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POLITISCHE BERICHTE/117: Das Ende der Olivenzweig-Initiative des Dalai Lama


Politische Berichte - Zeitschrift für linke Politik
Nr. 1 am 15. Januar 2009

Der Buddha an der Leine
Das Ende der Olivenzweig-Initiative des Dalai Lama

Von Karl-Helmut Lechner


Völkerrechtlich ist die Frage der Unabhängigkeit Tibets, wie sie anlässlich der Olympischen Spiele in Beijing im vorigen Jahr von westlichen Medien zum weltweiten Thema gemacht worden war, vom Tisch: Am 29. Oktober 2008 hat Großbritannien als letzter Staat der Welt die volle Souveränität der Volksrepublik China über Tibet anerkannt. Bis dahin hatte sich Großbritannien an das 1914 zwischen China, Großbritannien und Tibet geschlossene Abkommen von Simla gehalten, das nur die sogenannte "Suzeränität", also Oberhoheit Chinas über Tibet anerkannt hatte. Aber natürlich werden weiterhin die Kräfte, die auf eine Destabilisierung des Vielvölkerstaates China aus sind, dafür sorgen, dass "Free Tibet" auf der politischen Tagesordnung bleibt. Der Dalai Lama und die Regierung der Exiltibeter in Dharamsala spielen dabei eine zwielichtige Rolle.


"An Olive Branch From the Dalai Lama"

Am 6. August 2008, zwei Tage vor der Eröffnung der Olympischen Spiele in Beijing, hatte die "New York Times" unter dem Titel "An Olive Branch From the Dalai Lama" (Ein Olivenzweig vom Dalai Lama) einen ausführlichen Bericht über eine neue Verhandlungsposition des Dalai Lama für Gespräche mit der Zentralregierung in Beijing gebracht. Mit ihr sollten die Konflikte um Tibet endgültig gelöst und seine Rückkehr als geistliches Oberhaupt nach Tibet möglich gemacht werden. Sogleich wurde ein historischer Vergleich bemüht. Präsident Nixon hatte, um seinen Besuch 1972 in der Volksrepublik China überhaupt erst möglich zu machen, signalisiert, er werde die Beziehungen der USA zu China überdenken; genau so sollte der Vorschlag des Dalai Lama gewertet werden.

Der Hauptinhalt der Verhandlungsposition des Olivenzweiges: Anerkennung des sozialistischen Systems in Tibet unter Führung der Kommunistischen Partei Chinas. Also ein Abrücken von der Forderung nach völliger Loslösung von China, beziehungsweise nach einem Sonderstatus von Tibet analog dem von Hongkong. Sodann: Verzicht auf die Forderung, die Provinzen Qinghai, Gansu, Sichuan und Yunnan dem heutigen Territorium der Autonomen Region Tibet zuzuschlagen, einem "Groß-Tibet" mit dem Ausmaß von einem Viertel der Fläche der VR Chinas. Er selbst wolle sich nach seiner Rückkehr in den Potala-Palast nach Lhasa auf seine geistlichen Funktionen beschränken und nicht mehr die politische Rolle als weltliches Oberhaupt der Tibeter wahrnehmen.

Dieser Bericht der "New York Times" passte nun kurz vor der Olympiade so gar nicht in das China-Tibet-Bild der aufgeregt berichtenden westlichen Medien. Er fand sich in keiner einzigen weiteren Zeitung wieder. Der verhalten zustimmenden Erklärung der Regierung in Beijing in der Zeitung "China Daily" vom 21. August 2008 erging es nicht anders. Doch nicht nur diese Meldungen verschwanden; auch der Dalai Lama selbst ward, wie es hieß "aus gesundheitlichen Gründen", für drei Monate in der Öffentlichkeit nicht mehr gesehen. Selbst eine seiner durch die Einnahmen von Eintrittgeldern für seine religiösen Veranstaltungen sehr lukrativen Europareisen wurde abgesagt.

Als dann nach den Olympischen Spielen die Verhandlungen in Beijing mit den Abgesandten des Dalai Lama begannen - in den Medien wurde jetzt wieder über die "sturen" Chinesen berichtet -, war von der "Olivenzweig-Position" keine Rede mehr. Vielmehr enthielt die dort vorgelegte Verhandlungsgrundlage der tibetischen Delegation wieder die Forderung nach einem autonomen Staat und nach "ethnischer Separation" für die beanspruchten Gebiete. Es geschah, was vorauszusehen war. Als der Dalai Lama am 3. November 2008 in Tokio wieder auftauchte, waren die Verhandlungen bereits nach acht Verhandlungsrunden gescheitert.


"Meine Hoffnung wird immer dünner"

Vom 17. bis zum 24. November fand am Sitz der tibetischen Exilregierung in Dharamsala, Nordindien, eine Konferenz statt. Geladen hatte der Dalai Lama gemäß Artikel 59 der Exil-Tibetischen Verfassung zu einer Krisenversammlung. Er wollte, wie er auf der Internetseite seiner Regierung verlautbaren ließ, "sein Volk beteiligen", "Meinungen einholen", "neue Wege erörtern", er wollte sich demokratisch zeigen. "Meine Hoffnung wird immer dünner", verkündete er und schloss die Frage an, ob seine Politik des "Mittleren Weges" gescheitert sei.

Mit seiner Politik und mit seinem persönlichen Verhalten war der Dalai Lama unter Druck geraten. Nicht nur bei der chinesischen Regierung. Auch bei den eigenen Leuten im Exil. "Jeder Tibeter hat die Pflicht, sich für die Freiheit seines Landes und den Erhalt unserer Kultur einzusetzen", sagt Kunchok Yangpel, Sprecher des "Tibetan Youth Congress" in Delhi. Die Jugendorganisation mit ihren 30.000 Mitgliedern ist bekannt dafür, dass sie der Politik des Dalai Lama, die auf gewaltfreien Protest gegen die chinesische Herrschaft in Tibet und auf Autonomie statt Unabhängigkeit setzt, kritisch gegenübersteht und diesen "Mittleren Weg" ablehnt. Doch der "Youth Congress" ist nicht mehr allein.

"Jeder hat großen Respekt vor dem Dalai Lama als geistigem Führer. Aber nach mehr als 50 Jahren Besatzung haben die Leute einfach genug. Seine Politik der Gewaltlosigkeit hat nichts gebracht", sagt Tarini Mahta von der Organisation "Friends of Tibet". Die Gruppe ist nur eine von zahlreichen Organisationen, die sich für die Sache Tibets starkmachen. 2007 beschlossen verschiedene Gruppen von Exil-Tibetern, darunter der "Tibetan Youth Congress", die "Tibetan Women's Organization", die "Gu-Chu-Sum Movement" für politische Gefangene, "Students for a Free Tibet" und die "National Democratic Party of Tibet" die Olympischen Spiele in Beijing als Gelegenheit zu nutzen, gegen, wie sie es formulieren, die "Besetzung ihres Landes" und die "andauernden Menschenrechtsverletzungen in Tibet" zu protestieren.

"Time is running out" (die Zeit läuft ab), hatte der Dalai Lama immer wieder gewarnt und verband mit dieser Bemerkung die Sorge, ob ein Nachfolger nach seinem Tode in der Lage sein werde, die Tibeter hinter einem gemeinsamen Plan zu einen. Deshalb kommen dann immer wieder Äußerungen von ihm: "Ich bin doch längst halb pensioniert ." und verwirren seine Leute noch mehr. Er selbst beteiligte sich schon nicht mehr nicht an den Diskussionen der Versammlung in Dharamsala, angeblich um "eine freie Aussprache" zu ermöglichen.


Krisentreffen in Dharamsala

Und seine Tibeter? Sie waren zu diesem Krisentreffen angereist, um "Geschichte zu schreiben" - so stand es euphorisch in ihren Internet-Blogs und in manchem Gesicht geschrieben, als sich insgesamt 581 handverlesene und geladene Repräsentanten aus aller Welt stolz ihre grünen Teilnehmerschilder ans Revers hefteten. In fünfzehn Gruppen wurde sechs Tage lang diskutiert. Es wurde auch, wie in den Internetforen berichtet wurde, heftig gestritten; die Forderung nach "echter Unabhängigkeit" wurde laut. Es gab - früher undenkbar - Kritik an Tibets Exilregierung, die sich vorwerfen lassen musste, elitär und erstarrt zu sein: "Vielleicht sollte es auch Parteien geben, die alle Meinungen vertreten, und nicht nur ein Parlament, das sich insgesamt um Tibets Belange kümmert?" Eine eigene Rangzen, eine "Unabhängigkeits"-Partei, wurde von Teilnehmern gefordert und dass die radikalen Tibeter vom "Tibetan Youth Congress" bei zukünftigen China-Verhandlungen mit am Tisch sitzen sollten.

Die Ideen gingen bis zu Sabotageakten gegen Chinas Infrastruktur, um die Besetzung für China möglichst teuer zu machen. Die einseitige Erklärung der Unabhängigkeit von der VR China schlug jemand vor; Boykottaufrufe wurden laut.

Hatten am Ende aber doch alle Angst vor der eigenen Courage? Alle vorgebrachten Ideen verschmolzen in den eher mageren Resolutionspunkten, die die Versammlung der tibetischen Politik als unverbindlichen Ratschlag auf den Weg gab: Der Dalai Lama solle bitte weiter ihr Anführer sein. Wir bleiben beim "Mittleren Weg". Nur wenn alles scheitere, wolle man sich die Forderung nach "Unabhängigkeit für Tibet" offen halten.

Insgesamt aber möchte man weiter voll und ganz dem Dalai Lama folgen, was immer er für richtig halte. Ratlosigkeit und leise Kritik konnte man nur aus der vieldeutigen Äußerung von Tsewang Rigzin, Präsident des "Tibetan Youth Congress" heraushören: "Wir wurden vom Dalai Lama aufgefordert, uns hinzusetzen und zu reden, aber nicht zu entscheiden."


Im komfortablen Wartesaal des Exils

Zum Schluss der Konferenz erklärte der Dalai Lama, er habe sein "Vertrauen in die chinesische Regierung" verloren. Von seinem Rückzug aus der politischen Funktion war nicht mehr die Rede. Dann machte er seine Zuhörer völlig sprachlos: "Wenn Sie jetzt erwarten, dass ich Wichtiges über den Ausgang des Treffens zu sagen habe, dann irren Sie sich." Die Tür zu einem historischen Ausgleich mit der Regierung der VR China war mit diesem Hin und Her zugeschlagen. War die Konferenz also eine verschenkte Chance?

Die Funktionäre der Exiltibeter sind nach ihrem Diskussions-Ausflug wieder zurückgekehrt in den warmen und komfortablen Wartesaal ihres Exils. Ein wirklicher, vorsichtiger Neubeginn, wie ihn die Ideen der Olivenzweig-Initiative bedeutet hätten, widerspricht wohl zu sehr den Interessen derer, die da in Dharamsala als Exilpolitiker zusammensitzen und ihrer ziemlich betuchten Klientel in den USA und Europa. Haben sie und ihre Eltern doch ihre leibeigenen und versklavten Bauern und Hirten zurück gelassen, als sie 1959 zusammen mit dem Dalai Lama nach ihrem gescheiterten Aufstand Tibet fluchtartig verließen. Dorthin nun als normaler Bürger zurückkehren? Ist das nicht etwas viel verlangt, wenn ihre ehemaligen Untertanen in der Zwischenzeit sich angestrengt haben, Tibet als ihr eigenes Land aufzubauen?

Daher blieb am Ende den Teilnehmern dieser Versammlung die von den halbfeudalen Strukturen orchestrierte Einsicht, auf allen Ebenen so weiter zu machen wie bisher: "Sei Du unter uns weiter der Klügste - uns genügt es, respektvoll zu sein". Auf diese Weise kann man radikale separatistische Forderungen erheben, bei passender Gelegenheit sich in den Dienst interventionistischer Mächte stellen und dabei immer auch eigene Landsleute verheizen. Den jungen Wilden vom "Tibetan Youth Congress" bleibt weiter vor allem die Aufgabe, frustriert Luftschlösser im Himalaja zu bauen. Jeder Exil-Tibeter könnte auf der Grundlage der Vorschläge des Dalai Lama vom 6. August 2008 in sein Land zurückkehren und sich an dessen Entwicklung aktiv beteiligen. Aber das ist unangenehmer als gedacht. Der Sonderstatus wäre weg, die subventionierte Existenz als Berufsflüchtling wäre ihnen nicht mehr möglich. Den Feudalherren könnten sie zu Hause auch nicht mehr spielen.


An der Leine der feudalen Exilpolitiker

"Time is running out", das sagen jetzt wohl auch die Verantwortlichen in Beijing und wissen, dass die Zeit für sie und gegen den 73-Jährigen arbeitet. Er hat sich selbst vorgeführt, wie er brav an der Leine der feudalen tibetischen Exilpolitiker läuft. Wurde er nach seinem Olivenzweig-Vorschlag von seinen eigenen Leuten massiv bedroht? Mit ihm kann Beijing wohl keine Vereinbarungen mehr treffen. Einmal gibt er vor, mit den Chinesen verhandeln zu wollen, bedenkt dabei aber nicht die Realität der letzten 60 Jahre. Auf der einen Seite will er mitten unter seinen Tibetern sein, dann aber wieder thront er über ihnen geistlich und politisch auf der feudalen Respektspyramide und duldet keinen Widerspruch. Bei alle dem hat er völlig außer Augen verloren, dass er als geistliches Oberhaupt seinen Landsleuten in Tibet herzlich willkommen ist: In allen tibetischen Kultstätten sind heute seine Bilder zu finden.

So ist er inzwischen das Problem selbst und zugleich die Lösung: Zuviel, selbst für ihn als leibhaftigen Buddha. Das aber bereitet viel Frust bei den Menschen in Tibet, die sich in ihrer religiösen Identität von der zentralen Politik in Beijing nicht ernst genug genommen fühlen und zuschauen müssen, wie Wohlstand und soziale Chancen an ihnen vorbei gehen. Aber vielleicht ist es ja genau das, was die Exilpolitiker in Dharamsala in ihrem Kalkül haben.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Der Gesandte des Dalai Lama Kasur Lodi Gyari (links im Bild) konferiert mit dem Stellvertretenden Vorsitzenden der Politischen Konsultativkonferenz und Minister der Einheitsfront Du Qinglin am 4. November 2008 in Beijing.

Auch das ist Exil: Der Dalai Lama beim Plausch mit dem Premierminister des indischen Bundesstaates Himal Pradesh Kumal Dhumal in Dharamsala am 17. Dezember 2008 während eines Cricket-Match.


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Quelle:
Politische Berichte - Zeitschrift für linke Politik
Ausgabe Nr. 1, 15. Januar 2009, Seite 18-19
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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. Januar 2009