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OSSIETZKY/889: Inverser Kapitalismus


Ossietzky - Zweiwochenschrift für Politik / Kultur / Wirtschaft
Nr. 3 vom 30. Januar 2016

Inverser Kapitalismus

Von Manfred Sohn


Niemand hat den Grundmechanismus der damals neu entstehenden gesellschaftlichen Formation, die wir heute Kapitalismus nennen, so klar erkannt und beschrieben wie Karl Marx: Diejenigen, die über Geldmittel verfügen, horten sie nicht mehr wie zu Zeiten des Feudalismus, sondern kaufen sich damit Maschinen, Rohstoffe und vor allem menschliche Arbeitskraft, um Waren herzustellen, die sie zu einem höheren Preis verkaufen, als sie selbst für diese drei Bestandteile ihrer Erzeugung ausgegeben haben. Den so abgeschöpften Profit stecken sie wieder in den Kauf von Maschinen, Rohstoffen und menschlicher Arbeitskraft - nur jetzt auf höherer Stufenleiter. Sie realisieren, wenn sie am Markt erfolgreich waren, einen vorher in der Produktion erwirtschafteten Mehrwert. Das ist und bleibt der Kern dieser Formation.

Bereits von Marx thematisiert war der innere Zwang dieses Systems, im Streben nach maximalem Profit nicht nur Mehrwert zu bekommen, der aus einem in der Vergangenheit liegenden Produktionsprozess entstammte, sondern darauf zu setzen, dass sich aus dem Verkauf künftiger Waren in der Zukunft Profit schlagen ließe. Auf dieser Hoffnung beruht das gesamte Kreditgeschäft, das in seinem Kern nichts anderes ist als eine Beteiligung des Kreditgebers an den künftigen Profiten des Kreditnehmers. Diese kreditfinanzierte Mehrwertproduktion spielte zu den Zeiten, die Marx analysierte, zwar am Horizont und im direkten Vorfeld von zyklischen Krisen schon eine gewisse Rolle, stand aber nicht im Zentrum des Kapitalismus in seiner aufsteigenden Phase. Der Kredit war zu jenen Zeiten eine Variable, die davon abhängig war, wie sich der Kern der Mehrwertproduktion - die Realisierung der Profite aus bereits in der Vergangenheit erzeugten Waren - entwickelte. Lief es gut, gab's reichlich Kredit, lief es schlecht, wurden die Kreditgeber vorsichtig bis zur Kreditverweigerung.

Das hat sich seit der großen Depression von 1929 dauerhaft verändert. Im Gefolge von John Maynard Keynes pumpt nun der Staat - zuerst zur Kriegsfinanzierung, in der Bundesrepublik Deutschland ab 1966 auch zur Bewältigung normaler zyklischer Krisen - regelmäßig große Geldmengen in die Wirtschaft und erwartet den Rückfluss zusammen mit einer kleinen Beteiligung aus den daraus erzielten Profiten - also Zinsen. Nach und nach und in verschiedenen Wellen, die an der Grundrichtung des Prozesses aber nichts geändert haben, wird der Kapitalismus nun nicht mehr von der Realisierung bereits erzielten Mehrwerts dominiert, sondern von der Hoffnung auf künftig erzielten Mehrwert. Die vorher abgeleitete Variable Kredit wird zur bestimmenden Variable, die Realisierung von Mehrwert aus vergangenen Produktionsprozessen scheinbar zunehmend zur Nebensache, die nur dazu dient, die Hoffnung auf noch höhere Gewinne in der Zukunft für die Kreditgeber zu nähren. Das kennen wir aus der Mathematik, wenn durch Vertauschung der unabhängigen und der abhängigen Variable eine ursprüngliche Funktion umgekehrt wird.

Der Nürnberger Ökonom Ernst Lohoff nennt diese Phase des Kapitalismus in seinem gemeinsam mit Norbert Trenkle verfassten Buch "Die große Entwertung" daher "inverser Kapitalismus". Es kann zwar darüber gestritten werden, ob die Einführung immer neuer Begriffe der Erstarkung des Marxismus als Handlungsanleitung für die Kämpfe der Zukunft dient, aber der Begriff ist erklärungsstärker als der in Mode gekommene des "finanzmarktgetriebenen Kapitalismus". Der krankt nicht nur daran, dass die Absprache von Staat und Monopolen hinsichtlich der Geld- und Währungspolitik mit einem "Markt" genauso viel zu tun hat wie der Vatikan mit der Bergpredigt. Er verhüllt vor allem die Labilität dieser Umkehrung.

Die Umpolung von der Realisierung bereits erzeugten Mehrwerts auf die Hoffnung auf einen immer weiter in der Zukunft liegenden überhaupt erst noch zu erzeugenden Mehrwert als treibendes Element kapitalistischen Handelns führt zu keinem neuen stabilen "Akkumulationsmodell" oder einer neuen Variante des Kapitalismus, sondern zu einer von Krise zu Krise wachsenden Labilität des gesamten Formationszusammenhangs.

Die Erklärungskraft des Ansatzes wird gegenwärtig an zwei Prozessen deutlich: Das in die kapitalistische Wirtschaft gekippte Geld findet schon seit geraumer Zeit in erheblichem Umfang keine profitable Anlagemöglichkeit mehr in den entwickelten kapitalistischen Ländern. Der Grund dafür liegt darin, dass Profite immer nur aus der Verwertung menschlicher Arbeitskraft geschlagen werden können, der Kapitalismus seit der Entfaltung der mikroelektronischen Revolution aber beständig mehr Arbeitskräfte aus dem Produktionsprozess herausrationalisiert, als er durch Schaffung neuer Industrien neu in den Ausbeutungsprozess integrieren kann - daher die in den USA, Japan und der EU beständig steigenden Dauerarbeitslosenzahlen. Karl Marx nannte diesen Widerspruch - einerseits menschliche Arbeitskraft zu benötigen, um aus Geld mehr Geld zu machen, andererseits aber diese Ware Arbeitskraft aus der Produktion zu verdrängen - die "wahre Schranke", über die der Kapitalismus nicht hinauskönne. Es ist ein ökonomischer Funktionsmechanismus mit eingebauter Selbstzerstörungskomponente. Vorübergehend drängte dieses in den Zentren nicht mehr verwertbare Geld in die noch nicht durchkapitalisierten Länder, die unter dem Begriff BRICS-Staaten zusammengefasst werden (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika). Die vorher abhängige Variable "Kredit = Hoffnung auf künftige Profite" erzeugte so vorübergehend tatsächlich eine reale Produktion von Waren, die zwar auch in diesen fünf Ländern, aber vor allem in den drei kapitalistischen Zentren selbst billig, aber mit Gewinn losgeschlagen werden konnten. Diese inverse Logik kommt nun allmählich zum Stillstand, wie das Erlöschen eines Hoffnungsträgers nach dem anderen zeigt. Aktuell wird die Wirtschaftspresse vom bangen Blick auf den Zusammenbruch der Börsenwerte in China beherrscht, der für jeden, der die innere Logik der kapitalistischen Formation in ihrer absteigenden Phase verstanden hat, schon seit längerem auf dem Zettel stand. Dort platzt die blasenhafte Hoffnung, dass es irgendwo auf diesem Globus noch eine Ecke geben könnte, wo der "alte" Kapitalismus in seiner alten Logik noch funktionieren und zu einer Wiederbelebung des Wirtschaftssystems führen könnte.

Ein ähnliches Phänomen, das letztlich aus der gleichen Quelle gespeist wird, plagt im Moment die deutschen, US-amerikanischen und japanischen Banken - die alles andere als ein "Treiber" der Prozesse, sondern immer mehr gehetzte Getriebene der kapitalistischen Logik sind: "Das große Horten", warnt das Handelsblatt am 11. Januar 2016 auf seiner Titelseite, führe dazu, dass den Geldhäusern ein wichtiger Markt, also das Kreditgeschäft, wegbreche und der Konjunktur ein "herber Dämpfer" drohe. Zwischen September 2014 und September 2015 hätten die Kapitalgesellschaften außerhalb der Finanzbranche insgesamt 90 Milliarden Euro an neuen Finanzvermögen gebildet - und folgerichtig sei das Kreditneugeschäft der deutschen Finanzinstitute im dritten Quartal 2015 um fast drei Prozent "eingebrochen". Die inverse Logik, mit der das Kapital sich eine Galgenfrist erkauft hat, um nicht an der "wahren Schranke" zu zerschellen, kommt so national wie international an die Grenze. Die Geldhortung statt der Geldvermehrung war der so ziemlich schlimmste Vorwurf, den die aufsteigende Bourgeoisie dem abtretenden Feudaladel vor 200 Jahren entgegengeschleudert hat - nun hortet sie selbst und kommt damit ans Ende ihres Lateins.

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Quelle:
Ossietzky - Zweiwochenschrift für Politik / Kultur / Wirtschaft
Neunzehnter Jahrgang, Nr. 3 vom 30. Januar 2016, Seite 79-81
Herausgeber: Matthias Biskupek, Daniela Dahn, Dr. Rolf Gössner,
Ulla Jelpke, Otto Köhler, Eckart Spoo
Redaktion: Katrin Kusche (verantw.), Eckart Spoo, Jürgen Krause (Korrektor)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 4. Februar 2016

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