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OSSIETZKY/795: Christian und das staatliche Wächteramt


Ossietzky - Zweiwochenschrift für Politik / Kultur / Wirtschaft
Nr. 5 vom 15. Februar 2014

Christian und das staatliche Wächteramt

Von Georg Rammer



Christian ist 13 Jahre alt und soll in ein Heim ziehen - weg von seiner Familie. In den Monaten vorher ist er immer wieder beim Klauen erwischt worden; in der Schule war er wegen seiner Aggressivität gefürchtet - wenn er überhaupt anwesend war. Zu Hause schikanierte er seine Schwester, und seine Mutter hatte das Gefühl, ihn verloren zu haben. Sie erreichte ihn nicht mehr, er machte, was er wollte. Beratung und sozialpädagogische Gruppen änderten zu wenig. Es tat ihr weh, ihn gehen lassen zu müssen, und das Gefühl von Versagen saß tief; aber sie war erleichtert, die Verantwortung abgeben zu können.

Heime für Kinder und Jugendliche in desolater seelischer Verfassung sind notwendig, und Jugendämter müssen nach dem Grundgesetz ein "staatliches Wächteramt" wahrnehmen. Nach skandalisierten Einzelfällen wird den Jugendämtern "Versagen" vorgeworfen: Mal, weil sie Kinder ihren Eltern leichtfertig und kaltherzig wegnehmen, mal weil sie zu spät oder gar nicht eingreifen. Solche pauschalen Vorwürfe sind unberechtigt. Kritik am System der Kinder- und Jugendhilfe (KJH) muß tiefer und grundsätzlicher ansetzen.


Armut wird politisch gemacht
Christians Mutter erzieht ihre beiden Kinder allein. Sie hält die Familie mit Minijobs über Wasser. Die unsicheren Verhältnisse und die ständige Anspannung im Alltag setzen sie dermaßen unter Druck, daß ihre Kraft weder für sich noch für die Kinder reicht. Es tröstet sie nicht, daß sie mit ihrem Elend nicht allein ist: Über 40 Prozent aller Alleinerziehenden sind arm. Aber die statistische Zahl sagt nichts über die seelische Belastung, den ständigen Überlebenskampf, das Gefühl von Hoffnungslosigkeit und Vergeblichkeit der Betroffenen. Angst beherrscht oft ihr Leben. Sie ist der Grund dafür, daß die Kinder alleinerziehender Mütter nach einer Erhebung des Kommunalverbandes für Jugend und Soziales Baden-Württemberg (KVJS) etwa dreizehn mal häufiger auf stationäre Erziehungshilfe angewiesen sind als Kinder, die in der materiellen Sicherheit einer Familie aufwachsen. Kinder aus Armutsfamilien (also nicht nur von Alleinerziehenden) sind generell zehnmal so oft im Heim wie die, denen die Bedrückung der Armut fremd ist.

Nun stehen Armut und Ungleichheit bekanntlich nicht auf der Agenda der Bundesregierung. Sie nimmt billigend in Kauf, daß (nach Zahlen des Statistischen Bundesamtes) jedes fünfte Kind in Armut aufwächst, in seiner Entwicklung benachteiligt ist und in seinem Wohl dermaßen gefährdet und beeinträchtigt wird, daß seine Lebenschancen insgesamt gemindert werden. Da diese Zahlen seit langem bekannt, die Zusammenhänge zwischen sozialer Lage und psychosozialen Schäden nachgewiesen sind und die Armut und Ungleichheit durch politische Entscheidungen herbeigeführt wurde, muß man feststellen: Kinderarmut und die daraus resultierende Schädigung sind systematische Kindeswohlgefährdung.

Im zehnten Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung ist nachzulesen, daß die größte Gefahr für Kindesmißhandlung oder Vernachlässigung in Familien entsteht, deren Situation von Armut, Arbeitslosigkeit, Wohnungsproblemen und sozialer Ausgrenzung geprägt ist. Nach einer Studie von Christian Pfeiffer sind niedriges Bildungsniveau, Armut, Ausgrenzung und schlechte Integrationsperspektiven in Verbindung mit großen Unterschieden zwischen arm und reich und einer "Winner-Loser-Kultur" der beste Nährboden für Jugendgewalt. Aus dem zwölften Kinder- und Jugendbericht erfahren wir, daß Gesundheits- und Entwicklungsstörungen von Einschulungskindern ganz erheblich von der sozialen Lage ihrer Familie geprägt sind: Emotionale, soziale, psychomotorische Störungen, Hyperaktivität, dissoziales Verhalten - es gibt kaum eine Diagnose, die nicht einen "sozialen Gradienten" aufwiese; Die Gefahr einer Erkrankung oder dauerhaften Schädigung ist in sozial belasteten Familien um ein Vielfaches höher.


Versagen durch Individualisierung der Probleme
Was hat die Kinder- und Jugendhilfe damit zu tun? Trotz der Überlastung und häufig auch Überforderung arbeiten ihre Fachleute - anders als vor 30 oder 40 Jahren, als Menschenrechte von Kindern in Heimen wenig beachtet wurden - meist engagiert und fachkundig mit dem Ziel, Kindern und ihren Eltern zu helfen. Aber: Die KJH therapiert trotz besseren Wissens nur die individuellen Folgen systematischer Benachteiligung und hat allenfalls noch die persönlichen und familiären Hintergründe der Probleme im Blick. Damit trägt sie dazu bei, politische und gesellschaftliche Probleme zu individuellen zu machen. Sie entpolitisiert und individualisiert den Skandal Kinderarmut.

Die KJH sollte nach dem Gesetz (SGB VIII) nicht nur individuelle Hilfe leisten, sondern dazu beitragen, Benachteiligung zu vermeiden oder abzubauen und positive Lebensbedingungen zu schaffen. Sie müßte auch auf die Verwirklichung der UN-Kinderrechtskonvention dringen, nach der bei allen Kinder betreffenden Gesetzen und Maßnahmen das Wohl des Kindes vorrangig zu berücksichtigen ist. Es ist leicht nachzuweisen, daß diese Bestimmung - wie auch manches Grundrecht - nur auf dem Papier steht. Das Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit oder das Benachteiligungsverbot des Grundgesetzes gelten nach allen vorliegenden Studien für eine wachsende Gruppe von Kindern und Jugendlichen nicht mehr. Die Kinder- und Jugendhilfe nimmt das als Tatsache hin und beschränkt sich auf individuelle Hilfestellung.

Das ist zu wenig. Im Sinne von "output-orientiertem" Arbeiten, das von ihr verlangt wird, müßte die KJH von der Großen Koalition mit allem Nachdruck konkrete Ergebnisse zum Wohl aller Kinder in einem definierten Zeitraum fordern. Wenn Grundrechte real für alle gelten sollen, wie es den Prinzipien des sozialen Rechtsstaates entspricht, müßte die KJH auf Gesetze drängen, die beispielsweise bis zur nächsten Bundestagswahl Kinderarmut halbieren und Bildung und Gesundheit unabhängig machen von der sozialen Herkunft.


Verantwortung der Jugendhilfe
Naiv! Weltfremd! - Solche Einwände würden nicht berücksichtigen, daß in anderen Politikbereichen, wenn nämlich nicht Rechte und Interessen systematisch Benachteiligter durchgesetzt werden sollen, durchaus ergebnisorientiert verfahren wird: etwa bei Steuererleichterungen für Konzerne, der Schuldenbremse, bei Freihandel und Investitionsschutz (TTIP). Gegenwärtig ruft die politische Elite - Bundespräsident Gauck, Außenminister Steinmeier, Verteidigungsministerin von der Leyen et cetera - öffentlichkeitswirksam immer wieder: "Deutschland muß mehr Verantwortung übernehmen!" Gemeint sind Kriegseinsätze der Bundeswehr. Die PolitikerInnen könnten statt weltweiter Militäreinsätze die Bekämpfung von Armut und Ungleichheit in Deutschland und Europa durchsetzen. Eine Stiftung Wissenschaft und Politik könnte statt - wie geschehen - der militärischen Sicherung deutscher Wirtschaftsinteressen das Wort zu reden, steuer- und arbeitsmarktpolitische Grundlagen einer gerechten Gesellschaft erarbeiten: Wie kann das statistische Maß für Ungleichheit (der Gini-Koeffizient) in vier Jahren halbiert, der Besuch weiterführender Schulen herkunftsunabhängig, die gesundheitliche Verfassung armer an die aller Kinder angeglichen werden? Wie muß das Grundgesetz im Sinne einer "Kinderarmuts-Bremse" geändert werden, damit die Quote benachteiligter Kinder und Jugendlicher drei Prozent garantiert nicht überschreitet? Deutschland könnte dabei eine Vorreiterrolle in Europa übernehmen; wenn Frau von der Leyen davon spricht - "Europa kommt im Spiel der globalen Mächte sonst nicht voran...!", meint sie damit allerdings Militäreinsätze.

Forderungen nach Abbau von Armut und Ungleichheit erscheinen deshalb naiv, weil sich zu viele Menschen an die Machenschaften eines politisch-wirtschaftlichen Komplexes gewöhnt haben, der immerfort Ungleichheit produziert. Vielleicht würden auch die Eltern begünstigter Kinder um ihren "Wettbewerbsvorteil" fürchten und gegen die drohende Konkurrenz der Benachteiligten ihren ganzen Einfluß geltend machen. Umso mehr kommt der KJH eine besondere Verantwortung zu: Sie ist fachlich kompetent, parteilich für Benachteiligte und nur im oberen Segment Teil eines parteipolitischen Klüngels.

Die Kinder- und Jugendhilfe sollte also Kinder bei Gefährdung nicht nur ins Heim bringen, sondern die radikale Verringerung der Kinderarmut und der Ungleichheit durch geeignete Gesetze bis zur nächsten Wahl einklagen. Das wäre neben der unumgänglichen Hilfe für einzelne Kinder und Eltern eine ebenso notwendige, gesetzlich und moralisch gebotene präventive Arbeit: Die Beseitigung der Ursachen systematischer Kindeswohlgefährdung, nämlich von Armut und Ungleichheit.


Georg Rammer hat 35 Jahre als Psychologe in der Kinder- und Jugendhilfe gearbeitet. Zuletzt sind von ihm erschienen: "Armut essen Seele auf (Reichtum auch): Kinderarmut in Deutschland" (2013, 52 Seiten, 5 Euro) und "Hinter den Fassaden. Geschichten von Menschen und Politik" (2014, 86 Seiten, 7,95 Euro), beide im Dutschke Verlag.

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Quelle:
Ossietzky - Zweiwochenschrift für Politik / Kultur / Wirtschaft
Siebzehnter Jahrgang, Nr. 6 vom 1. März 2014, S. 187 bis 190
Herausgeber: Dr. Rolf Gössner, Ulla Jelpke, Prof. Dr. Arno Klönne,
Otto Köhler, Eckart Spoo
Redaktion: Katrin Kusche (verantw.), Eckart Spoo
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veröffentlicht im Schattenblick zum 5. März 2014