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OSSIETZKY/884: Nur Starke sollen überleben


Ossietzky - Zweiwochenschrift für Politik / Kultur / Wirtschaft
Nr. 25 vom 19. Dezember 2015

Nur Starke sollen überleben

Von Georg Rammer


Kurz und bündig: Im neoliberalen Kapitalismus geht es nicht um Menschen, sondern um Ökonomie, also um Interessen und Profit. Wer davon am meisten abbekommt, zeigt jede Statistik über die Verteilung von Vermögen. Warum machen da die Menschen mit?

Ein Kreis von Akademikern, Geschäfts- und Medienleuten hatte sich 1947 in der Mont Pelerin Society ein politökonomisches System ausgedacht, das heute als Neoliberalismus bekannt ist. Weltweit setzten Eliten in Wirtschaft und Politik die Dogmen gegen alle Widerstände durch; seine Propagandisten wurden dafür mit Nobelpreisen geehrt, und heute behandeln ihn die höchsten Repräsentanten des Staates quasi als Staatsziel.

Im würdigen Rahmen wurde erst kürzlich der Preis der Friedrich-August-von-Hayek-Stiftung an den ehemaligen Bundespräsidenten Roman Herzog überreicht. Gewürdigt durch den amtierenden Bundespräsidenten Gauck und den Ex-Bundespräsidenten Köhler als Vorsitzenden der Hayek-Stiftung konnte sich damit nicht nur der Ex-Präsident geehrt fühlen, der durch seine Ruck-Rede 1997 Berühmtheit erlangt hatte. Durch drei Bundespräsidenten, den Präsident des Bundesverfassungsgerichts Voßkuhle und den Präsidenten der Deutschen Bundesbank Weidmann konnte sich der Neoliberalismus ausgezeichnet fühlen; denn Friedrich August von Hayek war der "Papst" dieser ökonomisch-politischen Glaubensrichtung.

Heute prägt der Neoliberalismus Wirtschaft, Politik und Gesellschaft. Sein eigentlicher Siegeszug begann nach dem Zusammenbruch des realsozialistischen Systems; er beschleunigte und radikalisierte weltweit das kapitalistische System. Lobbycontrol kennzeichnet ihn als eine Sichtweise von Wirtschaft und Gesellschaft, die den Markt verabsolutiert und den Egoismus zum Motor des Fortschritts verklärt. Neoliberalismus sieht die Schaffung von Märkten und Wettbewerb als zentrale staatliche Aufgabe. Diese Denkrichtung ist keine bloße Wirtschaftstheorie; vom eigenen Anspruch her ist sie vielmehr eine Ideologie, die den Menschen und die Gesellschaft nach ihrem Bild formen und beherrschen will. Insofern ist sie totalitär. Und sie ist voll dabei, mit Hilfe der Politik ihren Anspruch global zu verwirklichen. Robert J. Eaton, Ex-Vorstandsvorsitzender von Daimler-Chrysler, fasst die Sicht der Wirtschaft zusammen: "Eine Sache, die wir heute 'globalen Kapitalismus' nennen, wurde entfesselt, und es gibt keinen Weg, ihn aufzuhalten." Er sei unausweichlich und kraftvoll, "weil er eine Erweiterung der grundlegenden menschlichen Natur ist" (junge Welt, 8.7.1999).

Menschliche Natur? Unausweichlich? Die Behauptung ist insofern bemerkenswert, als es in der neoliberalen Ideologie nicht um die Bedürfnisse und Rechte der Menschen oder um ihr Wohlbefinden geht. Wie destruktiv die Folgen für Menschen sind, ist weltweit zu beobachten, denn die Lebensgrundlagen der Bevölkerung zahlreicher Länder werden zerstört. Stichworte zum Wirken dieses Katastrophen-Kapitalismus sind etwa krasse soziale Ungleichheit, Klimawandel, Landraub, Naturzerstörung, ausbeuterischer "Freihandel", Herrschaft der Großkonzerne, korrupte Eliten. Die Politiker in den Ländern, die für diese Zustände primär verantwortlich zu machen sind, reagieren auf die Folgen der Zerstörung mit militärischer Gewalt in Form von Aufstandsbekämpfung, "Krieg gegen den Terror"; dabei tarnen sie die hegemonialen wirtschaftlichen und strategischen Interessen als humanitäre Intervention. Das Ziel ist klar: "Schutz der Reichen dieser Welt vor den Spannungen und Problemen der Armen. Da der Anteil der armen, frustrierten Weltbevölkerung weiterhin sehr hoch sein wird, werden sich die Spannungen zwischen dieser Welt und der Welt der Reichen weiter verschärfen ... Dafür brauchen wir harte militärische Macht", fasst das Institut der EU für Sicherheitsstudien in seinem Bericht "Perspektiven für die europäische Verteidigung 2020" zusammen.

Menschenwürde oder die kodifizierten Menschenrechte spielen in dieser Politik ebenso wenig eine Rolle wie UN-Resolutionen, Völkerrecht oder demokratische Grundsätze. Der neoliberale Kapitalismus hat es nicht nötig, sich gegenüber den Menschen zu rechtfertigen, denn die normalen BürgerInnen werden ohnehin nicht als Souverän angesehen, die über Ziele der Politik und das soziale Zusammenleben bestimmen könnten. Sie sind als Konsumenten unentbehrlich, aber in der marktkonformen Demokratie müssen andere bestimmen. In einer Rede beim Meinungsforschungsinstitut Allensbach umriss Bundeskanzlerin Merkel die Strategie: "Wir können im Rückblick auf die Geschichte der Bundesrepublik sagen, dass all die großen Entscheidungen keine demoskopische Mehrheit hatten, als sie gefällt wurden. Die Einführung der Sozialen Marktwirtschaft, die Wiederbewaffnung, die Ostverträge, der NATO-Doppelbeschluss, das Festhalten an der Einheit, die Einführung des Euro und auch die zunehmende Übernahme von Verantwortung durch die Bundeswehr in der Welt - fast alle diese Entscheidungen sind gegen die Mehrheit der Deutschen erfolgt."

Für die mit dem Nobelpreis belohnten Chefideologen des Neoliberalismus Friedrich von Hayek oder Milton Friedman und ihre derzeitigen Epigonen stellt ihre Lehre Welterklärung und Weltgestaltung in einem dar und in ihrer "Alternativlosigkeit" eine Art Religion. Die Marktradikalen zielten von Beginn an nicht auf Wahrheit, sondern auf Hegemonie über Wirtschaft, Gesellschaft und den Menschen. Dafür sei aber ein Mentalitätswechsel notwendige Voraussetzung, betonten sie. Friedrich von Hayek proklamiert, dass "die wichtigste Veränderung, die weitreichende Regierungskontrolle produziert, eine psychologische Änderung, eine Wandlung im Charakter des Volkes darstellt" (zit. nach Hermann Ploppa, "Die Macher hinter den Kulissen"). In der neu zu schaffenden Gesellschaft, die von absoluten Gesetzen des Marktes und des Wettbewerbs beherrscht wird, haben Demokratie und sozialer Rechtsstaat nicht nur keine Bedeutung; sie sind hinderlich und schädlich. Soziale Gerechtigkeit? Nach Hayek nur eine unsinnige Leerformel: "Ungleichheit ist nicht bedauerlich, sondern höchst erfreulich. Sie ist einfach nötig." In der Demokratie bestehe die Gefahr einer "Tyrannei der Mehrheit über die Minderheit", wie James M. Buchanan in einem Interview mit der FAZ sagte (12.8.09). So ist es kein Zufall, dass die neoliberalen Grundsätze quasi als Freilandversuch zum ersten Mal in Chile unter General Pinochet umgesetzt wurden, nach dem faschistischen Putsch gegen den Sozialisten Allende.

Aber selbstverständlich wissen die neoliberalen Ideologen, dass eine solche Herrschaft auf Dauer nicht gegen die Mehrheit der Menschen aufrechterhalten werden kann. Das Zusammenleben in einem Staat bedarf umfassender Kontrolle. Die Psychologie gab Schützenhilfe: Ratten wurden die beliebtesten Forschungsobjekte, in unzähligen Laborversuchen hatte man Reaktionszeiten auf einfachste Reize gemessen, sinnlose Silben lernen lassen. In dieser Art akademischer Forschung mutierte der Mensch zur Ratte, sein Seelenleben wurde ausgeblendet, seine Gefühle, Bedürfnisse und Beziehungen als Reiz-Reaktions-Mechanismen dargestellt. So wollte sich die Psychologie mit dem allseits reduzierten, aber exakt vermessenen Menschen für eine Entwicklung in der Produktion dienstbar machen, damit er umfassend verwertbar werde. Der einflussreiche Psychologe B. F. Skinner skizzierte in dem Science-Fiction-Roman "Walden Two" ("Futurum zwei") das Bild einer neoliberal formierten Gesellschaft: Es herrscht ein wohlwollend-totalitärer Staat, in dem Konflikte durch Konditionierung und durch Technologien der Verhaltenssteuerung ausgeschaltet werden, damit sich Menschen sozial anpassen und nicht aufbegehren. Selbstverständlich definiert und diktiert die steuernde Elite das erwünschte Verhalten. Mit einer solchen Vorstellung liebäugeln heute Konzerne ebenso wie Politiker.

In einer Ideologie, die nicht nach Humanität, sondern nach Einfluss und Weltherrschaft strebt, gilt es, ein bestimmtes Bild vom Menschen zu erfinden. Entgegen allen wissenschaftlichen Ergebnissen behaupten die Neoliberalen eine verquere Anthropologie: Der Mensch sei von Natur aus egoistisch. Wenn jeder nur an seinen eigenen Vorteil denkt, ergebe sich quasi natürlich ein Ausgleich. Märkte sind die Selektionsmechanismen der Evolution. Behaupten können und sollen sich nur die Stärksten; dies gilt auch für Staaten, wie Hayek fordert: "Gegen die Überbevölkerung gibt es nur eine Bremse, nämlich dass sich nur die Völker erhalten und vermehren, die sich auch selbst ernähren können." In diesem sozialdarwinistischen System ist jeder soziale Ausgleich durch den Staat nicht nur unnütz, sondern als schädlich zu verurteilen, denn er schafft damit falsche Anreize und die Versager werden belohnt. Menschen sind Humankapital; sie müssen sich im ständigen Wettbewerb behaupten, sich selbst für den Markt optimieren. Empathie, Mitgefühl und Solidarität haben da keinen Platz und müssen eliminiert werden. Wie stark sich die Eliten in Deutschland und in Europa diese menschenfeindlichen Grundsätze zu eigen gemacht haben, dafür bieten die gegenwärtige Politik und die Wirtschaft eine Fülle anschaulicher Beispiele: Lüge und Korruption, Rücksichtslosigkeit bei der Verfolgung hegemonialer Ziele. Der bereits zitierte Vorstandschef von Daimler-Chrysler brachte 1999 diese gnadenlose Haltung auf die Formel: "Die Schwachen müssen sich verändern, oder sie werden sterben."

Der hier postulierte Mensch ohne Empathie und soziale Verantwortung, der soziale Normen missachtet, andere Menschen für eigene Zwecke manipuliert und unfähig ist zu Reue und Schuldgefühl, ist nach psychologischer Lehrmeinung der Psychopath - das Idealbild der Neoliberalen. Ist der oder die neoliberal orientierte PolitikerIn also von einer antisozialen Persönlichkeitsstörung befallen? Nein. Vielmehr haben die neoliberalen Gründungsväter der Mont Pelerin Society und die berüchtigten Chicago-Boys um Milton Friedman dem von Krisen geschüttelten und dann von seinen Fesseln befreiten Kapitalismus eine scheinwissenschaftliche anthropologische Legitimation geliefert, eine Lizenz zum Ausbeuten. Zur Sicherung von Besitz und Macht bedienen sich die politisch-wirtschaftlichen Eliten dieser menschenfeindlichen Ideologie. Sie haben die alten Ideale Freiheit und Gleichheit eingestampft und sind dabei, die Grundlage der Menschenrechte, die Gleichwertigkeit der Menschen, durch eine Bewertung nach Nützlichkeit zu ersetzen. Das ist die Grundlage für menschenfeindliche Haltungen wie Rassismus und Neofaschismus.

Vollends hegemonial und totalitär wird der neoliberale Kapitalismus, je mehr es ihm gelingt, dieses Denken und Verhalten bis in die tiefsten Schichten der Seele zu verankern. Der beständige Druck durch Wettbewerb und Selbstvermarktung macht zwar den Menschen zu schaffen, oft genug auch krank, aber ein Aufbegehren ist unvorstellbar, es gehört nicht zum zugelassenen Verhaltensrepertoire. Der häufig zu beobachtende Anpassungsmechanismus ist eher das, was man Identifikation mit dem Aggressor nennen könnte. Den Verlierern; die ohnehin keine Chance und keine Hoffnung haben, je in dieser Gesellschaft dazu zu gehören, bleibt Ohnmacht und Apathie, bestenfalls der Konsum, falls sie sich etwas leisten können. Einige wenige verwandeln die Ohnmacht in Allmachtphantasien, die in Gewalt münden können. Die breite Mehrheit aber arrangiert sich in der angstvollen Selbstbeschränkung, die sie dann in Ressentiments, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus ummünzt und ausagiert, also in menschenfeindlichen Impulsen und Haltungen.

Gefährlich ist der neoliberale Kapitalismus durch seine Menschenfeindlichkeit. Die Gefahr geht dabei nicht primär von ein paar irrenden Ideologen aus, sondern von den Eliten, die deren Lehren nutzen, um ihre Interessen gegen Menschen durchzusetzen. Eine humane demokratische Gesellschaft kann nur durch einen grundlegenden Wandel erreicht werden; immer mehr Menschen sehnen sich danach und leisten Widerstand gegen den totalitären Anspruch des Neoliberalismus. Überwindung der Ohnmacht kann nur in einem selbstbefreienden Akt erreicht werden, der die verschüttete menschliche Fähigkeit zu Empathie, Solidarität und Selbstbestimmung wieder erweckt.

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Quelle:
Ossietzky - Zweiwochenschrift für Politik / Kultur / Wirtschaft
Achtzehnter Jahrgang, Nr. 25 vom 19. Dezember 2015, Seite 931-934
Herausgeber: Matthias Biskupek, Daniela Dahn, Dr. Rolf Gössner,
Ulla Jelpke, Otto Köhler, Eckart Spoo
Redaktion: Katrin Kusche (verantw.), Eckart Spoo, Jürgen Krause (Korrektor)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 31. Dezember 2015

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