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OSSIETZKY/1114: Inflation - Qui bono?


Ossietzky - Zweiwochenschrift für Politik / Kultur / Wirtschaft
Nr. 23 vom 20. November 2021

Inflation - Qui bono?

von Manfred Sohn


Als im Frühjahr die meisten Medien in Deutschland das Thema "Inflation" noch nicht auf dem Schirm hatten oder es als eine sowohl vorübergehende als auch nicht besonders gewichtige Erscheinung abtaten, hat Ossietzky (Heft 5/2021) bereits klar vor der "kommenden Inflation" gewarnt. Inzwischen ist sie da - mit Preissteigerungsraten im 5-Prozent-Bereich. Die Möglichkeiten der herrschenden Klassen, sich elementaren ökonomischen Prozessen entgegenzustemmen, ohne durch Einsatz ihrer Mittel neue Probleme zu erzeugen, sind begrenzt. Dennoch ist auffallend, wie zäh sich sowohl die amerikanische Notenbank und entschiedener noch die Europäische Zentralbank (EZB) jedem Appell verweigert, durch Erhöhung der Leitzinsen Geld aus den Märkten zu nehmen. Ist das das Ergebnis einer noch nicht abgeschlossenen theoretischen Debatte, ob der gegenwärtige Preissteigerungsschub nun wirklich im Laufe des kommenden Jahres abebbt oder nicht? Andere - wie beispielsweise die Zentralbanken in Neuseeland, Polen oder Tschechien - haben im Gegensatz dazu kürzlich ihre Leitzinsen heraufgesetzt, um wenigstens den Willen zu signalisieren, etwas gegen die Inflation zu tun und so auch deutlich zu machen, dass sie sie nicht für eine Erscheinung halten, die im nächsten Frühjahr von selbst wieder verschwindet.

Bei unklaren Gemengelagen hilft nach wie vor die alte römische Frage "Qui bono?" - wem nützt es? Der kategorische Ausschluss einer Leitzinserhöhung für das gesamte kommende Jahr, den die EZB-Präsidentin Christine Lagarde verkündet hat, bedeutet die Verweigerung jeder noch so kleinen Maßnahme gegen die vom Schritt zum Trab übergegangene Geldentwertung. Leidtragende sind alle diejenigen, die kein Eigentum an Grund und Boden oder Produktionsmitteln haben und deren ganze Existenz an regelmäßigen Gehalts-, Lohnersatzleistungen oder Rentenzahlungen hängt. Diese Zahlungen stagnieren überwiegend oder haben Steigerungsraten von zwei oder drei Prozent. Da der Kaufwert der in Euro ausgewiesenen Einkommen aber im Herbst 2021 schon fünf Prozent weniger beträgt als im Herbst 2020, schrumpfen ihre Einkommen in spürbarem Umfang. Den Besitzern großer, abbezahlter Immobilien, Golddepots oder gar ganzer Fabriken kann der Preisverfall reichlich egal sein - der nominelle Wert ihrer Besitztümer steigt gegenwärtig weit über die fünf Prozent hinaus, auf die sich der Geldwertverlust einzupendeln scheint. Vor allem aber profitieren die hochverschuldeten Staatshaushalte der USA, Großbritanniens, Japans und der Eurostaaten von der jetzigen Konstellation: Die Zinsen bleiben von Lagarde und ihren Kollegen gedeckelt und so auch die Gefahr, dass die Haushalte bei steigenden Zinsen ihre Rückzahlungsverpflichtungen vielleicht nicht mehr ganz so locker erfüllen könnten wie in den letzten zehn Jahren. Eine beständige Inflation von fünf Prozent würde in weiteren zehn Jahren die Staatsschulden nahezu halbieren. Der deutsche Staat war zum Jahresende 2020 insgesamt mit 2.173 Milliarden Euro verschuldet. Fünf Prozent Geldwertminderung bedeuten, dass die Rückzahlung dieser Summe, erfolgte sie im Jahre 2021, nominell zwar diesen Betrag erforderte, hinter ihm aber nur noch eine reale Leistung von 1.961 Milliarden nach heutigem Geldwert stünde. Ein Jahrzehnt Inflation von 5 Prozent bedeutet für 2031 - weitere Verschuldungen unberücksichtigt - einen Wert von 1.236 Milliarden nach heutiger Kaufkraft.

Leidtragende dieser Politik wären vor allem die Lohnabhängigen und diejenigen, die von Leistungen abhängen, die an die Lohnentwicklung gekoppelt sind - also Arbeitslose und Rentner. Wirkungsvoll wehren können sich von ihnen vor allem diejenigen, die wenigstens das Mittel des Streiks in ihren Händen halten, um sich gegen die Erosion ihres Lebensstandards zu wehren.

Der Zufall will es, dass die Gewerkschaft ver.di in der laufenden Lohnrunde zu den Gehältern der Landesbediensteten eine Forderung von fünf Prozent auf den Tisch gelegt hat. Auf ihrer Durchsetzungskraft ruhen die Hoffnungen aller, die - anders als Lagarde - in ihrem eigenen Interesse nicht tatenlos zusehen dürften, dass sie die Gürtel enger zu schnallen haben, damit die Vermögenden noch vermögender werden und die Staatsmaschinen sich auf ihre Kosten entschulden.

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Quelle:
Ossietzky - Zweiwochenschrift für Politik / Kultur / Wirtschaft
24. Jahrgang, Nr. 23 vom 20. November 2021, S. 800-802
Redaktion: Haus der Demokratie und Menschenrechte
Greifswalder Straße 4, 10405 Berlin
E-Mail: redaktion@ossietzky.net
Internet: www.ossietzky.net
 
Ossietzky wurde 1997 von Eckart Spoo begründet und erscheint zweiwöchentlich.
Einzelheft 2,80 Euro, Jahresabo 65,- Euro (Ausland 94,- Euro) für 25 Hefte frei Haus.
Halbjahresabo 35,- Euro für 12 Hefte frei Haus.

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick zum 7. Dezember 2021

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