systematischen Massenvernichtung "unwerten Lebens" verbunden. Wie könnte man dies jemals vergessen oder verdrängen!

Wer meint, mit der Zerschlagung des deutschen Faschismus durch die Truppen der Antihitlerkoalition wäre die Geschichte dieser Hymne des überbordenden Chauvinismus (von Belgiens Maas bis an die Memel, von Italiens Etsch bis an Dänemarks Belt) abgeschlossen, irrt gewaltig.

Der erste BRD-Kanzler Konrad Adenauer machte gegen halbherzige Einwände des Bundespräsidenten Theodor Heuss Stimmung für das Deutschlandlied als Hymne der BRD. Bei einer Kundgebung in Westberlin ließ er es im April 1950 anstimmen. Der SPD-Vorstand verließ empört den Saal - bis auf den Regierenden Bürgermeister Ernst Reuter, der eifrig mitsang.

Es blieb dann einem anderen Sozialdemokraten - Kurt Schumacher - vorbehalten, ein Machtwort zu sprechen und gemeinsam mit Adenauer das - vorerst textlich noch etwas eingeschränkte - anrüchige Deutschlandlied als Hymne der BRD durchzusetzen.

1985 verurteilte ein bundesdeutsches Gericht in Baden-Baden den Verfasser einer Parodie auf den Text zu einer Geldstrafe. Deren letzte Worte lauteten:

"Und wenn es wieder erklingt,
das dreimal verfluchte Lied von Deutschland,
so schaut sie euch an, die es singen."

Konstantin Brandt

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Erste Wortmeldung nach der Niederlage
Wiljo Heinen brachte Erich Honeckers "Zu dramatischen Ereignissen" neu heraus

Anfang Juli 1992 erschien in meinem Hamburger Verlag ein schmaler Band mit einem hochbrisanten Text. Der frühere Generalsekretär des ZK der SED und Staatsratsvorsitzende der DDR nahm zu dramatischen Ereignissen Stellung. Es handelte sich um den einzigen durch ihn autorisierten Wortlaut, nachdem Versuche von Geschichtsklitterern eines Fernsehsenders, aus Tonbandaufzeichnungen Zusammengeschnittenes als authentische Stellungnahmen des Politikers darzustellen, das Bild verzerrt hatten.

Die damals für Erich und Margot Honecker - und keineswegs nur für sie - äußerst widrigen Umstände müssen hier kurz in Erinnerung gerufen werden: Trotz der Verfolgung durch den als Sieger der Geschichte auftretenden Klassengegner und bereits durch die Krankheit geschwächt, der er am 29. Mai 1994 erlag, gab Erich Honecker den Kampf nicht auf. Nach seinem Rücktritt von allen Ämtern mußte er sich in der Berliner Charité einer weiteren Operation unterziehen. Außer seiner Frau und seiner Tochter durfte ihn dort niemand besuchen. Kurz vor der Entlassung wurde der Schwerstkranke - und das noch zu DDR-Zeiten - verhaftet und des Hochverrats, des Amtsmißbrauchs sowie der Korruption bezichtigt. In das Gefängnis Rummelsburg überführt, mußte er aber bereits nach 48 Stunden wegen Fehlens jeglicher Beweise sowie auf Grund seines schlechten Allgemeinzustandes entlassen werden. Die Modrow-Regierung hatte ihre Absicht bekundet, den Honeckers in Berlin eine Zwei-Raum-Wohnung bereitzustellen. Doch diese Unterkunft entsprach nicht den nötigen Sicherheitsstandards, da ein durch die Westmedien noch zusätzlich aufgehetzter weißer Mob beide Genossen jederzeit hätte ermorden können. Wie ernst die Lage war, zeigte die Belagerung des Quartiers, das ihnen ein Pfarrer aus Lobetal, der humaner dachte als manche ihrer bisherigen Weggefährten, kurzfristig eingeräumt hatte. Bei der Abfahrt der Honeckers aus diesem Ort mußte sich der Wagen des Rechtsanwalts nur mit Mühe einen Weg durch die zu Gewalttätigkeiten bereite Menge bahnen. Die Fernsehbilder zeigten das Maß der Gefahr, der Erniedrigung und des Mangels an Solidarität.

Beide Honeckers fanden von April 1990 bis März 1991 im Zentralen Lazarett der Gruppe der Sowjetischen Streitkräfte in Deutschland (GSSD) Asyl. Hier wurden sie u. a. von Genossen besucht, die ihnen als ehemalige Spitzenfunktionäre der FDJ in der BRD bekannt waren.

Am 6. Juli 1992 äußerte sich Werner Cieslak auf einer Pressekonferenz in Bonn anläßlich der Vorstellung des Bändchens "Zu dramatischen Ereignissen" über Details: Nach Bekanntwerden des Planes einiger Journalisten, ein Buch mit Erich Honecker zu machen, ohne dessen Autorisierung zu erhalten, habe man dem DDR-Politiker vorgeschlagen, die Ereignisse aus seiner Sicht zu schildern. Genosse Honecker habe dem zugestimmt und sich an die Arbeit gemacht.

Das Kommando der GSSD ließ die Honeckers zur weiteren medizinischen Behandlung nach Moskau ausfliegen. Doch auch das brachte keine Rettung, war doch die Konterrevolution in der UdSSR unter Jelzin in eine neue Phase getreten. Das ehemalige Politbüromitglied verbot seine frühere Partei, die KPdSU. Jelzins Wüten war die von Gorbatschow betriebene systematische Zerschlagung der kommunistischen Bewegung nicht nur in der Sowjetunion, sondern auch in weiteren Ländern Europas vorausgegangen. Schon 1989 hatte das gewandelte ZK der KPdSU eine Ausarbeitung dreier Professoren der Akademie für Gesellschaftswissenschaften, als Diskussionsbeitrag getarnt, an eine Reihe von Bruderparteien verschickt. Darin wurde diesen eine Annäherung an die Sozialdemokratie empfohlen. Gorbatschow ging als KPdSU-Generalsekretär so weit, einen formellen Aufnahmeantrag an die damals von Willy Brandt präsidierte Sozialistische Internationale zu richten. Das erklärt auch die Preisgabe aller Prinzipien kommunistischer Solidarität. Erich Honecker mußte sein Asyl in der Moskauer Botschaft Chiles beenden. Die Jelzin-Clique übergab ihn der imperialistischen BRD. Der antifaschistische Widerstandskämpfer wurde in jenes Berliner Gefängnis Moabit eingeliefert, wo er schon 1935 unter Hitler gefangengehalten worden war.

Dort mußte er am 25. August 1992 seinen 80. Geburtstag begehen. Als Verleger seines Buches und Mitglied des Solidaritätskomitees für Erich Honecker und die verfolgten Kommunisten gehörte ich zu den wenigen, die den politischen Gefangenen der "freiheitlich-demokratischen" BRD besuchen durften.

Bald darauf stellte unser Komitee auf parallelen Pressekonferenzen in Bonn und Berlin Erich Honeckers Buch vor. Bei dieser Gelegenheit betonte der frühere DDR-Dissident Wolfgang Harich, er hege "eine tiefe Verachtung gegenüber dem Bundespräsidenten und dem Bundeskanzler der BRD, die Erich Honecker 1987 in Ehren empfangen haben und jetzt wie einen tollwütigen Hund jagen". In dem Buch seien wichtige Zeitdokumente aus dem Dezember 1989 veröffentlicht, "welche seinerzeit durch die Führung der PDS der Öffentlichkeit unterschlagen wurden".

Erich Honecker hat - wie Heinz Keßler und andere standhaft Gebliebene - durch sein Verhalten vor dem Gericht deutlich gemacht, daß der Kampf ungeachtet der erlittenen Niederlage weitergeht. Die jetzt durch den Verlag Wiljo Heinen erneut vorgestellte Schrift war der erste Versuch, auf den zeitweiligen Triumph der Reaktion und die dadurch entstandene neue Lage eine marxistisch-leninistische Antwort zu geben.

Honeckers Text "Zu dramatischen Ereignissen" wurde sofort nach seinem Erscheinen in vielen Ländern nachgedruckt. Die kommunistischen Parteien Schwedens und Griechenlands veröffentlichten sie als erste, gefolgt von Portugals PCP und etlichen Parteien im englischen, spanischen, französischen, italienischen, arabischen und asiatischen Sprachraum, darunter die KP Japans.

Die proletarische Solidarität war und ist ein hohes Gut. Das erfuhren auch Tausende nach dem CIA-gesteuerten Pinochet-Putsch in Chile verfolgte Demokraten, darunter nicht wenige Mitglieder der Sozialistischen Partei Salvador Allendes, die in der DDR Aufnahme fanden. Nach ihrer Rückkehr sorgten sie mit dafür, daß Erich und Margot Honecker als politische Flüchtlinge in Santiago willkommen geheißen wurden. Chilenische Genossen gewährten damit beiden jene Solidarität, welche ihnen von denen verweigert wurde, die sich der Führung der SED bemächtigt und die Partei ihrer marxistisch-leninistischen Orientierung beraubt hatten.

Wolfgang Runge, Hamburg


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

Wie ihr Führer Ernst Thälmann - hier im Hof des Untersuchungsgefängnisses Moabit - wurden Zehntausende deutsche Kommunisten durch das faschistische Schreckensregime eingekerkert. Auch Erich Honecker mußte zehn Jahre hinter Zuchthausmauern verbringen.

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Bushs 11. September
Wie Hitlers Überfall auf Radio Gleiwitz seine Nachahmer fand

Am 11. September wiederholt sich zum 11. Mal der Tag, an dem in Kurzlehrgängen ausgebildete Agrarpiloten mit islamistischem Hintergrund angeblich die Zwillingstürme des New Yorker Welthandelszentrums zielgenau zerstörten. So jedenfalls lautet die offizielle Lesart, die von den Propagandazentralen der imperialistischen Weltmacht bis heute verbreitet wird. Mit der Realität hat diese Legende so viel zu tun wie die Märchenversion der Gebrüder Grimm, der Wolf habe die Oma gefressen. Aber dennoch lassen sich auch Erwachsene die schaurige, Tausende Opfer fordernde Moritat weismachen. Sie haben angesichts unablässig auf sie herabprasselnder Lügen oftmals jeden Nerv für den Wahrheitsgehalt von Informationen verloren. Nach amtlicher Version sind die Türme durch wie Raketen einschlagende Flugzeuge zum Bersten gebracht worden. Den Kollaps konnte jeder über sämtliche Sender und Kanäle verfolgen.

Was unsichtbar blieb, war das Geschehen innerhalb des riesigen Bauwerks, wo man offensichtlich gewisse "Vorbereitungen für den Fall X" getroffen hatte. Doch kaum jemand dürfte in Gänze dahintersteigen, was damals tatsächlich in New York ablief. Das kartenhausartige Zusammenfallen der beiden Türme des World Trade Center hatte eine längere Vorgeschichte.

Gegen Ende des vergangenen Jahrtausends war es dem Imperialismus endlich gelungen, seinen Erzfeind und Systemkonkurrenten - die UdSSR und deren europäische Verbündete - zur Strecke zu bringen. "Der Sozialismus ist tot!" triumphierte man. Das seit dem Oktober 1917 verfolgte Ziel des internationalen Kapitals war - zumindest in dieser Runde der Geschichte - erreicht. Aber wie weiter?

Der militärisch-industrielle Komplex, der dem Weißen Haus, dem Pentagon und der CIA den Ton vorgibt, sah plötzlich seine Felle davonschwimmen, kennt doch das Kriegsgeschäft nichts Tödlicheres als Frieden. So mußte etwas unternommen werden, um einer Flaute entgegensteuern zu können. Schon in der Stunde des Sieges wurden die imperialistischen think tanks - die Denkfabriken - eingeschaltet, um ein der neuen Situation entsprechendes Szenarium zu entwickeln, das der Rüstungslobby zumindest die bisherigen Profitsummen sichern sollte. Diese Überlegungen wurden nicht zeitgleich mit Gorbatschows definitiver Preisgabe des Warschauer Paktes angestellt, sondern bereits früher, als sich Risse und Schwachstellen im sozialistischen Lager immer deutlicher offenbarten.

Dazu zählte auch Breshnews strategischer Fehler, sich auf das Afghanistan-Unternehmen einzulassen. Damals päppelten CIA und Pentagon in Windeseile die späteren Taliban auf, versorgten sie mit Geld und Waffen für den "heiligen Krieg gegen die sowjetischen Okkupanten". Letztlich sah sich die UdSSR zum Rückzug vom Hindukusch gezwungen, was ihren Niedergang beschleunigte.

Doch jede Sache hat bekanntlich zwei Seiten. Während Washington frenetisch das Debakel der "Russen" feierte, hatte es fortan eine selbstgezeugte Laus im Pelz: die Taliban. Der Zauberlehrling, den man sich geschaffen hatte, war bald nicht mehr beherrschbar. So kamen die strategischen Denker der US-Geheimdienste auf einen "genialen" Einfall: Sie machten aus der Not eine Tugend, indem sie die Existenz der Taliban zur Erfindung eines neuen Hauptfeindes nutzten, der flugs an die Stelle der bisher beschworenen "roten Gefahr" trat: Sie kreierten den "internationalen Terrorismus". Die Dividenden des Militärisch-Industriellen Komplexes waren auf diese Weise langfristig gesichert.

So wurde nur ein Jahrzehnt nach dem Ausscheiden des Todfeindes Nr. 1 - der UdSSR und der Staaten des Warschauer Vertrages - der Todfeind Nr. 2 in der imperialistischen Retorte gezeugt. Dabei nahm man auch die NATO-Verbündeten in die Pflicht. Nicht zufällig kamen jene Amateurpiloten, die - der Story zufolge - zwei in Wahrheit von der CIA ferngesteuerte schwere Passagiermaschinen in die beiden Hochhaustürme rasen ließen, aus Hamburg in der BRD. Bekanntlich wurde dort Jahre später die nicht minder vom Geheimdienst ins Spiel gebrachte "Sauerland-Gruppe" lange vor ihrem vermeintlichen Anschlag kaltgestellt und als Bürgerschreck präsentiert. Die beabsichtigte Schockwirkung des "internationalen Terrorismus" war so erreicht.

Der 11. September - angeblich ein Werk der Taliban - stellte in Wahrheit nichts anderes als eine US-Variante des berüchtigten "Überfalls auf den Reichssender Gleiwitz" dar, mit dem Hitler im September 1939 den Angriff auf Polen "begründet" hatte. Der von Afghanistan aus operierenden Islamisten unterstellte Anschlag auf die New Yorker Twin Towers löste den bis heute anhaltenden blutigen Krieg der US-Aggressoren und ihrer NATO-Verbündeten gegen das Volk am Hindukusch aus. US-Präsident George W. Bush erklärte alle zu Schurkenstaaten, die seinem Kurs auf den dritten Weltkrieg nicht zu folgen bereit waren. Um die kriminelle Farce auf die Spitze zu treiben, wurde Osama bin Laden, der "Regisseur" des 11. September, durch eine Killer-Einheit der U.S. Navy Seals vor laufenden Kameras ermordet und seine Leiche anschließend ins Meer versenkt.

Hier sei an einen in der internationalen Verbrechenschronik einmaligen Vorgang erinnert: Die Mitglieder der US-Administration des Friedensnobelpreisträgers Barack Obama - Auftraggeber der Exekution bin Ladens in Pakistan - beobachteten am Bildschirm vollzählig die Ausführung ihres eigenen Mordbefehls.

Dr. Günther Freudenberg, Bernburg

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Auskünfte einer marxistisch Geprägten
Angela Davis wurde Ehrendoktor der Freien Universität Brüssel

Angela Davis - die belgische Wochenzeitung "Solidaire" bezeichnete sie unlängst als "Symbol und Ikone der US-Bürgerrechtsbewegung der 60er und 70er Jahre" - steht noch immer an vorderster Front des Kampfes gegen soziale, ethnische und sexuelle Diskriminierung. Im Mai erhielt die international bereits vielfach dekorierte afroamerikanische Philosophin den Ehrendoktorhut der Freien Universität Brüssel.

Angela Davis wurde 1944 in Birmingham (USA-Südstaat Alabama) geboren, wuchs in einer fortschrittlichen Lehrerfamilie auf, studierte in Paris und Frankfurt am Main, wo sie sich mit marxistischen Ideen vertraut machte. In den Vereinigten Staaten gehörte sie nacheinander der Black Panther Party und der KP der USA an. Als Philosophiedozentin des Campus Los Angeles der Universität von Kalifornien wurde sie durch die Behörden verfolgt, wegen angeblicher Verstrickung in Kapitalverbrechen (Mord, Menschenraub und Verschwörung) jahrelang eingekerkert und 1972 - unterstützt von einer weltweiten Solidaritätsbewegung - am Ende eines mehrmonatigen Schauprozesses durch die zwölfköpfige Geschworenen-Jury in allen Punkten der Anklage freigesprochen. Sie war später u. a. Professorin an der kalifornischen Universität Santa Cruz.

Nach ihrer Brüsseler Ehrenpromotion traf Angela Davis mit einem kleinen Kreis interessierter und engagierter Journalisten zusammen, deren Fragen sie - wie immer ohne Umschweife direkt zur Sache kommend - freimütig beantwortete. Das Interesse ihrer Gesprächspartner konzentrierte sich zunächst auf die Bewertung der Rolle des derzeitigen Präsidenten und abermaligen Amtsbewerbers Barack Obama. Bei der alle früheren Dimensionen sprengenden Kampagne vor vier Jahren hätten sehr viele Menschen, keineswegs nur US-Bürger, ihre Hoffnungen auf einen einzelnen Menschen projiziert. Die Wahl des Afroamerikaners Obama zum Präsidenten der USA sei ein historisches Ereignis gewesen, bemerkte Angela Davis. "Doch das Land ist dessenungeachtet dasselbe geblieben." Obamas Einzug in das Weiße Haus habe nicht das geringste an der Natur der Vereinigten Staaten geändert. Sie seien nach wie vor imperialistisch. "Tatsächlich hat er nichts anderes vermocht, als uns zu enttäuschen." So sei von Obama manches unterlassen worden, was er hätte tun können. Dazu gehöre z. B. die sofortige Schließung des Folterlagers Guantánamo. "Wir haben gewiß auch nicht gedacht, daß er den Krieg in Afghanistan fortsetzen würde, nachdem er sich zuvor gegen den Irakkrieg ausgesprochen hatte", sagte Angela Davis. "Unser Fehler bestand darin, daß wir nach der Wahl Obamas den Druck auf ihn nicht aufrechterhalten haben. Man hätte die Massen sofort mobilisieren und mehr Druck auf den Präsidenten ausüben müssen, die Soldaten zurückzuholen und Guantánamo zu schließen", fügte sie hinzu.

Auf die Frage, wie sich die fortschrittlichen Kräfte der USA bei den im November anstehenden Präsidentschaftswahlen verhalten sollten, gab die Laureatin eine präzise Antwort: Es gehe darum, auch diesmal den gleichen Enthusiasmus wie vor vier Jahren auszulösen. Allerdings mit einem gravierenden Unterschied. Man dürfe sich nicht auf Obama als Person konzentrieren. "Wir brauchen diesen Enthusiasmus, um eine Massenbewegung ins Leben zu rufen, die sich für die Rechte der Arbeiter, der Frauen und anderer Benachteiligter einsetzt."

Eindringlich wandte sich Angela Davis gegen den "Gefängnis-Industrie-Komplex" der USA, der angesichts inzwischen weitestgehender Privatisierung der Haftanstalten unter Bedingungen besonderer Diskriminierung enorme Profite einfahre. Derzeit befinde sich einer von jeweils 100 US-Bürgern hinter Gittern, während einer von 37 Erwachsenen auf diese oder jene Art vom Justizapparat kontrolliert werde. Die überwiegende Mehrheit sei schwarz, männlich und arm. Heute befänden sich mehr Afroamerikaner in den Gefängnissen oder unter behördlicher Zwangsaufsicht, als es 1850 in den USA Sklaven gegeben habe.

Angela Davis ging auf die Frage des Rassismus ein, der nach wie vor im gesellschaftlichen Leben der Vereinigten Staaten dominiere. Viele verträten die irrige Ansicht, daß es sich dabei lediglich um eine Frage des Verhaltens einzelner oder formalrechtlicher Möglichkeiten handle. Tatsächlich seien frühere Beschränkungen dank des Wirkens der Bürgerrechtsbewegung inzwischen aufgehoben worden. Dennoch schlage ein kaum verhüllter Rassismus in weiten Lebensbereichen - so im Gesundheitswesen, an Schulen und Hochschulen sowie vor allem in der Wohnungsfrage - weiterhin durch. Man müsse heute vor allem von einem strukturellen und institutionalisierten Rassismus sprechen, der sich besonders gegen Afroamerikaner und Latinos richte.

Angela Davis ging auf die jüngste "Occupy"-Bewegung ein, an der sie sich im New Yorker Wall Street-Bezirk aktiv beteiligt hatte. Diese habe neue Spielräume für die politische Debatte geschaffen. Darin bestehe ihr großes Verdienst. Der Slogan "Wir sind 99%" besitze durchaus Gewicht. "Doch wir müssen diese 99% als eine sehr heterogene Gruppe betrachten. Jene, welche zu den oberen Schichten der 99% gehören, stehen dem einen Prozent sehr viel näher als die Unterschichten der 99%", zog die marxistisch geprägte Philosophin eine klare Trennlinie zum verschwommenen Vokabular anderer. Und sie stellte die Frage: "Wie kann man eine Einheit zwischen Menschen schaffen wollen, die derart unterschiedliche materielle und ideologische Konzepte verfolgen?"

K. S., gestützt auf "Solidaire", Brüssel

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Ein "Sachsenhausener" aus der SPD: Schulreformer Max Kreuziger

Es sollte sich als Glücksfall für ein fortschrittliches Schulwesen erweisen, daß Max Kreuziger 1898 eine Freistelle am Berliner Lehrerseminar bekam. Der achtzehn Jahre zuvor geborene Sohn eines Schneiders konnte sich - was im kapitalistischen Deutschland für Kinder einfacher Herkunft Seltenheitswert besaß - auf einer höheren Lehranstalt weiterbilden. Die Eltern hatten es Max zuvor ermöglicht, eine Realschule zu besuchen. Dort reifte sein Wunsch, Lehrer zu werden. Dafür mußte er drei weitere Jahre büffeln. Doch bevor er in den Schuldienst treten konnte, hatte er zunächst das preußische Exerzierreglement zu pauken. Erst nach der Entlassung aus dem kaiserlichen Militärdienst stand er erstmals vor einer Klasse.

Sehr schnell begriff der junge Pädagoge, wer in diesem Bildungswesen den Ton angab. Die niederen Einrichtungen standen auch Kindern des Volkes offen, die höheren hingegen, deren Besuch die Voraussetzungen für leitende Positionen im Staat und Gesellschaft schuf, blieben der herrschenden Klasse vorbehalten. Hier hing alles vom Vermögen der Eltern ab.

Schon damals begann sich Max Kreuziger für sozialistische Ideen zu interessieren. Er fand aber noch keinen Zugang zur Sozialdemokratischen Partei August Bebels, welche der Bildung große Bedeutung beimaß. Für die SPD galt damals die Marxsche Losung "Wissen ist Macht".

Die deutsche Novemberrevolution 1918 politisierte Max Kreuziger. Er schloß sich nun der SPD an und stürzte sich in die Arbeit für eine bessere Volksbildung. Die am 11. August 1919 in Kraft gesetzte Verfassung der Weimarer Republik sah nicht nur die allgemeine achtjährige Schulpflicht vor, sondern legte im Artikel 146 auch fest, finanziell Schlechtergestellten den Zugang zu mittleren und höheren Schulen mit Hilfe öffentlicher Gelder zu ermöglichen. Doch die Schulwirklichkeit war anderer Art. Das Bildungsprivileg der besitzenden Klassen blieb unangetastet. So entwickelten fortschrittliche Pädagogen Ideen, wie allen Kindern in etwa gleiche Bildungschancen geboten werden könnten. In diesem Sinne wirkten Kommunisten wie Dr. Theodor Neubauer und Ernst Putz in Thüringen, Martin Schwantes in Magdeburg, Ernst Schneller in Sachsen und Edwin Hoernle in Berlin. Dort machten sich auch Sozialdemokraten wie Paul Oestreich, Robert Alt, Wilhelm Heise, Wilhelm Paulsen und Max Kreuziger als Schulreformer einen Namen.

Solche Vorstellungen stießen bei der Schulbürokratie auf heftigen Widerstand. Auch die im Philologenverband organisierten Studienräte und die christlichen Kirchen blockierten Veränderungen im Bildungswesen. Sie stützte der für das Schulwesen zuständige Staatssekretär im Reichsinnenministerium, Heinrich Schulz, welcher der SPD angehörte.

Als die Berliner Schulbehörde Max Kreuziger 1922 den Direktorposten an einer Volksschule anbot, sah er die Möglichkeit, dort seine Vorstellungen zu verwirklichen. Diese Anstalt befand sich im proletarischen Stadtbezirk Wedding. Der Unterricht fand dort in zehn Baracken statt. Ungeachtet widriger Umstände nutzte Kreuziger die Gelegenheit, seine Lehr- und Erziehungsprinzipien zu erproben. Sechs Jahre lang arbeitete er am Projekt einer Lebensgemeinschaftsschule, wie er sie nannte. Im Unterricht stellte er den überwiegend aus Arbeiterfamilien kommenden Schülern neben theoretischer Wissensvermittlung auch praktische soziale Aufgaben, in die er deren Mütter und Väter einbezog. Für ihn waren sie die natürlichen Erzieher der Kinder, denen man die Schultüren öffnen müsse. Elternbeiräte waren dabei die Bindeglieder zwischen Schule und Elternhaus.

Max Kreuziger war sich dessen bewußt, daß Bildung ein wichtiges Feld der Politik darstellt. In seiner Partei, der SPD, die ihm von 1922 bis 1930 das Mandat eines Berliner Stadtverordneten erteilte, leistete er aktive politische Arbeit. Sie fand im Kollegenkreis, bei der Schulbehörde und schließlich auch im Preußischen Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung Beachtung. 1928 wurde Max Kreuziger zum Magistratsschulrat berufen und drei Jahre später durch Kultusminister Adolf Grimme als Referent für weltliche Schulen in dessen Amt geholt.

Die Nazis verhängten gegen den sozialdemokratischen Bildungspolitiker sofort ein Berufsverbot. Um seine Familie ernähren zu können, betrieb der aus dem Schuldienst entfernte Pädagoge in Kreuzberg eine Buchhandlung, in der sich aktive Sozialdemokraten trafen, bis die Gestapo dahinter kam. Max Kreuziger wurde verhaftet und in das Konzentrationslager Sachsenhausen verschleppt.

Nach der Zerschlagung des Faschismus konnte der bekannte Schulreformer seine Vorstellungen von einer umfassenden weltlichen, wissenschaftlichen und gleichen Bildung für alle Kinder endlich verwirklichen. Doch zunächst stellte sich Max Kreuziger als stellvertretender Bürgermeister im Stadtbezirk Prenzlauer Berg in den Dienst der allgemeinen Wiederaufbauarbeit. Erst Ende 1946 konnte er sich der Volksbildung widmen. Vom ersten Tage an arbeitete er mit kommunistischen Genossen vertrauensvoll zusammen, wußte er doch um deren Bemühungen, eine andere als die bisherige Schule zu schaffen. Im KZ waren es Kommunisten, die ihm am meisten menschliche Solidarität erwiesen hatten. So setzte er sich engagiert für die Vereinigung der beiden Arbeiterparteien ein. Als Delegierter des 40. Parteitages der SPD stimmte er für den Zusammenschluß mit der KPD. Auf dem Vereinigungsparteitag im April 1946 wurde er in die Programmkommission der dort entstandenen SED gewählt.

Gemeinsam mit Paul Oestreich und Ernst Wildangel ging Max Kreuziger daran, seinen Projekten für eine Schulreform Gestalt zu verleihen. Ihr Anliegen war die Ausarbeitung eines Einheitsschulgesetzes für Berlin. Darin wurde festgelegt, daß alle Schüler ohne Unterschied des Geschlechts, des Glaubens und der Herkunft im Geiste der Demokratie und des sozialen Fortschritts, des Friedens, der Völkerverständigung und des Humanismus zu selbständig denkenden und verantwortungsbewußt handelnden Mitgliedern der Gesellschaft erzogen werden sollten. Jedes Kind habe Anspruch auf die Entwicklung seiner geistigen und körperlichen Fähigkeiten. Der Staat biete dafür wichtige Voraussetzungen wie Schulgeld- und Lehrmittelfreiheit sowie Erziehungsund Wirtschaftsbeihilfen.

Der richtungweisende Einsatz Max Kreuzigers für die junge Generation hatte zur Folge, daß ihn Paul Wandel, dem die Deutsche Zentralverwaltung für Volksbildung unterstand, zum stellvertretenden Leiter der Schulabteilung dieser zonenweit wirkenden Behörde berief.

Auf dem II. Pädagogischen Kongreß im September 1947 begründete Max Kreuziger das neue Bildungs- und Erziehungsprogramm. Ein knappes Jahr später erstattete er auf dem III. Pädagogischen Kongreß in Leipzig den Rechenschaftsbericht der Zentralverwaltung. Er konnte bei dieser Gelegenheit feststellen, daß der Aufbau des demokratischen Schulwesens gute Fortschritte mache. Nun komme es darauf an, mit Elternausschüssen und Schülervertretungen die Schulreform überall durchzusetzen.

Die von den Westmächten rasch vorangetriebene Spaltung Deutschlands führte dazu, daß diese Reform nur im Osten vollzogen werden konnte. In den Westzonen, der späteren BRD, blieb es beim Bildungsprivileg für die besitzenden Klassen. 1948 wurde Max Kreuziger vom Magistrat des demokratischen Berlin zum Stadtrat und Leiter der Abteilung Volksbildung ernannt. 1951 verlieh ihm Präsident Wilhelm Pieck den Ehrentitel "Verdienter Lehrer des Volkes". Der furchtlose antifaschistische Widerstandskämpfer aus der SPD und Wegbereiter der Arbeitereinheit starb am 12. März 1953.

Günter Freyer

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Kulturschande
"Bücherstürmer" vernichteten über 100 Millionen Bände aus Bibliotheks-, Verlags- und Großhandelsbeständen der DDR

Am 1. Mai 1991 öffneten Studenten aus Jena in Espenhain eine Mülldeponie. Sie fanden, was sie vermuteten. Unter Bauschutt und faulenden Kartoffeln lagen Unmengen druckfrischer Bücher, die der Leipziger Kommissions- und Großbuchhandel (LKG) "entsorgt" hatte. Vielleicht hatten sie erwartet, es handele sich vorwiegend um Materialien des SED-Parteilehrjahres oder ähnliches Schrifttum, das die PDS nun, nach ihrem "endgültigen und unwiderruflichen Bruch mit dem Stalinismus", dem Müllhaufen der Geschichte zu überantworten gedachte. Doch weit gefehlt! Sie fanden zahlreiche soziologische, historische und anderen gesellschaftswissenschaftlichen Disziplinen zuzuordnende Bücher. Und sie stießen auf zahlreiche Werke bedeutender Literaten der Gegenwart und der jüngeren Vergangenheit.

Der Schriftsteller Dieter Mucke kommentierte den Skandal im gleichen Jahr auf der Buchmesse mit den Worten: "Meines Erachtens handelt es sich hier um die größte Büchervernichtung seit der Nazizeit." Doch er hatte das Ausmaß der Schande unterschätzt. Die Hitlerfaschisten haben im Zuge ihrer verbrecherischen "Ausmerzung des Kulturbolschewismus" weit weniger Bücher verbrannt.

Zunächst schien es so, als ob es lediglich um 500 Tonnen eines scheinbar nicht mehr verkäuflichen Lagerbestandes des LKG gegangen sei, also darum, Platz für Schnulzenromane, esoterischen Blödsinn und antisozialistische Hetzschriften zu schaffen.

Es waren aber insgesamt mehr als 10.000 Paletten mit je 1000 bis 1500 Büchern - über zehn Millionen Bände - derer sich der Kommissions- und Großbuchhandel "entledigte". Sie landeten jedoch, wie sich rasch herausstellte, nicht nur in jenem Tagebau bei Leipzig, sondern fielen zu großen Teilen den Flammen im Heizkraftwerk Berlin-Lichtenberg zum Opfer. Hinzu kamen massenweise Bücher aus Betriebsbibliotheken und Volksbüchereien, so daß sich Schätzungen in den 90er Jahren bereits auf mehr als 30.000 Tonnen vernichteten Schrifttums beliefen.

Aber selbst diese Zahl griff noch zu kurz. Die neuen Herren und ihre willigen Vollstrecker machten unverzagt weiter. Kenner der Materie gehen inzwischen von mehr als 100 Millionen beseitigten Büchern aus. Halten wir fest: Bereits 1960 gab es im Leseland DDR etwa 18.000 Allgemein- und Gewerkschaftsbibliotheken mit einem Buchbestand von 18 Millionen Bänden und 50 Millionen Ausleihen pro Jahr. Bis 1986 sollte sich deren Zahl sogar noch mehr als verdoppeln. Für die Leser war das kostenlos. In Buchläden erworbene Schriften waren spottbillig. Außerdem standen 33 wissenschaftliche Bibliotheken zur Verfügung.

Zwischen 1949 und 1989 haben die 80 Verlage der DDR 350.000 Titel herausgegeben. Die Bücherstürmer haben also bis heute zu tun. Doch das Gros scheint "bewältigt". Die Bestände der bedeutenden Bibliotheken in den Bezirks- und Kreisstädten sind weitgehend "bereinigt". Unzählige kleine Büchereien in Gemeinden, FDGB-Ferienheimen, Altersheimen, Betrieben und Einrichtungen landeten in den Flammen oder auf dem Müll. Darunter waren in großem Umfang Bücher von Martin Andersen Nexö, Bruno Apitz, Kurt Barthel, Johannes R. Becher, Ingmar Bergman, Bertolt Brecht, Lion Feuchtwanger, Arkadi Gaidar, George Grosz, Peter Hacks, Heinrich Heine, Ernest Hemingway, Stefan Hermlin, Hermann Kant, Egon Erwin Kisch, Käthe Kollwitz, Anton Makarenko, Heinrich Mann, Thomas Mann, Erich Mühsam, Pablo Neruda, Erik Neutsch, Dieter Noll, Carl von Ossietzky, Nikolai Ostrowski, Ludwig Renn und Kurt Tucholsky. Die Aufzählung ließe sich erweitern, doch lassen wir es dabei.

Zum Vergleich: Wie das Statistische Bundesamt 2009 mitteilte, gibt es im einstigen "Land der Dichter und Denker" - der nunmehr vergrößerten BRD, die im Kampf gegen den Sozialismus so eifrig eine "einheitliche deutsche Kulturnation" beschwor - lediglich 8393 öffentliche Bibliotheken. Der Autor Rainer Schmitz nennt die Buchvernichtung der letzten Jahrzehnte treffend "die demütigendste Phase, die die schöne Literatur in der Weltgeschichte erleben mußte". - Heinrich Heine hat 1821 in seinem "Almansor" tief in den Abgrund geblickt. Die Tragödie verfaßte er, nachdem ruchbar geworden war, daß der spanische Großinquisitor Kardinal Francisco Ximenez den Koran öffentlich auf den Scheiterhaufen geworfen hatte. Die Geschichte bestätigte Heines Zeilen auf grauenvolle Weise: "Das war ein Vorspiel nur, dort wo man Bücher verbrennt, verbrennt man auch am Ende Menschen."

Was würde Heine heute - angesichts des unfaßbaren Frevels - schreiben? Vielleicht würde er sich zu dem großen deutschen Philosophen Johann Gottlieb Fichte flüchten. Dieser hatte zu Beginn des Jahrhunderts, zwei Jahre vor dem Desaster Preußens in der Schlacht von Jena und Auerstedt, in seinen Berliner Vorlesungen über "Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters" als begnadeter Visionär den wirklichen Zustand der Gesellschaft enthüllt. Sie stehe im "Zeitalter der absoluten Gleichgültigkeit gegen alle Wahrheit und der völligen Ungebundenheit ohne einigen Leitfaden." Fichte gab dieser Ära den Namen: "Stand der vollendeten Sündhaftigkeit".

Er war sich aber sicher, das sei nicht von Dauer. Es werde die "anhebende Rechtfertigung" und schließlich "der Stand der vollendeten Rechtfertigung" kommen: Zuerst folge eine Epoche, "in der die Wahrheit als das Höchste anerkannt und am höchsten geliebt" werde und schließlich - in weiterer Ferne - "das Zeitalter, da die Menschheit mit sicherer und unfehlbarer Hand sich selber zum getroffenen Abdrucke der Vernunft aufbauet".

So hätte Heinrich Heine Trost finden können. Und auch wir sollten uns dessen stets gewiß sein.

Prof. Dr. Götz Dieckmann

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Religiöses und weniger Religiöses
Nachdenken über Gott und die Welt

Ich gehe von christlichen Ur-Ansichten aus: 1. Es gibt nur einen Gott. 2. Er ist allmächtig und ewig. 3. Nichts kann geschehen, was er nicht weiß oder zuläßt. Ich untersuche das erste Gebot: "Ich bin der Herr, dein Gott. Du sollst keine anderen Götter haben neben mir."

Die drei monotheistischen Religionen haben nur verschiedene Namen für ein und denselben Gott. Ihre Unterschiede beschränken sich auf Rituale, wie die Menschen ihm dienen oder ihn anbeten. Religionen, die viele Götter haben, spalten seine Erscheinung lediglich in verschiedene "Zuständigkeits"-Bereiche. Diese "Götter" sind in Wahrheit nur Teile des einen Gottes. Auch sie unterscheiden sich also nur in äußeren Ritualen, im Erscheinungsbild, von den drei monotheistischen Religionen.

In den modernen Wissenschaften findet Gott keinen Platz. Man spricht von den materiellen Erscheinungen und den Naturgesetzen. Der Zusammenhang zwischen ihnen erschließt sich in ihrem Wirken. Die materiellen Erscheinungen sind faßbar. In ihrem Zusammenwirken können wir die "unsichtbaren" Naturgesetze erkennen und für uns nutzbar machen. Naturgesetze sind somit gleichsam die "Seele" der Natur, das Materielle der Natur ist ihr "Körper". Die Seele des Menschen wird in der Naturwissenschaft in der Regel mit dem Wort "Bewußtsein" bezeichnet. Die Naturgesetze können wir - davon abgeleitet - als die Seele der Natur bezeichnen. Diese Anschauung finden wir in vielen Naturreligionen wieder. Einige Naturvölker verbeugen sich vor dem Stein, dem sie bei Gebrauch "weh tun" müssen. Sie bitten das Tier um Verzeihung, wenn sie es töten, weil sie es als Nahrung brauchen. Zurück zum ersten Gebot. Auf die eine oder andere Art und Weise ist es in jeder Religion vorhanden. Und hat eigentlich gar keinen Sinn. Denn es gibt doch nur den einen Gott!

Oder doch? Wenn man nämlich in die beiden Sätze statt Gott das Wort "König" einfügt - sofort ergibt sich ein sehr praktischer Sinn. Königtum beruft sich in seiner Herkunft stets auf ein Sendungsbewußtsein durch Gott. Die Gleichsetzung der Worte Gott und König tritt in vielen christlichen Liedern auf. Ein Herrschaftsanspruch wird durch das erste Gebot legitimiert. Es wird gebraucht im Sinne: Du sollst keinen anderen König haben neben mir.

Wenn die Menschen über diese beschriebene Schwelle hinaus logisch denken, die "Schere im Kopf" überwinden, kann der Toleranz, dem Frieden und einem anderen Herrschaftsverständnis ein weites Feld geöffnet werden. Neu sind solche Überlegungen nicht. Man lese von Lessing "Nathan, der Weise" und darin die Ringparabel, welche dieser dem Sultan Saladin vorträgt. Und die Indianer Nordamerikas hatten schon immer die Vorstellung von einer beseelten Natur.

So kann das Erkennen der Unlogik des ersten Gebots eine Brücke sein. Über diese Brücke können alle Menschen zueinander gehen und brauchen sich nicht fürchten. Ein unlogisches erstes Gebot - warum aber gibt es das? Nichts in der Welt ist ohne Zweck. Wer es formuliert hat, verfolgte damit ein Ziel. Nun ist ja die Bibel Gottes Wort, auch wenn Menschen als seine Werkzeuge diese Worte aufschrieben. So habe ich das als getaufter Christ in Christenlehre und Konfirmationsunterricht gelernt. Daran zu zweifeln lernte ich viel später.

Wann erhielten die Menschen die Gebote? Die Juden hatten sich aus der Knechtschaft Ägyptens gelöst und zogen durch die Wüste Sinai. Sie kosteten die Freiheit aus und taten zunächst, was in jeder vorher unterdrückten Gruppe geschieht: Sie schlugen über die Stränge. Ihr Führer Mose sah eine Notwendigkeit zum Handeln und bediente sich der Gebote. Das waren Grenzen, notwendig, damit eine Gemeinschaft funktioniert. Wir Heutigen sollten uns überlegen und vor Augen führen, daß vor den Geboten all das erlaubt war, was darin steht! Sie setzten der Anarchie ein Ende. Nun gab es in Form der Gebote Grenzen - ein Stück Kultur in den Beziehungen der Menschen untereinander. Das war auch Zwang - und zum ersten Mal erlebte diese Volksgruppe, daß Freiheit und Zwang zusammenwirken und immer da sind. Vergessen wir Heutigen das nicht! Als "auserkoren Volk Gottes" hatte ihnen Jahwe (Jehova) ein "Gelobtes Land" hinter der Wüste versprochen. Sie fanden es und sahen: Da lebten schon Menschen. Was tun?

In der Bibel finden wir keine Hinweise, ob man friedliches Einigen versucht hat. Moses Nachfolger Josua behauptete vor seinem Volk, Gott habe angewiesen, mit Feuer und Schwert jeden Menschen zu vernichten, der sich ihrer Landnahme entgegenstelle. Wo blieben da die Gebote? Du sollst nicht töten! Du sollst nicht begehren Deines Nächsten ...! Im Umgang mit "Fremden" wurden sie einfach ignoriert.

In alten christlichen Liedern gehen die Worte "Herr", "König", "Gott", "Vater" völlig durcheinander. Ob der "Herr" nun Vater oder König ist - Du sollst keinen anderen ... haben neben ihm! Folge Josua, damals im "Gelobten Land", keinem anderen! So lautet die Botschaft praktisch für den einzelnen Menschen!

Hier finden wir die Wurzel für das "Gottesgnadentum" der Fürsten, die Machtgrundlage des ganzen Mittelalters. Der einfache Mensch muß nicht nachdenken, er braucht nur Glaube und Gottvertrauen. Und kommen dennoch einmal Zweifel, dann sind "Gottes Wege unerforschlich" und - da wir alle nur "Werkzeuge seines Willens" sind - ist auch die Vergebung begangener Sünden nicht weit. Priester erteilen Absolution nach erfolgter Beichte - und die Welt ist für den Naiven wieder in Ordnung.

Natürlich dient die Religion dem Machterhalt und, wie wir sehen, ist auch das Opium nicht weit. Es greift ineinander und schwer ist es für den einfach Gebildeten, die Grenzen und Zwecke zu erkennen.

Ist das heute alles so ganz anders? Keinesfalls, behaupte ich. Unsere Josuas (die Nachfolger Moses) heißen Bush oder Obama - sie nehmen sich auf "völkerrechtlicher Ebene" die Freiheit eines Gottesgnadentums, auf die "zehn Gebote" zu verzichten! Man folge nicht mehr "dem König", sondern kämpfe gegen das "Reich des Bösen" - das ist der ganze Unterschied zum Mittelalter. Und zu erklären, was "das Böse" ist - dieses Recht nehmen sich die heutigen Josuas genauso heraus wie damals im fernen Kanaan! Und es gibt nicht wenige "Christen", die behaupten: "Bomben und beten, das geht!"

Für mich sind das keine Christen. Gott hat die Gebote für alle Lebenslagen gegeben und dabei die "völkerrechtliche Ebene" nicht ausgenommen! Echte Christen haben freilich das Recht auf Selbstverteidigung. Wer das als gerechten Krieg bezeichnen will - bitte, das ist nur eine Frage der Wortwahl. Doch am Hindukusch kann ein Christ aus Deutschland nicht von Selbstverteidigung sprechen. Religion als Kultur - natürlich. Sie hilft, mit seinesgleichen gut umzugehen. Doch die Religion zu mißbrauchen, führt zur Scheinheiligkeit, ob als Machtmittel oder Opium. Das ist nicht im Sinne Abrahams, Moses oder des Jesus von Nazareth.

Klaus Buschendorf, Erfurt

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Plädoyer für begriffliche Exaktheit
Ergänzendes zu Beiträgen von Hans Dölzer und Wolfgang Mäder

Hans Dölzers Beitrag "Für fairen Disput" (RF 173) stimme ich im Tenor zu. Seine polemischen Bemerkungen zu "reinem Kommunismus" und "reinem Christentum" implizieren zugleich eine mögliche Erwiderung auf die Behauptung von Wolfgang Mäder im Leserbrief (ebenfalls RF 173), in Europa habe der Sozialismus nicht zerstört werden können, weil es ihn noch nicht gegeben habe. Worum wir uns in der "Diskussion unter Freunden" stärker bemühen sollten, ist begriffliche Präzision. Das betrifft schon die Paarung der Begriffe "Kommunismus" und "Christentum", die zumindest dann nicht in eine Reihe gehören, wenn wir unter "Kommunismus" eine Gesellschaftsordnung bzw. Gesellschaftsformation verstehen. Entsprechend ist auch ein "real existierender Sozialismus" eben eine Gesellschaftsordnung, aber ein "real existierendes Christentum" etwas damit nicht direkt Vergleichbares, sondern Form und Inhalt gesellschaftlichen Bewußtseins (gewiß real existent).

W. Mäder wiederum hat die ihm oben von mir gewissermaßen in den Mund gelegte Formulierung, es habe keinen Sozialismus gegeben, nicht einmal gebraucht (wiewohl sie natürlich aus dem Kontext logisch hervorgeht), sondern: Es habe in Europa "keine ausgereiften sozialistischen Gesellschaften" gegeben. Ist also eine "nicht ausgereifte sozialistische Gesellschaft" kein Sozialismus? Was war es dann? Über den ständig wieder auftauchenden Irrtum, der Begriff "real existierender Sozialismus", häufig verkürzt und damit mißverständlicher "realer Sozialismus" genannt, habe ungefähr soviel wie "wahrer, echter, richtiger Sozialismus" gemeint, kann ich mich nur wundern. Der Begriff wurde zu DDR-Zeiten von unserer Partei, der SED, im Bewußtsein dessen und zur Beförderung des Verständnisses dafür gebraucht, daß der seinerzeitige Zustand der Gesellschaft in der DDR und anderen sozialistischen Ländern noch kein Idealzustand war, sondern eher ein Zustand, welcher weiterer Gestaltung und Vervollständigung bedurfte - sicher in Richtung auf einen "Idealzustand". Aber während wir in den 60er Jahren noch nicht so eindringlich fragten, wie denn wohl der "Idealzustand" genau aussehen sollte und könnte, während man noch vom Kommunismus als einem in absehbarer Zukunft zu erreichenden Ziel träumte, begannen manche spätestens in den 80er Jahren solche Fragen aufzuwerfen. Heute sollten wir das erst recht tun. Eine kommunistische Gesellschaft hat es noch nirgendwo gegeben, sagt H. Dölzer richtig. Aber gab es in der DDR etwa keine sozialistischen Produktionsverhältnisse, nicht wesentliche, grundlegende Elemente eines für eine sozialistische Gesellschaft erforderlichen Überbaus, keine Grundlagen sozialistischer Gesetzgebung, wirklich keine Elemente neuer Lebensweise, neuer Staat-Bürger-Beziehungen? Gab es etwa kein erfolgreiches Genossenschaftswesen, dem man anläßlich des 60. Jahrestages der ersten LPG-Gründungen trotz der Schelte von "Zwangskollektivierung" in Anbetracht seines Überdauerns noch in der Rückwendegesellschaft nur schwer den Respekt versagen kann? Galt nicht (im Grundsätzlichen): Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seiner Leistung? War die Herrschaft des Kapitals etwa nicht gebrochen? Um was für eine Gesellschaftsordnung handelte es sich dann?

Was fehlte? Wolfgang Mäder: "Es fehlte am sozialistischen Massenbewußtsein." Wie kann das genau aussehen, wenn einst "das große Werk vollendet" sein wird, und was wären dazu Voraussetzungen? Ich meine, es fehlte vor allem daran, ökonomisch mit den vergleichbaren, fortgeschrittensten kapitalistischen Gesellschaften konkurrieren zu können, was in unserem historischen Kontext notwendigerweise heißt: überzeugend für die werktätigen Massen. Es gibt die Meinung, es habe am sozialistischen Eigentümerbewußtsein (das wäre ein wesentlicher Faktor sozialistischen Massenbewußtseins!) gefehlt, weil die Werktätigen nicht wirklich sozialistische Eigentümer gewesen seien. Ich teile diese Meinung nicht: Sie waren Eigentümer, und es gab Ansätze sozialistischen Eigentümerbewußtseins. Auch unter privatwirtschaftlichen Bedingungen kann es vorkommen, daß Eigentümer ihr Unternehmen aufgeben, wenn es nicht floriert und sie an eine reale Alternative glauben ...

"Sozialismus" sollte man theoretisch weder in zu geringen noch in zu gewaltigen Dimensionen beschreiben, vielmehr die gewesene wie die gegenwärtige und künftig abzusehende gesellschaftliche Realität mit menschlichem (nicht quasi göttlichem!) Maß und auf der Grundlage erkannter (oder für erkannt gehaltener) objektiver Gesetzmäßigkeiten zu beurteilen suchen. Ein sozialistisches oder kommunistisches "Paradies" wird es nie geben, eine sozial gerechte, menschenwürdige (sozialistisch-kommunistische) Ordnung hoffentlich schon.

Die Diskussion, warum der Sozialismus, der real existierte, in Europa gescheitert ist, wird uns noch lange und immer wieder beschäftigen. Der Empfehlung, nicht mehr vom "realen" oder "real existierenden" Sozialismus zu sprechen, sollte man nicht unbedingt folgen.

Nun noch zu Aspekten des Hauptthemas von Hans Dölzer:

An das zuvor erörterte Problem anknüpfend sei hinzugefügt, daß nach meiner Überzeugung in der DDR durch eine insgesamt kluge Art der Vermittlung wissenschaftlicher Weltanschauung auch viel für ein Massenbewußtsein getan worden ist, das den Spuren der Aufklärung seit dem 18. Jahrhundert folgt. Auch das ist wohl eine wesentliche, beabsichtigte und unabdingbare Komponente eines sozialistischen Massenbewußtseins.

Abgesehen von einem faktischen Irrtum ist anzumerken, daß es mir zu plakativ und letztlich im Sinne einer materialistischen Dialektik auch zu oberflächlich erscheint, was da von Hans Dölzer zur christlichen Religion und speziell zur Bibel gesagt wird. Zunächst ist mit leichter Verwunderung festzustellen, daß der Pfarrerssohn dem verbreiteten Irrtum anhängt, Luther habe die Bibel aus dem Lateinischen übersetzt. Tatsächlich hat er sie aus den Originalsprachen - Hebräisch bzw. Griechisch - übertragen. Sicher trifft zu, daß er auch Inhalte "nach eigenem Gutdünken" geändert hat.

Dies paßt zwar in die Gedankenführung des Autors, dabei gehen aber zwei Dinge unter: Einerseits die Tatsache, daß es zweifellos ein vom Prinzip her richtiger Ansatz für eine hochwertige Übersetzung gewesen ist, nicht eine Verfälschung durch Rückgriff auf eine (schlechte) Übersetzung zu riskieren. Andererseits bleibt unberücksichtigt, daß die Bibelübersetzung wie die gesamte Reformation Ausdruck der Interessen des aufstrebenden Bürgertums war und sich somit auf der Schiene objektiven gesellschaftlichen Fortschritts vollzog. Darüber hinaus scheint es zu kurz gegriffen, wenn man meint, die Bibel sei "eigentlich nur für Literaturhistoriker von besonderem Interesse". Nein, sie ist in unser materialistisches Welt- und Geschichtsbild gebührend einzuordnen, gewisse Kenntnisse gehören generell zur Allgemeinbildung, wenn man die europäische Geschichte in ihrer Gesamtheit, und vor allem die Kultur- und Kunstgeschichte gut verstehen will. Sich mit Zitaten auf die berühmte "Anthologie" zu berufen, um unsere Vorstellungen von einer sozial gerechten, humanen Menschenwelt auszudrücken, ist nur ein Aspekt und natürlich in Anbetracht des großen historischen Hintergrunds auch nicht abzulehnen.

Prof. Dr. Bernd Koenitz, Leipzig

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Der sogenannte Verfassungsschutz

Ein Skandal heftigster Art: Aus dem neo-nazistischen Untergrund heraus läuft über Jahre hin eine politisch gezielte Mordserie, ohne daß Justiz und Polizei sich auf diese Spur setzen. Unter dem Etikett "Dönermorde" werden die Taten der Bevölkerungsgruppe zugeordnet, die das Angriffsziel der mörderischen "Heimatschützer" war. Und die Behörden verhielten sich blind, obwohl doch die Szene, der die Täter entstammten, in engem Kontakt mit Ämtern stand, die dem "Verfassungsschutz" dienen sollen. Obwohl? Oder weil?

"Verfassungsschutzämter" sind Geheimnisträger. Wie dieser Begriff ahnen läßt, geben sie unter dem Druck der Öffentlichkeit einige verborgene Sachverhalte preis, aber nicht die wirklich riskanten. Hinter dem Geheimen, so ihr Amtsverständnis, liegt das ganz Geheime. Und das muß die Öffentlichkeit auch im Skandalfall nicht erfahren, selbst ausgewählte Volksvertreter müssen da nicht eingeweiht werden. Also bleibt es bei geheimbehördlicher Erklärungsroutine: Das "Versagen" einzelner Dienststellen sei schuld an der "Ermittlungspanne", der behördliche Informationsaustausch habe nicht funktioniert, die "Verfassungsschützer" brauchten mehr Befugnisse.

Und die Kritiker werden belehrt: Der "Verfassungsschutz" habe halt vieles zu tun, "Rechtsextremismus" sei nicht sein einziges Beobachtungsobjekt. Wenn es ganz schlimm kommt, tritt ein Amtschef zurück. Die "Verfassungsschutzämter" in der Bundesrepublik haben ihre Traditionsgeschichte. Gegründet wurden sie, als die Westzonen Deutschlands in einen Staat zusammengeführt waren. Die Regie der geheimdienstlichen Tätigkeit lag zunächst in den Händen der Besatzungsmächte. Neben den "Verfassungsschutzämtern" etablierten sich geheimdienstlich der "Bundesnachrichtendienst" (BND, zunächst als "Organisation Gehlen") und dann der "Militärische Abwehrdienst" (MAD). Den Namen "Verfassungsschutz" empfand damals Gerhard Schröder, Bundesinnenminister unter Konrad Adenauer, als "unglückliche Bezeichnung". Besser sei es, so meinte er, hier den Namen "Dienst für Staatssicherheit" einzusetzen. Es blieb jedoch bei der nominalen Inanspruchnahme der Verfassung, die ja auch ihre Marketingvorzüge hat. Und wie peinlich wäre es geworden, wenn man von "Stasi-Ost" und "Stasi-West" hätte sprechen müssen. Schützt der "Verfassungsschutz" die Verfassung? Dies anzunehmen, so ein resignativer Scherz, wäre nicht anders, als den Zitronenfalter für ein Wesen zu halten, das Zitronen faltet.

"Staatssicherheit" - das hieß in den Gründerjahren der Bundesrepublik in aller Eindeutigkeit: Parteinahme für die Integration des westdeutschen Staates in das politische, ökonomische und militärische System des "nordatlantischen Blocks", teildeutscher Fronteinsatz im Kalten Krieg. Die "Verfassungsschutzämter" hatten demnach mit geheimdienstlichen Mitteln den Kampf, gegen "die Roten" zu führen: gegen Kommunisten, aber auch gegen all diejenigen Gruppen und Menschen, die mit dem "Osten" Verständigung suchten oder gegen die Einbindung Westdeutschlands in den westlichen "industriell-militärischen Komplex" opponierten.

Geheimdienste brauchen erfahrene Mitarbeiter und willige V-Leute. Die standen im Nachkriegsdeutschland für den Kalten Krieg gegen "die Kommunisten" (und diejenigen, denen man behördlicherseits "Nähe" zu Kommunisten zuschrieb) aus dem Reservoir des "Dritten Reiches" hinreichend zur Verfügung: ehemalige Profis aus SS und SD, aus dem Justiz- und Polizeidienst des NS-Staates. In der Verfolgung von Kommunisten oder ähnlichen "Staatsfeinden" hatten sie viel Erfahrung. In der Zeitung der Industriegewerkschaft Metall war 1963 zu lesen: "Der Verfassungsschutz der Bundesrepublik ist Todfeinden der Freiheit anvertraut. Frühere SS-Führer, ehemalige Beamte und Agenten des berüchtigten SD sind an wichtigsten Stellen des Bundesverfassungsschutzamtes tätig." Präsident dieser Behörde war zuerst der abenteuerliche Otto John, den der britische Geheimdienst in sein Amt hievte, der dann aber einen mysteriösen Ausflug in die DDR unternahm. Ihm folgte der zuverlässige Hubert Schrübbers, 1972 mußte er zurücktreten, seine Tätigkeit für die politische Justiz in Hitlerdeutschland war zum Ärgernis für die Öffentlichkeit geworden.

1963 noch war das Bundesministerium des Inneren da weniger rücksichtsvoll; es wies Kritik an der Personalauswahl für den "Verfassungsschutz" in folgender Weise zurück: "Es gibt nur wenige Kräfte, die den schwierigen Aufgaben hier genügen. Ein dringendes Sicherheitsbedürfnis wäre in nicht zu verantwortender Weise aufs Spiel gesetzt, wenn die öffentlich kritisierten ehemaligen SS-Angehörigen aus dem Bundesamt für Verfassungsschutz entlassen würden."

Das Verbot der KPD im Jahre 1956 hatte "Verfassungsschützern" die Möglichkeit gegeben, die "Kommunistenjagd" auszuweiten, für Zigtausende von Strafverfahren wurden geheimdienstlich "Beweise" bereitgestellt, und der Verfolgungseifer betraf keineswegs nur kommunistische Parteigänger, sondern entschiedene Oppositionelle insgesamt. Rechtsanwalt Heinrich Hannover hat damals in seinem Buch "Diffamierung der politischen Opposition im freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat" offengelegt, wie - gegen den Sinn des Grundgesetzes - "Verfassungsfeinde" gewissermaßen konstruiert wurden. - Solche Traditionen sind zählebig. Um die aktuelle geistige Verfassung des "Verfassungsschutzes" in den Blick zu nehmen:

Noch immer gilt diesen Behörden, in den veröffentlichten Verfassungsschutzberichten finden sich viele Belege dafür, das Eintreten für Alternativen zur kapitalistischen Gesellschaftsordnung als "staatsfeindlich". Offenbar mangelt es in Ämtern, die der Verfassung Schutz geben sollen, an der Fähigkeit, das Grundgesetz der Bundesrepublik zu verstehen. Mit "freiheitlich-demokratischer Grundordnung" ist in unserer Verfassung keineswegs die Verpflichtung der Bürgerinnen und Bürger auf die Anbetung des "Marktes" gemeint. Und radikale Kritik der ökonomisch bestimmenden Machtverhältnisse, der gegenwärtigen gesellschaftlichen Realität also, ist kein Indiz für "Demokratiefeindlichkeit".

Den geheimen Teil der Tätigkeit des "Verfassungsschutzes" betreffend, und hier liegt der Schwerpunkt "verfassungsschützerischer" Dienste: Was ist davon zu halten, wenn eine staatliche Organisation sich operativer Praktiken bedienen kann, die der Normaldefinition nach kriminell sind - zum Beispiel Nichtanzeige von Straftaten, fahrlässige Beihilfe zu Betrug?

Wenn V-Leute des "Verfassungsschutzes" munter in politischen Gruppen oder Parteien arbeiten und ihnen zu Wirkung verhelfen, deren antidemokratischer und rassistischer Charakter außer Zweifel steht und vom "Verfassungsschutz" selbst auch herausgestellt wird? Wenn auf diese Weise verfassungsfeindlichen Umtrieben sogar staatliche Finanzhilfe geleistet wird? Wer unterwandert da wen? Rechtfertigt das Interesse an "Quellenschutz", daß Verbrechen klammheimlich vom "Verfassungsschutz" gedeckt werden? Ein Exempel dafür, wie geheimdienstliche Aktivitäten sich von allen rechtsstaatlichen Bedenken trennen können, war das "Celler Loch". Der niedersächsische "Verfassungsschutz" arrangierte bei dieser "Aktion Feuerzauber" einen Sprengstoffangriff auf ein Gefängnis, um sich so das Vertrauen eines dort einsitzenden politischen Häftlings zu verschaffen. Wer will angesichts solcher Praktiken noch unterscheiden zwischen "echtem" und geheimdienstlich vorgetäuschtem Terrorismus? Dunkelmänner sind keine Pflegekräfte für das Grundgesetz der Bundesrepublik.

Fazit: Mit einem Rechtsstaat ist diese Tätigkeit des "Verfassungsschutzes" nicht vereinbar. Freiheitlich-demokratischen Verhältnissen schadet sie. Es ist an der Zeit, solcherart geheime Dienste für "Staatssicherheit", etabliert in den Jahren des Kalten Krieges, nicht länger als Normalität hinzunehmen.

Zu "reformieren" ist da nichts.

Prof. Dr. Arno Klönne, Paderborn


(Mit freundlicher Genehmigung der Redaktion aus "Ossietzky" Nr. 15/16, 2012; leicht gekürzt)

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Unvergessener Franz Mehring
Warum Berliner Straßen und Plätze einen großen Namen tragen

"Franz Mehring ist der Vollstrecker des Vermächtnisses von Marx und Engels", schrieb Rosa Luxemburg am 27. Februar 1916 in ihrem Glückwunsch zum 70. Geburtstag Franz Mehrings aus dem Gefängnis. Sein Name ist heute leider nicht mehr allen bekannt, doch Jahr für Jahr ziehen Tausende und Abertausende bei der Ehrung von Karl und Rosa im Januar auch an seinem Grab in der Gedenkstätte der Sozialisten vorbei. Im Berliner Arbeiterbezirk Friedrichshain-Kreuzberg sind Straßen und Plätze nach ihm benannt. Das ND-Redaktionsgebäude wurde in den 70er Jahren, als die Zeitung noch das Organ des ZK der SED war, am Franz-Mehring-Platz errichtet (siehe Foto der Druckausgabe).

Ein enger Kampfgefährte von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, gehörte Franz Mehring zu den Gründern der Kommunistischen Partei Deutschlands. Er war ein bedeutender Historiker, Literaturwissenschaftler, Publizist und Redakteur der deutschen Arbeiterpresse. Am 27. Februar 1846 im seinerzeitigen Schlawno, dem heutigen Slawno in Polen, als Sohn eines Offiziers geboren, entwickelte sich Franz Mehring aus einem Gegner der ursprünglichen Sozialdemokratie, den Karl Marx und Friedrich Engels deshalb sehr kritisch sahen, zum Anhänger und dann auch zum anerkannten Mitglied der Bebelschen SPD. Später trat er in die USPD ein. Schwer krank verstarb er in der Nacht vom 28. zum 29. Januar 1919 in Berlin, nachdem er noch Tage zuvor die Nachricht von der Ermordung Rosa Luxemburgs und Karl Liebknecht durch die weißgardistische Soldateska erhalten hatte.

Es ist ein Verdienst der DDR-Geschichtsschreibung, daß zwischen 1960 und 1985 unter Federführung Thomas Höhles, Hans Kochs und Josef Schleifsteins die Gesammelten Schriften Mehrings in 15 Bänden herausgegeben wurden und in mehreren Auflagen erscheinen konnten. Leider mangelt es bis heute an einer umfassenderen Biographie. So ist es besonders wichtig und hervorhebenswert, daß der Berliner Gesellschaftwissenschaftler Werner Ruch seit geraumer Zeit den Spuren Franz Mehrings intensiv nachgeht. Er gestaltete im ND-Gebäude eine ständige Ausstellung über Leben und Werk des großen Publizisten.

Ruch ist auch Autor einer Reihe von Beiträgen zu dessen politischen und wissenschaftlichen Leistungen, die vor allem in den "Rundbriefen der AG Rechtsextremismus/Antifaschismus" beim Parteivorstand der Partei Die Linke und in den Schriften ihrer Geschichtskommission für Friedrichshain-Kreuzberg veröffentlicht wurden. Nun liegen diese Beiträge gesammelt vor. Sie enthalten eine zum 90. Geburtstag Mehrings erschienene biographische Skizze, behandeln dessen Arbeiten zur Märzrevolution von 1848, seine Lessinglegende, die vor allem die Preußenlegende zerstörte, und Franz Mehrings umfangreiche Bildungsarbeit in der deutschen Sozialdemokratie sowie seinen Kampf gegen Militarismus und Krieg und seine Stellung zur deutschen Novemberrevolution. Es geht auch um Mehring als Helfer bei der antifaschistisch-demokratischen Erziehung nach 1945 und um seine Schrift "Deutsche Geschichte vom Ausgang des Mittelalters".

In seinem Vortrag im Rahmen eines Kolloquiums, das aus Anlaß des 80. Geburtstages Werner Ruchs am 28. Februar 2011 in Berlin stattfand, ging der Jubilar vor allem der Frage nach, welchen Gewinn heutige Sozialisten aus dem Schaffen Franz Mehrings ziehen könnten. Sein Nachlaß sollte für die materialistische Geschichtsaufarbeitung, die aktuelle Klassenauseinandersetzung zwischen Kapital und Arbeit, das Erkennen der eigenen historischen Wurzeln und schließlich für einen klaren Blick in die Zukunft einer sozialistischen Linken genutzt werden.

Franz Mehring hielt dem internationalen Sozialismus in schwerer Zeit unverbrüchlich die Treue. Er war ein entschiedener Antimilitarist und wies nach, daß Rüstung den Arbeitern keinerlei Vorteile zu bringen vermag. Und er stand fest an der Seite der Leninschen Bolschewiki, als diese von verschiedenen Seiten attackiert wurden. "Wie schrumpfen die Aufgaben, die die englische und selbst noch die französische Revolution zu lösen hatten", schrieb er, "vor den ungeheuren Problemen zusammen, mit denen die russische Revolution ringen muß. Für sie gibt es kein Zurück mehr, sondern nur ein Vorwärts, und wenn erst ein Jahr oder ein paar Jahre, ein Jahrzehnt oder ein paar Jahrzehnte die Massen des gewaltigsten Reichs ins Glühen gebracht haben, dann wird ihr heißer Hauch manchen ehernen Felsen schmelzen, der heute unerschütterlich erscheint."

Dr. Kurt Laser, Berlin


Buch-Tip - Werner Ruch: Mit Franz Mehring aus der Geschichte lernen. Beiträge zu Leben und Werk. Books on Demand GmbH, Norderstedt 2012, 172 S., 12,90 Euro


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

Karikatur: Was heißt hier Marx und Bebel, Genossen? Es gibt ja noch einen dritten Weg!

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Kälte gegenüber Kelten
Ausmerzung von Muttersprachen - ein Wesenszug der Kolonialisierung

Die Durchsetzung feudalistischer Herrschaft und - später - kapitalistischer Produktionsverhältnisse bedurfte stets der Gewalt. Diese wurde in Form der Annexion, des Zwanges, der Ausbeutung und der Vertreibung ausgeübt. Die jeweilige Staatsmacht schuf die Bedingungen zu deren Durchsetzung. Aggressivität als Grundeigenschaft des Imperialismus äußert sich außenpolitisch in der Erweiterung ökonomischer, politischer, ideologischer und sprachlicher Einflußsphären, innenpolitisch durch Anwendung von Gewalt der herrschenden gegenüber unterdrückten Klassen und Individuen.

Am Beispiel der keltischen Sprachen (Walisisch, Schottisch-Gälisch, Irisch und Bretonisch) soll gezeigt werden, wie durch Unterdrückung und Verbot von Idiomen versucht wurde, Identität und Kultur von Minderheiten auszulöschen.

Walisisch (nach dem einheimischen Cymraeg auch Kymrisch genannt) gehört zu den keltischen Sprachen innerhalb der indoeuropäischen Sprachfamilie.

1282 verlor Wales (Cymru) seine Unabhängigkeit und wurde kurze Zeit später dem englischen Herrschaftsbereich eingegliedert. Die Unionsakte von 1536 und 1542 hatten schließlich zur Folge, daß für Amtshandlungen und staatliche Erziehung ausschließlich das Englische verwendet wurde. Hätte man die Bibel 1588 nicht ins Walisische übersetzt, wäre die Sprache wohl ausgestorben. Bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts wurde Schulkindern der Gebrauch des Walisischen verboten, was bei Nichtbeachtung streng bestraft wurde. Seit den 60er Jahren hat sich die Lage sehr verbessert. Heute gehört Walisisch zu den wenigen Minderheitensprachen, deren Anwenderzahl wächst. Es ist entweder Unterrichtssprache oder Pflichtfach in den Schulen. Jeder, der in Wales arbeiten möchte, muß Walisisch erlernen. Schottisch-Gälisch (Gaidhlig) gehört auch zur indoeuropäischen Sprachgruppe der keltischen Sprachen.

Im 5. und 6. Jahrhundert siedelten sich immer mehr Menschen aus dem heutigen Nordirland an der westschottischen Küste an und brachten ihre Sprache mit. Das Gälische war im 11. Jahrhundert schließlich die allgemein verbreitete Sprache Schottlands und Irlands. Erst durch den Zusammenbruch des gälischen Gesellschaftssystems hier wie dort entwickelten sich die Sprachen auseinander.

Der Gebrauch des Schottisch-Gälischen wurde durch eine Vielzahl von Gesetzen zurückgedrängt. Noch in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts erzog man Kinder des schottischen Hochlandes auf Gälisch, was überhaupt nicht im Sinne der Kirche war. Bis in die 60er Jahre des vorigen Jahrhunderts war Englisch alleinige Unterrichtssprache. Der Gebrauch des Gälischen durch Schulkinder wurde mit Schlägen bestraft. Durch die Vertreibung der Gälisch sprechenden Pächter aus dem Hochland verschwand die Sprache nahezu komplett.

Erst 2005 wurde Gälisch als zweite offizielle Sprache anerkannt, obwohl ein Teil der politisch und gesellschaftlich bestimmenden Kräfte Schottlands gegen eine Rehabilitierung dieser keltischen Sprache ist. Allerdings gibt es verschiedene gälische Institutionen und Fernsehsender, die sich um deren Erhalt bemühen.

Es wurden sogar einsprachige Schulen gegründet. Durch Comhairle nan Leabhraichean (Gälischer Bücherrat) sind die verlegerische Arbeit, der Vertrieb und die Verbreitung gälischer Literatur sichergestellt und Proiseact nan Ealan wirkt als Agentur für die Förderung der gälischen Künste sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene. So ist zu hoffen, daß ein wichtiger Teil des kulturellen Erbes der Menschheit erhalten bleibt.

Irisch ist zwar die Amtssprache der Republik Irland, dennoch scheint ihr Bestand nicht gesichert. Im Westen Irlands, dem sogenannten Gaeltacht, wird ausschließlich Irisch gesprochen. "Im 16. Jahrhundert war das Irische die allgemeine Umgangssprache nahezu der ganzen Insel. Darüber hinaus kultivierten die gebildeten Schichten eine einheitliche gälische Schriftsprache, die auch in Schottland Geltung hatte. Als im Zuge der bürgerlichen Revolution in England die gälische und die anglo-normannische Oberschicht beseitigt wurden, kam auch diese Kulturform zum Erliegen. ... Im Laufe der Zeit verlor das Irische seinen Status als Mehrheitssprache und wurde zum kulturellen Symbol der armen Landbevölkerung. ...

Seit 1922 haben die selbständigen irischen Regierungen in Dublin die Erhaltung der Gaeltacht und die Rehabilitierung des Irischen stets zu einem wichtigen Bestandteil ihrer Politik erklärt. ... Obwohl in Umfragen deutlich geworden ist, daß eine verstärkte öffentliche Präsenz des Irischen dem Willen der Mehrheit der Bevölkerung entspricht, lassen sich die Verantwortlichen aber offenbar wenig von derartigen Bedürfnissen leiten." (Michael O Siadhail, Dublin 1980) Dabei haben irische Autoren wie James Joyce, George Bernard Shaw und Oscar Wilde bedeutende Beiträge zur Weltliteratur geleistet.

In Frankreich hingegen genießt das in der Bretagne noch recht verbreitete Bretonische nicht einmal den Status einer Minderheitensprache. Schuld daran ist die von Paris verfolgte Sprachpolitik, die seit der Revolution von 1789 neben dem Französischen keine anderen Idiome duldet. Als Motto gilt: "Eine Nation - eine Sprache".

Der globalisierte Kapitalfluß wird angloamerikanisch beherrscht. Somit verdrängt das Englische alle anderen Sprachen. Seine Vorherrschaft hat den USA einen Vorteil im Wissenschafts-Business verschafft: Die Ausbreitung des Englischen wird durch spezielle Agenturen (British Council, US-AID) und eine gezielte Sprachpolitik gefördert. Englischunterricht ist das zweitgrößte Exportgeschäft Großbritanniens und bringt jährlich 10 Milliarden Pfund Sterling ein. Macht wird durch Sprache ausgeübt: Sprechergruppen, die sie benutzen, bedienen sich ihrer als Objekt von Auseinandersetzungen. Sowohl Großbritannien als auch die USA, deren Entwicklung zur Weltmacht die wichtigste Ursache der Vorherrschaft des Englischen ist, gehen davon aus, daß man in internationalen Beziehungen Englisch zu sprechen hat, während die Benutzung anderer Sprachen nur ein allgemeines Ärgernis darstellt. Funktionäre der Europäischen Union haben aktiv dazu beigetragen, daß Englisch im Europaparlament und anderen EU-Institutionen zur Arbeitssprache wurde, selbst auf die Gefahr hin, daß sie der eine oder andere Europakommissar oder Parlamentarier nur höchst mangelhaft beherrscht oder mit seinem heimatlichen Dialekt bis zur Unkenntlichkeit entstellt.

Die Wucht der imperialen Sprache kommt in deren Aufzwingen zum Ausdruck. So wurde Englisch von der Bevölkerungsmehrheit in Irland, Schottland und Wales nicht beherrscht und konnte unter den gegebenen Bedingungen der Ausgrenzung und Vertreibung auch kaum mit Erfolg gelernt werden. Dennoch war und ist es Amts- wie Verwaltungssprache und mußte letztlich angenommen werden. Der Verlust der eigenen Sprache ist ein kulturelles Trauma, eine Katastrophe für die Betroffenen und ein irreparabler Verlust menschlichen Wissens, das in jedem Idiom verschlüsselt ist. Vor allem werden die grundlegenden linguistischen Menschenrechte der betroffenen Bevölkerungsteile verletzt. Die Weltsprache Englisch verstärkt die Dominanz der angelsächsischen Welt. Wo Sprache unterdrückt wird, werden zugleich Kultur und Identität der Betroffenen zerstört. Jeder Mensch hat das Grundrecht, in seiner eigenen Sprache staatliche Erziehung zu erhalten, sie respektiert zu wissen und mindestens eine der offiziellen Landessprachen zu erlernen.

Arnim Johanning, Plön

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Gründe einer Anwerbung
Über "Gastarbeiter", die in der BRD keine Gastfreundschaft genossen

Die BRD sieht sich selbst gern als weltoffene, tolerante und moderne Demokratie. Als Beleg dafür wurde über viele Jahre die Aufnahme sogenannter Gastarbeiter in Westdeutschland genannt. Ich erinnere mich noch gut daran, wie man nach den entsetzlichen Ausschreitungen gegen "Fremde" in Hoyerswerda (September 1991) und Rostock-Lichtenhagen (August 1992) in so weltoffenen Blättern wie "Bild" erfahren konnte, Ausländerfeindlichkeit sei ein typisches Problem Ostdeutscher, weil sie in DDR-Zeiten weder Weltoffenheit noch Toleranz kennengelernt hätten. Die NSU-Morde, denen neben einer deutschen Polizistin mindestens acht Türken und ein Grieche zum Opfer fielen, sind Anlaß, einen Blick auf die Geschichte der "Gastarbeiter" in der Bundesrepublik zu werfen.

Nach 1953 einsetzende Klagen über einen Mangel an Arbeitskräften in Bergbau und Landwirtschaft führten zu der Idee, arbeitslose Italiener anzuwerben, um die Lücke zu schließen. Die Erwerbslosigkeit jenseits der Alpen war damals dramatisch hoch. Überdies befürchtete man in römischen Regierungskreisen "kommunistische Unruhen". Sich ein paar Aufwiegler unter den Arbeitslosen vom Hals zu schaffen, war für die am Tiber regierenden Christdemokraten ein beruhigender Gedanke.

Der ihm unterbreitete Vorschlag stieß bei Bundesarbeitsminister Anton Storch auf wenig Gegenliebe. Adenauers Wirtschaftsminister Ludwig Erhard und der damalige Minister für besondere Aufgaben Franz-Joseph Strauß waren sich indes darin einig, daß gegen die in der BRD geltend gemachte Forderung nach Lohnerhöhungen unbedingt etwas zu unternehmen sei. Eine Konkurrenz zum deutschen Arbeiter mußte her! Sie sollte billig, anspruchslos und vor allem in großer Zahl verfügbar sein.

So wurde am 22. Dezember 1955 in Rom das erste Anwerbeabkommen in der Geschichte der BRD unterzeichnet. Diesem folgten noch sieben weitere: 1960 mit Spanien und Griechenland, 1961 mit der Türkei, 1963 mit Marokko, 1964 mit Portugal, 1965 mit Tunesien und 1968 mit Jugoslawien.

Daß diese sieben Abkommen seit 1960 geschlossen wurden, ist aus mehreren Gründen sehr aufschlußreich. Damals herrschte in der BRD zum ersten Mal "Vollbeschäftigung", was nach der seinerzeitigen Berechnungsgrundlage eine Arbeitslosenquote von nur 1 % bedeutete. Deshalb mußten nach der kapitalistischen Logik des "Teile und herrsche!" gerade jetzt ausländische Arbeiter in großer Zahl als Konkurrenz zu ihren "verwöhnten" bundesdeutschen Kollegen "importiert" werden. Überdies konnte man seit dem 13. August 1961 auch nicht mehr Fachleute aus der DDR unter falschen Versprechungen und dem schönen Schein eines sorgenfreien Lebens in die BRD locken. Ihren Tribut forderte außerdem die immer mehr Arbeitskräfte abziehende Bundeswehr, deren forcierter Ausbau ab Ende der 50er Jahre erfolgte. Die Ausländerquote unter den in der BRD Beschäftigten stieg nun rasch an. Hatte sie 1954 nur 0,4 % betragen, so lag sie 1960 schon bei 1,5 % und 1971 sogar bei 10,3 %.

Die "Gastarbeiter" - der euphemistische Begriff bürgerte sich rasch ein - wohnten zunächst in Hilfsunterkünften. Sie wurden von Beginn an als billige und weitestgehend rechtlose Arbeitskräfte betrachtet. Anfangs sollte ihr Aufenthalt in der BRD einem Rotationsprinzip unterliegen. Nach etwa zwei bis drei Jahren war deren Austausch vorgesehen. Daran wird deutlich, daß ein ständiges Wohnrecht oder gar eine Integration in die bundesdeutsche Gesellschaft niemals erwogen, geschweige denn gewünscht wurde. Indes erwies sich das Rotationsprinzip als kaum praktikabel und setzte sich daher auch nie durch. Die Gastarbeiter waren hauptsächlich in der Montan- und Automobilindustrie, bei der Stadt- und Gebäudereinigung sowie im Gaststättenwesen tätig. Sie verrichteten dort als un- und angelernte Arbeiter die schwersten und schmutzigsten Arbeiten in Schicht- und Akkordarbeit. Sie schufteten für weit geringeres Entgelt als ihre deutschen Kollegen und dienten diesen gegenüber als Lohndrücker. Oft nicht gewerkschaftlich organisiert, stellten sie aus Angst vor Entlassung und Abschiebung ins Herkunftsland keine Forderungen. So gelang es dem bundesdeutschen Kapital erstmals, einen Niedriglohnsektor großen Umfangs zu installieren. Die Agenda 2010 lag damals noch in weiter Ferne.

Auf der anderen Seite boten die Gastarbeiter dem BRD-Normalbürger eine willkommene Möglichkeit, die eigene "Überlegenheit" auszuleben. Manche chauvinistischen Dünkel gegenüber "faulen Südeuropäern", die heute wieder bundesdeutsche Politiker in Herrenmenschenpose auftrumpfen lassen, haben ihren Ursprung in der von Beginn an politisch beabsichtigten Kategorisierung: "fleißige deutsche Arbeiter" und angeblich weniger strebsame Ausländer.

Ab 1973 wurde dann ein Anwerbestopp für Gastarbeiter erwirkt. Bis zu diesem Zeitpunkt waren rund fünf Millionen in die Bundesrepublik eingereist. Der Arbeitskräftemarkt galt als "gesättigt", und die Ölkrise ließ erste dunkle Wolken am bundesdeutschen Konjunkturhimmel aufziehen. Die Zeiten der "Vollbeschäftigung" schienen um Lichtjahre zurückzuliegen. Zehn Jahre später sollte dann das Rückkehrhilfegesetz einstigen Gastarbeitern, die man nun als Arbeitsmigranten bezeichnete, die Übersiedlung in ihre frühere Heimat schmackhaft machen. Das funktionierte ebensowenig wie das einstige Rotationsprinzip.

Trotz der oft demütigenden Arbeitsbedingungen zogen es viele vor, in der BRD zu bleiben, da ihnen in ihren Herkunftsländern Armut und Perspektivlosigkeit drohten. Hinzu kam, daß sie nach jahrelangem Aufenthalt in der BRD daheim inzwischen als Fremde galten und oftmals gemieden wurden. Schon Jahre zuvor war übrigens der Nachzug von Familienangehörigen gesetzlich geregelt worden, was auf Druck der Herkunftsländer geschah.

Nach dem Zusammenbruch der UdSSR und der sozialistischen Staaten Europas kamen noch einmal Hunderttausende Menschen aus den nun wieder in den Kapitalismus zurückgefallenen Regionen in die BRD. Und wenn man das tausendmal hinter Sonntagsreden zu verbergen trachtet: Auch die einstigen DDR-Bürger wurden ihrem Status nach zu extra billigen, aber hochqualifizierten Arbeitskräften.

Den Gastarbeitern von einst und deren Nachkommen wird unterstellt, sie hätten ihre Integration selbst nie gewollt. So schiebt man ihnen den Schwarzen Peter dafür zu, daß ihre Kinder und Enkel in der BRD schulisch und beruflich oft genug benachteiligt werden. Sie sind überdurchschnittlich arbeitslos, weniger qualifiziert und im höheren Bildungsbereich nur marginal vertreten. Ihre kulturellen Traditionen werden diffamiert, und ihrem religiösen Hintergrund begegnet die "politische Klasse" der BRD mit offener Feindschaft.

Gewisse Politiker, vor allem aus CDU/CSU, haben faschistische Organisationen wie die NPD in puncto Ausländerhetze inzwischen rechts überholt. Die Machwerke des SPD-Mitglieds Thilo Sarrazin wurden zu Bestsellern und zählen längst zum "normalen Repertoire".

Das Bild von der weltoffenen, toleranten Bundesrepublik, die Fremde aus purer Nächstenliebe aufnimmt, gehört zu den unzähligen Rauchschleiern der Propaganda des imperialistischen deutschen Staates. Eine Gesellschaft, die sich auf Konkurrenz und Gier gründet, schließt Gemeinschaft und Teilhabe aller aus. Ein den Völkern der Welt zugewandtes Deutschland kann es ohne Sozialismus nicht geben. Die Älteren im Osten mögen das aus eigener Erfahrung bezeugen.

Ulrich Guhl

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Kurt Singhuber gab den Ton an
Wie die metallurgische Basis der DDR geschaffen wurde

Am 23. April 2012 wäre Kurt Singhuber, der am 15. Oktober 2005 in Berlin verstarb, 80 Jahre alt geworden. Als Technischer Direktor des VEB Schwermaschinenbau Wildau, Werkdirektor des VEB Metallurgieprojektierung Berlin, Minister für Erzbergbau, Metallurgie und Kali sowie als Vorsitzender der Montanwissenschaftlichen Gesellschaft in der Kammer der Technik leistete er einen maßgeblichen Beitrag zur wirtschaftlichen Entwicklung der DDR, insbesondere ihres Maschinenbaus und der Metallurgie.

Als 1927 eine Massenbewegung in Wien gegen die zunehmende Faschisierung blutig unterdrückt wurde und der österreichische Bundespräsident zwei Jahre später uneingeschränkte Vollmachten erhielt, nahm die Familie Singhuber Zuflucht in der Sowjetunion. Der Vater und der ältere Stiefbruder arbeiteten dort in der Flugzeugindustrie und beteiligten sich von 1936 bis 1939 als Interbrigadisten am spanischen Freiheitskampf. Als die Singhubers Moskau verlassen mußten, da sie die Staatsbürgerschaft der UdSSR nicht annehmen wollten, wurden sie an der Grenze verhaftet, kamen in ein "Umerziehungslager" der Nazis und erhielten danach einen Wohnsitz in Halle zugewiesen.

1945 wurde Kurt Singhuber Mitglied eines Antifa-Jugendausschusses. Von 1949 bis 1951 war er FDJ-Vorsitzender in Wildau. Nach dem Abitur und der Maschinenschlosserlehre nahm an der Technischen Hochschule Dresden ein Studium für Flugzeugbau auf. Er war wißbegierig und zielstrebig, liebte den Box- und Hundesport, spielte leidenschaftlich Skat und erzählte gerne Anekdoten.

Nach einem Studium für metallurgische Ausrüstungen in Dnepropetrowsk (UdSSR) wurde er 1957 Leiter des Konstruktionsbüros und anschließend Technischer Direktor im VEB Schwermaschinenbau Wildau. Parallel dazu absolvierte er ein Fernstudium als Diplom-Wirtschaftler an der Hochschule für Ökonomie in Berlin-Karlshorst, unterrichtete als Dozent an der Technischen Hochschule Magdeburg auf dem Lehrgebiet Walzwerksausrüstungen, promovierte als außerplanmäßiger Aspirant zum Dr.-Ing. und absolvierte später ein Fernstudium in Gesellschaftswissenschaften an der Parteihochschule beim ZK der SED. Als Direktor des VEB Metallurgieprojektierung Berlin entwarf Kurt Singhuber mit seinem Leitungskollektiv die Pläne für das Eisenhüttenkombinat Ost, hydraulische Schrottscheren für die Metallaufbereitung Halle, die Drahtzieherei Brandenburg, die Block-Brammenstraße Brandenburg, den Elektronenstrahlmehrkammerofen in Freital, das Kaltwalz-Quartogerüst in Oranienburg, die Schutzgas- und Vakuumöfen in Lugau, die Warmband- und Rohrschweißanlagen in Finow, die Stiefelstraße mit Kaltumformung für das Werk in Riesa-Zeithain und die neue Möllerung der Maxhütte Unterwellenborn.

1966 zum Stellvertreter des Ministers für Erzbergbau, Metallurgie und Kali ernannt, arbeitete Kurt Singhuber erfolgreich mit den Generaldirektoren der Vereinigungen Volkseigener Betriebe (VVB) zusammen. Unter seiner Leitung wurden u. a. folgende Investvorhaben realisiert: Kaltwalzwerk Oranienburg, Profilieranlage Finow, Kaltwalzwerk Eisenhüttenstadt, Stranggießanlage Riesa, Behälter- und Apparatebau Thale, Rohrstoßbankanlage Riesa-Zeithain und Plasmaprimärschmelzanlage Freital. Damit wurde die Basis der volkseigenen DDR-Metallurgie weiter ausgebaut, und es wurden günstige Voraussetzungen für wertvolle Deviseneinnahmen geschaffen.

Kurt Singhuber gehörte von 1967 bis 1989 zunächst zu den jüngsten und schließlich zu den dienstältesten Ministern der DDR. Zielstrebig wurde unter seiner Leitung ein neuer Zweig der Hüttenindustrie aufgebaut, den man als Veredlungsmetallurgie bezeichnete. Ihm unterstanden neun Kombinate. Sie bildeten gewissermaßen das Rückgrat der sozialistischen Planwirtschaft.

Mehr als 35 volkswirtschaftlich bedeutsame Investitions- und "Kompensationsvorhaben" im Wertumfang von über 10 Mrd. Valutamark wurden im Rahmen dieses Programms realisiert. Sie waren insbesondere für den Maschinenbau und den Außenhandel der DDR bedeutsam. Von der Treuhand nach Wiederherstellung kapitalistischer Macht- und Eigentumsverhältnisse weit unter Wert verschleudert, warfen sie noch Jahrzehnte danach hohe Gewinne für jene Konzerne ab, die sie an sich gebracht hatten. Dazu zählte u. a. das Kaliwerk Zielitz in Sachsen-Anhalt. Es war 1973 in Betrieb gegangen und gehört auch heute noch zu den bedeutendsten und effektivsten Unternehmen dieses Industriezweigs in der BRD.

Weitere von Singhuber initiierte Investvorhaben mögen im folgenden kurz erwähnt sein: Das Elektrostahlwerk II mit Stranggießanlage in Hennigsdorf wurde von der DEMAG und der Firma Krupp als Kompensationvorhaben aufgebaut und mit einer modernen Kontifeinstahlstraße ergänzt. Es folgten ein Ringwalzwerk in Gröditz, eine Kunststoff- und Breitband-Profilieranlage in Eisenhüttenstadt und eine Shredderanlage in Wöhlsdorf Saalfeld. Mit dem Dresdner Institut Prof. Manfred von Ardennes wurde eine Aluminium-Bedampfungsanlage in Bad Salzungen errichtet. In Brandenburg wurde ein Elektrostahlwerk mit Stranggießanlage durch die Firma Danieli gebaut und durch eine Kontidrahtstraße ergänzt. Eine norwegische Firma organisierte die Magnesitgewinnung aus Kaliendlauge in Teutschenthal, die wiederum Voraussetzung für den Bau einer Magnesitsteinefabrik in Aken war. Als weitere Investitionsvorhaben sind hier das neu erbaute Grobblechwalzwerk 3200 in Ilsenburg, eine Pfannenmetallurgische Anlage in Freital, das LD-Konverter-Stahlwerk mit Stranggießanlagen in Eisenhüttenstadt, das Sundwig-Quartogerüst in Oranienburg, ein 20-Rollen-Walzgerüst in Bad Salzungen und die kombinierte Formstahl-Walzstraße in Unterwellenborn zu nennen.

Die Stahlproduktion in der DDR entwickelte sich von 1723 kt (1951) auf 3914 kt (1961) und 8133 kt (1989), woran Kurt Singhuber und seine Staatssekretäre Menzel, Oppermann, Ansorge und Blessing besonderen Anteil hatten. Er erwarb sich Verdienste in der Zusammenarbeit mit der Bergakademie Freiberg, beim Studentenaustausch mit den RGW-Staaten, in der Berufs- und Ingenieurausbildung sowie als Vorsitzender der Montanwissenschaftlichen Gesellschaft.

Er war Leiter der DDR-Delegation in der Ständigen Kommission für Schwarzmetallurgie des RGW und trug durch "Schmelzen der Freundschaft" zum engen Zusammenwirken deutscher und sowjetischer Metall-Gewerkschafter bei.

Kurt Singhuber war eine willensstarke, unbequeme Führungspersönlichkeit. Er wurde von vielen geschätzt, vergaß nie seine Wurzeln und hinterließ bleibende Spuren beim Aufbau einer eigenen metallurgischen Basis, die dazu beitrug, daß bisweilen vom "eigentlichen Wirtschaftswunder DDR" die Rede war.

Dr.-Ing. Helmut Kinne, Zepernick

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RF-Extra
War in den volkseigenen Betrieben immer alles paletti?
Über systembedingte Vorzüge und auf den Nägeln brennende Probleme

In einigen Ausgaben des RF habe ich über die Arbeits- und Lebensbedingungen in volkseigenen Betrieben (VEB) der DDR berichtet. Meine Aussagen waren überwiegend positiv und entsprachen der Realität. Sie beruhten auf persönlichen Erfahrungen, die ich als Staatlicher Leiter in verschiedenen VEB gesammelt habe. Auch in meiner späteren Tätigkeit an der Technischen Universität Dresden war ich um ein praxisbezogenes Wirken bemüht.

Bei der Arbeit mit den in volkseigenen Betrieben Beschäftigten gab es auch Fehler, Mängel und Defizite. Die Gründe dafür waren wie anderswo vielfältiger Natur. Oft lag ihnen ein Fehlverhalten der Leiter, doch nicht zuletzt auch das "Hineinregieren" übergeordneter Organe des Staates, der SED, der Gewerkschaften und von Dienststellen im Territorium zugrunde. Dagegen wehrten sich die Betriebsleitungen zwar, doch die "Oberen" hatten meist das letzte Wort. Solche Entscheidungen wirkten sich nicht selten auf den Produktionsprozeß, aber auch auf die Arbeits- und Lebensbedingungen der Betriebsangehörigen hemmend aus.

Zur Entlohnung der Meister

In produzierenden und anderen Unternehmen aller Eigentumsformen gibt es in der Leitungshierarchie eine Stufe, auf der die Meister angesiedelt sind. In der Regel nehmen sie die niedrigste Leiter- oder Managerebene ein. Niedrig heißt jedoch keineswegs unbedeutend. Im Gegenteil: Die Meister führen unmittelbar die jeweiligen Fertigungsbereiche, Musterwerkstätten und die inzwischen als Logistik bezeichneten Transporteinrichtungen. Sie sind für die Schaffung der materiellen Werte, also der verkaufsfähigen Erzeugnisse und andere Leistungen, direkt verantwortlich. Ihnen unterstanden in der DDR Arbeitsgruppen, Kollektive und Brigaden - heute in kapitalistischen Firmen oftmals "Teams" genannt - welche die eigentlichen Garanten des Betriebsergebnisses sind.

Auch in den VEB wurde diese Rolle der Meister durchaus so aufgefaßt. In bestimmten Abständen gab es den "Tag des Meisters", an dem gemeinsam mit der Betriebsleitung über Probleme in den jeweiligen Fertigungsbereichen beraten wurde. Ideell wußte man die Arbeit der Meister also zu würdigen. Staatliche Auszeichnungen wie der Ehrentitel "Verdienter Meister" wurden eigens für sie gestiftet. Materiell blieb die Leistung dieser Leiter allerdings ungenügend anerkannt.

Die Lohnhöhen wurden zentral vorgegeben. Für die Meister erfolgte das in Gehaltsgruppen, während man "ihre" Facharbeiter nach Lohngruppen vergütete. Dabei kam heraus, daß Facharbeiter der Lohngruppen 7 und 8 einen höheren Nettolohn als die Meister bezogen. Das blieb natürlich nicht ohne Auswirkungen: Qualifizierte Meister zogen nicht selten Facharbeiteraufgaben vor, gute Facharbeiter lehnten eine Qualifizierung zum Meister ab. Im Ergebnis waren manche dieser Leiter für ihre Aufgaben nicht hinreichend qualifiziert. In den 70er Jahren erfolgte zwar eine Erhöhung der Meisterbezüge, doch die geschilderten Diskrepanzen bestanden im großen und ganzen weiter fort.

Trotz der dargestellten Mißstände, auf die DDR-Arbeitswissenschaftler immer wieder hinwiesen, wobei sie entsprechende Korrekturvorschläge unterbreiteten, wurden den Meisterfunktionen ausübenden Betriebsangehörigen ihre tariflich vereinbarten Gehälter stets gesichert. Das traf auch auf alle anderen Beschäftigenkategorien zu. Zieht man einen Vergleich zu kapitalistischen Unternehmen, dann ist das dort keineswegs immer so. In großen Firmen gelten meist Tarifverträge, die zwischen den Unternehmerverbänden und den Gewerkschaften ausgehandelt werden, was die Lohnhöhe in der Regel garantiert. Doch quantitativ gibt es in der BRD weit mehr Betriebe ohne Tarifverträge, in denen die Eigner über Lohnhöhen und andere Bedingungen selbst bestimmen. Wer sie nicht akzeptiert, bekommt eben keinen Job. Überdies gelten Mindestlöhne nur in wenigen Industriezweigen.

Zur Frage flexibler Arbeitszeiten

In den VEB herrschten feste Arbeitszeiten. Ihre Dauer wurde zentral vorgeschrieben. Deren betriebliche Gestaltung folgte überkommenen Verfahrensmustern. Es gab Ein-, Zwei- und Dreischichtsysteme. Lediglich bei in Teilzeit Arbeitenden wurde die tägliche Stundenzahl vereinbart. Doch Teilzeitarbeit war in der DDR nicht erwünscht. Dort, wo sie dennoch praktiziert wurde, hatten betriebliche Interessen Vorrang.

Die Arbeitszeitregelungen bedurften generell der Zustimmung durch die Betriebsgewerkschaftsleitung - die BGL. Die übergeordneten staatlichen und gewerkschaftlichen Leitungen forderten die strikte Anwendung der bestehenden Systeme und waren zu Änderungen generell nicht bereit. In den 70er Jahren begannen in der DDR Diskussionen über eine flexiblere Gestaltung der Arbeitszeiten. In einigen Betrieben und Hochschuleinrichtungen beschäftigte man sich mit der Ausarbeitung von Lösungsvarianten für die volkseigenen Unternehmen der DDR. So auch an unserer Technischen Universität Dresden. Das dabei zustande gekommene Grundmodell sah eine zusammenhängende Pflichtarbeitszeit vor, in der alle am Arbeitsplatz zu sein hatten. Die darüber hinausgehende Zeit - bei einem insgesamt achtstündigen Arbeitstag - sollte durch die Beschäftigten in Absprache mit den Betrieben selbst bestimmt werden. Dabei war man sich durchaus darüber im klaren, daß eine solche Grundlösung keineswegs überall anwendbar sein würde.

Die unterschiedlichen Arbeitsinhalte (Produktion, Logistik, Forschung und Entwicklung, Verwaltung usw.) sowie Schichtsysteme hätten mannigfache Einzellösungen erforderlich gemacht. Der Vorschlag, den u. a. ein von mir geleitetes Kollektiv unterbreitet hatte, stieß so auf Ablehnung.

Wenn man solche Regelungen einführen wolle, müßten sie für alle Werktätigen und vorrangig für die Produktionsarbeiter gelten, hieß es zur Begründung. Später erfuhren wir, daß diese Entscheidung hauptsächlich erfolgt war, weil man für im Schichtbetrieb Tätige keine realistische Möglichkeit zur Anwendung flexibler Zeitsysteme sah.

In der BRD gibt es sie inzwischen, allerdings vorwiegend für Angestellte. Man begegnet solchen Systemen und Lösungen in wissenschaftlichen Einrichtungen und Verwaltungsdienststellen. Hier hätte die DDR auch entsprechende Varianten anbieten können. Damals wanderten unsere Entwürfe in den Panzerschrank, später - nach dem Anschluß an die BRD - waren sie dann nur noch Makulatur.

Das "Abstellen" von Arbeitskräften

Das gesellschaftliche Arbeitsvermögen war in der DDR ungleich verteilt. In manchen Bereichen der Volkswirtschaft gab es zu viele, in anderen aber zu wenig Arbeitskräfte. Bei der zweiten Kategorie handelte es sich meist um solche Betriebe, in denen körperlich schwere Arbeiten zu verrichten waren, die als nicht besonders attraktiv galten. Das betraf z. B. die Müllabfuhr, die Stadtreinigung und die Getränkeindustrie. Da die Planung auch das Arbeitskräftereservoir betraf, hätte man eine Beseitigung solcher Diskrepanzen und eine Umlenkung von Potentialen erwarten dürfen. Dem war aber nicht so! Planungsorgane bei den Kommunalverwaltungen wählten den "einfacheren" Weg: Man beauftragte die einen, zeitweilig Arbeitskräfte für die anderen "abzustellen". Oder man teilte den betreffenden Betrieben lakonisch mit, sie sollten ihre Diskrepanzen selbst in den Griff bekommen. Oftmals beschränkte man sich auf Notlösungen.

Ein Beispiel: In der Stanzerei eines Thüringer Büromaschinenwerkes gelangten Industrieroboter (Einlegegeräte) zum Einsatz. Durch sie sollten manuelle Arbeitsprozesse mechanisiert werden. Von der Staatlichen Plankommission war festgelegt worden, daß bei der Installierung eines Industrieroboters jeweils zwei Beschäftigte für einen anderweitigen Einsatz freizustellen seien.

Das war hier der Fall: 20 Arbeitskräfte wurden verfügbar! Der Betrieb meldete die Zahl den kommunalen Planungsorganen und bat darum, die in Betracht kommenden Kollegen anderen Ortes einzusetzen. Die Verantwortlichen taten das aber nicht, sondern teilten dem Büromaschinenwerk lediglich mit, es möge doch selbst dafür sorgen. Da man die 20 "Überschüssigen" dort nicht mehr benötigte, sie aber auch niemand haben wollte, wurden sie am Ende in der Betriebsküche, bei der Hausreinigung und an anderen Stellen beschäftigt.

Das Paradoxe: Bald darauf erhielt der Betrieb die dringende Auflage, der Getränkeindustrie unbedingt Arbeitskräfte zuzuführen.

Obwohl die "Abstellung von Kollegen" viel Streit, Unmut und Verärgerung auslöste, ist zu betonen, daß den Werktätigen der DDR zumindest immer ein Arbeitsplatz garantiert wurde. Diese Praxis war zumindest humaner als der Verleih von Arbeitskräften, wie er bei kapitalistischen Firmen längst gang und gäbe ist. In der DDR galt, daß man nur Sachen verleihen könne, nicht aber Menschen. Heute wissen auch wir früheren DDR-Bürger, was unter "Personal-Leasing" zu verstehen ist. Es gibt sogar ein "Gesetz zur Regelung der gewerbsmäßigen Arbeitnehmerüberlassung". Schlimmer kann man auf der Menschenwürde wohl kaum herumtrampeln!

Bei der zeitweiligen "Abstellung" von Werktätigen zahlte der "delegierende" DDR-Betrieb den Lohn in der vereinbarten Höhe voll weiter, und zwar unabhängig davon, welche Arbeit der Betreffende an anderer Stelle auszuführen hatte. Bei einer ständigen Überleitung wurde die Dauer der vorangegangenen Betriebszugehörigkeit angerechnet. Auch andere durch langjährige Mitarbeit erworbene Vergünstigungen wurden meist ohne Abstriche vom Nachfolgebetrieb weiter gewährt.

Hickhack um Kündigungen

Es ist denkbar, daß manche Leser fragen, warum überzähligen Arbeitskräften nicht einfach gekündigt worden sei. In der DDR war das zwar theoretisch möglich, doch in der Praxis tat man alles, um eine Kündigung zu vermeiden. Die Gründe dafür lagen auf der Hand: Das Verfahren war langwierig und erreichte nur selten sein Ziel. Etliche Hürden mußten genommen werden. Die Regierung ließ sich offensichtlich von der Sorge leiten, damit könne das Prinzip der Vollbeschäftigung untergraben werden. Dieses aber war eine heilige Kuh!

Im Gesetz hieß es dazu: "Der Betrieb darf einen zeitlich begründeten Arbeitsvertrag nur kündigen, wenn es infolge der Produktion, der Struktur oder des Stellen- bzw. des Arbeitskräfteplanes des Betriebes notwendig ist. Die fristgemäße Kündigung durch den Betrieb setzt voraus, daß er dem Werktätigen einen Änderungsvertrag über die Aufnahme einer zumutbaren anderen Arbeit (im eigenen Betrieb) oder, soweit das nicht möglich ist, einen Überleitungsvertrag (in einen anderen Betrieb) angeboten und dieser das Angebot abgelehnt hat."

Mit einer solchen Verfahrensweise übernahmen die Betriebe gewissermaßen Aufgaben heutiger "Arbeitsagenturen", indem sie für den weiteren Einsatz der Werktätigen - auch in einem anderen Betrieb - voll verantwortlich gemacht wurden. Überdies mußte die Zustimmung der BGL eingeholt werden, die auch nicht leicht zu haben war. Kam es dennoch zu einer Kündigung, rief der Betroffene oftmals die Konfliktkommission an, die es in allen größeren volkseigenen und ihnen gleichgestellten Betrieben gab. Damit begann eine erneute Prüfung der Umstände. Das dauerte. Am Ende erhielt der Klagende nicht selten recht. Der Betrieb stand wieder am Anfang und hatte nichts erreicht.

Das angestrebte Ziel, solche Arbeitskräfte an anderer Stelle, wo man sie benötigte, einzusetzen, wurde verfehlt. Bei dem ganzen Hickhack ging es dann nur noch um die Kündigung als solche. Es mangelte an operativereren Möglichkeiten zur Auflösung von Arbeitsrechtsverhältnissen.

Die geschilderten Praktiken hatten - bei aller bürokratischen Handhabung - aber auch eine positive Seite: Sie bewahrten die Werktätigen vor der Arbeitslosigkeit. In der BRD gelten da ganz andere Maßstäbe.

Dort dominiert die sogenannte betriebsbedingte Kündigung. Sie darf erfolgen, wenn ein Unternehmen rationalisiert, neue Techniken und Technologien eingeführt werden, die Auftragslage kritisch ist oder eine Insolvenz droht. Dann werden "überzählige Leute" ohne Wenn und Aber auf die Straße gesetzt. Trotz Festlegung von Kündigungsfristen und -verboten sowie ungeachtet einer "Sozialauswahl" und der Existenz von "Sozialplänen" bleibt den kapitalistischen Firmen genügend Spielraum, Beschäftigte loszuwerden, woran auch eine Kündigungsschutzklage meist nichts ändert.

In Krisenzeiten versichern Firmen bisweilen, sie würden keine betriebsbedingten Kündigungen aussprechen. Arbeitsrechtlich betrachtet sind das meist leere Worte, die man jederzeit wieder zurücknehmen kann. Am präzisesten hat wohl ein ehemaliger bayerischer Ministerpräsident die Lage erfaßt, als er sagte: "Die Unternehmen entlassen die Arbeitskräfte und schütten sie der Politik wie Müll vor die Tür."

Prof. Dr. Erich Dreyer, Dresden

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Baltische Dramen
Über Rote, Weiße und Braune in Lettland, Estland und Litauen

Das Ende des Zarismus - gemeint ist die Periode nach der Abdankung des Zaren Nikolaus II. im Februar 1917 - entzog dem deutsch-baltischen Adel seinen Anspruch auf Legitimität. Die Petersburger Kerenski-Regierung bewies weder politische noch organisatorische Fähigkeiten und stand schon bald vor dem Zusammenbruch. Da Kerenski auf der Fortsetzung des Krieges gegen Deutschland beharrte, verlor er die Sympathien der Bevölkerung. Das Oberkommando ergriff die Gelegenheit, die Machtlücke im Baltikum aufzufüllen. Am 3. September 1917 fielen Riga sowie die estnischen Inseln Ösel, Mohn und Dagö.

Im Zuge der Oktoberrevolution wurden in Estland und Lettland Sowjetregierungen gebildet. Lenins Bolschewiki nahmen Verhandlungen mit dem Berliner Oberkommando auf.

Im Januar 1918 unterbreitete das deutsch-baltische Rittertum Estlands und Livlands der Sowjetregierung eine Unabhängigkeitserklärung. Sie stützte sich auf Privilegien, die ihm von Zar Peter I. im 18. Jahrhundert eingeräumt worden waren sowie auf Lenins Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts nichtrussischer Volksgruppen. Gleichzeitig verhandelten die Deutsch-Balten mit Berlin, um ein weiteres militärisches Vordringen zu bewirken, das die Interessen der Gutsbesitzer schützen sollte.

Anfang 1918 besetzten kaiserlich-deutsche Truppen die Städte Dorpat (Tartu), Reval (Tallinn) und Narva. Im April 1918 organisierte das deutsch-baltische Rittertum Versammlungen, an denen auch estnische und lettische Delegierte teilnahmen. Es sandte eine Bittschrift an Wilhelm II., der Schaffung einer baltischen Monarchie unter deutschem Protektorat zuzustimmen. Dieses "Vereinte baltische Herzogtum" hatte vor, dem Herzog von Mecklenburg die Krone anzubieten.

Anfang 1917 war es der bolschewistischen Fraktion der Sozialdemokraten in Estland und Lettland gelungen, die weitgehende Unterstützung der Kleinbauern, Landarbeiter und des neu entstehenden Industrieproletariats zu gewinnen. In den estnischen Bezirkswahlen erhielt sie zwischen 31 und 47 % der Stimmen, in Lettland zwischen 41 und 70 %. Es handelte sich dabei um Gebiete ohne deutsche Besatzung. Die Wahlergebnisse deuteten darauf hin, daß die Mehrheit der Bevölkerung für die Abschaffung des Großgrundbesitzes der baltisch-deutschen Adligen war und deren Chauvinismus ablehnte.

Als das diplomatische Vorgehen der Ritterschaft ruchbar wurde, stellte der estnische Revolutionäre Militärrat 567 führende Deutschbalten sowie mehrere Esten unter Arrest. Anschließend wurden sie nach Rußland deportiert, kehrten jedoch nach dem Abkommen von Brest-Litowsk wieder zurück.

Kurz zuvor hatten sich litauische Nationalisten unter Antanas Smetona mit der Forderung nach Selbständigkeit innerhalb der ethnisch bestimmten Grenzen an Berlin gewandt. Nachdem der Kaiser die Zusicherung politischer und militärischer Zusammenarbeit erhalten hatte, entsprach er am 23. März 1918 dem Antrag.

Deutschlands Kapitulation am 11. November 1918 veranlaßte die Sowjetregierung, schon zwei Tage später, das Abkommen von Brest-Litowsk für null und nichtig zu erklären und eine Militäroffensive zur Rückeroberung des Baltikums einzuleiten. Das militärische Vorgehen der 6. Roten Armee unter Oberst J. Vacietis - eines Offiziers lettischer Volkszugehörigkeit - erhielt die weitestgehende Unterstützung der Bevölkerung.

Die Ereignisse überschlugen sich nun. Am 22. November 1918 besetzte die Rote Armee Narva und marschierte auf Reval. Am 29. November rief Jaan Anvelt die Estnische Sowjetrepublik aus. Am 14. Dezember gab Peter Schtutschka die Gründung der Lettischen Sozialistischen Republik bekannt, die am 22. Dezember Lenins Anerkennung erhielt.

1919 nahmen die Kämpfe ihren Fortgang. Am 2. Januar eroberte die Rote Armee Riga. Nur vier Tage später fiel auch Vilnius. Am 17. Januar traf der britische Kreuzer "Caledon" mit drei Zerstörern im Hafen von Libau ein. Am 24. Februar erklärte Konstantin Paets Estlands Unabhängigkeit, während deutsche Truppen in Südlettland und gegen Riga vordrangen.

Die westlichen Alliierten und das deutsche Oberkommando waren über die Erfolge der Roten Armee gleichermaßen besorgt. Unter den Bedingungen des Waffenstillstands sah sich Deutschland gezwungen, seine Truppen vom Territorium des früheren russischen Imperiums zurückzuziehen - allerdings unter dem Vorbehalt, daß das nach Einschätzung der Alliierten mit den inneren Bedingungen in diesen Territorien zu vereinbaren sei. Ein gewisser Robert Jackson vertrat den Standpunkt, daß die deutsche Armee ihre Position im Baltikum als Garantie gegen Versuche der Bolschewiken, die Kontrolle zu erringen, halten müsse.

Die Unabhängigkeit der baltischen Staaten kam mit äußerer Hilfe in einer Zeit zustande, als das geschwächte Sowjetrußland zu Konzessionen gezwungen war. Doch weder bei den Moskauer noch bei den Berliner Generalstäblern gerieten die Lehren von 1918 bis 1920 in Vergessenheit. Das Baltikum blieb ein Machtvakuum.

Innenpolitisch waren die neu entstandenen Staatsgebilde denkbar unstabil. Die parlamentarischen Demokratien - an Weimar orientiert - erwiesen sich als praktisch unregierbar. Mit monotoner Regelmäßigkeit wechselten die Regierungen bis in die 30er Jahre alle zwölf Monate oder sogar häufiger. Zwischen 1919 und 1933 gab es in Estland insgesamt 18 Kabinette, mit einer durchschnittlichen Bestandsdauer von acht Monaten. Dann errichtete Premierminister Konstantin Paets eine Diktatur, die bis 1940 bestand. Die Letten erlebten zwischen 1919 und 1934 ebenfalls nicht weniger als 15 verschiedene Regierungen. Vom März 1934 bis zum Juli 1940 riß Karlis Ulmanis sowohl die Präsidentschaft als auch den Posten des Premiers an sich, nachdem er das Parlament aufgelöst und alle politischen Parteien - außer seiner eigenen Bauern-Union - verboten hatte. In Litauen zählte man zwischen 1918 und 1929 ebenfalls 12 einander folgende Exekutiven mit einer durchschnittlichen Amtszeit von etwa 11 Monaten. 1927 löste Präsident Antanas Smetona mit Hilfe seines Premiers Valdemaras und der Armee das Parlament auf. Er gab dem Land im Jahr darauf eine neue Verfassung, die ihm diktatorische Vollmachten einräumte.

Von baltischen Emigranten in westlichen Ländern vorgebrachte "Argumente", die ergriffenen Maßnahmen seien zur Unterdrückung "kommunistischer Umtriebe" unerläßlich gewesen, widersprechen der historischen Wahrheit.

In Estland waren im Jahr 1920 fünf Kommunisten ins Parlament gewählt worden. Bis 1923 hatte sich ihre Zahl verdoppelt. Doch in jenem Jahr wurde der kommunistische Kandidat Jaan Kreuks auf offener Straße durch Kopfschuß ermordet. 1922 war bereits der KP-Parlamentarier und Fraktionssprecher Victor Kingissepp verhaftet, wegen Hochverrats und Kontakten zur Komintern zum Tode verurteilt und exekutiert worden. 1924 nahm das Regime den Gewerkschaftsführer und Abgeordneten Jaan Tromp fest. Auch er wurde vor ein Militärgericht gestellt und hingerichtet.

Die physische Vernichtung der kommunistischen Führer erfolgte zu einer Zeit, als die KP in Tallinns Stadtparlament 36 von 100 Sitzen gewann, während deren Genossen in Tartu fast 25 % der Stimmen errangen. 1924 fanden zahlreiche Razzien auf KP-Mitglieder statt, bei denen etwa 200 linksengagierte Esten verhaftet wurden, die man dann zu langjährigen Freiheitsstrafen verurteilte. Einigen gelang die Flucht in die Sowjetunion.

Die Hinrichtung Jaan Tromps erfolgte noch vor dem Urteilsspruch. Sie löste eine kommunistische Erhebung in Tallinn aus. Kleine Arbeitertrupps besetzten strategische Punkte, so das Fernsprechzentrum, die Bahnstation und den Flugplatz. Nach Verhängung des Ausnahmezustandes fielen 140 Kommunisten in die Hände der faschistischen Polizei. 30 von ihnen wurden ohne Urteil erschossen.

In Lettland wurde die KP 1919 verboten. Doch das Jahr 1920 erlebte einen Wahlerfolg der Sozialistischen Partei, die 38,7 % der Stimmen für sich verbuchen konnte. Bis 1931 war ihr Anteil allerdings auf 19 % zurückgegangen. Politische Verfolgungen nach estnischem Muster waren dank des liberalen Premierministers Z. A. Meierovics - des späteren Präsidenten - verhindert worden. Der einstige jüdische Landarzt und erfahrene Wirtschaftler ließ solchen Terror nicht zu.

Ein Beispiel primitiver Hitler-Imitation lieferte demgegenüber Lettlands Präsident Karlis Ulmanis. Kurz nach 1933 ließ er sich als "Führer" (lettisch "vadonis") bezeichnen und umgab sich ständig mit einer kleinen Schar von an SS-Leute erinnernden Schutztrupplern. Wesentlich stärker war die paramilitärische "Donnerkreuz"-Organisation ("Perkonkrusts"), deren Angehörige sich in grauen Hemden und mit schwarzen Baretten zeigten, wobei sie den rechten Arm zum Nazi-Gruß erhoben.

Auch in Litauen entstand eine faschistische Organisation, die sich "Gelezinis Vilkas" ("Eiserne Wölfe") nannte. Präsident Smetona war deren Ehrenmitglied. Er ahmte Hitler ebenfalls nach und nannte sich "Führer der Nation" ("Tautos vada"). Die KP Litauens war bereits 1919 verboten worden, wobei zahlreiche Kader allerdings in die Sowjetunion zu entkommen vermochten.

Die estnische und lettische Sozialdemokratie war rechtsorientiert. Ultra-Nationalisten und faschistoide politische Parteien riefen zum Kampf gegen Kommunisten, Sozialisten und Juden auf. Die Mitglieder der zahlenmäßig schwachen lettischen Nationalsozialistischen Partei trugen braune Hemden und gaben die Losung aus: "Lettland den Letten!"

Charakteristisch war in allen drei baltischen Staaten das heftige Aufflammen des Antisemitismus. Nach Hitlers Überfall auf die Sowjetunion im Jahre 1941 nahmen die rassistischen Verfolgungen furchtbare Dimensionen an. Erwähnt seien hier nur die Konzentrationslager Harju und Tartu in Estland, Valmiermuiza, Bauska und Salaspils in Lettland sowie die Todeslager Paneriai und unweit von Kaunas in Litauen. Juden, Kommunisten, Russen, Ukrainer und Roma wurden dort in großer Zahl ermordet. Nur ein Beispiel: In Litauen blieben von den etwa 7 % jüdischen Einwohnern nur ganz wenige am Leben. Der KP-Sekretär der Stadt Vilnius, Juozas Vitas, selbst jüdischer Abkunft, wurde zu Tode gemartert. Nach Kriegsende ehrte man ihn postum als "Held der Sowjetunion".

Nach sowjetischen Angaben kamen während der Nazi-Besetzung des Baltikums nahezu 370.000 Angehörige verschiedener Nationalitäten ums Leben.

Nach dem Nichtangriffsvertrag zwischen Moskau und Berlin vom 1. September 1939 schloß die UdSSR separate Abkommen mit den baltischen Staaten. Sie betrafen den Zugang zu Seehäfen wie Liepaja, Ventspils und Riga. Litauen, dem die Sowjetunion ihre 1920 von den Pilsudski-Truppen besetzte und Polen angeschlossene historische Hauptstadt Vilnius wiedergab, räumte ihr nun Land- und Luftstützpunkte auf seinem Territorium ein.

Im Juni 1941 erfolgte dann der Überfall Nazi-Deutschlands auf die Sowjetunion, was eine völlig neue Lage schuf.

Der Ethno-Chauvinismus, der in den baltischen Staaten immer eine besondere Rolle spielte, hat nach dem Untergang der UdSSR und der Errichtung reaktionärer Regimes in Lettland, Estland und Litauen neue giftige Blüten getrieben. In Lettland, wo 1991 etwa 50 % der Bevölkerung Russen, Ukrainer, Belorussen, Kaukasier und Juden waren, wurden diese Minderheiten plötzlich zu "Fremden" erklärt, die erst einmal ihre Sprachkenntnisse nachzuweisen hätten, um überhaupt die neue Staatsangehörigkeit erwerben zu können.

Dabei spielte es keine Rolle, ob die Betreffenden dort geboren waren oder nicht, ob sie die lateinische Schrift beherrschten und ob sie mit lettischer Geschichte vertraut waren, wobei äußerst fragwürdige Ansprüche gestellt wurden. Man verbannte Russisch als Unterrichtssprache aus den Schulen und untersagte die Einfuhr von Schulbüchern in kyrillischer Schrift. Jelzins Moskau reagierte nicht auf Hilfsappelle. Auch die EU stellte sich taub und verzichtete darauf, ihre eigenen Richtlinien humanitärer Behandlung aller Einwohner durchzusetzen. Die neue lettische Regierung behauptete, ihr Land sei "seit 1945 von Russen unterwandert" worden. Diese "Neuankömmlinge" wären nicht länger erwünscht. Dabei wird verschwiegen, daß viele der russischsprachigen Bewohner dort geboren wurden und daß eine ganze Provinz Lettlands - Lettgallen, das an Belarus grenzt -, seit jeher von einer weißrussischen Bauernschaft besiedelt war.

Die bedingte Gewährung der Staatsbürgerschaft, Berufsverbote in verschiedenen Bereichen des Gesundheitswesens, der Rechtsprechung, des Beamtentums sowie die begrenzte Pensionsberechtigung für Veteranen des Großen Vaterländischen Krieges im Vergleich zu früheren Mitgliedern der nun gehätschelten lettischen SS - all das hat viel böses Blut geschaffen. Die Haßausbrüche machen nicht einmal vor den Grabstätten gefallener Kämpfer der Roten Armee halt, wie der Skandal um das sowjetische Kriegerdenkmal in Estland aller Welt gezeigt hat.

Dr. Vera Butler, Melbourne


Unsere in Australien lebende Autorin - Tochter eines Russen und einer Balten-Deutschen - stammt aus Riga. Sie stützt sich in ihrem Beitrag u. a. auf Georg von Rauchs 1977 erschienene "Geschichte der baltischen Staaten".


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- Im August 1940 rückten Verbände der Roten Armee in das Baltikum ein.
- Riga 2007: Angehörige des Traditionsverbandes der lettischen SS bei einer "Gedenkveranstaltung" für faschistische Mörder
- Riga 2010: Lettische NATO-Truppen üben den Häuserkampf

Ende RF-Extra

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Massenmord per Mausklick
Obamas Cyber-Krieg folgt dem Motto: "Not our boys!"

Im derzeitigen US-Wahlkampf verkauft sich Barack Obama mal als sensibler Politiker, mal als "harter Hund". Friedennobelpreisträger und oberster Kriegsherr der allein verbliebenen Supermacht, verpflichtete sich der Präsident und abermalige Anwärter auf das höchste Amt der Vereinigten Staaten einst in seiner Osloer Dankesrede zum Kampf gegen "das Böse in der Welt". Es werde Zeiten geben, sagte er nach der Verleihung des Friedensnobelpreises, "in denen Nationen - allein oder gemeinsam - den Einsatz ihres Militärs nicht nur für nötig halten, sondern auch für moralisch".

Daran herrscht bei der NATO kein Mangel. Washington erhob - nicht anders als Berlin - mit seiner Politik den Anspruch, das "Gute" in der Welt zu verkörpern. Die Charta der Vereinten Nationen mit ihrem strikten Gewaltverbot betrachtet man indes als einen Fetzen Papier - völkerrechtswidrige Ressourcen- und Weltordnungskriege haben Vorrang.

John Brennan, "Antiterrorismus-Experte" im Beraterstab des Weißen Hauses, empfahl Obama, "um jeden Preis Schaden von US-Bürgern abzuwenden". Gemeint sind dabei vor allem jene Landeskinder, die in der Welt uniformiert für "andauernde Freiheit" und "Regimewechsel" in mißliebigen Staaten - also für das "Gute" - stehen. Um der Empfehlung Brennans folgen zu können, entdeckte der US-Präsident seine Vorliebe für digitale Angriffe - z. B. den Einsatz unbemannter Flugkörper. Pläne für eine entsprechende Kriegführung und den Ersteinsatz solcher Waffen spielten bereits unter Obamas Vorgänger George W. Bush eine herausragende Rolle.

Der Drohnenkrieg ohne Gefechtslärm und eigene Verluste besitzt für Washington inzwischen Priorität. Bisher hat Obama als oberster Entscheidungsbefugter über die "Todesliste" mehr als 1800 Einsätze mit solchen Mordmaschinen befohlen. Das Ganze läuft wie in einem Computerspiel ab. Die CIA sucht vor Ort "lohnende Objekte" und geeignete "Verdächtige" aus. Der Präsident entscheidet und befiehlt "Feuer frei". Zielplaner nehmen dann die Programmierung der Drohnen vor, und schließlich erfolgt - Tausende Kilometer entfernt in Afghanistan, Pakistan oder Jemen - die Hinrichtung ins Visier Genommener.

Bei ferngelenkten Operationen dieser Art erwischt es zwangsläufig als "Kollateralschäden" bezeichnete Nichtverdächtige - mal eine Hochzeitsgesellschaft, mal Menschenansammlungen während des Ramadan. Die Zahl dieser Toten spielt keine Rolle. Opferlisten werden ohnehin nicht geführt. General Tommy Franks, Oberkommandierender der US-Streitkräfte zum Zeitpunkt des Überfalls auf Afghanistan, befand: "Wir nehmen keine Leichenzählung vor." Warum auch? Immerhin wären da infolge der für "nötig" und "moralisch" erachteten US-Aggressionskriege gegen Irak und Afghanistan sowie bei den Attacken in Pakistan bisher rund 1,7 Millionen Tote "angefallen". Obamas Zielstellung, "Schaden von US-Bürgern abzuwenden", deckt solches Geschehen ab.

Die Zahl der aus den Kampfgebieten eintreffenden Zinksärge soll unbedingt verringert werden. 5300 GIs und über 400 "Mitarbeiter" privater "Sicherheitsfirmen" seien bisher gefallen, 36.000 verwundet worden, heißt es. Hinzu kommt, daß für einen im Auslandseinsatz "Umgekommenen" 25 weitere zu Hause von eigener Hand sterben. Jedes Jahr begehen in den USA rund 6500 ausgemusterte Soldaten Selbstmord, durchschnittlich 18 an einem Tag. Es handelt sich meist um durch ihre Teilnahme an den Mordfeldzügen Traumatisierte oder an posttraumatischen Belastungssyndromen Leidende.

Obama und das Pentagon erstreben fortan Kriege "ohne Pathos, ohne amerikanische Opfer, aber effizient", wie es ein Kommentator formulierte. Über 7000 Drohnen stehen den US-Streitkräften bereits zur Verfügung. Ihre Führung hat sich das Ziel gesetzt, daß bis 2015 ein Drittel aller bewaffneten Fahrzeuge und Flugkörper aus Robotern bestehen soll.

De Maizières Bundeswehr, die bekanntlich ihre Auslandseinsätze verstärken will, darf dabei den Anschluß nicht verpassen. Mehr als 300 Drohnen befinden sich bereits in ihrem Arsenal. Für den Afghanistan-Einsatz hat sie das im Bunde mit Israel entwickelte Drohnensystem "Heron" geleast. Zugleich werden eigene "Forschungsprogramme" vorangetrieben.

Die Computerisierung, Elektronisierung und Vernetzung militärischer Bereiche und Belange schreitet rasch voran. 1995 erließ man in den USA die Geheimdirektive "Information warfare". Darin wurden die Ziele der "Info-Kriegsführung", des sogenannten Cyber-Krieges, definiert: "Gegnerische Informationen und deren Funktionen" müßten "vermindert, manipuliert oder zerstört" werden. Schon ein Jahr später erarbeitete man erste Konzepte für mögliche militärische Einsätze.

Als Kampffeld bestimmte man alle per Internet erreichbaren Informationsstrukturen, als Kampfmittel werden Viren, Würmer, Trojaner und Schnüffelprogramme eingesetzt. Schon kurz nach Obamas Amtsantritt kam die US-Cyber-Kriegsführung erstmals zur Geltung. Der Präsident befahl den als "Operation Olympic Games" getarnten digitalen Erstschlag mit dem Virus "Stuxnet". Der richtete sich gegen Teherans Atomanlage Natans. Eine Manipulations-Software wurde installiert. Bei diesem Angriff auf die iranische Prozeßsteuerungstechnik infizierte man 30 000 Rechner und zerstörte Tausende Zentrifugen zur Urananreicherung. Parallel dazu fielen nacheinander fünf Atomwissenschaftler des attackierten Landes Attentaten zum Opfer.

Im Mai 2012 erfolgte im Rahmen des Cyber-Krieges ein weiterer Schlag. Mit dem Virus "Fame" wurde Irans ölverarbeitende Industrie schwer getroffen. Er löschte die Daten auf Hunderten Computern. Es wird angenommen, daß "Stuxnet" wie "Fame" unter direkter US-Beteiligung in Israel produziert worden sind.

Inzwischen beteiligt sich auch die Bundeswehr am Cyber-Wettrüsten, wobei die Verwendung dieses Begriffs tunlichst vermieden wird. Angesichts des im Grundgesetz verankerten Verbots von Angriffskriegen verwenden die BRD-Akteure die Chiffre "Informationsoperation". In de Maizières Ministerium ist das Kommando Strategische Aufklärung mit seinen 6500 Mann für den Cyber-Krieg zuständig. Dessen Chef, Brigadegeneral Kriesel, schwärmt von der "Leere des Schlachtfeldes". An die Stelle von Panzern und Luftflotten träten fortan Präzisionswaffen: Marschflugkörper, Drohnen und Computer. Der "Schattenkrieg" werde die Soldaten im Felde ersetzen. Ein Mausklick - und schon ist der Feind hinüber! Ungeahnte Möglichkeiten der Zerstörung - die menschliche Vorstellungskraft übersteigend - tun sich auf. Es geht um die Lahmlegung lebenswichtiger Zentren und Funktionen der Gesellschaft, die Auslösung extrem destruktiver Prozesse, die Infragestellung menschlichen Daseins.

Die USA haben bereits Billionen Dollar für die "Modernisierung" ihrer Streitkräfte ausgegeben. Mit der Computerisierung und Elektronisierung von Kampfmitteln will das Pentagon künftiger Kriegsführung einen "humanen Anstrich" verleihen. Es werde weit weniger Opfer auf seiten der U.S. Army geben als je zuvor, suggeriert man zynisch dem eigenen Wahlvolk.

Wer auch immer künftig im Weißen Haus residieren wird - Amtsinhaber Obama oder dessen republikanischer Herausforderer -, das Motto des Cyber-Krieges "Not our boys!" bleibt Washingtons Wahlspruch.

Prof. Dr. Georg Grasnick

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Wahlbetrug in Lima
Perus "linker" Präsident Humala spielt mit gezinkten Karten

Im Juni 2011 wurde erstmals in der Geschichte Perus ein mit linken Konzepten aufwartender und durch die Volkskräfte unterstützter Präsident ans Ruder gebracht. 52 Prozent der an der Wahl Teilnehmenden trugen Ollanta Humala in das Amt des Präsidenten der Republik. In dem Andenland, das immer wieder Schauplatz rabiater rechter Exzesse und brutaler Repression gewesen ist, habe sich ein politischer Erdrutsch vollzogen, lautete damals der Tenor vieler Kommentare. Hinter den über Nacht zum Staatschef aufgestiegenen Favoriten eines breiten politischen Spektrums stellte sich nicht nur die gemäßigte Linke. Auch die kampferfahrene Peruanische KP sicherte dem Wahlsieger ihre volle Unterstützung zu.

Es bedurfte indes keines halben Jahres, um feststellen zu müssen, daß die Karten in Lima gar nicht neu gemischt worden waren. Schon im Dezember 2011 stand nämlich fest, daß der als Linker angetretene Humala in Wahrheit nur ein geschickterer Strohmann der die reichen Bodenschätze des südamerikanischen Bergbaulandes skrupellos plündernden multinationalen Konzerne und der alten "Eliten" Perus sein dürfte. Nach dem Rücktritt von Premierminister Lerner, dessen Kabinett einer nationalen Union dem Wahlresultat Rechnung getragen hatte, berief Humala mit …scar Valdés einen aus dem Militär hervorgegangenen Politiker ganz anderer Farbe zum neuen Regierungschef. Dieser schlug sofort scharfe Töne gegenüber der nun wieder Aufwind erhaltenden sozialen Protestbewegung an.

Während Perus politische Rechte, deren Kandidatin Keiko Fujimori - eine Tochter des berüchtigten peruanischen Ex-Diktators japanischer Abkunft - an den Wahlurnen erfolglos geblieben war, der Ernennung des neuen Premiers Beifall zollte, schrillten bei der Linken die Alarmglocken. Humala hatte nämlich die "Umbesetzungen" im Kabinett dazu genutzt, sämtliche fortschrittlichen Minister auszubooten und sie durch Gewährsleute der einheimischen Großbourgeoisie und der ausländischen Minenbosse zu ersetzen.

Welchen Kräften sich dieser Präsident tatsächlich verpflichtet fühlt, offenbarten die erbitterten Auseinandersetzungen um das Bergbauprojekt Conga. Im Oktober 2010 hatte Humalas Vorgänger, der sich als Sozialdemokrat ausgebende Rechtspolitiker Alan Garcia dem US-Konzern Newmont Mining die uneingeschränkten Ausbeutungsrechte eines riesigen Goldvorkommens in den peruanischen Anden erteilt. Das stieß sofort auf heftigen Widerstand der von den Linkskräften unterstützten äußerst armen, von bescheidener Landwirtschaft lebenden Bevölkerung der betroffenen Region. Die Andenbauern befürchteten vor allem eine drastische Verringerung ihrer ohnehin begrenzten Wasservorräte, da der Minenausbau im Rahmen des Projekts Conga u. a. auch die Trockenlegung von vier Seen zur Folge haben wird.

Trotz des heftigen Widerstandes der Einheimischen wurden die Arbeiten im Rahmen von Conga Mitte Juli 2011 nach grünem Licht aus Lima in Angriff genommen. Seitdem verschärft sich der Konflikt ständig. Unter der Losung "Conga kommt nicht durch!" traten Tausende Bewohner der nordperuanischen Region Cajamarca und benachbarter Bezirke am 31. Mai in einen unbefristeten Generalstreik. Die Protestmärsche und Demonstrationen, gegen die von der Regierung eiligst zusammengezogene Polizeikräfte mit äußerster Härte vorgingen, reißen seitdem nicht ab.

Unter Ignorierung der Tatsache, daß Ollanta Humala nur dank des überwiegenden Linksvotums der Andenbewohner in sein hohes Amt gelangen konnte, hat der Präsident seine Wahlversprechen in den Wind geschlagen - darunter auch die Zusage, er werde als gewählter Staatschef auf eine gerechtere Verteilung der aus den Minen erzielten Einnahmen drängen und für verstärkten Schutz der natürlichen Umwelt sorgen. An die von ihm angekündigte "Große Transformation Perus" kann sich der Wendehals im Limaer Palast ebensowenig erinnern.

Das Projekt Conga, das ab 2014 der größten Goldmine in ganz Lateinamerika den Weg freimachen soll, sieht ausländische Investitionen in Höhe von 4,8 Milliarden Dollar vor. Während Conga aus der Sicht der Herrschenden für das ökonomische Wachstum Perus unverzichtbar ist, stößt es bei 78 Prozent der Bevölkerung auf entschiedene Ablehnung. Dabei können sich die Leute von Cajamarca auf ihren Gouverneur Gregorio Santos fest verlassen. Er gehört zu den Führern der Peruanischen Kommunistischen Partei, die einst Ollanta Humala dabei geholfen hatte, aus der Abstimmung als Sieger hervorzugehen.

Positiv zu berichten ist, daß sich am 21. Mai in Peru die Bewegung für Soziale Bekräftigung (MAS) als neue linke Wahlfront formiert hat. Zu ihr gehören auch die PKP und Gruppen wie Patria Roja - Rotes Vaterland. Inzwischen ist Ollanta Humala vor dem Druck der Anti-Bergbau-Proteste zurückgewichen. Ende Juli zog er …skar Valdés als Premier aus dem Verkehr, da auf dessen Konto mehrere nur Wochen zuvor getötete Demonstranten gekommen waren. Neuer Regierungschef wurde der bisherige Justizminister Juan Jiménez, der seine Mannschaft der peruanischen Öffentlichkeit als "Kabinett des Dialogs" vorgestellt hat.

RF, gestützt auf "Solidaire", Brüssel


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

Am 31. Mai begann in der Region Cajamarca ein unbefristeter Generalstreik.

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Zu Hintergründen des Massakers in Syrien
Wer sabotierte den Friedensplan von Kofi Annan?

Nach Libyen ist auch Syrien zum Schauplatz eines verheerenden Bürgerkrieges geworden. Seit Beginn der von imperialistischen Mächten und reaktionären Regimes der Golfregion massiv untersetzten Eskalation der Gewalt sind in dem arabischen Schlüsselland Ströme von Blut geflossen. Die Wegbereiter eines angeblich freien Syriens gießen unablässig weiteres Öl ins Feuer. Eine positive nichtmilitärische Lösung des Konflikts ist nicht in Sicht. Das syrische Volk und sein unabhängiger Nationalstaat sind dabei die großen Verlierer.

Angesichts der verwirrenden Vielzahl einander widersprechender Informationen und lancierter Fehlinformationen wollen wir verschiedene Aspekte des vor allem von außen weiter zugespitzten Konflikts, dem - wie stets - auch innenpolitische Ursachen zugrunde liegen, einer nüchternen Prüfung unterziehen.

Wie hat sich Präsident Assad - der Sohn und Amtsnachfolger eines großen, antiimperialistische Positionen verfechtenden syrischen Staatsmannes - verhalten? Hat er - nach dem Maß des ihm Möglichen - zur Entschärfung der Situation beigetragen oder nicht? Zweifellos wurde von Damaskus, das einer belagerten Festung gleicht, eine Reihe von Schritten zur Entspannung der Lage unternommen, obwohl Assad durch eine Serie folgenschwerer Anschläge der Weg zu einer innersyrischen Annäherung oder gar Aussöhnung systematisch verlegt werden sollte.

Eine besondere Zuspitzung erfuhr die Verleumdungskampagne gegen Syriens rechtmäßige Regierung nach den gespenstischen Ereignissen, die sich am 25. Mai in der Stadt Houla zutrugen. Dort waren bei einem Blutbad über 100 Menschen, darunter zahlreiche Kinder, ums Leben gekommen. Ohne jegliche Beweise verkündeten Journalisten und Politiker des "Westens" sofort, es handele sich um eine "neuerliche Untat des Assad-Regimes". BBC behauptete, ein Bombenangriff der syrischen Luftwaffe habe das Massaker verursacht. Andererseits war von "Minderjährigen mit durchschnittenen Kehlen" die Rede. Kurz darauf mußte sich BBC-Chefredakteur Jon Williams für die Falschmeldungen seines Senders entschuldigen.

Syriens Präsident hat dessenungeachtet einige auf eine Entspannung der Lage gerichtete Schritte unternommen. Hierzu zählte die Freilassung eines Teils der politischen Gefangenen, der Vorschlag eines nationalen Dialogs über die neue syrische Verfassung, welche beim Referendum Ende Februar mehrheitlich angenommen wurde, und die Abhaltung von Parlamentswahlen am 7. Mai. Hierbei gewährte Damaskus auch oppositionellen Kräften erstmals einen gewissen Spielraum.

Die vom Ausland gesteuerten und auf eine nicht zu unterschätzende Gefolgschaft im Lande selbst zählenden Gegner Assads haben indes alle Vorschläge des Präsidenten sofort und pauschal zurückgewiesen. Mit dem Standard-"Argument", die Reformen kämen "zu spät" und seien "zu begrenzt", verweigerten die Gegenspieler, zu denen inzwischen auch etliche einflußreiche Politiker und Militärs aus dem Assad-Lager übergelaufen sind, jegliche Zusammenarbeit mit der Regierung.

Die KP Syriens, die im Rahmen der Progressiven Nationalen Front mit der Baath-Partei des Präsidenten zusammenwirkt, kritisierte das Fehlen echter Volksbeteiligung bei der Ausarbeitung der neuen Verfassung und stellte fest, diese bedeute in sozialer und demokratischer Hinsicht keinen Fortschritt.

Welche Positionen haben China und Rußland in der Syrien-Frage bezogen? Beiden Staaten ging es in erster Linie darum, in der seinerzeitigen Behandlung der Libyen-Frage im UN-Sicherheitsrat begangene gravierende Fehler nicht zu wiederholen. Damit wurde ein NATO-Szenarium, wie es gegenüber Tripolis und Gaddafi ohne Widerstand im höchsten Entscheidungsgremium der Vereinten Nationen hatte durchgesetzt werden können, im Falle Syriens verhindert. Die Vertreter Moskaus und Beijings durchkreuzten die antisyrischen Vernichtungspläne durch ihr dreimaliges, zuletzt am 17. Juli eingelegtes Veto. Am 21. März war vom Sicherheitsrat der Sechs-Punkte-Friedensplan des früheren UN-Generalsekretärs Kofi Annan einstimmig bestätigt worden. Er führte am 12. April zu einem leider von beiden Seiten kaum beachteten Waffenstillstand. Auch Monate später war dieser auf Kompromissen beruhende Plan nicht umsetzbar. Annan trat deshalb zurück.

Während die imperialistischen Mächte und deren Medien dem "Assad-Regime" ohne Unterlaß die alleinige Schuld für die auch viele zivile Opfer fordernde Gewalt im Lande unterstellen, haben weder der "Westen" noch die von ihm angeheizte Opposition auch nur einen Finger zur Umsetzung des Annan-Planes gerührt. Im Gegenteil: Die NATO-Staaten - allen voran die USA und die Türkei - sowie Saudi-Arabien, Katar und andere Länder der Golf-Region setzen die Finanzierung, Bewaffnung und logistische "Betreuung" der gegen Damaskus operierenden "Freien syrischen Armee" unvermindert fort.

Wie verhält sich Rußland als traditioneller Verbündeter Syriens? Moskau geht es um eine dauerhafte politische Lösung des Konflikts. Der von russischer Seite geäußerte Gedanke, in eine Syrien-Konferenz auch Iran einzubeziehen, stieß bei den USA und Großbritannien sofort auf Ablehnung.

Während von russischer und chinesischer Seite konstruktive Lösungswege gesucht werden, verfochten NATO-Politiker wie Belgiens Außenminister Didier Reynders die Idee der Einrichtung "sicherer Zonen" und "humanitärer Korridore" in Syrien, welche durch militärische Kräfte geschützt werden müßten. "Experten" dachten dabei an bis zu 50.000 Soldaten und eine entsprechende Anzahl von Kampfflugzeugen. Hierbei geht es lediglich um sichere Aufmarschgebiete für bewaffnete Gegner Assads. Ähnliches trug sich 1993 auch in Bosnien zu.

Übrigens erzielen die USA im laufenden Jahr einen neuen Rekord beim Waffenexport. Von Lieferungen im wertmäßigen Volumen von 50 Milliarden Dollar ist die Rede. Dabei gehen Rüstungsgüter für 30 Milliarden Dollar in jenes Land, welches sich ganz besonders für Syriens "Freiheit" engagiert: nach Saudi-Arabien.

RF, gestützt auf "Solidaire", Brüssel

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Vom Enthüller zum Gehetzten
Washingtons Jagd auf WikiLeaks-Gründer Julian Assange

Washingtons imaginäre Most-Wanted List - vor mehr als 40 Jahren setzte das FBI Angela Davis auf seine Liste der zehn am meisten gesuchten Verbrecher - führt heute ein in Australien Geborener an: Julian Assange wurde binnen weniger Jahre vom legendären Enthüller zum Geächteten und Gehetzten.

Hier ist seine atemberaubende Geschichte: 2006 schufen Assange und einige andere beherzte junge Leute die Internet-Website WikiLeaks. Das Anliegen der politisch wohl kaum auf der Linken zu verortenden Schar war aller Ehren wert: Angesichts der offiziellen Verschleierungsstrategie der Medien des Kapitals wollten die Gründer des neuen Netzwerks geheimgehaltene Untaten den durch sie Betroffenen bekanntgeben. Dazu stellten die WikiLeaks-Macher ihnen durch "Whistleblower" - so nennt man die Enthüllungsfreunde - zugespielte Dokumente aus imperialistischen Quellen auf ihre Seiten. Das Lügengespinst zu durchleuchten und das wahre Geschehen ans Tageslicht zu bringen - darin bestand ihr Anliegen.

Solange sie sich darauf beschränkten, Details über Auftragsmorde in Kenia oder die Versenkung von Giftmüll vor Westafrikas Elfenbeinküste publik zu machen, störten sie die Kreise der eigentlich Mächtigen kaum. Als Assange und seine Freunde dann aber 2010 dazu übergingen, Hunderttausende als "Streng geheim" eingestufte Papiere des Pentagons und des U.S. State Department der Öffentlichkeit anzubieten, schrillten in Washington die Alarmglocken. Plötzlich erfuhr alle Welt, was sich tatsächlich im Folterlager Guantánamo abspielte oder wie eine Gruppe irakischer Zivilisten bei einer von den Tätern in US-Uniformen per Video festgehaltenen Killer-Attacke zu Tode kamen.

Von diesem Augenblick an war WikiLeaks-Chefredakteur Assange in den Augen der CIA, des FBI und des Weißen Hauses ein Super-Krimineller, für den es keine Gnade mehr geben durfte. Der Story-Held von gestern wurde buchstäblich über Nacht zum Freiwild. Ein für seinen rabiaten Anti-Islamismus bekannter republikanischer Kongreßabgeordneter namens Peter King, Vorsitzender des Ausschusses für Innere Sicherheit, bezeichnete Wiki-Leaks als "terroristische Vereinigung". Er forderte, Assange nach dem US-Spionagegesetz von 1917 unter Anklage zu stellen. Auch Diane Feinstein, demokratische Senatorin aus Kalifornien und Vorsitzende des Ausschusses für Spionageangelegenheiten (Intelligence Comittee) im US-Oberhaus, war in ihrer Wortwahl nicht zimperlich, als sie Assange nicht nur der Schädigung nationaler Interessen der USA bezichtigte, sondern darüber hinaus behauptete, WikiLeaks bedeute ein "Risiko für unschuldige Menschen".

Als ob sich die Vereinigten Staaten nicht in Korea und Vietnam, in Jugoslawien, Iran und Afghanistan - um nur einige Schauplätze ihres Wütens zu erwähnen - bei der Ausrottung Unschuldiger als äußerst risikofreudig erwiesen hätten!

"The Guardian", die Wochenzeitung der KP Australiens, warf in einem Beitrag die Frage auf, ob jemand wie Assange, der über seine Enthüllungsplattform schlimmste Untaten aufgedeckt habe, als Krimineller bezeichnet werden dürfe. Die Handlungen der US-Regierung seien vielmehr als Schritte eines Verbrechersyndikats im Sinne des Organized Crime zu bewerten, bemerkte Lawrence Davidson, Autor eines dort publizierten Grundsatzartikels. Assange und seine Website hätten nichts anderes getan, als die wirklichen Kriminellen anhand von ihnen selbst verfaßter Dokumente zu überführen und der Öffentlichkeit preiszugeben.

Natürlich fiel die Medienmeute im Dienste der auf solche Weise Demaskierten unisono über den Enthüller her. In der großbürgerlichen "New York Times" - dem sonst auf Seriosität getrimmten Leibblatt der liberalen US-Großbourgeoisie - wurde Assange vom Mitherausgeber Bill Keller als "stinkender, schmutziger, bombastischer Verkäufer unbewiesener Verschwörungstheorien" niedergemacht. Keller tat das ungeachtet der Tatsache, daß seine der Demokratischen Partei nahestehende Publikation immer wieder genüßlich auf einige jener 391.832 streng vertraulichen Pentagon-Dokumente zurückgegriffen hatte, die Wiki-Leaks zugespielt worden waren und deren Authentizität nicht in Abrede gestellt werden konnte.

Offensichtlich sei "investigativer Journalismus" - das Bemühen, den Dingen auf den Grund zu gehen - nach den Ereignissen des 11. September 2001 in den Vereinigten Staaten nur noch dann erlaubt, wenn sich irgendein Lokalpolitiker als besonders korrupt erwiesen habe, nicht aber bei große Fragen der Politik berührenden Themen, bemerkte Lawrence Davidson. Hinter deren Kulissen dürften die von den Medien abgerichteten und naiv gehaltenen Durchschnittsamerikaner indes keinen Blick werfen. Das betreffe besonders den durch Expräsident George W. Bush kreierten "Krieg gegen den Terrorismus". Wenn Assange auf das zutiefst kriminelle Verhalten derer, die sich als patentierte Verteidiger heiliger Anliegen der Vereinigten Staaten ausgäben, aufmerksam mache, werde das als "Untergrabung nationaler Interessen" angeprangert und verfolgt.

In welcher Lage befindet sich der Wiki-Leaks-Gründer heute?

Nachdem ein britisches Gericht den Einspruch Assanges gegen die Entscheidung, ihn an Schweden auszuliefern, abgelehnt hatte, mußte er in der Londoner Botschaft Ekuadors Zuflucht suchen. Die USA-Regierung hatte zuvor massiven Druck auf Großbritannien ausgeübt, ihn nach Stockholm abzuschieben, wo er wegen eines angeblich von ihm begangenen Sexualdelikts, das bisher keinen Anklagegenstand darstellt, verhört werden sollte. Washington geht offensichtlich davon aus, daß sich der "Fall" des unliebsamen Enthüllungsspezialisten mit den Schweden - so oder so - leichter als mit den störrischen Briten "regeln" ließe.

"Julian Assange ist ein Held auf der Flucht", schrieb "The Guardian". "Auch wenn die Regierung des fortschrittlichen ekuadorianischen Präsidenten Rafael Correa, auf die seitens der USA massiver Druck ausgeübt wird, seinem Asylantrag stattgeben und die Ausreise in das südamerikanische Land erfolgen sollte, dürfte er das auch weiterhin bleiben. Assange wird Leibwächter brauchen, die ihn vor einem Kidnapping oder Schlimmerem bewahren."

RF, gestützt auf "The Guardian", Sydney

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Traurige Nachricht für die Cuban Five
René Gonzalez verlor seinen Bruder und Anwalt Roberto

Am 22. Juni ist Roberto Gonzalez nach langer schwerer Krankheit in Havanna gestorben. Er war der einzige Bruder und einer der Anwälte von René Gonzalez, der zum Quintett der als Cuban Five bekanntgewordenen kubanischen Aufklärer gehört, die in den USA zu drakonischen Strafen verurteilt wurden und für deren Befreiung seitdem eine weltweite Solidaritätsbewegung in den Kampf zieht. Beide Brüder - René und Roberto - wurden in den USA geboren und übersiedelten schon als Kinder mit den Eltern nach Kuba, wo Fidel Castros bärtige Revolutionäre kurz zuvor ihren Einzug in Havanna hatten feiern können.

Etliche Jahre später "flüchtete" der Kommunist René Gonzalez mit einem Kleinflugzeug auf spektakuläre Weise aus Kuba nach Miami. Wie seinen vier Genossen gelang es auch ihm, in das hermetisch abgeschirmte Netzwerk der von dort aus operierenden antikubanischen Terroristen einzudringen. Fortan galt er als verschollen. Aus Sicherheitsgründen durften nicht einmal Renés nächste Angehörige etwas über die Hintergründe seines plötzlichen Verschwindens oder seinen Aufenthaltsort erfahren.

Nachdem die Cuban Five genügend Informationen zum Gegenstand ihrer Beobachtungen gesammelt und an die Zentrale weitergegeben hatten, übermittelte Havanna die Quintessenz des in Erfahrung Gebrachten an die US-Bundesuntersuchungsbehörde FBI, damit diese entsprechende Maßnahmen zur Vereitelung von den Exilkubanern geplanter Anschläge ergreifen konnte. Während das "Bureau" in dieser Hinsicht nichts unternahm, ging es statt dessen gegen jene vor, welche die Gewalttaten hatten verhindern wollen. Am 12. September 1998 wurden die Cuban Five in Florida festgenommen und später im Schauprozeß von Miami zu einer Freiheitsstrafe von insgesamt viermal lebenslänglich verurteilt, zu denen noch weitere 77 Jahre hinzukommen.

Eine hochqualifizierte und engagierte Equipe amerikanischer und kubanischer Rechtsanwälte, zu der auch Renés Bruder Roberto gehörte, übernahm die Verteidigung und dann die weitere juristische Betreuung der Gefangenen - vor allem auch in den nachfolgenden Revisionsverfahren. Die renommierte National Lawyers Guild - der älteste und mitgliederstärkste Juristenbund der Vereinigten Staaten - bescheinigte den Verteidigern der Cuban Five eine exzellente professionelle Arbeit geleistet zu haben.

Während sich seine vier Mitkämpfer noch immer in verschiedenen US-Hochsicherheitsgefängnissen befinden, wurde René Gonzalez am 7. Oktober 2011 nach Verbüßung einer langen und ungerechtfertigten Strafe unter der Bedingung auf "freien Fuß" gesetzt, die USA in den nächsten drei Jahren nicht verlassen zu dürfen. Sein Zwangsaufenthalt in Miami aber birgt - angesichts des dort versammelten antikommunistischen Droh- und Terrorpotentials - trotz staatlicher Abschirmung ein hohes Risiko für Leib und Leben.

Im Februar 2012 erfuhr René, daß das Krebsleiden seines Bruders und Anwalts Roberto dramatisch fortgeschritten sei, so daß jederzeit mit dessen Ableben gerechnet werden müsse. In Übereinstimmung mit in den Vereinigten Staaten geltenden gesetzlichen Regeln für unter Auflagen Freigelassene stellte René beim zuständigen Gericht den Antrag, ihm einen Besuch des dem Tode Geweihten zu gestatten. Erst am 30. März entsprach der Richter seinem Ersuchen und bewilligte ihm einen 14tägigen Aufenthalt in Kuba. René, der sich strikt an die ihm auferlegten Bedingungen hielt und öffentliche Auftritte in seinem Heimatland vermied, bat die Kubaner in einem von der "Granma" nach seiner Rückkehr in die Vereinigten Staaten veröffentlichten Brief um ihr Verständnis und ließ sie wissen, was ihn - nicht zuletzt mit Blick auf seine weiterhin gefangengehaltenen vier Genossen - zu diesem enormen Maß an Selbstdisziplin und Verzicht bewogen hatte.

Bei dem zweiwöchigen Aufenthalt in der Heimat, die ihn wie die anderen vier Mitglieder des Quintetts bereits vor Jahren als "Held Kubas" dekoriert hatte, konnte René zum ersten Mal seit 13 Jahren seine Frau Olguita und die ganze Familie wiedersehen, vor allem aber von dem geliebten Bruder Abschied nehmen. Dessen Tod ist - besonders für die betagten Eltern, die überdies ihren zweiten Sohn nach der langen Haftzeit weiterhin in einer äußerst prekären Lebenssituation wissen - ein besonders schwerer Schlag.

Der Kampf für Freiheit und Recht der Cuban Five geht weiter und muß fortan noch mehr verstärkt werden. Olguita Gonzalez wird dazu am 22. September als Ehrengast der ManiFiesta - des bereits zu einer guten Tradition gewordenen Volksund Pressefestes der Partei der Arbeit Belgiens und ihrer mit jeder neuen Ausgabe eindrucksvolle Beweise internationalistischer Solidarität liefernden Zeitung "Solidaire" - alle fortschrittlichen Kräfte der Welt aufrufen.

RF, gestützt auf einen Beitrag von Katrien Demuynck in "Solidaire"

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Absturz bei Camarate
Räumten CIA-Agenten im Dezember 1980 zwei rechte, aber den USA gegenüber unbotmäßige Spitzenpolitiker Portugals aus dem Wege?

Am 26. März 2012 sorgte der aus Lissabons ehemaligen Afrika-Kolonien stammende Portugiese Fernando Farinha Sim„es - nach eigenen Angaben ein 1989 fallengelassener langjähriger Agent der CIA und anderer einschlägiger Dienste - für einigen Wirbel. Um endlich sein "Gewissen entlasten zu können" bekannte er sich in einem 15 Seiten umfassenden Dokument zur Komplizenschaft bei dem am 4. Dezember 1980 verübten Anschlag auf zwei zwar rechtsgerichtete, aber nicht in der Gunst der USA stehende Spitzenpolitiker Portugals: den seinerzeitigen Premier Francisco Sá Carneiro und dessen Verteidigungsminister Adelino Amaro da Costa. Deren Maschine stürzte aus zunächst ungeklärter Ursache bei Camarate ab.

Damals wurde von den mit der Sache befaßten Lissabonner Behörden - der Kriminalpolizei und der Generalstaatsanwaltschaft - die Version verbreitet, das Flugzeug sei aller Wahrscheinlichkeit nach von Otelos "Revolutionären Brigaden" - der pseudolinken PRP-BR - zum Absturz gebracht worden.

Der tief in das Verbrechen verstrickte und bereits zuvor durch verschiedene Instanzen - darunter ein parlamentarisches Gremium - vernommene Farinha nannte jetzt erstmals Täter wie Hintermänner beim Namen. Dabei bekannte er, Camarate sei nur eine von vielen Operationen gewesen, an denen er teilgenommen habe. 1974 sei er durch eine Geheimagentin mit BRD-Paß in Südafrika erstmals der CIA zugeführt worden. 1975 habe er dann zusammen mit anderen Agenten die Organisation CODECO "zur Verteidigung der westlichen Welt" gegründet. Durch den stellvertretenden Lissabonner CIA-Residenten Philip Snell sei er endgültig angeworben und bei der USA-Botschaft mit einem Monatsgehalt von rund 5000 Dollar eingestellt worden. Bis 1989 habe er für das Office of Special Operations der CIA gearbeitet, in dem der später aufgeflogene Oliver North führend tätig gewesen sei. Mit diesem habe er sich wiederholt getroffen. Bei verschiedenen Kursen in der Washingtoner CIA-Zentrale Langley und in Quantico sei er auf den Gebieten Information, Desinformation, Gegeninformation, Terrorismus, Antiterrorismus und Infiltration unterwiesen worden.

1975 habe er eine erste Begegnung mit dem gerade neu ernannten USA-Botschafter in Portugal, Frank Carlucci, gehabt, der unmittelbar nach seiner Lissabonner Tätigkeit 1982 stellvertretender CIA-Direktor wurde. In der Folgezeit habe sich zwischen ihm und dem Missionschef eine "enge Arbeitsbeziehung" ergeben. Von Carlucci, der unter den portugiesischen Politikern den "Sozialisten" Mario Soares favorisierte, sei er stets persönlich instruiert worden.

Zu Jahresbeginn 1980 habe ihn der Botschafter erstmals auf einen "Job" von besonderer Vorrangigkeit angesprochen und um Mitwirkung ersucht, ließ Farinha wissen. Portugals Verteidigungsminister Amaro da Costa würde in den USA nicht besonders geschätzt, da er bestimmten Waffenlieferungen, die über sein Land abgewickelt werden sollten, im Wege stünde. Eine "Ablösung normaler Art" sei nach den Wahlsiegen der Regierungsparteien PSD und CDS aber nicht denkbar. Nur ein Attentat stelle in dieser Situation die Alternative dar, habe der Missionschef angedeutet.

Bei einem intimen Abendessen in Carluccis Residenz sei dann offen die Rede davon gewesen, daß Amaro da Costa verschwinden müsse. Henry Kissinger und Oliver North hätten grünes Licht signalisiert. Es gehe um die Installierung einer Bombe im Flugzeug des Ministers. Für die unmittelbare Aktion ziehe man einen gewissen Lee Rodriguez von der prowestlichen moçambiquanischen Widerstandsorganisation RENAMO, die bereits Präsident Samora Machel ausgeschaltet habe, in Erwägung.

Fünf oder sechs Tage vor dem Attentatstermin seien dann mit Oliver North im Lissabonner Sheraton-Hotel noch einmal die Details durchgesprochen worden. Dabei habe Sá Carneiros persönlicher Sicherheitschef Penagui’o wissen lassen, daß der Premier ebenfalls an dem Flug teilnehmen werde. Mit Grabeskälte sei von dem Bodyguard erklärt worden, so könne man "zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen", zumal sich beide Politiker "in puncto Antiamerikanismus" ja nichts nähmen.

Als er Carlucci von dem Gespräch berichtet habe, bemerkte Farinha, sei er durch den "Diplomaten" beruhigt worden. Die Wahl Washingtons heiße nun einmal Mário Soares, nicht aber Sá Carneiro.

Am 3. oder 4. Dezember habe man dann die Bombe in der Maschine implantiert. Zwei CIA-Agenten hätten sie in einem Koffer zum Flugplatz gebracht und dem dort in Pilotenuniform erschienenen Lee Rodriguez übergeben, berichtete Farinha. Nur 15 Minuten später habe dieser in seinem Beisein den Airport bereits wieder verlassen.

In den 20-Uhr-Nachrichten jenes Tages meldete das portugiesische Staatsfernsehen RTP den Absturz der Regierungsmaschine, in der sich noch weitere Passagiere befunden hatten.

Wie sich inzwischen herausstellte, waren auch jene Terroristen, die 1975 die Botschaft Kubas, den Sitz der Freundschaftsgesellschaft Portugal - DDR und andere Objekte zur Zielscheibe ihrer Menschenopfer fordernden Anschläge machten, im Auftrag jener unterwegs, die nicht einmal davor zurückschreckten, ihnen unbequeme Politiker des eigenen Lagers aus dem Wege zu räumen.

RF,
gestützt auf ein am 26. März 2012 in Lissabon veröffentlichtes Papier von Fernando Farinha Sim„es

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Die Nelken des April sind nicht verdorrt

Portugals Kommunisten, die nach dem 25. April 1974 gemeinsam mit anderen Antifaschisten an der Spitze der kühn und weit vorgestoßenen Nelkenrevolution standen - der bisher größten Herausforderung des Kapitalismus in einem NATO-Land -, widersetzen sich dem von Merkel & Co angeführten Europa der Monopole mit Kampfentschlossenheit und Leidenschaft. Unter der Losung "Für einen neuen April mit der Kraft des Volkes! Weist den Aggressionspakt zurück!" stehen sie in den vordersten Reihen jener Portugiesen, die sich dem räuberischen Diktat aus Brüssel nicht zu beugen bereit sind

RF,
gestützt auf "Avante!", Lissabon

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Klaus Störtebeker - Pirat und Klassenkämpfer

[Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Der Beitrag wurde nicht in den Schattenblick übernommen.]

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Strittmatter. Strittmatter? Strittmatter!
Vom Recht eines Literaten auf Sinnsuche

In jedem Buch, auf dem der Name Strittmatter steht, ist auch ein Stück Lebenswirklichkeit von ihm drin. Das haben seine Leser immer an ihm geschätzt. Er hat sich ihnen mitgeteilt, ohne sich selbst und seine Lebensart zu überheben. Das wollte und konnte er auch gar nicht, denn er hat zwar aus seinem Leben erzählt, aber nicht sein Leben. Natürlich hat er Dichtung und Wahrheit verwoben, wie hätte er sonst so wunderbar fabulieren können. So haben wir Strittmatter bisher gelesen. Wir haben jedes seiner Bücher genossen, hatten Freude daran, gerieten mit ihm und uns auf diese Weise ins Gespräch und fanden uns am Ende der Lektüre ein Stückchen klüger und nicht selten auch freundlicher wieder. Das muß sich nach Meinung einiger Eiferer ändern. Sie empfehlen eine neue Lesart, die der westdeutsche Historiker und Militärexperte Ralph Klein mit "Mißtrauen. Mißtrauen? Mißtrauen!" beim Umgang mit Strittmatters Büchern beschreibt.

Grund für diese Warnung ist die Aktenlage, nach der die Polizeieinheit, in der Strittmatter während des Krieges gedient hat, 1943 der SS zugeordnet wurde. Weil er darüber nicht geredet und geschrieben hat, wird nun in sein Leben hineingeheimnist. "Es gibt (zwar) bisher keinen Beleg dafür, daß er an speziellen Aktionen teilgenommen hat", aber immerhin wurde die SS durch die Nürnberger Prozesse zur verbrecherischen Organisation erklärt, meint Klein und schafft damit eine Konstruktion, die seine "mißtrauische Lesart" rechtfertigen soll. Mir ist kein Ratschlag bekannt, ähnlich mit dem Werk von Walter Jens oder Günter Grass umzugehen, weil ihre Biographien nicht ohne schwarze Löcher sind.

Es gibt einen gewichtigen politisch-propagandistischen Grund für das zweierlei Maß. Strittmatter hat sich "zwei Diktaturen angedient", wird unterstellt und hat sich damit doppelt ins Unrecht gesetzt. Politik, Justiz, Medien, der Gauck-Behörde, Historikern und unduldsamen Bürgerrechtlern ist es gelungen, das faschistische Deutschland und die DDR als gleichrangige Regime zu entziffern, sie undifferenziert als zwei Diktaturen in die Geschichte zu stellen. Strittmatter, in dieses Geschichts(un)bild hineingeklittert, wird so zur Unperson, denn wer sich gleich in "zwei Diktaturen zum Handlanger" macht, verdient weder Ehrung noch Respekt, sondern nur Ausgrenzung und Distanz. Es ist schon erstaunlich, wer sich alles dazu bereit erklärt oder darauf reinfällt, in dieser rabenschwarzen, miesen Historienposse eine Rolle zu übernehmen. Mancher bäumt sich aber auch nur an Strittmatters Biographie auf, um die eigene unbedeutende ein wenig aufzupolstern und ins Gespräch zu bringen.

"Die Ausschußmitglieder der Spremberger Fraktion aus SPD, FDP und Pro Georgenberg/Slamen stimmten gegen eine Beteiligung der Stadt an der Strittmatter-Ehrung", hieß es da. Der Bürgermeister (CDU) lehnt die Schirmherrschaft zu einer Jubiläumsveranstaltung ab.

"Angesichts der umstrittenen Rolle Strittmatters in zwei Diktaturen ist es wichtig, sich mit ihm in seiner ganzen Widersprüchlichkeit auseinanderzusetzen", sagte auch Wöllert, Landtagsabgeordneter der Linkspartei.

Soviel politischer Gemein(un)sinn von rechts bis links ist selten und soviel kleinmütige Überheblichkeit gegenüber einem bedeutenden literarischen Werk und seinem Autor auch. Strittmatters Bücher wurden in mehr als vierzig Sprachen übersetzt, "nur nicht ins Westdeutsche", wie er einmal in seiner unvergleichlichen Sprachkunst sarkastisch anmerkte.

Trotz aller Einwände wird für manchen die bange Frage bleiben: Und wenn uns Strittmatter nun doch nicht die ganze Wahrheit gesagt hat? Wo steht denn, daß jemand, der aus seinem Leben erzählt, alles preisgeben muß? Ich erinnere mich an meinen Vater. Er hat nie von seinen Kriegserlebnissen erzählt und hat sich dazu auch nicht befragen lassen - aus Scham, aus Schuld, aus Angst oder weil er Traumata nicht aus seinem Kopf herauslassen wollte oder konnte. Wie ihm wird es Hunderttausenden ergangen sein.

Was wissen wir denn von jener Generation, in der es Kriegsverbrecher, Kriegshelfer, Kriegsfreiwillige, Kriegsmüde, aber auch Kriegsversehrte gab - auf ewig geschädigt an Körper oder Seele. Für sie gab es keine psychologische Betreuung, keine vorsichtige Wiedereingliederung in die zivile Gesellschaft. Sie gehörten der "verlorenen Generation" an, die entweder durch Rückzug auf sich selbst, durch Schweigen, vermutlich auch durch Verschweigen, einen Platz im Nachkriegsleben suchten oder wie der Beckmann von Wolfgang Borchert am Leben zugrunde gingen.

Seit vier Jahren arbeiten sich die Skandaleure an Strittmatters Biographie mit dem Ziel ab, ihn und sein Werk ins Unrecht setzen zu können - vergeblich. Sie sind auf ihrem Fund von 2008 sitzen geblieben. Hätten sie neues oder mehr, wäre die Meute längst bedient worden.

Ein einst angesehener DDR-Literaturwissenschaftler zeigte sich empört, als 2008 ein ehemaliger Kollege bislang unbekannte Fakten aus Strittmatters Leben öffentlich machte. Den muß der "Teufel geritten" haben, "skandalgeile Redaktionen" mit der "Kenntnis von des Schriftstellers Vergangenheit" zu bedienen, um "eine bedeutende Literatur endgültig zu entsorgen", erregte er sich.

Nur Monate später hatten die Vermutungen, Ahnungen und Befürchtungen der "skandalgeilen Redaktionen" auch ihn erreicht. Nun nennt er Strittmatter einen "doppelten Konvertiten", der eine "Kehrtwende vom engagierten Kommunisten zum entpolitisierten und entideologisierten Fatalisten" vollzogen habe. Zuletzt sei er davon ausgegangen, die Welt sei nicht veränderbar, und die Weisheit bestehe darin, sich nicht einzumischen. Dieser Kritiker muß Strittmatters letztes Buch "Vor der Verwandlung", das erst nach seinem Tod, von Eva vollendet, erschienen ist, nicht richtig gelesen oder verstanden haben.

Am Ende seines Lebens hat der Mensch doch ein Recht auf Selbstbefragung und kritischen Rückblick. Wer darf es ihm verübeln, daß er einiges anzweifelt, was er in seiner Sturm- und Drangzeit für zweifelsfrei gehalten hat? Da ist manches nicht in Erfüllung gegangen, was man für unverzichtbar hielt, und das schmerzt, quält und zermürbt.

Andere haben Strittmatters Abschiedsbuch gründlicher gelesen. Die "Frankfurter Rundschau" meinte: "Hier verarbeitet er die Beendigung des dritten 'Laden'-Teils und den Trubel zu seinem 80. Geburtstag. Anekdotisch erzählt er von Personen aus seiner Nachbarschaft, aber auch von den Schwierigkeiten des Altwerdens und seinen Selbstzweifeln als Autor. So verweben sich skurrile Geschichten, Reflexionen und ironische Zeitbetrachtungen, Poesie und Humor zum 'letzten Wort' eines großen Erzählers. Ein Abschied, wie er bewegender nicht sein kann."

Mit seiner neuen Lesart, die offenbar aus "Vorsicht, Vorsicht, Vorsicht" gespeist wird, entdeckt unser Kritiker in Strittmatters Werk noch ein anderes, bisher nicht entschlüsseltes Geheimnis. "Strittmatter hat sich mit Hilfe seiner Bücher eine Art Wunschbiographie zusammengezimmert", erklärt er. "Er wollte eigentlich als Wundertäter und Schelm durch die Welt ziehen, als kleiner Mann, politisch ungebunden, und das wurde ihm von vielen Leuten auch honoriert." Man weiß gar nicht, was man einem einst so gescheiten Mann darauf antworten soll. Strittmatter hat seine Bücher nie als biographisches Gesamtwerk verstanden und als Schelmengeschichten schon gar nicht. Er hat sein Leben zum Anlaß genommen, um Geschichte durch Geschichten zu erzählen und daß es dabei nicht immer ganz ernst zuging, hat weder ihm noch der Geschichte oder den Lesern geschadet. Er hat erzählt, wie ihm das Leben begegnet ist: spannend, leidenschaftlich und fordernd, aber auch mühsam, langweilig und komisch.

Strittmatter hat in einer Selbstbefragung einmal bekannt: "Ich glaube, der Sinn meines Lebens besteht darin, nach dem Sinn meines Lebens zu suchen."

Prof. Dr. Benno Pubanz, Güstrow

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Hans Rädes "Flair des Nordens"

Hans Rädes Bilder besitzen eine bemerkenswerte Eigenschaft: Sie fesseln. Menschen, die Meer, Schiffe und Häfen lieben, allemal. Sie spiegeln die Handschrift eines Künstlers, der das Malen von der Pieke auf gelernt und zu großer Meisterschaft gebracht hat. Ausgestattet mit einer gehörigen Portion Talent, an dessen Formung sein Vater großen Anteil hatte, bekam er die Möglichkeit, an der Kunstgewerbeschule sowie an der Hochschule für Grafik und Buchkunst zu studieren. Nach seiner Tätigkeit im Druckerei- und Verlagswesen begann er ab 1953 als Pressezeichner, Grafiker und Maler zu arbeiten. Er fertigte Buchillustrationen zu maritimer Literatur und gestaltete Titelblätter für Fachzeitschriften.

Zu Beginn seiner Tätigkeit als Freischaffender übernahm Hans Räde den Auftrag, das Kinderbuch "Bau eines Loggers" zu illustrieren. Dazu fuhr der aus dem Märkischen stammende Maler an die Küste und wäre am liebsten für immer dort geblieben. Das besondere Flair des Nordens, die See, Häfen und Schiffe übten eine den Künstler bis heute inspirierende Faszination aus. Vor allem aber waren es die Menschen dieses Landstrichs, mit deren Mentalität und Leben sich Hans Räde eng verbunden fühlt.

Er war nicht nur Beobachter am Rande, sondern stets dort zu finden, wo hart gearbeitet wurde, auf Hellingen, Arbeitsbühnen und Landungsbrücken. So entstand eine Chronik besonderer Art, mit der er das Werden eines ganzen Industriezweiges der DDR, den Werft- und Schiffsbau, in schier unendlicher Gestaltungs- und Darstellungsvielfalt festhielt.

Hans Rädes Arbeit gebietet vor allem eines: Achtung und Respekt vor jenen, die dieses Werk vollbracht haben. Oft sind sie - Spezialisten ihres Fachs - nur beim zweiten Hinschauen zu entdecken, und doch fehlen sie nie. Es sind die mit wenigen Strichen oder Farbtupfern hingeworfenen Figuren, die seinen Bildern ein lebendiges, ausdrucksstarkes und spannungsgeladenes Gesicht verleihen.

Allen, die sich mit dem Wirken des Malers näher vertraut machen wollen, sei das von Peter Rath und Günter Senf gestaltete Buch "Hans Räde - Maler und Seemann ehrenhalber" empfohlen. Hier lernt man nicht nur seine in allen Maltechniken - ob Kohlezeichnung, Tusche, Aquarell oder Öl - beeindruckende Kunstfertigkeit, sondern auch seine Sichten und Einsichten aus einem schon über sechs Jahrzehnte währenden künstlerischen Schaffen kennen. Und noch immer drängt es Hans Räde an die Leinwand. Für den inzwischen 90jährigen gibt es noch manches, was seiner Vollendung harrt.

Bruni Steiniger


Peter Rath/Günter Senf: Hans Räde - Maler und Seemann ehrenhalber. Sichten und Einsichten aus sechs Jahrzehnten künstlerischen Schaffens. 160 S.
Hanse Sail Verein, Warnowufer 65, 18057 Rostock

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Wer war der "Ziegelbrenner" wirklich?
Aus der spannenden Lebens-Chronik des Autors B. Traven

Wer kennt nicht die verfilmten Abenteuerromane "Der Schatz der Sierra Madre" und "Das Totenschiff"? Insgesamt erreichen die Werke des in die Literaturgeschichte eingegangenen Autors B. Traven über 30 Millionen Exemplare. In fast allen Sprachen der Welt sind sie erschienen. 1933 wurden sie von den Faschisten als "Schund- und Schmutzliteratur" aussortiert und vernichtet. Heute sind nur noch wenige Titel im Buchhandel erhältlich, doch das Internet bietet eine reiche Auswahl.

Um die Identität ihres sozialkritischen, besonders auch für die Rechte der Ureinwohner des amerikanischen Doppelkontinents kämpfenden Verfassers rankten sich Gerüchte aller Art. Bereits 1948 setzte das USA-Magazin "Life" eine damals beachtliche Prämie von 5000 Dollar für die Aufhellung dieses Geheimnisses aus.

Doch erst 1974 gelang einem BBC-Forscherteam ein erster Duchbruch: Otto Feige, der 1882 als Sohn eines Ziegeleihandwerkers in Swiebodzin geboren wurde, war von Kindheit an mit dem Feuer, das jene roten Steine brennt, aus welcher man eine neue Welt erbauen kann, vertraut. Wie man erfuhr, soll er von der preußischen Schule wegen "Majestätsbeleidigung" verwiesen worden sein.

Sehr viel später - eigentlich erst jetzt - war es möglich, weiterhin bestehende Lücken in Feiges Biographie zu schließen. Dazu leistet Jan-Christoph Hauschild vom Düsseldorfer Heinrich-Heine-Institut mit seinem faktenreichen 700-Seiten-Buch "B. Traven - Die unbekannten Jahre" einen wichtigen Beitrag. Er ermittelte, daß der gelernte Maschinenschlosser Otto Feige bis zu seinem Umzug nach München zwischen 1906 und 1915 in Gelsenkirchen-Schalke als Kultursekretär der Gewerkschaft Kunstabende veranstaltete und eine Theatergruppe leitete. Zugleich beteiligte er sich aktiv an Streikaktionen.

Von 1917 bis 1919 gab Feige die linksgerichtete Zeitschrift "Der Ziegelbrenner" heraus und engagierte sich in der Bayerischen Räterepublik, deren Roter Armee er bis zum Sieg der Konterrevolution im Mai 1919 angehörte. Durch ein Standgericht zum Tode verurteilt, konnte er entweichen und unter dem Namen Ret Marut im selben Jahr nach England gelangen.

Dort als vermeintlicher Spion inhaftiert, blieb er bis 1924 im Gefängnis. In den beiden folgenden Jahren fuhr Otto Feige zur See und tauchte dann mit einem USA-Paß auf den Namen Traven Torsvan im mexikanischen Tampico wieder auf. Infolge seiner schlimmen Erfahrungen traumatisiert und ständig auf Verschleierung seiner wahren Identität bedacht, fand er bei Mexikos Indigenen sowie unter als Desperados bezeichneten versprengten Weißen Zuflucht. Mit seinen eingangs erwähnten großen Romanen gelang ihm ab 1926 der Durchbruch zum erfolgreichen Autor.

In "Der Karren" (1930), "Die Rebellion der Gehenkten" (1930) und "Regierung" (1931) schildert B. Traven Erhebungen gegen Ausbeutung und Unterdrückung. Seine insgesamt pessimistische Sicht der sozialen Lage steht dabei im scharfen Kontrast zur genauen Erkenntnis der Wirkungsweise des Kapitalismus der Vereinigten Staaten, wie ihn seine literarischen Gestalten erleben. So vermittelt der 1929 erschienene Roman "Die Weiße Rose" eine der treffendsten Darstellungen des Wirkens der Konzerne am Beispiel des Präsidenten der "Condor Oil Co.", welche die Hazienda des Indianerstammes von Yacinto Yañez trickreich an sich reißt und dessen gesellschaftliche Existenzgrundlagen samt der Umwelt vernichtet. Dabei wird der Zusammenprall von postkolonialer Subsistenzwirtschaft und Monopolkapitalismus besonders drastisch geschildert.

Mag der 1969 gestorbene Schriftsteller, der nach 1919 von der "sofortigen und völligen Beseitigung der Kapitalherrschaft" zu Abgründen subjektivistisch-existentialistischer Resignation geriet, seitdem auch nur noch in literarischer Form gegen Mißstände gekämpft haben, so bekannte er sich doch in bestimmten Situationen eindeutig zum gesellschaftlichen Fortschritt. Das kam vor allem in seinem Aufsatz "Der 3. Weltkrieg" (1945) zum Ausdruck. Darin ergriff er unmißverständlich Partei für die Sowjetunion und das internationale Proletariat. Auch zur ökologischen Problematik und deren sozialer Bedingtheit durch den kapitalistischen Raubbau kann B. Traven nicht nur jungen Menschen von heute aufschlußreiche und zugleich treffend formulierte Erklärungen bieten. Hoffen wir also auf weitere Verbreitung und Neuauflagen seiner Werke!

Jobst-Heinrich Müller, Lüneburg

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Oma Annas fahrbarer Zeitungskiosk
Wie ein vergilbtes Foto seltsame Recherchen auslöste

Irgendwann, nachdem mein Vater - der Schriftsteller Herbert Horn - gestorben war, sortierte ich seinen umfangreichen Nachlaß und stieß dabei auf ein leider nicht mehr reproduzierbares Foto, das bestimmte Assoziationen in mir auslöste. Es zeigte seine Mutter Anna Stasinski vor einem fahrbaren Zeitungskiosk, wie sie damals in Mode waren. Mein Vater sprach stets sehr anerkennend von ihr und erwähnte des öfteren, daß sie, die selbst nicht lesen und schreiben konnte, vor den Werken in Siemensstadt bei Spandau Zeitungen verkauft habe. Doch wann wurde das Foto am Kiosk "geschossen"? Ich versuchte das herauszubekommen.

Rechts unten an ihrem Kiosk hing die "Illustrierte Zeitung" vom 23. Oktober 1927 mit einem markanten Titelbild. Auf ihm waren zwei Läufer festgehalten. "Dr. Otto Peltzer und Paavo Nurmi bei einem Übungslauf in Abo (Finnland)", lautete die Textzeile. Was aber geschah im Oktober 1927?

Großmutter war 56 Jahre alt; der erste Tonfilm lief ("Der Jazzsänger"); annähernd 90.000 mitteldeutsche Bergarbeiter streikten für Lohnerhöhung und Verkürzung der Arbeitszeit auf acht Stunden; in Hamburg fanden Wahlen zur Bürgerschaft statt, bei denen KPD und SPD zusammen 90 von 163 Sitzen eroberten, worauf Ernst Thälmann erfolglose Bemühungen um eine Koalition unternahm; vor Brasiliens Porto Seguro lief der italienische Luxusdampfer Principessa Mafalda auf einen Felsen und sank, 312 Menschen mit in die Tiefe ziehend; Günter Grass wurde geboren - und ein deutscher Mittelstreckenläufer namens Otto Peltzer trainierte mit seinem bereits weltbekannten Konkurrenten Paavo Nurmi. Pelzer - der Mann mit dem markanten Oberlippenbart - war 1926 die 800-Meter-Distanz in 1:51,6 Min. gelaufen und hatte mit seinem Weltrekord den legendären Finnen Nurmi übertrumpft. Im selben Jahr bewältigte er auch die 1500-Meter-Strecke in der Weltrekordzeit von 3:51,0 Min. Selbstverständlich sind diese Zeiten heute kein Maßstab mehr, doch damals versetzten sie die Welt in Staunen.

Otto Peltzer (1900-1970) besaß einen zwiespältigen Charakter; einerseits suchte er die Mitgliedschaft in Hitlers NSDAP und Himmlers SS, wobei der überdies die Nürnberger Rassengesetze befürwortete; andererseits hielten ihn die Nazis selbst mehrere Jahre im KZ Mauthausen gefangen, wo man ihn "Otto - den Seltsamen" nannte. Der Schriftsteller Walter Jens wählte diesen Beinamen als Titel für eine Betrachtung.

Nach dem 2. Weltkrieg bewarb sich Peltzer vergeblich um die Leitung der Kölner Sporthochschule. Man setzte ihm einen gewissen Dr. Carl Diem vor die Nase. Der wiederum war zwischen 1913 und 1933 Generalsekretär des Deutschen Reichsausschusses für Leibesübungen (DRA) gewesen. Wenn er auch nicht in die NSDAP eintrat, so war Diem doch ein williger Vollstrecker der Befehle des Systems. "Wie besonders von C. Diem, dem führenden Ideologen des DRA, propagiert, wurde mit eindeutig nationalistischer Konzeption der Kampfgedanke in der bürgerlichen Sportideologie betont", las man später in der Publikation des Leipziger VEB Bibliographisches Institut "Die bürgerlichen Parteien Deutschlands". Noch am 18. März 1945 rief Diem die Mitglieder der Hitlerjugend auf dem Berliner Reichssportfeld zum "finalen Opfergang für den Führer" auf. Diesen nazitreuen Sportführer ehrte man in der alten Bundesrepublik mit einem "Carl-Diem-Schild", das hauptsächlich in Bayern verliehen worden ist.

Die Stiftung einer "Otto-Peltzer-Medaille" hingegen fand keinen zu ehrenden Sportler. Zu welchen Recherchen mich ein vergilbtes Foto meiner Großmutter angeregt hat, ist schon recht seltsam.

Hans Horn


Unser am 10. April verstorbener langjähriger Autor sandte der RF-Redaktion diesen Beitrag nur Monate vor seinem Ableben zu.

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Archie und der Dresdner "Banker"

Archies Schwiegervater Alwin war vom Jahrgang 1903 und ein kleiner Ehrenmann, der nur 1,65 maß. Später wurde aus ihm ein kleiner Mitläufer der Nazis, überdies ein Schalterbeamter bei der Dresdner Bank. Er dachte damals, die "Braunen" könnten das Land aus dem Schlamassel herausziehen, in das es Krise, Chaos und der Versailler "Schandvertrag" geführt hatten. Er lebte ausschließlich für "seine" Bank, so daß ihm die Frau, eine echte Schönheit, davonlief und ihn mit dem kleinen Mädchen Rosemarie in Dresden sitzen ließ. Sie fand ihn vermutlich zu langweilig. Daraufhin brachte er seine Tochter zu Verwandten ins Zittauer Gebirge. Dort hatte sie es bei einem Opa, der gern in den Dorfkretscham ging, wohin er die Kleine im Leiterwägelchen öfter als er sollte mitnahm, und einem kommunistischen Onkel samt dessen frommer Frau einstweilen ganz gut. Um nicht Soldat zu werden, hatte sich der Onkel im Ersten Weltkrieg in den Fuß geschossen. In der Nazizeit blieb er unter Lebensgefahr weiter mit seinen Genossen in Kontakt. Onkel und Tante waren zwar weltanschaulich wie Feuer und Wasser, hielten aber trotzdem ein Leben lang wie Pech und Schwefel zusammen.

In dieser Dorf-Idylle mit ihren skurrilen Typen ließ es sich irgendwie besser leben als in Dresdens bürgerlichem Beamtenmief der 30er Jahre. Das sollte Rosemarie bald erfahren. Der verlassene Ehemann und Bankbeamte Alwin wurde im Bekanntenkreis mit einem ältlichen übriggebliebenen Fräulein aus Bayern verkuppelt, das ihm treu ergeben war. Sie nahm die Kleine als "Knochenbeilage" bei der Hochzeit mit in Kauf und behandelte sie fortan entsprechend. Aber alles in Samt und Seide. Nach Dresden zurückgeholt, mußte sie fortan im Eßzimmer unter dem Bild des "Führers" vornehme Manieren beim "Speisen" üben.

Sie überlebte dort den furchtbaren Angriff vom 13. Februar 1945, wurde mit der Stiefmutter ausgebombt. Alwin, den politisch kurzsichtigen Bankbeamten, hatte es von seinem Schalter über den schlimmen Umweg des Zweiten Weltkrieges in die sowjetische Kriegsgefangenschaft nach Aserbaidshan verschlagen. Durch Anpassung und Verläßlichkeit wurde er für die russische Lagerärztin als deren rechte Hand unentbehrlich.

Über seinen keineswegs freiwilligen Aufenthalt im Lager pflegte er nur zu sagen: "Die Einheimischen hatten auch nicht mehr zu essen als wir." Das war aus seinem Munde als Anerkennung zu betrachten. Nach seiner Rückkehr in die Elbestadt 1948 wollte Alwin unbedingt wieder zur Dresdner Bank zurück, aber die Behörden ließen ihn nicht. Berta, seine zweite Ehefrau, dirigierte ihn mit fester Hand zur Wismut ins Erzgebirge, wo damals mehr zu verdienen war als am Schalter. Außerdem gab es dort andere Vergünstigungen. Er wurde Bestarbeiter, Aktivist und Bauleiter, erhielt diverse Ehrungen und, nicht zu vergessen, Deputatschnaps, den Berta in Eierlikör verwandelte.

Als Alwin nach mehr als zehn Jahren einen zweiten Versuch startete, an den Bankschalter zurückzukehren, wies Zeichnung: Bernd Pohlenz (Eulenspiegel) man ihn erneut ab. Gegen seinen Willen wurde er als Bauleiter nach Wustermark geschickt, weit weg von Dresden, quasi in die Wüste. Dort quälte er sich bei der Arbeit, zumal er nicht mehr der Jüngste war und ihn das Rheuma plagte. Er bettelte regelrecht darum, in die Dresdner Bank zurückkehren zu dürfen. Nach abermaliger Abweisung begann er erstmals Fluchtgedanken zu hegen, obwohl er mit seiner Brigade gerade den ersten Platz im sozialistischen Wettbewerb errungen hatte. Alwin schüttete Archie nach reichlichem Schnapsgenuß ein einziges Mal sein Herz aus, obwohl er den "roten" Schwiegersohn sonst gar nicht mochte. Wiederum ging es um den geliebten Bankschalter. Er glaubte, sich in all den Jahren durch redliche Arbeit das Recht auf Wiedereinstellung erworben zu haben.

Dabei zerdrückte Alwin sogar ein Tränchen, was Archie, dem weitaus Jüngeren, damals recht peinlich war. Er konnte, selbst auf einem anderen Stern lebend, die Tragik seines alternden Schwiegervaters nicht begreifen. Der war 58, als er sich im Frühjahr 1961 nach Krefeld absetzte, wo man ihm die Möglichkeit bot, bei der Dresdner Bank wieder ganz von vorne anzufangen. Er wäre gewiß nie und nimmer aus Elbflorenz weggegangen, hätte man ihn dort nicht so schroff abgewiesen. Seine Krefelder "Karriere" währte jedoch nur vier Jahre. Dann starb er an Kehlkopfkrebs. Ein trauriger Ausgang der Geschichte. Sie läßt Archie über ein ernstes Problem nachdenken: Wie viele Alwins mag es wohl gegeben haben, die der DDR nicht den Rücken gekehrt hätten, wären sie bisweilen toleranter und unbürokratischer behandelt worden?

Aus heutiger Sicht kann Archie ein gewisses Mitleid mit Alwin nicht verdrängen, wenn er sich an seinen Schwiegervater erinnert. Die einstmals kleine Rosemarie aber wurde Archies Lebensgefährtin, brachte drei Kinder zur Welt, arbeitete 36 Jahre als Lehrerin in der DDR, erhielt dreimal die Pestalozzi-Medaille, bis sie am Ende wie unzählige andere Pädagogen "abgewickelt" wurde. Ohne ihr eine Abfindung zuzubilligen, jagte man sie quasi vom Schulhof.

Manfred Hocke

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Leserbriefe an RotFuchs

Afghanistan erweist sich für BRD-Bürger als ein Stiefel ohne Sohle. Einst hatte der unter Schröder zum "Verteidigungsminister" aufgestiegene frühere SPD-Fraktionsvorsitzende Peter Struck den Hindukusch zur "Verteidigungslinie" für die Sicherheit der BRD erklärt. Ein gutes Jahrzehnt später ist nach einem sieglosen Krieg der USA und der NATO nun vom stufenweisen Abzug der ISAF-Verbände die Rede, deren Bestand insgesamt 203.000 Soldaten und 157.000 Polizisten umfassen soll.
Nachdem die Intervention bereits jährlich 4,1 Mrd. Euro verschlungen hat, kommt auch der Rückzug der de facto geschlagenen Armeen die Steuerzahler in den Aggressorstaaten teuer zu stehen. Während sich die Niederlande und Kanada bereits 2010 und 2011 aus Afghanistan abgesetzt hatten und Belgien wie Frankreich 2012 und 2013 den Hindukusch verlassen wollen, trifft nun auch die Bundeswehr entsprechende Vorbereitungen. Nach Feststellungen des Deutschen Wirtschaftsinstituts sollen sich die Kosten des bundesdeutschen Kriegseinsatzes bis Oktober 2011 auf mehr als 17 Mrd. Euro belaufen haben. Die Bundesregierung gibt demgegenüber offiziell "nur" 5,5 Mrd. zu. Nach derzeitigen Schätzungen werden sich die Ausgaben der BRD für Afghanistan unter Berücksichtigung der noch bevorstehenden Kriegsführung bis zum Abzug der Bundeswehr aus ihrer "Verteidigungslinie" am Hindukusch sogar auf 35 Mrd. belaufen.

Dr. Ulrich Sommerfeld, Berlin


Harry Machals aus Rostock berichtete in der Mai-Ausgabe des RF von der Zäsur seines Lebens. Demgegenüber verlief meine Biographie ohne Umwege. In Ostpreußen geboren, wo es für meinen Vater keine Arbeitsmöglichkeit gab, wuchs ich im mecklenburgischen Lübtheen auf. Dort lebten Verwandte von uns. Mein Vater bezog mich früh in die politische Arbeit ein.
1925 fand in den USA der Prozeß gegen zwei Italiener statt, die wegen eines Verbrechens verurteilt und hingerichtet wurden, das sie nicht begangen hatten. Ein Genosse meines Vaters beschaffte damals einen Handwagen. Darauf wurde eine Gefängnisimitation aus Pappe gestellt, und wir vier Kinder winkten mit einem roten Tuch und riefen: "Freiheit für Sacco und Vanzetti!" Leider hatte der Kampf keinen Erfolg. 1928 zogen wir nach Hamburg. Dort stellte mein Vater unsere Familie dem Genossen Ernst Thälmann vor. Da ich für den KJVD noch zu jung war, teilte mich mein Vater einer Kindergruppe der "Roten Hilfe" zu. Wir machten für alte Frauen Besorgungen und trugen ihnen die Kohlen ins Haus.
Da einer meiner Söhne, der während eines Luftangriffs auf Hamburg zu früh geboren wurde, schwer körperbehindert war, setzte ich mich besonders für solche Menschen ein. Vor allem aber arbeitete ich in der KPD, die 1956 verboten wurde. Nach deren Gründung 1968 war ich in der DKP aktiv. Noch in diesem Jahr konnte man mich auf jeder Demonstration sehen, doch jetzt, mit fast 92, machen die alten Knochen nicht mehr so recht mit.

Elsa Schmidt, Hamburg


In jüngster Zeit habe ich als Bürger Bautzens, wo Ernst Thälmann bis zu seiner Ermordung in Buchenwald gefangengehalten wurde, oft darüber nachgedacht, welche Rolle Teddy in meiner eigenen politischen Entwicklung gespielt hat. In der 2. Klasse wurden wir - mein Bruder und ich - Mitglieder der Pionierorganisation. Damals besuchten wir eine Dorfschule im Kreis. Unser Schritt wurde von vielen Mitschülern nicht verstanden. Besonders im Religionsunterricht, an dem wir beide nicht teilnahmen, wurde aus Leibeskräften über uns hergezogen. Doch wir waren stolz auf die blauen Halstücher. Die Verleihung des Namens Ernst Thälmann an den Pionierverband habe ich selbst miterlebt. Ich wurde in den Gruppen- und später in den Freundschaftsrat der Schule gewählt. Damals reifte mein Entschluß, Lehrer und ehrenamtlicher Pionierleiter zu werden. Es war wohl ein symbolhafter Zufall, daß ich dann 1960 selbst an jener Bautzener Schule unterrichtete, die den Namen Ernst Thälmanns trug. 1967 wurde ich Kreisvorsitzender der Pionierorganisation "Ernst Thälmann" in Bautzen. Wie ich als Thälmann-Pionier einst Spenden für das 1990 in unserer Stadt von der Konterrevolution geschleifte Thälmann-Denkmal sammelte, setze ich mich heute dafür ein, daß wenigstens die kleine Gedenkstätte vor der Bautzener Haftanstalt erhalten bleibt.

Helge Tietze, Bautzen


Der Diplom-Landwirt und Rentner Gerhard Fischer entdeckte eine Lücke in der Geschichtsschreibung über den Kampf gegen Faschismus und Krieg. Er trug mehr als 630 Biographien von Widerstandskämpfern aus dem ländlichen Milieu zusammen. Unter den in der Ausstellung "Bauern im Widerstand gegen den Faschismus" Porträtierten befanden sich Heinrich Rau, Edwin Hoernle, Hans Warnke, Ernst Goldenbaum und Bernhardt Quandt.
Auch mein Vater, der KPD-Reichstagsabgeordnete und Spanienkämpfer Hermann Schultz, sowie meine Mutter Minna wurden dort gewürdigt. Man zeigte die Ausstellung bereits in mehreren Städten, darunter Berlin und Bonn. Bei ihrer Eröffnung im Fritz-Reuter-Museum von Stavenhagen und dann auch in den Schweriner Landtagsfraktionsräumen der Partei Die Linke war ich zugegen. Als Zeitzeuge der verhängnisvollsten Periode jüngerer deutscher Geschichte schilderte ich dort Episoden aus dem Kampf gegen den Hitlerfaschismus. Die Bemerkungen untersetzte ich mit meinen 2011 verfaßten "Biographischen Skizzen", die Tochter Sonja durch einen Bildband ergänzt hat.
Mir wurde bei dieser Gelegenheit noch einmal bewußt, wie notwendig es ist, mit Tagebüchern und authentischen Berichten Wissens- und Erfahrungslücken in der eigenen Familie zu schließen und die antifaschistische Stafette an die junge Generation weiterzugeben.
Jeder von uns Alten sollte die ihm noch verbliebene Zeit dazu nutzen. Ich freue mich, mit meinen fast 89 Jahren etwas gegen den immer heftiger aufkommenden Neofaschismus tun zu können.

Dr. Hermann Schuldt, Rostock


Wir danken Hartmut König für seine dem Andenken Frank Bochows gewidmete Rede und dem "RotFuchs" für deren Abdruck. Wir verbinden die Erinnerung an Frank vor allem mit einer gemeinsamen Reise zum Pressefest der portugiesischen KP-Zeitung "Avante!" im September 2004. Die Atmosphäre dort war begeisternd. Nie werden wir den gemeinsamen Gesang der Internationale vergessen, die von Tausenden und Abertausenden Teilnehmern der Abschlußkundgebung des dreitägigen Treffens auf der Quinta de Atalaia bei Seixal angestimmt wurde.

Ulla und Klaus Eichner, Lentzke


Wir "RotFüchse" aus Halle trauern um einen unserer bewährtesten und verläßlichsten Genossen. Kurz vor seinem 82. Geburtstag ist unser Mitstreiter Generalmajor a. D. Dr. Heinz Schmidt verstorben. Er war von 1971 bis zum Januar 1990 Leiter der Bezirksverwaltung Halle des MfS.
Nach der Befreiung vom Hitlerfaschismus führte ihn sein Weg über Antifa-Jugend und FDJ Ende 1949 in die Reihen der SED. Seit den 50er Jahren setzte er sich für den Schutz der sozialistischen Ordnung in der DDR ein. Der Bezirk Halle mit seinen Industriezentren, insbesondere der Chemie, lenkte von Beginn an die besondere "Aufmerksamkeit" imperialistischer Geheimdienste auf sich. Deren Anschläge und subversive Aktionen abzuwehren, erforderte von den Genossen unserer Sicherheitsorgane hohe Sachkenntnis und entschlossenes Handeln.
Auch nach der Konterrevolution hat sich Genosse Heinz Schmidt bei ISOR und beim "RotFuchs" gesellschaftlich eingebracht. Sein besonderes Anliegen war der Kampf gegen die Diskriminierung und Kriminalisierung seiner Genossen durch die "Siegerjustiz". Gegen Heinz Schmidt selbst liefen mehrere Ermittlungsverfahren, die alle eingestellt werden mußten.
Die RF-Regionalgruppe Halle wird ihrem verstorbenen Kampfgefährten ein ehrendes Andenken bewahren.

Major a. D. Klaus-Peter Breinig, Halle


Der Artikel Ulrich Guhls "Tragisches Ende" im Juli RF, erinnerte mich an die Jahre, in denen ich beim Rat des Kreises Bitterfeld die Abteilung für Innere Angelegenheiten geleitet habe. Mit der Materie vertraut, kann ich das von ihm Geschriebene nur bestätigen. Vor der Entlassung eines Strafgefangenen hatten wir im Verein mit Städten, Gemeinden und Betrieben sicherzustellen, daß der Betreffende einen zumutbaren Wohnraum zugewiesen bekam. Haftentlassene wurden nur ausgewählten Brigaden zugeteilt. Deren Aufgabe war es, das neue Mitglied so einzubeziehen, daß es möglichst nicht rückfällig und ein vollwertiger Mitstreiter seines Arbeitskollektivs wurde. Ich kann mich nicht erinnern, daß es außergewöhnliche Probleme gegeben hätte. Die Brigaden waren ehrgeizig, wollten ihren guten Ruf nicht verlieren und auch weiterhin ihren Produktionsverpflichtungen nachkommen. In nicht wenigen Brigadetagebüchern kann man dazu etwas erfahren. So wie bei uns in Bitterfeld war das in der ganzen Republik.

Brigitte Marx, Zörbig


Der erst seit einigen Monaten im Amt befindliche Bundespräsident Gauck gibt sich als Verfechter der "Freiheit", womit er wohl eher die Freiheit der Ausbeuter, Börsenmanager und Spekulanten als der Andersdenkenden meint. Erst spät wurde ihm offenbar die Idee nahegelegt, auch etwas mehr von "sozialer Gerechtigkeit" zu sprechen. Zu Gaucks von geradezu pathologischem Antikommunismus inspirierten Äußerungen gehört die Behauptung, er habe 56 Jahre unter Diktatoren gelebt. Ein allzu billiger Versuch, die Faschisten und deren antifaschistische Gegner auf eine Stufe zu stellen. Der "Freiheits-Prediger" hat sich zwar verbal auch gegen Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit gewandt, zugleich aber vieles verharmlost und dem Hetzer Sarrazin für dessen Thesen "Mut" attestiert.
Die Gauck-Birthler-Jahn-Behörde wurde zu einem Inquisitionsunternehmen mit rund 3000 Mitarbeitern aufgeblasen. Damit verfügt sie über zehnmal mehr Personal als die bundesdeutsche "Zentralstelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen" in Ludwigsburg. Übrigens lagert bei der einstigen Gauck-Behörde neben DDR-Akten auch eine größere Anzahl von Vorgängen zu Naziverbrechen. Es ist nicht bekannt, daß auf diese jemals zurückgegriffen worden wäre.

Walter Nitsche, Tönisvorst


Seit dem 18. März gibt es einen weiteren Grund, das Amt des Bundespräsidenten abzuschaffen. Nicht, daß es an Motiven dazu mangeln würde, zumal protokollarische Aufgaben ja von der Bundesregierung wahrgenommen werden könnten, während für die Prüfung der Vereinbarkeit legislativer Akte mit dem Grundgesetz das Bundesverfassungsgericht ohnehin zuständig ist. Einen nationalen "Grüß"-August mit dieser Kostenstelle benötigen wir nicht.
Doch alle Einwände blieben unberücksichtigt. Von einer breiten Phalanx kaum noch unterscheidbarer Parteien wurde ein Mann inthronisiert, den viele - mit der Springer-Presse an der Spitze - schon vor seiner Wahl dem breiten Publikum als "Demokratielehrer", "Bürgerrechtler" und "Präsidenten der Herzen" suggeriert hatten. Daß Gauck dieses Amt, das er vor allem der SPD, den Grünen und der FDP verdankt, sehr gefällt, leuchtet mir ein. Was allerdings SPD und Grüne geritten haben mag, ausgerechnet einen solchen Erzkonservativen aus einem faschistischen Elternhaus zu protegieren, bleibt deren Geheimnis. Gauck ist ein Mann der Vergangenheit, ein Apologet überkommener Ideologien. Wenn man ihn als "Bürger-Präsidenten" bezeichnet, dann höchstens im Sinne der Bourgeoisie, der Besitzenden, nicht aber der Staatsbürger.

Dipl.-Ing. Hermann Ziegenbalg, Riesa-Weida


Als Absolvent des Jahrgangs 1972 der Offiziershochschule "Rosa Luxemburg", Plauen, schäme ich mich, daß sich unter den bei uns ausgebildeten späteren Lehrkräften - wie Hans Linke berichtet - auch Leute befanden, die Absolventen des letzten Jahrgangs der inzwischen nach Suhl verlegten Anstalt dem Bundesgrenzschutz anboten. Doch wenn es Wendehälse selbst im Politbüro gab, warum sollten sie nicht auch unter ranghohen Militärs zu finden sein? Ich selbst bin stolz darauf, ein Diplom der OHS zu besitzen. Ich habe keinen neuen Fahneneid geleistet.

Herbert Hessmann, Saßnitz


Seit geraumer Zeit wird in linken Medien darüber diskutiert, man solle mehr an künftige Kämpfe denken und über sie schreiben. Sicher ist die Orientierung auf kommende Herausforderungen richtig, wobei es natürlich nach wie vor einer gründlichen Analyse der erlittenen Niederlage beim Aufbau einer ausbeutungsfreien Gesellschaft in Europa dringend bedarf. Wichtig erscheint mir, dabei stets von Marx, Engels und Lenin auszugehen. Die durch den Führer der Bolschewiki herausgearbeiteten Grundbedingungen einer erfolgreichen Revolution sollten konsequent beachtet werden. Eine ihrer wesentlichen Voraussetzungen ist die Verelendung der Massen. Um die objektiven Bedingungen auch subjektiv nutzen zu können, bedarf es unbedingt der Existenz einer revolutionären Vorhutpartei aus redlichen, keine Privilegien beanspruchenden Genossen. Nicht unterschätzen sollte man den Stellenwert hochgebildeter, politisch erfahrener und allein aus Überzeugung handelnder Führer ohne karrieristische Neigungen. Die Orientierung auf eine maßlos aufgeschwemmte "Massenpartei" hat uns kein Glück gebracht. Auch die Herausbildung einer Parteibürokratie, die unter der Devise "Die Partei hat immer recht" oftmals nur ihre eigene Meinung durchsetzte, zählt zu den Ursachen unserer Niederlage. Das führte u. a. dazu, daß sich nur etwa 15 % der SED-Mitglieder in der frühen PDS wiederfanden.

Dr.-Ing. Peter Tichauer, Berlin


Die ausgelaufene neunteilige Serie "Cornelias kleine große DDR" fand ich ganz stark. Ich möchte mich beim RF und Cornelia persönlich herzlich bedanken. Ihre Berichte haben sicher viele - darunter auch mich - dazu angeregt, über eigene Geschehnisse in jener wichtigen Zeit unseres Lebens tiefer nachzudenken.

Werner Voigt, Kromsdorf


"Denn Religion ist etwas Irrationales und damit der Gegensatz menschlicher Erkenntnis. Die aber weist den Weg zu Humanismus und Fortschritt", lauten die beiden letzten Sätze im Artikel Hans Dölzers (RF 173). Aber sollte man nicht doch etwas gründlicher überlegen und formulieren? Denn menschliche Erkenntnis allein muß nicht zwangsläufig den Weg zu Humanismus und Fortschritt weisen. Ich denke da an die Erfinder der Kernwaffe, die sicher einen hohen Grad an naturwissenschaftlicher Erkenntnis hatten, und trotzdem nichts taten, um die Atombombe von Hiroshima zu verhindern: hochgebildete Monster!
Auf der anderen Seite muß ich feststellen, daß der Autor offensichtlich alles Irrationale ablehnt. Das halte ich für eine Fehleinschätzung, die er überdenken sollte. Das menschliche Wesen besteht - muß man das extra sagen? - nicht nur aus Ratio, sondern ebenso aus Gefühl und Empfindung. Die Liebe zu einem Lebenspartner, die Freude an Musik, die Begeisterung für den Sport u. a. sind überwiegend nicht aus wissenschaftlicher Erkenntnis gespeist, sondern jenseits von Analyse und Berechnung angesiedelt. Es gab ja auch einmal eine Phase in der Pädagogik der DDR, in der man das Lesen von Märchen als "überholt" oder gar schädlich betrachtete. Das ist zum Glück auch in der von der atheistisch dominierten SED geprägten Erziehungswissenschaft überwunden worden.
Wer kennt nicht den schönen Band mit Grimms Märchen, illustriert von dem genialen Werner Klemke? Wir wissen heute ziemlich gut, daß zwischenmenschlich wertvolle Verhaltensweisen sehr wohl von Märchen und Legenden, von guten Geschichten und Erzählungen hervorgerufen und gefestigt werden. In der jungen DDR wurden Lieder von Aufbau und Freude am Schaffen des Neuen gesungen - alles irrationale Vorgänge. In der Niedergangsphase der DDR wurde sogar das Singen der Nationalhymne weggelassen. Wenn ein Atheist am Silvesterabend Beethovens Neunte hört und sich am Gesang von "Freude, schöner Götterfunken" ergötzt, hat das wenig mit rationaler Erkenntnis zu tun, sondern mehr mit dem Gefühl für Wichtiges, Unverzichtbares. Man könnte es auch Religiosität nennen ­...

Peter Franz, ev.-luth. Theologe, Weimar


Herzlichen Dank für die regelmäßige Zustellung des RF, der immer mit Spannung erwartet wird und auch in der montäglichen Hausversammlung den Nachbarn hilfreich zur Seite steht.
Trotz meines hohen Alters nehme ich auch heute noch - im Rahmen des Möglichen - am politischen Leben regen Anteil. Ich habe - wie mein Vater - an vielen Kampfabschnitten gestanden. Nur wenige Tage nach dem 17. Juni 1953, als der zum Gegner übergelaufene und heute von manchen "Linken" so geschätzte Egon Bahr die Mikrofone des RIAS dazu nutzte, Menschen in der DDR zum Aufstand gegen ihren Staat anzustacheln, wurde ich von allen fünf Parteien und den Massenorganisationen des Demokratischen Blocks zum Kreissekretär der Nationalen Front in Glauchau gewählt. In dieser Funktion habe ich dann 18 Jahre lang gearbeitet.

Manfred Wulf, Glauchau


Wie Pressemeldungen zu entnehmen war, hat sich der renommierte Schauspieler Götz George über den jetzt unter Jugendlichen vorherrschenden Jargon empört: "Unsere Jugendsprache ist obszön, unschön und amerikanisiert - sie zeigt, wie versaut und unappetitlich unsere Kultur geworden ist. Die Jugend hat sich völlig verändert. Vulgäre Ausdrücke sind an der Tagesordnung." Man möchte hinzufügen: Das aus dem amerikanischen Sprachgebrauch übernommene Wort "Hallo" hat mittlerweile alle anderen Begrüßungsvokabeln verdrängt.
In der 2011 vom GNN-Verlag herausgebrachten Anthologie "Lebendige DDR" habe ich wie im RF gegen das einheitliche "Hallo" polemisiert und daran erinnert, daß wir uns in DDR-Tagen mit "Freundschaft!" zu begrüßen pflegten.

Helmuth Hellge, Berlin


Seit Jahren lese ich den "RotFuchs". Für die vielen interessanten Artkel herzlichen Dank! In der letzten Ausgabe sah ich den Artikel "Akteur statt Zuschauer". Auf diesem Wege möchte ich herzliche Kampfesgrüße an den Genossen Kurt Loge senden. Von 1972 bis 1975 versah ich meinen Ehrendienst bei der 6. Grenzbrigade Küste, Gefechtsstand. Ich erinnere mich noch heute gern an diese Zeit. Der Redaktion des RF kann ich für die Herausgabe der Zeitschrift nur danken. Sie hilft ein wenig über den Alltagsstreß in diesem Staat hinwegzukommen.

Kurt Gutschmidt, Berlin


Immer wieder fühlt sich USA-Präsident Obama gemüßigt, Kuba zur Einhaltung der Menschenrechte zu ermahnen. Er hätte indes allen Grund, diese Forderung zunächst einmal im eigenen Land umzusetzen. In Kuba gibt es ohne Zweifel nicht wenige Unzulänglichkeiten und Defizite. Sie sind in hohem Maße auf das vor Jahrzehnten verhängte Embargo der USA zurückzuführen. Dessen Aufhebung hat die UN-Vollversammlung in bisher 20 Entschließungen gefordert. Washington geht eiskalt darüber hinweg. Während über 100 Staaten inzwischen die Verhängung der Todesstrafe gesetzlich verboten haben, wird sie in den USA immer wieder vollstreckt. Dabei kommt es nicht selten vor, daß nach der Hinrichtung, wie sich das einst bei Sacco und Vanzetti zeigte, ein Fehlurteil bekannt wird: Die Exekutierten haben die Tat gar nicht begangen. In anderen Fällen müssen Urteile aufgehoben werden, nachdem Gefangene ihr halbes Leben unschuldig in Haft verbringen mußten. Präsident Obama sollte, statt andere zur Einhaltung der Menschenrechte aufzufordern, lieber vor der eigenen Tür kehren.

Rolf Richter, Leipzig


Hier sind einige Fragen, die sich jeder selbst beantworten sollte: Existierte die DDR wirklich, oder war sie nur ein Hirngespinst ewig Gestriger? Diente die Produktion materieller Güter im Sozialismus der Profitmaximierung? Wer gehörte in der DDR zur Finanzoligarchie? Wie hoch war der Anteil der Millionäre und Milliardäre an der Gesamtbevölkerung der DDR? Welche Einrichtungen wurden geschaffen, um Obdachlosen wenigstens im Winter ein Dach über dem Kopf zu bieten? Gehörten die Bauern und Handwerker zu den Ärmsten der Bevölkerung?
Wie viele nazistische Organisationen gab es in der DDR? Bedurften Nazi-Aufmärsche einer staatlichen Genehmigung? Welche Art Feuerwerkskörper wurde zu DDR-Zeiten auf Fußballfelder geworfen? Wie viele Sozialarbeiter sorgten in den Polytechnischen und Erweiterten Oberschulen für Disziplin und Ordnung? Bestimmte der Geldbeutel der Eltern über die Zulassung der Kinder zum Studium? Woraus wurden die Stipendien der Studenten finanziert? In welchen Zeitabständen mußten diese das vom Staat erhaltene Geld zurückzahlen? Wie hoch war der Prozentsatz Jugendlicher, die nach dem Schulabschluß keine Lehrstelle erhielten, und wie viele Jugendliche waren insgesamt arbeitslos? Wie hoch war in der DDR die Praxisgebühr und die Zuzahlung in den Apotheken? Fühlte die Bevölkerung der DDR sich der Arbeit und dem Frieden verpflichtet? Hatte die Forderung "Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen!" ihre Berechtigung, oder handelte es sich dabei um reine Propaganda? Gab es in der DDR eine einzige Mutter, die Angst haben mußte, daß ihr Sohn in ferne Länder geschickt würde, um Söhne anderer Mütter zu töten, wobei er selbst Gefahr lief, getötet zu werden?

Gerda Huberty, Neundorf


Die Fußball-Europameisterschaft - das Riesenspektakel - liegt bereits um Monate zurück. Dennoch drängt es sich auf, einige Akte dieses Dramas zu beleuchten. Erster Akt: Ohne Zweifel hat Bundestrainer Löw eine gute Mannschaft formiert, die streckenweise begeisternden Fußball spielte. Solche jungen Leute wie Schirrle, Reus, Götze, auch Özil und der Ex-Rostocker Kroos haben sicher, bei guter Führung, noch eine große Perspektive.
Zweiter Akt: Das was uns in Medien geboten wurde, war - gelinde gesagt - eine Zumutung. "Wir sind die Größten, wir werden Europameister, den portugiesischen Stier haben wir erlegt, die Griechen wurden weggegriechelt, die Italiener weggenudelt." Deutsche Überheblichkeit pur - von den Politikern der BRD Tag für Tag vorgespielt - hat die Journalisten förmlich angestachelt. Es wurde höchste Zeit, daß es einen Dämpfer gab. Diese stinkende Überheblichkeit sollte abgelegt, und die Leistungen auch anderer Mannschaften sollten anerkannt werden.
Dritter Akt: War es Fußball mit Karneval oder Karneval mit Fußball? Die Kameraleute von ARD und ZDF hatten ihre reine Freude daran, uns die bemalten Gesichter, die blödsinnigsten Kopfbedeckungen und andere Entartungen unablässig frei Haus zu liefern.
Vierter Akt: Wenn einer der Millionäre beim Spiel mal hart genommen wurde, fiel er schreiend auf den Rasen, um schon nach 120 Sekunden voll wieder dazusein. Schauspieler oder Sportler?

Erhard Richter, Berlin


1976 begingen die Vereinigten Staaten ihren 200. Jahrestag. Sie veranstalteten einen fürchterlichen Rummel. Damals - bei den Olympischen Sommerspielen im kanadischen Montreal - wollten wir ihnen deshalb gerne die Suppe versalzen. Beim Einmarsch in das Stadion wirkte die DDR-Mannschaft recht klein. Manche Sportler reisten erst später an, andere, deren Wettkämpfe schon am nächsten Tag stattfinden sollten, hatten wir ohnehin gleich im olympischen Dorf gelassen. Sie sollten sich nicht beim Marsch durch das Stadion verausgaben. Das hielten alle Länder so. Als die Amerikaner kamen, füllten sie das Stadion mit ihren Achterreihen. Neben mir stand eine Sportfreundin und sagte scherzhaft: "Manfred, schau dir das an - und die wollen wir schlagen?" Damals habe ich ihr entgegnet: "Wir werden uns alle Mühe geben." Und das, womit wir selbst nicht gerechnet hatten, gelang. Die DDR nahm nach der UdSSR in der Länderwertung den zweiten Rang ein, während sich die Sportler aus den USA mit dem dritten Platz begnügen mußten. Sogar in der Leichtathletik büßten sie bei ihren Paradedisziplinen die Spitze ein.

Manfred Wozniak, Erfurt


Im August haben wir das "Olympische Wochenende" veranstaltet. Bei uns wurden etliche Turniere ausgetragen. Den Startschuß zur "kleinen Friedensfahrt" gab Täve Schur. Jeder Sieger seiner Klasse erhielt ein gelbes Trikot und eine Urkunde. Wir haben unsere "Hall of Fame" - die Ruhmeshalle der Arbeitsgruppe Sportlerehrung - feierlich an die Stadt Lichtenstein übergeben.
Sie besteht aus zehn bronzenen Ehrentafeln. Die erste wurde der SSV Fortschritt Lichtenstein gewidmet, welche 1951 entstand und eine sehr positive Entwicklung nahm. Die zweite Ehrentafel gilt der hiesigen Radsportmannschaft, die bereits gut ein Jahr nach Gründung der SSV an der ersten DDR-Rundfahrt mit Erfolg teilnahm. Die dritte gebührt der Radsportlegende Gustav Adolf Schur, der in Lichtenstein dreimal den "Großen Preis der Volkseigenen Betriebe" gewinnen konnte. Die sieben weiteren Tafeln gingen an verdiente Sportler mit Wurzeln in Lichtenstein, die zusammen 51 Mal Edelmetall bei Olympischen Spielen, Welt- und Europameisterschaften gewannen sowie 11 Weltrekorde aufstellten. Unsere "Stätte der Sportlerehrung" dürfte in der BRD und darüber hinaus wohl einmalig sein.

Gerhard Pfefferkorn, Lichtenstein


Da sangen einige Spieler der BRD-Fußballnationalmannschaft zur EURO 2012 die Hymne nicht mit. Ein Aufschrei ging durch die Reihen der Politiker und Offiziellen. Dies schleunigst zu ändern, unterbreitete man diverse Vorschläge. Doch administrative Festlegungen helfen da nur wenig. Man sollte lieber die Spieler befragen, warum sie nicht mitgesungen haben. Dabei würde sich vermutlich herausstellen, daß nationale Bindungen an ihre jeweiligen Herkunftsländer und Familien stärker sind als vertraglich eingegangene Verpflichtungen. Wer materieller Vorteile wegen seine Heimat verläßt, um in und für Deutschland Fußball zu spielen, hat noch lange keinen Grund, dort auch "anzukommen", wie das heute heißt.
Den Gesang der Hymne zu verweigern, erfordert Mut. Doch die jungen Leute aus Osteuropa oder auch mit dunklerer Hautfarbe wußten sich bei ihrer Abstinenz nicht allein. Gibt es z. B. jemanden von uns Alten, der dieses Lied - eingedenk seiner Geschichte - begeistert mitsingen könnte? Wir in der DDR mit antifaschistischer Erziehung Aufgewachsenen gehören jedenfalls nicht dazu.
In diesem Zusammenhang möchte ich an eine Anregung Wolfgang Harichs erinnern. Ihr folgend, sang der Konzertchor Berliner Pädagogen e. V. unter Leitung von Christoph Kleinschmidt auf einer Veranstaltung am 29. Mai 1994 im Berliner Ensemble den Text der Kinderhymne Bert Brechts "Anmut sparet nicht noch Mühe" auf die Haydn-Melodie der BRD-Hymne. Dafür, daß das metrisch möglich war, hatte schon 1950 der alte B. B. absichtsvoll gesorgt.

Horst Birkholz, Berlin


Ihr kennt doch den Slogan von der "heimatlosen Linken"! Der "RotFuchs" ist für uns zur politischen Heimat geworden. Darum warten wir auch immer sehnsüchtig auf das Erscheinen jeder neuen Ausgabe. Wir sind sehr betroffen über die teilweise unversöhnlichen Auseinandersetzungen in der Partei Die Linke. Gerade in einer Zeit, in der sich das kapitalistische System und sein sogenannter freier Markt in einer der schwersten Krisen aller Zeiten befinden, müßte doch eine maximal einheitliche Front aller Linken das Gebot der Stunde sein. Aus unserer Sicht gilt es, den gemeinsamen Feind zu bekämpfen und jede seiner Schwächen maximal zu nutzen. Da sind Spaltung und Zersplitterung geradezu Steilvorlagen für den Klassengegner und nützen nur ihm, während sich die Linke selbst schweren Schaden zufügt.

Günter Waldeck und Alfred Krommel, Lamstedt


Seit einigen Tagen bin ich - nachdem mich gute Bekannte auf Ihre Zeitschrift aufmerksam und neugierig gemacht haben - Abonnent des "RotFuchs". Im Unterschied zu fast allen anderen Printmedien vertritt er die gesellschaftliche Zukunft, nachdem wir uns nun schon seit 22 Jahren rückwärts bewegen mußten, wodurch wir auf vielen relevanten Gebieten - der Bildung sowie des Gesundheits- und Sozialwesens - wieder ins Mittelalter geraten sind. "Feudale" Macht- und Eigentumsverhältnisse haben uns fest im Griff. Leider sehen das noch zu wenige so drastisch. Doch einer Gesellschaft, die sich von Krise zu Krise hangelt, darf die Zukunft nicht gehören - und das wird sie auch nicht!

Volker Büst, Vienau


Eine kritische Bemerkung in bezug auf den Beitrag "Zum Bundesverdienstkreuz". Natürlich zeigt sich der Charakter eines Staates u. a. auch darin, wer welche Orden und Ehrenzeichen erhält. Das war noch nie anders. Dennoch sollte man etwas differenzierter an das Thema herangehen. Aus meiner Sicht, die gewiß nicht umfassend ist, werden nicht nur - wie es im RF hieß - "in äußerst seltenen Fällen wirklich Verdiente ausgezeichnet". Mir sind allein in den letzten Monaten fünf mit dem Bundesverdienstkreuz bedachte Persönlichkeiten bekannt geworden, die sich um soziale, ökologische und Naturschutzfragen verdient gemacht haben. Unter ihnen befindet sich auch meine Frau, die für ihren zehnjährigen Einsatz in Afrika zum Wohle behinderter Menschen bedacht worden ist. Zum Glück erhielt sie die Auszeichnung noch zu Zeiten Christian Wulffs und nicht von Herrn Gauck.
Die Bemerkung des Autors hinsichtlich der "schlechten Gesellschaft" beziehen wir also nicht auf uns.

Dieter Barth, Wickersdorf


Dem zahlenden Besucher der sogenannten Gedenkstätte Hohenschönhausen führt man u. a. auch einen Gefangenensammeltransportwagen (GSTW) der Deutschen Reichsbahn der DDR vor.
Ich erinnere mich an folgendes: Im März 2004 fuhr zu nächtlicher Stunde ein Schwerlasttransport durch Berlins Landsberger Allee. Ein Eisenbahnwaggon war die Fracht. Dann bog der Koloß über die Liebenwalder Straße mit redlicher Mühe in die schmale Genslerstraße ein. Das weckte mein Interesse. Wer kutschierte hier nachts einen Eisenbahnwaggon durch enge Gassen? Mit viel Mühe hievte man ihn über die Mauer der ehemaligen Untersuchungshaftanstalt. Da ich Nachtdienst hatte, erlebte ich das Spektakel live. Bald darauf vermeldete die Presse, Knabes Gedenkstätte besitze mit dem "Grotewohl-Expreß" ein neues Exponat. Der Waggon vom Typ Halberstadt mit 26,4 m Länge und 2,8 m Breite hatte als Heimatbahnhof Magdeburg und wurde in den Jahren 1980 bis 1984 im Auftrag des Ministeriums des Innern gebaut. Das ausgestellte Exemplar stammt aus dem Jahre 1981. Damals war der erste DDR-Ministerpräsident Otto Grotewohl, der 1964 starb, bereits lange tot. Es gehört zu den Frechheiten des Hauses Knabe, dem Waggon seinen Namen zu unterstellen.

Wilfried Steinfath, Berlin


Nochmals zum Leserbrief von Hans Schneider aus Erfurt zur Frage der Dienstgrade und Titel, der im RF 172 veröffentlicht wurde. Es gibt tatsächlich höhere Ränge, die wir uns wünschen sollten: der Mensch in seiner entfalteten Individualität, seiner einmaligen, unverwechselbaren biologischen, sozialen und psychisch strukturierten Persönlichkeit. Hinweise darauf sind Positionsbestimmungen, Wertvorstellungen, Botschaften und Ausdruck seines jeweiligen Selbstverständnisses und deshalb zu achten. Unsere Zeitschrift ist der gedruckte Beweis dieser Achtung und der Vielfalt des sich Wiederfindens im Gleichen und im Unterschied. Sie ist die monatliche Anregung zum Nachdenken, Überdenken und Suchen, weshalb sie so wichtig für uns ist. Darauf kann nicht verzichtet werden.

Klaus-Dieter Jäschke, Bernau


Die Verfassung der DDR von 1949 betrachtete Deutschland als unteilbare demokratische Republik. Artikel 146 der Bonner-Nichtverfassung vom 23. September 1990 lautet nach deren 34. Änderung: "Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist."
Die Zeit ist nach 22 Jahren des Anschlusses der DDR, der als Beitritt zum GG gemäß Art. 23 (alt) umschrieben wird, überreif, endlich eine gesamtdeutsche Verfassung zu erarbeiten und sie dem ganzen Volk zur Diskussion und Verabschiedung zu unterbreiten. Darin müßten soziale Grundrechte wie das Recht auf Arbeit, auf Wohnung, auf Bildung u. a. und die Pflicht des Gesetzgebers festgehalten werden, endlich ein Arbeitsgesetzbuch zu schaffen. Das Verfahren der Volksgesetzgebung ist festzulegen, die Rechte der Kinder, Frauen und Minderheiten sowie die Rolle von Kunst und Kultur sind zu fixieren. Diese Verfassung darf keine Auslandseinsätze der Bundeswehr zulassen und muß die Friedensstaatlichkeit - "Von deutschem Boden darf nie wieder Krieg ausgehen" - fest verankern.

RA Dr. Klaus Emmerich, Kassel


Die Geschichte hat - wie so oft - eine Vorgeschichte. Während des durch Hitler vom Zaun gebrochenen Zweiten Weltkrieges gab es den Volksempfänger. Da war ich noch ein Knabe, verehrte das U-Boot-Idol Kapitänleutnant Prien und General Rommel, las die "Kriegsbücherei der deutschen Jugend" und schmetterte beim faschistischen Jungvolk "Wir werden weiter marschieren, bis alles in Trümmer fällt, heute gehört uns Deutschland und morgen die ganze Welt." Wir wohnten damals in einem kleinen sächsischen Dorf. In der Küche stand auf einem Wandbrett der auch als "Goebbels-Schnauze" bezeichnete Volksempfänger. Er wurde meist während der Mahlzeiten angeschaltet, wenn man Frontberichte und Wunschkonzerte "für unsere Soldaten" übertrug. Ein solcher Apparat hatte in jeder Dorfwohnung seinen Platz.
All das ist lange her. Das Erbe des Volksempfängers, der vermeintlich "die große weite Welt" ins Zimmer holte, hat längst der Farbfernseher angetreten. Doch zwischen dem Billig-Radio und dem bunten Bildschirm bestehen Gemeinsamkeiten. Hörer wie Zuschauer werden dadurch gefesselt, daß ihnen Leute "leibhaftig" begegnen, die sie sonst nie erleben würden. Auch die Manipulation ähnelt sich. Brachte man 1939 Reportagen vom angeblichen Überfall auf den Reichssender Gleiwitz, dann zeigte man später Saddam Husseins vermeintliche Massenvernichtungswaffen, die als Auslöser des Angriffs auf Irak dienten. Das Ganze ist eine Mischung aus Informationen, Halbwahrheiten und Desinformationen. Was vielleicht in einigen Köpfen hängenbleibt, wird von der Wucht der Werbung und der Unterhaltung bald wieder verdrängt.
Wirklich Wichtiges blendet man aus. 2012 gibt es auf der Erde 925 Millionen Unterernährte, 790 Millionen Analphabeten, Hunderte Millionen ohne ärztliche Betreuung, sanitäre Anlagen oder sauberes Trinkwasser. Die Atomwaffenarsenale reichen aus, um alles Leben auf der Erde etliche Male auszulöschen. Hunderttausende sind Opfer von Naturkatastrophen. Eigentlich müßte das Fernsehen all diese unmenschlichen Zustände seinen Zuschauern unablässig vor Augen führen. Doch es tut das direkte Gegenteil dessen. Als Vorbilder werden der Jugend statt Prien und Rommel nun vor allem Sportmillionäre, steinreiche Models, den Ehehafen ansteuernde Prinzen oder die Sprößlinge von Prinzessinnen angeboten. Wir erleben sie auf Traumschiffen oder in Helikoptern über der Wüste, in den Alpen, auf Plantagen in Afrika, an sonnigen Stränden, als Chefs und Erben in prächtigen Büros, luxuriösen Hotels und Super-Autos. Die Reichen und Schönen sowie "viel Spaß" sollen uns bei Stimmung halten. Da ist Schlimmes zu befürchten.

Erhard Römer, Berlin

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Ralph Dobrawa
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Bernd Fischer
Peter Franz
Günter Freyer
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RotFuchs Nr. 176, 15. Jahrgang, September 2012
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veröffentlicht im Schattenblick zum 22. September 2012