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OSSIETZKY/596: Das Palästina-Tribunal


Ossietzky - Zweiwochenschrift für Politik / Kultur / Wirtschaft
Nr. 5 vom 20. März 2010

Das Palästina-Tribunal

Von Norman Paech


Unbemerkt von deutschen Medien fand Anfang März in Barcelona ein Tribunal statt, das sicher auch in Deutschland viele Menschen interessiert hätte. Drei Tage wurde über die Situation in Palästina verhandelt. Vorbild waren die Russell-Tribunale, die 1966/67 den Vietnam-Krieg und 1974 bis 1976 die Situation in Lateinamerika untersuchten. Damals gab es noch keine internationale Strafgerichtsbarkeit, aber es bestand das dringende Bedürfnis, öffentlich die zahlreichen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Vietnam und Lateinamerika zu benennen und die hochrangigen politischen und militärischen Täter zumindest symbolisch zur Rechenschaft zu ziehen.

Seit 2002 haben wir nun einen internationalen Strafrechtskodex und ein Internationales Strafgericht in Den Haag. Aber es zeichnet sich nicht die geringste Chance ab, daß die Verantwortlichen für die in Palästina seit der Besetzung nach dem Krieg von 1967 begangenen schweren Verstöße gegen das Völkerrecht oder Israels Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit während des Gazakrieges 2008/2009 gerichtlich zur Verantwortung gezogen werden. Schon das Gutachten des Internationalen Gerichtshofes vom 9. Juli 2004, mit dem das Gericht die Errichtung der Mauer auf palästinensischem Territorium für rechtswidrig erklärte und Israel zum Rückbau auf sein Territorium sowie zu Schadensersatz verpflichtete, wurde von Israels Regierung als einseitig und antisemitisch verworfen und blieb ohne Wirkung. Kein Staat wagte es, Israel zur Einhaltung seiner völkerrechtlichen Verpflichtungen zu drängen. Daher fand sich vor einigen Monaten eine internationale Initiative zusammen, die ein Tribunal zur Juristischen Klärung und Aufarbeitung der Völkerrechtsverstöße vorbereitete. Auf der Liste der Unterstützer finden sich Namen wie Boutros Boutros Ghali, Vandana Shiva, Noam Chomsky, Jean Ziegler und etliche Nobelpreisträger.

Die schweren Völkerrechtsverstöße der israelischen Armee und Behörden während der Besatzung seit 1967 und des jüngsten Krieges im Gazastreifen sind bekannt und durch zahlreiche Untersuchungsberichte wie zuletzt den der UNO von Richard Goldstone bestens dokumentiert. Es bedurfte nicht noch weiterer umfangreicher Beweiserhebung. Sie wurden noch einmal von internationalen Gutachtern zusammengefaßt und mit Zeugenaussagen illustriert: die permanente Verletzung des Rechts auf Selbstbestimmung des palästinensischen Volkes, die illegale Siedlungstätigkeit und Plünderung der Ressourcen, die rechtswidrige Annexion Jerusalems 1980, die Kriegsverbrechen der Operation "Gegossenes Blei" und die Blockade des Gazastreifens sowie die Rechtswidrigkeit des Mauer- und Zaunbaus auf palästinensischem Territorium.

Als Grundlage der juristischen Beurteilung diente seit Jahrzehnten anerkanntes Völkerrecht: die Vierte Genfer Konvention von 1949, der Internationale Pakt über zivile und politische Rechte von 1966 und zahlreiche Resolutionen des UN-Sicherheitsrats wie auch der UN-Generalversammlung. Besonders interessant ist die Qualifizierung der systematischen Diskriminierung der Palästinenser als der Apartheid vergleichbar. Derartige Maßnahmen werden von der Konvention über die Unterdrückung und Bestrafung des Verbrechens der Apartheid vom 18. Juli 1976 als Verbrechen eingeordnet. Obwohl diese Konvention Israel nicht bindet, entlastet sie dessen Behörden auch nicht, macht aber den kolonialistischen und rassistischen Charakter der Besatzung deutlich.

Dem Tribunal ging es vor allem darum, die Rolle der EU und ihrer Mitgliedstaaten bei der ständigen Verletzung des Völkerrechts durch Israel zu untersuchen. Die europäischen Staaten sind zwar nicht direkte Täter, verletzen aber internationales Recht wie auch die interne Rechtsordnung der EU, indem sie Israels Verhalten stützen und nicht gegen offensichtliche Rechtsbrüche einschreiten. Der Vertrag von Lissabon, seit Januar 2010 in Kraft, beruft sich in seinen Eingangsbestimmungen auf die gemeinsamen Werte, die das Handeln der EU bestimmen sollen: "die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Angehörigen von Minderheiten" (Art. 2). Diese Werte gelten nicht nur nach innen, sondern auch für die Beziehungen zur übrigen Welt, wie der Vertrag unter anderem in Art. 21 vorschreibt. Ausdrücklich gebietet er auch die Achtung der Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen und des Völkerrechts. Alles nur politische Lyrik ohne rechtliche Verbindlichkeit?

Zu Recht mißt das Tribunal diesen Grundsätzen bindenden Charakter für das Handeln der EU und ihrer Mitgliedsstaaten bei, zumal sie sich in zahlreichen internationalen Verträgen und Deklarationen der UNO wiederfinden. Etwa in der Vierten Genfer Konvention von 1949, die effektive strafrechtliche Sanktionen gegenüber Personen fordert, die schwere Verstöße gegen die Konventionen begangen haben (Art. 146, 147). Oder der Pakt für zivile und politische Rechte von 1966 und das Euro-Mittelmeer-Assoziationsabkommen vom November 1995 sowie die UNO-Deklaration über die "Freundschaftlichen Beziehungen zwischen den Staaten" vom Oktober 1970. Der Internationale Gerichtshof hat die Staaten wiederholt nicht nur zu Kritik und Protest, sondern zu aktivem Handeln verpflichtet: Sie sollen diese Prinzipien gegenüber anderen Staaten anwenden und durchzusetzen, einschließlich strafrechtlicher Verfolgung.

Das Tribunal rügt besonders den Waffenexport nach Israel, den israelischen Export von Waren aus den besetzten Gebieten in die EU, die Aktivitäten etlicher Firmen aus der EU bei Projekten in den besetzten Gebieten, die fehlende Kritik an der willkürlichen Zerstörung der Infrastruktur während des Gaza-Krieges und die Entscheidung der EU, die Partnerschaftsbeziehungen mit Israel aufzuwerten - allesamt nicht nur politische Fehler, sondern Verstöße gegen völkerrechtliche Verpflichtungen, deren Einhaltung das Tribunal fordert. Darüber hinaus verlangt es von der EU, daß sie die Resolution ihres Parlaments umsetzt, also das EU-Israel-Assoziationsabkommen aussetzt und den Status der Straflosigkeit beendet, der Israel bis jetzt zuerkannt wurde. Es dringt ferner darauf, die Empfehlungen des Goldstone-Reports umzusetzen und insbesondere die Strafverfolgung strafverdächtiger Israelis wie Palästinenser aufzunehmen. Schließlich fordert das Tribunal nicht nur zur Unterstützung und Ausweitung der bereits angelaufenen Boykott- und Sanktionsaktionen gegen Israel auf, sondern verlangt direkt von den Staaten, Israel mit den notwendigen diplomatischen, Handels- und Kultursanktionen zu belegen, um seine Straflosigkeit zu beenden.

All dies ist nur dann von besonderer Radikalität, wenn man sich an den Rechtsnihilismus der israelischen Regierungen seit Jahrzehnten so sehr gewöhnt hat, daß man den Ausnahmezustand nunmehr als Normalität akzeptiert. Israel, das kranke Kind im Nahen Osten, erhält den Sonderstatus "hors de la loi", der Segen aber auch Fluch zugleich für das Land bedeutet. Denn so sehr die Kompromißlosigkeit der israelischen Regierungen von der Sanktionslosigkeit profitiert, so massiv unterhöhlen Gewalt und Rücksichtslosigkeit der Besatzungspolitik die Anerkennung Israels in der Staatenwelt und steigern seine Labilität und Unberechenbarkeit.

Daß die Ergebnisse des Russell-Tribunals von Barcelona die Haltung der EU und ihrer Mitgliedstaaten entscheidend beeinflussen werden, ist leider wenig wahrscheinlich, auch wenn noch drei weitere Sessionen in England, den USA und Südafrika geplant sind. Zudem scheinen die Fraktionen im Europaparlament nach massiven Vorstellungen aus Jerusalem von ihrer Absicht abzurücken, in einer Resolution die Umsetzung der Ergebnisse des Goldstone-Berichts zu fordern. Und die OECD plant die Aufnahme Israels - trotz der eklatanten Widersprüche zwischen ihren Prinzipien und der Politik Israels. Wenn sich schon die Obama-Administration am Ring durch die politische Arena führen läßt und sich auf einige diplomatische Unhöflichkeiten beschränkt, wird auch von den europäischen Staaten nicht mehr kommen als einige kritische Presseerklärungen. So kann kein Friedensprozeß "wiederbelebt" werden, der noch nie geatmet hat.


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Quelle:
Ossietzky - Zweiwochenschrift für Politik / Kultur / Wirtschaft
Dreizehnter Jahrgang, Nr. 6 vom 20. März 2010, Seite 204-206
Herausgeber: Dr. Rolf Gössner, Ulla Jelpke, Prof. Arno Klönne,
Otto Köhler, Eckart Spoo
Redaktion: Eckart Spoo (verantw.)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 25. März 2010