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MEGAFON/003: ... aus der Reitschule Bern, Nr. 337 - November 2009


megafon - Nr. 337, November 2009


INHALT

ENTREE
Wenn sie sich füllt Editorial
Carte blanche pour Efa

SCHWERPUNKT SEXARBEIT
Käufliche Liebe, oder Sex als Arbeit
Einleitung
Sex als Arbeit? Historischer Blick auf komplexes Phänomen
Von göttlicher Huldigung zu Arbeit
Frau Mercedes
35 Jahre auf dem Autostrich
Aus der Praxis
Beratungsstelle für Sexarbeiterinnen
"MASCARA"
Frauen erzählen vom Strassenstrich
Sonagachi - im grössten Rotlichtviertel Kolkatas
Umschlagplatz des Frauenhandels
Das Projekt Don Juan der Aids-Hilfe Schweiz
Freierbildung in Bern
Wieso Mann zu einer Prostituierten geht
Freier-Perspektive
Das Lied der Strasse Der weisse Bus

INNENLAND
Freie Menschen statt freier Handel - Destroy WTO!
Ja zum Verbot von Kriegsmaterial - Exporten am 29. November!
GSOA-Initiative
Spiel, Spass und Solidarität - Die Roten Falken Bern
Die Falken sind wieder da
Ruhiger 9. Antifaschistischer Abendspaziergang

INTERNATIONALISTISCHE
Das mexikanische 1968
Film und Infoveranstaltung

KULTUR ET ALL
Kultur und Infos gegen Frauen- und Mädchenbeschneidung
WALAL-Schwester, 27.-29.11. Reitschule
Buchtipp im November
Eine Scheibe (oder mehr) für den Winter
Musiktipps für die kalte Jahreszeit
Comixtipp im November
Scheiben von Mario Capitanio

SPECKSEITE
P. im ST. Eine Geschmacklosigkeit mit Geschmack

Raute

Carte blanche pour Efa

EDITORIAL

WENN SIE SICH FÜLLT

Liebe megafon-LeserInnen

Wenn in der Welt ausserhalb unserer Burg sich Produktionshallen und Büroräume langsam leeren, wenn der Aktivismus gedrosselt und Energiespiegel gesenkt werden - ist bald Wochenende. Ganz anderes passiert zur gleichen Zeit in der Reitschule: Auch wenn das grosse Tor (noch) zu ist, ab Freitag Mittag füllt sie sich mit ReitschülerInnen und Artistinnen und wird lebendiger denn je.

Büro- und Sitzungsräume, die wochentags oder tagsüber leer sind, werden bevölkert von Menschen und Ihren Computern. Da schwatzen überall Leute in Telefone oder mit anderen oder mit denen am Computer. Da brüten Arbeitsgruppen über Projektblättern und tönen Sounds und Brummen durch Hallen und Fenster: die Soundchecks! Da suchen die einen ein Kabel und andere richten das Licht - und über allem manchmal ein paar wunderbare Düfte aus der SousLePont-Küche: Selten gibts mehr "Reitschule-Geist" als Anfang Wochenende!

Und so ist es auch heute, und doch anders: Während unsere LayouterInnen für das November-megafon die letzten Titel setzen, an krummen Zeilen feilen und Bilder gerade schieben, ist rundherum nicht das übliche Wochenende-Gewusel am entstehen, sondern ein besonderes: Das Reitschule-Fest beginnt in wenigen Stunden.

Entstanden aus der Notwendigkeit, für Bau-, Umbau- und Renovationsprojekte Geld zu sammeln, hat sich das traditionelle "Bau-Fest" nach dem Abschluss der Gesamt-Renovation 2004 in den letzten Jahren in ein Reitschule-Fest umgewandelt. Und weil wir auch Geld brauchen, wenn wir nicht bauen, hilft das Geld, das an diesem Wochenende - an dem alle gratis arbeiten - zusammenkommt, bei der Finanzierung von Infrastruktur und Infrastruktur- und Energiekosten der Gesamtreitschule. Und natürlich auch zur Subventionierung des megafons, das - obwohl wir in der Redaktion alle unentgeltlich arbeiten - ohne Reitschule-Quersubventionen schon lange eingegangen wäre!

Wenn ihr dieses Heft in Händen hält, ist das Reitschule-Fest 2009 bereits Geschichte. Hoffentlich war es ein tolles Fest und ihr seid dabei gewesen und hoffentlich hats euch gefallen. Und hoffentlich gefällts euch sowieso in der Reitschule: Das nächste Reitschule-Fest kommt sicher. Und der November ja eben auch. Sogar in der Krise - genau wie das megafon.

Viel Lesespass!

- ANS -

Raute

Einleitung

KÄUFLICHE LIEBE, ODER SEX ALS ARBEIT

Sex ist überall zu haben, scheint bald omnipräsent - schnell, hart, weich, zärtlich, oder ganz was anderes. Sex als Dienstleistung ist nun der Themenschwerpunkt im vor euch liegenden Megafon.


Sex als Beruf, geht das? Vielfach hinterlässt diese Frage einen etwas schalen Geschmack, oder vielleicht besser, die Frage: macht das überhaupt wer freiwillig? Ist dies nicht nur schlicht entwürdigend, für die Frau, oder etwas weniger verbreitet im gesellschaftlichen Diskurs, den Mann der seinen Körper gegen Geld anbietet? Um in das Thema einsteigen zu können, beschreibt der erste Artikel den historischen Wandel der Sexarbeit von der Antike, übers Mittelalter bis zur neueren Diskussion nach 1968, wobei auch der Umgang der feministischen Linken zum Thema käufliche Liebe angesprochen wird. Eine die weiss, wie sich das Milieu gewandelt hat und wie schwer es manchmal ist, als Sexarbeiterin anerkannt zu werden, sich jedoch nie in eine Opferrolle begeben hat, ist Silvia Mercedes Leiser. Im Interview mit dem megafon erzählt sie über ihr Leben als Sexarbeiterin auf dem Berner Autostrich, auf welchem früher bis zu 25 Frauen gearbeitet haben und heute gerade noch 4-5 Frauen übrig geblieben sind.

Kein zweiter Beruf hat es wohl so schwer wie dieser, als solcher überhaupt anerkannt zu werden. Dazu kommt, dass mit Sex sich auch die Frage nach Geschlechterhierarchie, Machtausübung und Grenzüberschreitung stellt. Übersehen wird oft, dass es sich auch um eine vertraglich bestimmte Dienstleistung zwischen AnbieterIn und KundIn handeln kann, verschiedene Gründe hinter der Berufswahl liegen und nicht hinter jeder Sex-Arbeiterin ein Opfer stehen muss. Der Verein Xenia zum Beispiel, arbeitet seit über 25 Jahren in der Beratung für Frauen im Sexgewerbe auf dem Platz Bern und setzt sich für die Anerkennung der Sex-Arbeit als Erwerbsarbeit ein. Im Text zu Xenia wird deutlich dargelegt, warum es wichtig ist, die Frauen gerade nicht als Opfer wahrzunehmen. Es gibt sie jedoch auch, die Opfer, Frauen, die sich gezwungen sehen, der Sexarbeit nachzugehen und schliesslich auch Frauen, die zur Ausübung des Berufs gehandelt werden. Die Kirchliche Gassenarbeit Bern hat uns, im Einverständnis der Frauen vom Projekt "mascara" persönliche Aussagen von Frauen auf dem Drogenstrich zur Verfügung gestellt. Und schliesslich erfahren wir mehr über die Situation in Sonagachi, dem grössten Rotlichtviertel Kolkatas, den Problemen der Frauen, jedoch auch der Anstrengungen zur Anerkennung und Würde des Berufsstandes.

Ebenso haben wir versucht, die Perspektive aus Freiersicht anzudeuten. Im Interview mit Don Juan, dem Freierprojekt der Aids-Hilfe Schweiz wird Freier Sensibilisierung vorgestellt und mit dem von der Soziologin Christiane Howe zur Verfügung gestellten Artikel gelingt eine Einsicht über Gründe, weshalb sich Freier Sex kaufen.

Schlussendlich scheint es schwierig, dem Gewerbe welches von der Nacht, dem Geheimnis und Glitzerregen lebt, die Anrüchigkeit ganz zu entreissen und von der billigen Hurenromantik à la pretty woman wegzukommen. Wir hoffen jedoch, dass wir mit diesem Schwerpunkt, welcher mit der Hilfe verschiedenster Quellen zustande gekommen ist, das Bild über die Sex-Arbeit, den ganzen Facettenreichtum ein wenig anschaulicher darzustellen, mit dem Bewusstsein jedoch, das wir noch lange nicht alles abgedeckt haben.

Schlussendlich haben wir das Thema Sexarbeit im November auch im Hinblick auf den Tag gegen die Gewalt an Frauen und die vielschichtigen Aktionen rund um diesen Tag gewählt. Unter Anderem finden wieder verschiedene Aktionen und Veranstaltungen rund um die internationale Kampagne "16 Tage gegen Gewalt an Frauen" statt. Auf zwei davon möchten wir euch besonders aufmerksam machen: Walal - Schwester, vom 27. bis 29. November in der Reitschule, wo es innerhalb verschiedenster Veranstaltungen um die Frauen- und Mädchenbeschneidung und den Kampf dagegen gehen wird, sowie die Veranstaltung "Beziehungen geben mir Sicherheit - Feministische Perspektiven auf den Schweizer Sicherheitsdiskurs", am 26. November, 19h30 im Frauenraum der Reitschule, organisiert von dafne - das feministische Netz, Bern.

Einen spannenden November wünschen wir euch!

- JUH -

Raute

Von göttlicher Huldigung zu Arbeit

SEX ALS ARBEIT? HISTORISCHER BLICK AUF KOMPLEXES PHÄNOMEN

Die Konnotation von Sexarbeit hat sich im Verlauf der Geschichte immer wieder gewandelt. Dabei trat sie nie losgelöst von gesellschaftlichen Zusammenhängen auf, sondern war immer eng an politische, soziologische und wirtschaftliche Entwicklungen gebunden.


Gerne wird von Prostitution als "ältestem Gewerbe" gesprochen. Dies ist allerdings problematisch - nicht zuletzt wegen ihrer vagen Definition, denn: Wann beginnt Sexarbeit? Wenn eine Frau ihren Körper einem Mann gegen Geld anbietet? Wenn sie das freiwillig tut - oder unfreiwillig? Wenn Väter ihre Kinder verheiraten? Wenn eine Frau einen Mann heiratet, den sie zwar [nicht] liebt, aber abhängig von seiner Versorgung ist? Wenn eine Person sexuelle Kontakte mit Vorgesetzten hat, um bessere Chancen im Arbeitsmarkt zu haben? Die Liste der Fragen liesse sich endlos weiterführen. Vorläufig wird im Folgenden Sexarbeit als die "marktförmige Organisation von sexuellen beziehungsweise als sexuell definierte Handlungen" [Cornelia Hahn] verstanden und auf deren unterschiedliche Erscheinungsformen in der Geschichte fokussiert. Dabei werden drei Schlaglichter und unterschiedliche Blickwinkel auf mögliche Formen der Prostitution geworfen: die Antike, das Mittelalter und schliesslich die neuere Diskussion nach 1968.


Prostitution als "Göttliche Huldigung" in der Antike

Sexualität wurde bereits in der Antike gegen Geld getauscht - etwa bei der so genannten Tempelprostitution in einem heiligen Bau und zu Ehren eines Gottes. Diese Art von Prostitution als "göttliche Huldigung" diente damals aber auch der Entjungferung von Frauen. So schrieb etwa der Grieche Herodot: *"Jedes Weib des Landes muss sich in seinem Leben einmal vor den Tempel der Aphrodite setzen und von einem Fremden beschlafen lassen". In Griechenland lässt sich für jene Zeit ausserdem eine Hierarchie zwischen verschiedenen Dirnen ausmachen: Auf der untersten Stufe standen die Dikteriaden, die sich ausschliesslich aus Sklavinnen rekrutierten und Männern unterstanden, die ihrerseits dem Staatsdienst unterstellt waren. Diese fungierten als eine Art Zuhälter, die den Frauen einen Anteil, der ihnen oder der städtischen Verwaltung zustand, abnahmen. Die Dikteriaden lokalisierten sich in bestimmten Quartieren, waren Kleiderordnungen unterworfen und besassen gar ein eigenes Wappen - auf dem ein grosser Phallus zu sehen war. Um "anständige Frauen" zu schützen, durften sie ihre Häuser - eine Art Bordelle - nur nach Ausbruch der Dunkelheit verlassen. Daneben existierten ehemalige freie Bürgerinnen oder geschiedene Frauen, die sich auf der Strasse prostituierten. Um von Freiem erkannt zu werden, war auf ihrer Schuhsohle AKOLOUTH ("Folge mir") eingraviert - was auf den schmutzigen Strassen einen Abdruck hinterliess und die Erkennung durch Freier erleichterte. Auf der höchsten Stufe standen die Auletriden - meist Musikerinnen, Artistinnen oder Tänzerinnen, die eine entsprechende Ausbildung genossen hatten. Sie traten an Feiern oder Essgelagen auf und waren anschliessend ebenso für den Sinngenuss zu haben - meist in kollektiv-orgiastischer Form. Ihren "Lohn" erhielten die Auletriden vom Gastgeber.


(Un)erlaubte Sexualität im Mittelalter

Im Mittelalter existierte die Unterscheidung zwischen erlaubter und verbotener Sexualität. Erlaubt war Sexualität in der Ehe, wenn sie zum Zweck der Fortpflanzung diente. Alle anderen Arten von Sexualität waren verboten - was nicht heisst, dass sie nicht toleriert wurden. Prostitution gehörte zu dieser Art ausserehelichen Geschlechtsverkehrs, die unter gewissen Bedingungen von Frauen ausgeübt werden durfte. Einen Höhepunkt erreichte die mittelalterliche Bordellprostitution im 15. Jahrhundert in Form von Frauenhäusern. In diesem "Jahrhundert der Bordelle" (Iwan Bloch) wurde versucht, Prostitution zu legalisieren - aber auch zu kontrollieren und zu reglementieren. Dirnen wurden damals einerseits in die Städte integriert, anderseits aber gleichzeitig marginalisiert und gekennzeichnet. In Zürich etwa war es Dirnen vorgeschrieben, ein "rotes Käppeli" zu tragen. Die Prostituierten in den Frauenhäusern hatten eine (moralische) Verantwortung gegenüber der Gesellschaft: Ihre Aufgabe war es, die "ehrbaren Frauen" vor männlichen Übergriffen zu schützen und den jungen Männern Sexualität zu lehren. Zu jener Zeit wurde Prostitution teilweise als ein eigenes "Handwerk" verstanden, das gesellschaftlich zwar verboten, aber dennoch toleriert wurde. Obwohl keine Dirnen-Zünfte existierten, so nahmen im Verlauf des Spätmittelalters Zusammenkünfte von diesen "mittelalterlichen Sexarbeiterinnen" manchmal ähnliche Formen an - so reichten sie etwa Beschwerden an den Stadtrat gegen unlauteren Wettbewerb von Strassendirnen oder Privatbordellen ein. Zu Beginn des 16. Jahrhunderts begann sich ein Wandel abzuzeichnen: Gewalttätigkeiten gegenüber Dirnen nahmen (wieder) zu; Bräuche, die sie integriert hatten - wie etwa die Einladung bei Hochzeiten - verschwanden. Mitte des 16. Jahrhunderts begannen die städtischen Autoritäten, die Frauenhäuser sukzessive zu schliessen, weil klar geworden war, dass das Frauenhaus als "Bollwerk gegen die Unzucht" seine Funktion nicht erfüllt hatte.

Was bei der Sexualität als unerlaubt oder erlaubt gilt, wird je nach Ort und Zeit unterschiedlich definiert. Ausserdem ist eine "Geschichte der Sexarbeit" nicht nur abhängig von moralischen Vorstellungen, sondern ebenso von juristischen Reglementierungen und der Organisation von Sexarbeiterinnen. Letzteres begann sich allerdings erst in den 1970er und 1980er-Jahren vermehrt abzuzeichnen und findet nur allmählich eine Anerkennung.


"Call off your old tired ethics" (1970)

1970 fand in San Francisco der erste "Maskenball der Huren" statt. Mit dem Erlös dieses Anlasses wurde die erste Gewerkschaft für Prostituierte COYOUTE (Call off your old tired Ethics) gegründet. In der Folge formierten sich Organisationen, die sich als Einrichtungen für Prostituierte verstanden - etwa in Frankreich, England, Australien - und sich ebenso einprägende wie beispielhafte Namen gaben (Puma, Hydra, Passion). Am schwierigsten zu organisieren waren allerdings drei Gruppen von Sexarbeiterinnen: Die gut bezahlten Callgirls, die jungen Frauen (Minderjährigen) und die am schlechtesten bezahlten Prostituierten (Migrantinnen). Diese Gründungen fanden zu einer Zeit statt, in der die Gewalt gegenüber Prostituierten zunahm - von Seiten der Polizei wie auch Zivilpersonen. Der als "Yorkshire Ripper" bekannt gewordene Massenmörder Peter Sutcliffe etwa, machte Jagd auf Prostituierte, um die "versauten Strasse" zu "reinigen" und verstand seine "Säuberungsaktion" als ein Werk für die Gesellschaft. Die doppelte Tragik war, dass zu den Mordopfern Prostituierte, wie nicht-Prostituierte gehörten - in jedem Fall aber Frauen.

Seit den frühen 1980er-Jahren begann sich die Idee, dass sich Sexarbeiterinnen organisieren, durchzusetzen. Ziel dieser gewerkschaftsähnlichen Organisationen war es, Sexarbeit zu entkriminalisieren, Rechtsschutz und Reisefreiheit zu bieten, sowie zu gewährleisten, dass Vergewaltigung und andere Verbrechen an Prostituierten strafrechtlich verfolgt werden. Ausserdem war die Forderung, ihre Kinder behalten zu dürfen, ein zentrales Anliegen vieler Prostituierten.

Die Internationale Dachorganisation der Prostituierten (International Commitee for Prostitute's Rights ICPR) organisierte 1985 ihren ersten Kongress. Seit den 1980er Jahren traten auch vermehrt Männer und transsexuelle Prostituierte gewerkschaftlichen Organisationen bei. 1990 erklärte Valerie Scott, eine kanadische Prostitutionsaktivistin: "Männliche Prostitution für weibliche Kunden ist der neueste Markt der Sexindustrie. Er wächst, wenn auch langsam". Allerdings verdien(t)en männliche Prostituierte besser als ihre Kolleginnen. Zudem erreichte die Migration von Prostituierten Ende des 20. Jahrhunderts ihren bisherigen Höhepunkt. Dabei war es bezeichnenderweise die Billigprostitution, die den grössten Zustrom von ausländischen Sexarbeiterinnen verzeichnete. Anschliessend galt der gesellschaftliche Blick bis heute vermehrt den Bereichen Sextourismus, Kinderprostitution und Menschenhandel (Trafficking).


Prostitution und Feminismus

Die neue Selbstsicherheit der Neuen Frauenbewegung führte u.a. zu einer Neubewertung der Sexualität von Seiten der Frauen. Die Beziehung von Sexarbeiterinnen zu Teilen der Neuen Frauenbewegung - und umgekehrt - war aber eine ambivalente: Einerseits wurde die Losung "mein Körper gehört mir" der Feministinnen, die damit insbesondere die freie Wahl der Abtreibung ansprachen, auch von Sexarbeiterinnen getragen. Sie äusserten sich teilweise ähnlich, im Sinne, dass sie selber über das Recht verfügen sollten, ihren Körper zu verkaufen. Obwohl sich die erste Position bis Ende der 1970er-Jahre innerhalb feministischer Kreise durchsetzte, so hatte es die zweite Position schwieriger: Selten wurden die Anliegen der Sexarbeiterinnen unterstützt oder gar darauf eingegangen. Zum Streit kam es etwa zu Beginn der 1980er-Jahre in den USA. 1982 wurde Margo St. James, eine der Mitbegründerinnen von COYOTE und Aktivistin der Gewerkschaftsarbeit der Sexarbeiterinnen, von der Feministin Kathleen Barry angefragt, an einem feministischen Kongress teilzunehmen. St. James und andere Prostituierte planten daraufhin, sich auf "den feministischen Kampf gegen männliche Gewalt und den feministischen Kampf für Selbstbestimmung" zu fokussieren. Die Vertreterinnen der Prostituierten hatten - zu Recht - angenommen, als Referentinnen an der Tagung teilzunehmen. Die Organisatorinnen um Barry sahen aber lediglich eine Podiumsveranstaltung vor, an dem die Sexarbeiterinnen als "mündliche Quellen" auftreten durften - und nach ihrer Befragung, die Bühne sogleich wieder verlassen sollten.

1995 erläuterte Barry erneut ihre Position gegenüber Sexarbeit in The Prostitution of Sexuality: "Tatsache ist doch, das alles was prostituierende Frauen tun, uns anderen schadet. Die Prostituierten lassen die Männer in dem Glauben, dass jede Frau sexuell verfügbar ist, freiwillig oder gegen Bezahlung. Die nächsten logischen Schritte sind Gewalt in der Ehe und Vergewaltigungen auf der Strasse. Die Prostitution ist der rote Faden, der dahin führt, dass alle Frauen als Geiseln oder Sklaven enden". Ein Problem schien darin gelegen zu haben, dass Feministinnen wohl Sexarbeiterinnen unterstützen wollten, das Gewerbe an sich aber bekämpften. Die Anliegen der Sexarbeiterinnen wurden erst in den 1980er-Jahren von breiteren feministischen Kreisen aufgenommen.


Sex als Arbeit?

Die häufigste Form von Prostitution stellt(e) diejenige zwischen einer weiblichen Prostituierten und einem männlichen Kunden dar. Dieses Verhältnis war und ist asymmetrisch geprägt: Während ein Kunde freiwillig, kurzzeitig und anonym in diese Interaktion eintreten kann, ist die breitere soziale Lage der Prostituierten durch ihre Tätigkeit definiert: Sie tangiert nicht nur die Grenzen des gesellschaftlich oder rechtlich "erlaubten". Vielmehr hat ihre Situation - nicht nur soziale und juristische, sondern ebenso gesundheitliche und berufliche Folgen, die flicht nach einer Interaktion verschwinden. In Situationen der illegalen oder erzwungener Prostitution oder in Situationen der Abhängigkeit (Drogen, Migration) verschärft sich die Lage zunehmend. Ausserdem ist Sexarbeit durch ein zweiseitiges Wertesystem geprägt: Einerseits durch den Tausch von Geld gegen Güter und Leistungen - wobei der Preis bei knappen Gütern, wie etwa der Sexualität, die durch Normen eingeschränkt wird, steigt. Anderseits existiert ein Statusgefälle zwischen Frauen und Männern. Sexismus und Kapitalismus gehen heute also Hand in Hand und es gilt, diese komplexe und ambivalente Verstrickung von Geld als Tauschmittel und Sexualität als Dienstleistung immer wieder neu zu denken und den Begriff "Sexarbeit" zu hinterfragen. Denn der Tausch von sexuellen Dienstleistungen war historisch oftmals durch Ungleichheit und Ausbeutung gekennzeichnet und wurde als ein Mittel zur Machterhaltung verwendet. Ebenso wenig handelt(e) es sich um einen gewerblichen Tausch von gleichen "Gütern". Weder heute noch in der Antike.

- LSC -


Weiterlesen:
- Feustel, Gotthard: Käufliche Lust. Eine Kultur- und Sozialgeschichte der Prostitution, Leipzig 1993.
- Hahn, Kornelia: Prostitution, in: Metzler Lexikon Gender Studies, S. 321f.
- Ringdal, Nils Johan: Neue Weltgeschichte der Prostitution, München 2006.

Raute

35 Jahre auf dem Autostrich

FRAU MERCEDES

Frau Silvia Mercedes Leiser hat mit 25 Jahren angefangen, auf dem Autostrich der Berner Allmend zu arbeiten. Heute lebt sie als Frühpensionärin in einer kleinen, bunt eingerichteten Wohnung zusammen mit ihrem jungen Hund. Dort hat sie mich empfangen und aus ihrem Leben erzählt.


Frau Mercedes hat 35 Jahre lang als Sexarbeiterin auf dem Autostrich gearbeitet. Darüber sowie über den aussterbenden Autostrich haben David Fonjallaz, Simon Jäggi und Louis Mataré den Dokumentarfilm "Frau Mercedes - Alt werden auf dem Autostrich" gedreht. In der Synopsis zum Film heisst es: "Sie hatte tausende Männer und liebt eigentlich die Frauen. Sie verkauft ihren Körper aber nicht ihre Ehre. Sie könnte reich sein, doch sie hat gelebt."

Durch Xenia haben wir Kontakt zu Frau Leiser gefunden - ein Versuch eines Blickes hinter die Kulissen.


megafon: Eine Frage, die Ihnen wahrscheinlich schon oft gestellt wurde, Frau Mercedes, wie sind Sie zu Ihrem Beruf gekommen?

S.M. Leiser: Ja, das kenne ich gut... Ich war früher Taxi-Fahrerin. Dann wurde mir die Stadtbewilligung wegen Amtsbeleidigung entzogen. Ich durfte zwei Jahre nicht fahren in der Stadt. In Bern machte meine Schwester das KV im Monbijou. Sie sagte, sie würde dort immer von Männern angehauen. Dann liess ich mich mal anhauen und traf einen Zuhälter. Der gab mir etwa 150 Franken. Danach sagte er, er müsse noch zu seiner Freundin einkassieren auf die Allmend. Ich ging mit, was man heute nicht so einfach mehr könnte... Diese Freundin fragte: "Wer ist deine nette Begleitung?" Er sagte, dass ich etwas anschaffen wolle, bis ich wieder fahren könne. Vera, so hiess die Frau, sagte dann: "Das macht man richtig oder man lässt es bleiben." Wir haben uns am nächsten Tag wieder getroffen und so bin ich reingerutscht. Ich habe ihm dann vier, fünf Tage zum Schutz etwas bezahlt, obschon ich keine Probleme hatte, weil ich mit Vera die Bekannteste aus Bern getroffen hatte. So bin ich total gut reingerutscht, was sonst nicht so der Fall war. Oft hast du zuerst mal "eis uf d' Schnure" bekommen... ich hatte einfach Glück. Aber wenn du mal drin bist, kannst du nicht mehr aufhören. Aus finanziellen Gründen gings schon, aber nach einer gewissen Zeit will dich niemand mehr anstellen, niemand will eine Dirne, weil die Leute halt reden.

Spricht sich das denn so schnell rum?

Oh ja, das geht unglaublich schnell und meistens durch die Leute, die zu uns kommen. Verstecken spielen geht nicht.

Braucht es Werbung, oder braucht es die dann auch nicht?

Ich fing mit dem Studio an oder auf bestimmten Strassen liesst du dich von Männern anhauen. Danach wurden sämtliche Zimmer abgesperrt und eine Kollegin meinte: "Komm, wir machens im Auto". Das war in den 1970ern-Jahren. So fingen wir an und verlangten nur die Hälfte des Preises vom Studio, obwohl viele mehr gegeben haben, wenn man länger geblieben ist. So ist der Autostrich entstanden. Heute gibt es nur noch 4 bis 5 Frauen, fertig. Heute sind es Hotels, Escorts, oder Salons... diese Häuser und so... das gab es früher alles nicht. Diskret war es schon, das muss man sagen. Aber man hatte dann doch den Namen. Heute gibt es viele, die Prostitution akzeptieren. Aber früher, da wurdest du als Dirne überall abgeschrieben: Wohnungen, Kredite... überall, aber das Geld haben sie natürlich immer genommen!

War es denn früher anständiger?

Sauberer vor allem. Du kamst eigentlich gar nicht gross in Berührung mit dem Gast. Also, im Zimmer schon, da hast du dich auch ausgezogen. Und es gab nur "mit", wenn jemand "ohne" gemacht hat, die haben wir traktiert oder verjagt, das gabs gar nicht. Aber heute, da würde ich sagen, machen es über 80 Prozent wieder "ohne", die haben keine Angst mehr vor Krankheiten... mit dem Mund ohne, unten ohne, jede Schweinerei, alles.

Wie machen diese Frauen das, lassen sie sich zum Beispiel testen?

Das nützt ja nichts, ich kann den Aids-Test machen und am gleichen Abend mach ichs wieder "ohne" und das Risiko ist trotzdem da. Früher war es die Syphilis, aber das konntest du mit Spritzen wegmachen. Aber Aids, das kannst du vergessen. Die Polizei macht ja nichts, kann nur was auf Anzeige machen. Aber heute, da kann eine Hunderte anstecken, bis was passiert. Das ist schade... und eben das Angebot. Und die Männer sind einfach so, wo sie viel kriegen für wenig Geld, da gehen sie hin.

Wie bei McDonalds...

Ja, Qualität wird gar nicht verlangt. Die, die Qualität wollen, die haben Maitressen oder eine Freundin neben der Frau. Aber das ist ein anderes Gebiet. Die, die was Schnelles wollen, die wollens auch billig und 99 Prozent der Männer mögen einfach perverse Frauen, weil es die Frau zu Hause nicht macht. Wenn jede Frau zu Hause auch ein bisschen Dirne wäre, dann gäbe es unser Gewerbe nicht mehr. Der Mann sollte eigentlich eine gute Köchin, eine Schöne zum Ausgehen und eine Sau im Bett haben. Aber das gibt es nicht und wenn, dann schätzt es der Mann oft nicht einmal.

Wie kamen Sie eigentlich zum Namen Mercedes?

Ich war früher oft mit Striptease-Tänzerinnen unterwegs, arbeitete auch als "Barmaid" und bin nach Feierabend immer in Dancings gegangen... Das Milieu hat mich immer schon interessiert, das Nachtleben. Da hat mir eine Tänzerin einen Mercedes offeriert.., ich hatte zwar kein Geld, aber habe sie immer ausgeführt und so. Nachher kam ich auf die Gasse und in den 1970ern wurde jede nach dem Auto genannt. Camarro, Mercedes, Capri... So habe ich meinen Namen 35 Jahre behalten, ich liess ihn mir von niemandem wegnehmen. Da hab ich auch gute Sachen erlebt. Ich hatte mal jemanden aus dem Oberland und der fragte wie ich heisse und ich sagte, Mercedes. Er meinte daraufhin "ich bin der Opel" [lacht], der hat das gar nicht Ernst genommen...

Warum ist der Autostrich in Bern eigentlich am "aussterben"?

Ich ging eigentlich vom Platz, äh ja, Tschäppät + Co., die haben den Platz für die Chauffeure gesperrt, obwohl wir ein sehr gutes Team waren. Sie konnten schlafen, wir schauten, wenn wir Probleme hatten, halfen sie uns. Die Allmend war voller Lastwagenchauffeure, jahrelang. Die durften dann plötzlich nicht mehr kommen und dann haben sie schliesslich auch für uns abgesperrt. Früher hatten wir viel mehr Kunden, auch die Chauffeure, das war wahnsinnig... da bist du nicht so aufgefallen. Wir waren ca. 23 bis 25 Frauen, bis in den Bärengraben. Die meisten vom Bärengraben an, gingen dann in die Salons, also haben beides gemacht, Autos und Salon, später gingen sie ganz in die Salons. Das wollte ich aber nie machen.

Weshalb nicht?

Im Salon, da musst du dich erstens ganz ausziehen. Im Auto konntest du dich auch besser wehren gegen ohne Gummi. Du konntest sagen, dass du dich dort nicht waschen kannst. Das wäre nicht sauber, das haben sie dann geschluckt, im Salon ging das nicht so gut. Im Salon wird auch mehr verlangt, in einem Raum hast du auch andere Möglichkeiten. Die meisten der Frauen gingen jedoch in die Salons, bis sie dann auch gesehen haben, dass sie nichts verdienen... Dann kamen die AusländerInnen. Am Anfang konnten wir sie jagen, weil sie illegal arbeiteten, dann kriegten sie ja eine Bewilligung. Nachher die Illegalen, die kamen ein paar Wochen und gingen wieder und machten alles. Das gab dann so einen Wechsel und das mochten die Männer, immer wieder Neue zu haben, oft auch extrem Junge und von jeder Nationalität...

Ist Frauenhandel ein Thema?

Da weiss ich viel von Frauen, die sich beklagen, aber die Polizei kann nichts machen. Ich habe der Polizei schon oft etwas gesagt. Die Antwort war: "Du kannst anrufen, sagst mir, wo etwas ist und wenn ich ankomme, dann ist sie nicht mehr dort." Die sind sehr gut organisiert und haben gute Verstecke. Die Polizei kommt da nicht nach, sie können 35 Razzien machen und woanders kommen 40 Neue nach.

Nützt da etwas wie Freiersensibilisierung, wie zum Beispiel durch Don Juan?

Das ist schwierig. In meinem Film zum Beispiel wollten wir auch was mit Freiern machen, aber diejenigen die zusagten, wollten sich nur wichtig machen. 99.9 Prozent der Kundschaft ist verheiratet, vergeben oder geschäftlich unterwegs. Die können sich nicht stellen, das geht nicht. Das läuft im Verborgenen. Wir hatten sogar einen, der immer eine Zahl der Autonummer abgedeckt hat [wir lachen].

Ist es eigentlich eher ein emotionaler Job oder eine technische Tätigkeit?

Eine richtige Dirne hat keine Gefühle, gibt sich nicht her. Wenn sie das nicht so macht, ist sie eine Schlampe, wie man so sagt. Eine Dirne macht den Job, aber da darf gar nichts passieren. Bis zur Oberweite, das alles kann gewaschen werden. Am Feierabend hab ich jeweils gebadet, da ging alles weg, was ich gemacht habe. Aber das Gesicht ist privat. Das ist eben heut nicht mehr so, heute geben sie altes. Es ist ein Job, wo du abstellen kannst. Das solltest du auf jeden Fall können. Dann ist es hauptsächlich wegem Geld. Das stellt dich auch auf, neben den Erniedrigungen. Das ist der Dank des Jobs. Wenn es nicht mehr läuft, ist es was anderes. Aber nein, das ist rein maschinell, total kalt und muss auch so sein, sonst macht sie den Job nicht richtig.

Mit Xenia arbeiten sie schon länger zusammen?

Seit fünf Jahren. Xenia hat mir auch beim Ausstieg geholfen, durch sie habe ich die AHV erhalten und bin zum Film gekommen. Xenia hat mir wirklich sehr geholfen. Am Anfang wollte ich ja nichts davon wissen. Dann war ich dort als Gast und später suchten sie eine neue Köchin. Ich hatte vorher noch nie gekocht in meinem Leben. Martha hat mich ermutigt, das auszuprobieren und jetzt geht das perfekt und ich fühle mich wohl dort. Sie haben mir moralisch und seelisch sehr geholfen. Sonst hätte ich ziemlich Mühe gehabt. Am Anfang wusste ich nicht was machen, ich verdiente nichts mehr, ich konnte aber nicht aufhören, AHV war noch nicht nach, weil ich erst 58 Jahre alt war. Manchmal erwachte ich und musste mich fragen, ob ich was verdiene abends oder nicht. In den fünf Jahren hab ich nur Glück gehabt mit Xenia. Ich hab auch Kolleginnen, die zu Martha oder Jaqueline gehen, wenn es ihnen schlecht geht und sie sind immer gut aus diesem Büro herausgekommen. Und ich bewundere dies sehr. Das sind superstarke Frauen, seelisch und moralisch. Aber auch die anderen auf der Strasse, wie zum Beispiel die vom "Don Juan", das sind altes sehr starke Leute.

Wie handhabt das Milieu Sicherheit und Gewalt?

Es gibt immer eine Gefahr und wird auch so bleiben. Du musstest immer selber schauen. Man sagt ja, der Zuhälter schaut zur Dirne. Stimmt nicht, der nimmt sie nur aus. Wenn Zuhälter schützen würden, hätte ich auch einen gehabt. Wir machten es früher in den Studios so, dass wir zwei Zimmer hatten. In einem liessen wir Musik laufen und sagten, dass wir leise machen müssten, weil die Kollegin nebenan sei. Das war eine Sicherheitsmassnahme. Sonst musstest du dir immer selbst lieb sein. Im Auto habe ich den Leuten immer in die Augen geschaut. In den Augen siehst du, ob jemand gestört ist. Ich hatte ein paar Situationen, in denen ich unwahrscheinliches Glück hatte, weil ich im Moment keine Angst habe, die kam erst im Nachhinein. In der Situation hab ich mich immer sehr gut verhalten. Das ist auch etwas, was man die Mädchen lehren sollte, wenn sie auf so eine Situation stossen. Aber eben, ich weiss nicht, ob man das Lernen kann. Ich hatte nie Angst, hatte immer Ausreden: Einer würgte mich mal und ich sagte nur "würg doch", aber danach zitterte ich wie ein Kleeblatt. Nach solchen Erlebnissen hatte ich immer extrem Probleme. Einer ging auch mal mit dem Messer auf mich los, noch lange Zeit danach hatte ich mit der Bewegung, wenn jemand das Portemonnaie herauszog grosse Probleme. Eine alte Dirne hat mir mal gesagt, "nach solchen Vorfällen musst du immer gleich wiederarbeiten gehen, damit du dich danach gewöhnst, sonst ist die Angst zu gross."

Wie war das später, einen Film über Ihre Arbeit zu machen?

Das war ein grosser Zufall. Ich hab ein Interview mit Simon Jäggi vom Bund gemacht. Durch das Interview ist er oft mit mir und dem Hund spazieren gegangen auf der Allmend, wir haben viel diskutiert und das lief sehr gut. Dann hat er seinen zwei Kollegen, die Filme machen, von mir erzählt, mit der Idee, mehr aus der Geschichte herauszuholen. Danach haben wir uns getroffen, sie fanden mich super und ich hab natürlich grad gesagt "nein, nein, nein" [lächelt]. Dann hat das aber gut geklappt, ich hatte keine Kamerascheu. Sie haben das auch sehr gut gemacht, die "Giele". Sie sind 1980 geboren, extrem jung oder, aber sie sind einfach so zu mir gekommen und wenn es mir nicht gut gegangen ist, haben sie mich aufgestellt und zwischendurch haben wir nicht gefilmt. Super, es war ein super Team über ein Jahr. Dann ist der Film auch gut rausgekommen, oder - und hatte auch überall Erfolg? [das Natel klingelt] Das ist immer noch das Freier-Telefon, aber ich hab noch Nachrichten drauf. Das ist eben auch die Melodie, welche wir für den Film wollten, "Blue Bayou", aber sie haben die Rechte nicht bekommen. Für eine andere Melodie ebenfalls nicht. Sie haben nach Amerika geschrieben, haben die Bewilligung aber nicht erhalten, weit es ein Sexfilm sei. Da kommt gar kein Sex vor! Aber er handelt von einer Dirne...

Kotzt Sie diese Doppelmoral nicht manchmal an?

Ja, aber ich kann gut damit umgehen. Ich war immer Einzelgängerin und hab gesagt "blast mir doch in die Schuhe." Von dem her habe ich nicht viel darunter gelitten. Und ich habe meine Freunde und sage mir, "egal, wie schlecht du bist, die Leute die zu dir halten, halten zu dir." Viele Leute sagten auch oft, "hör mal auf mit deinem verdammten Milieukomplex. Es gibt nicht nur im Milieu schlechte Leute, sondern überall, egal wo". Das hab ich mir nachher so ein bisschen in den Kopf gesetzt und es ist gut gegangen.

- JUH -

Raute

Beratungsstelle für Sexarbeiterinnen

AUS DER PRAXIS

Xenia ist zwar klein, aber oho! Seit 25 Jahren ist die Beratungsstelle für Frauen im Sexgewerbe auf dem Platz Bern aktiv und schlicht nicht mehr weg zu denken!


Das Selbstbewusstsein der Frauen im Sexgewerbe zu fördern, ist ein Hauptziel von XENIA. Die Beratungsstelle will die Arbeitsbedingungen der Sexarbeiterinnen verbessern und die Schranken zwischen Frauen im Sexgewerbe und Frauen aus anderen Berufen aufheben, aber auch bei breiteren Bevölkerungsschichten Vorurteile gegenüber der Sexarbeit abbauen.

XENIA ist für die Stadt Bern und Agglomeration zuständig, wie das im Leistungsvertrag mit der Stadt Bern festgelegt ist. Die Stadt subventioniert die Beratungsstelle zu 80 Prozent. Die restlichen 20 Prozent und die Kosten für das Gesundheitsförderungs- und Aidspräventionsangebot (zusammen rund 90.000 Franken) müssen zusätzlich herein geholt werden, was sich immer schwieriger gestaltet, denn wer will schon Sexarbeiterinnen unterstützen?

Die Beraterinnen von XENIA führen immer wieder Diskussionen darüber, ob es einfacher wäre Geld aufzutreiben, wenn die Sexarbeiterinnen einfach als Opfer bezeichnet würden. Aber genau das will XENIA auf keinen Fall. Sexarbeiterinnen haben aus irgendeinem Grund diese Arbeit gewählt (und hier ist nicht von Betroffenen von Frauenhandel die Rede). Es ist wichtig, diese Entscheidung zu respektieren und die Sexarbeiterinnen in ihrer Arbeit mit allen Rechten und Pflichten zu beraten, zu begleiten und zu unterstützen.


Ein Beruf wie jeder andere

Sexarbeiterinnen sind selbständigerwerbende Berufsfrauen, mit Stärken und Schwächen, mit Ressourcen und Defiziten usw. Natürlich gibt es berufsbedingte Probleme, doch das hat ein Bauarbeiter oder eine Serviceangestellte auch.

Ratsuchende Sexarbeiterinnen, die psychosoziale Probleme haben, tendieren dazu, diese nur als Folge ihrer Arbeit zu betrachten. Beim gemeinsamen genauen Hinschauen stellt sich oft heraus, dass sich ihre psychischen Probleme nicht immer auf die Arbeit als Sexarbeiterin zurückführen lassen. Oft sind es Themen, die im Leben eines jeden Menschen in Krisenzeiten auftauchen können. Erst wenn die Sexarbeiterin sich dieser Sachlage bewusst wird, kann sie sich mit ihren tatsächlichen Schwierigkeiten auseinandersetzen.


Berufswechsel

Freiwillige Sexarbeit soll als solche anerkannt werden. Plant eine Sexarbeiterin (aus welchen Gründen auch immer) einen Berufswechsel, wird sie auf der Suche nach anderen Berufsmöglichkeiten unterstützt. Es gilt abzuklären, welche Ausbildungen, Weiterbildungen und Berufserfahrungen sie bereits gemacht hat. Es gilt herauszufinden, in welche Berufsrichtung sie gehen möchte. Es muss herausgearbeitet werden, welche zusätzlichen Fähigkeiten/Ressourcen sie hat, welche Sprache(n) sie spricht usw. Bei der Stellensuche gibt es tatsächlich Schwierigkeiten, die auf die Sexarbeit zurückzuführen sind (oder eher auf die Haltung der Gesellschaft). Wie zum Beispiel sollen die Jahre der Sexarbeit im Lebenslauf erfasst werden? 5 Jahre Sexarbeit oder Hausfrau oder Pflege der Eltern oder Auslandaufenthalt?. Es geht also darum, alle Tätigkeiten (auch die in ihrem Heimatland) hervorzuholen, diesen Erfahrungen und Fertigkeiten einen Wert zuzuschreiben, auch wenn die Sexarbeiterinnen diese oft als unwichtig taxieren.

XENIA ist mit Beratungsstellen aus ganz Europa vernetzt. Die folgenden Passagen sind der Broschüre der Organisation MADONNA aus Bochum entnommen, mit deren Grundsätzen sich XENIA voll und ganz identifizieren kann:


Prostitution hat viele Gesichter

­... und so verschieden sind auch die Frauen und Männer, die darin arbeiten und so vielfältig ihre Motivationen, das zu tun: Die einen wollen nur vorübergehend hier tätig sein, weil sie nichts anderes finden. Die anderen sehen hier die besten Möglichkeiten, ohne formale Voraussetzungen in kurzer Zeit viel Geld zu verdienen, (obwohl XENIA feststellt, dass das Einkommen nicht mehr sehr gross ist, wie noch vor ein paar Jahren). Wieder andere suchen den Reiz und die Toleranz des Rotlichtambiente oder flexible Arbeitszeiten bei relativ guten Verdiensten. Vor allem aber arbeiten sie hier, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen, wie die meisten anderen berufstätigen Mensch auch.


Prostitution ist Arbeit! Prostituierte verdienen Respekt!

XENIA versteht Sexarbeit als professionelle Tätigkeit und wünscht sich, dass Sexarbeit als Erwerbsarbeit anerkannt wird. In der Sexarbeit tätige Frauen und Männer sollen staatlichen Schutz und zwischenmenschlichen Respekt geniessen, wie andere auch. Viele Menschen wollen diesen Schutz und Respekt verweigern, weil sie Sexarbeit mit sexualisierter Gewalt verwechseln. XENIA unterscheidet zwischen Prostitution als Dienstleistung, die einen einvernehmlichen Vertrag zwischen den Beteiligten voraussetzt und erzwungenen sexuellen Handlungen.

Erzwungene sexuelle Handlungen sowie Gewalt und Ausbeutung verletzen die Menschenrechte der Betroffenen und müssen an allen anderen Orten der Gesellschaft - auch in der Sexindustrie - aufgedeckt und bekämpft werden. XENIA wünscht sich, dass die Menschen, wenn von Prostitution, Sexarbeit, Rotlicht, Bordell oder Hure die Rede ist, die gängigen Klischees nicht gleich hereinbitten, sondern überdenken.


Wenn Sex Arbeit wäre, könnte es etwa so sein:

Sexarbeit ist eine Tätigkeit rund um sexuelle Dienstleistungen. Prostitution ist eine höchstpersönliche Dienstleistung, über deren Inhalt und Ausmass nur die Prostituierten selbst entscheiden können.

Sexarbeit kann selbständig und in einem Arbeitsverhältnis ausgeübt werden. Voraussetzung sind einvernehmliche Verträge zwischen den Beteiligten und die Einhaltung gesetzlicher Mindestvorgaben. Professionelle Sexarbeiterinnen sind Expertinnen in Sachen Sexualität, Erotik, Unterhaltung und Inszenierung. Sie kennen sich aus in der Gesundheitsvorsorge und verfügen über Organisationtalent und Menschenkenntnis.

Berufsverbände für Sexarbeiterinnen entwickeln Berufsstandards und Tarifpartner wie Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände handeln Arbeitsbedingungen aus.

Prostitution - zum Beispiel in Prostitutionsbetrieben - baut wie andere Branchen auf einer guten und soliden Infrastruktur auf und erfordert Dienstleistungen wie Wäsche- und Reinigungsservice, Fahr- und Sicherheitsdienste, Verkaufsstellen für Arbeitsmittel, Vermittlungsagenturen und Gesundheitsdienste. Prostitutionsbetriebe unterliegen wie andere Unternehmen behördlicher Aufsicht hinsichtlich gesetzlicher Rechte und Pflichten.

Freier sind Kunden, die sexuelle Dienstleistungen von Prostituierten schätzen, das spezielle Ambiente geniessen und entsprechend honorieren.

In der Sexindustrie arbeiten Menschen aus allen Ländern der Welt, insbesondere Frauen. Die MigrantInnen, die zum Zwecke der Ausübung der Prostitution einreisen, unterliegen den gleichen rechtlichen Bestimmungen wie andere ArbeitsmigrantInnen.

- MARTHA WIGGER -
www.verein-xenia.ch


ARBEITSSCHWERPUNKTE XENIA

Beratung (Gesundheit, HIV, Aids, andere sexuell übertragbare Krankheiten, Steuern, Berufswechsel, erste Schritte zu Schuldensanierung, Recht usw.)
Aufsuchende Sozialarbeit (XENIA besucht die Frauen an ihrem Arbeitsort, geht also dorthin, wo sonst niemand hingeht)
Projektarbeit (Gesundheitsförderungs- und Aidspräventionsangebot / Nr. One, die Cafeteria)
Öffentlichkeitsarbeit (Medien, Schulen, Kirchgemeinden etc.)

Raute

Frauen erzählen vom Strassenstrich

"MASCARA"

Sexarbeit kennt viele Gesichter. Der kirchlichen Gassenarbeit Bern sind vor allem diejenigen vertraut, die gezeichnet sind von Sucht und dem Leben auf der Gasse. Menschen in Not, auf der Suche nach dem nächsten Schuss. Im Hoch des letzten Kicks, um das Tief zu vergessen.


"Unsere" Frauen gehören nicht zu den so genannten "Profi-Frauen". Sie gehen dieser Arbeit nach, weit sie keinen Anspruch an ein geregeltes Leben stellen. Die Arbeitszeiten sind relativ variabel. Die Nachfrage diktiert das Angebot. Die Nachfrage diktiert auch den Preis. Ein Preis, der in keinem Verhältnis steht. Doch was mag schon Gefahr, körperliche und seelische Gewalt, der schale Geschmack der übrig bleibt... aufwiegen.

In unserer Arbeit auf dem Strassenstrich und insbesondere im Projekt "Mascara" erhalten wir einen Einblick in die Welt der Sexarbeiterinnen. Wir besuchen sie bei der Arbeit und erahnen das Milieu, in dem sie sich bewegen. Sie besuchen uns im Büro und haben Gelegenheit, mit anderen Frauen zu sprechen. Unbeschwert und fernab vom Beschaffungsstress. Sie verarbeiten in Texten, Gesprächen und Zeichnungen, was kaum zu verarbeiten ist. Mit dem Projekt "Mascara" wollen wir unter anderem genau denjenigen Frauen eine Stimme verleihen, die in der Öffentlichkeit tot geschwiegen werden. Und weil alleine sie berichten können, was tatsächlich in der Nacht auf Berns Gassen passiert, wollen wir auch ihnen das Wort übergeben:


Mascara 03/09: Wie es den Frauen auf dem Strich ergeht

Die Frauen auf den Strich sind recht abgestürzt. Vor kurzem war ich wieder einmal auf dem Strich. Ich sprach dort mit einer Frau, welche mir erzählte, wie schlimm es im Moment ist. Es sind immer dieselben Freier hier und bezahlen wollen diese kaum etwas. Für Geschlechtsverkehr kriege man knapp 50 Franken. Ich konnte dies gut glauben. Wir werden zu billig verkauft. Die Freier wissen genau, wenn es jemandem nicht gut geht. Wenn die Frauen auf dem "AFF" sind oder es ihnen sonst körperlich nicht gut geht, märten sie umso mehr. Sie wissen, wie sie die Frauen rumkriegen. Es ist so traurig, für welches Geld sich jemand verkauft. Zum Teil ist es auch noch weniger.

Es gibt auch solche, die zuerst einen Preis abmachen und dann irgend an einen Waldrand fahren. Zuerst wollen sie die Arbeit und dann das Finanzielle. Wegen dem weiten Weg zurück, gehen dann die Frauen auf diesen Deal ein. Nachdem sie fertig sind, verlangen die Frauen das Geld, werden dann ausgelacht und kriegen keinen Rappen.

Ehrlich gesagt, ist mir dies auch schon mal passiert. Wir sind damals nach Niederwangen in den Wald gefahren und er wollte nicht vorher bezahlen. Ich war in einer Scheiss-Situation! Soll ich dem glauben und vertrauen? Wir waren so weit gefahren. Soll ich es riskieren??? Ich sagte mir: "Okay, ich riskiere es!". Hätte besser auf mein Inneres gehört. Nach dem wir fertig waren, wollte ich das Geld. Ich kriegte einen Schock, als er sagte: "Nein!" Zuerst dachte ich, er mache einen Witz. Doch er meinte es sehr ernst. Ich bekam Tränen in den Augen, vor Wut. Ich hätte ihn umbringen können. Als Dankeschön habe ich ihm dann mit meinem Schlüssel das Auto verkratzt. Er war sehr wütend und beschimpfte mich. Es war mir so etwas von egal!!! Ich lachte ihn nur aus und sagte: "Gott straft sofort!" Ja, es geschehen schlimme Sachen auf dem Strassenstrich! Ich hoffe, dies bessert sich mal. Ich wünsche allen Frauen viel Glück! Lasst euch nicht alles gefallen!


Mascara 03/09: Frauen und die Freier

Es war Sommer. Ein heisser Tag. Ich ging wie jeden Tag auf den Strich. An diesem Tag lief es ziemlich gut. Ich hatte schon 300 Franken gemacht. Wie gesagt, es lief ziemlich gut. Plötzlich kam ein Freier mit einem roten Audi. Anfangs war er sehr nett, fast zu nett. Wir hatten abgemacht für 150 Franken Geschlechtsverkehr. Wir fuhren in die Länggasse in den Wald. Auf einmal war es komisch. Er war nicht mehr nett, auf einmal wurde er arrogant und böse. Ich überlegte mir auszusteigen. Hätte ich es nur getan!!

Als wir im Wald ankamen, wollte er mir das Geld nicht geben. Wir fingen an zu streiten. Richtig Streit! Als ich dann aussteigen wollte, und die Türe aufmachte, packte er mich am linken Arm. Er zog mich zu sich zurück ins Auto! Langsam bekam ich Angst. Als er mich ins Auto zog, zerriss er mir mein T-Shirt. Er packte mich und zog mich an sich. Er schlug mich ins Gesicht und auf einmal war er auf mir. Ich wehrte mich, doch es half nichts. Er vergewaltigte mich! Ich hatte blaue und grüne Flecken am Körper! Als er fertig war, schmiss er mich aus dem Auto. Das Geld bekam ich nicht. Zum Glück benutzte er einen Gummi. Als ich wieder ein wenig zu mir kam, weinte ich. Ich hatte einen Schock! Später ging ich zur Polizei, um eine Anzeige zu machen. Sie waren zwar nett, aber ich kam mir mega schmutzig vor. Nach ein paar Stunden Verhör etc. konnte ich nach Hause gehen! Ich habe sehr lange geduscht. Dieses perverse Schwein haben sie nicht erwischt. Ich habe immer noch Alpträume!!!


Mascara 02/09: Beziehung zu einem Freier

Da ich drogenabhängig war und Geld für die Drogen brauchte, musste ich den Drogenstrich machen. Es gab unterschiedliche Freier. Die einen waren grob und märteten mit den Preisen. Es gab auch das Gegenteil, solche die nett und sympathisch waren. Manche luden mich ein etwas Trinken zu gehen und andere wollten nur einwenig mit mir sprechen, häufig über familiäre Probleme. Zum Teil wurde ich beschimpft und als dreckige Schlampe bezeichnet, ich wurde aufs tiefste erniedrigt. Es gab viele, welche nach der Abmachung das Geld nicht gaben oder sie wollten mehr von mir als abgemacht war: Egal, wo man mit dem Freier hingefahren war, es gab solche, die knallten mich aus dem Auto und ich musste zu Fuss irgendwie wieder nach Bern kommen. Das war echt hart manchmal! Den Freiern war das total egal.

Ich lernte einen älteren Mann kennen. Er hatte mich nicht als Prostituierte gesehen. Das fand ich sehr schön. Er lud mich öfters zum Essen ein und brachte mir auch oft Zigis. Er wollte nichts ausser mit mir Sprechen, ich wurde von ihm immer sehr gut bezahlt. Zum Geburtstag bekam ich auch eine Rose und ein kleines Geschenk. Er war ein sehr netter alter Mann, eben das Gegenteil von den andern. Vor zwei Jahren habe ich gehört, er sei gestorben. Ich konnte nicht an seine Beerdigung gehen. So einen Freier habe ich nie mehr kennengelernt. Er kam immer im richtigen Augenblick, als hätte er gespürt, wenn es mir nicht gut ging.

Manchmal vermisse ich Ihn. Mit ihm konnte ich über alles sprechen. Wir hatten eine gute Zeit.

Wir danken den Frauen herzlich für ihr Vertrauen und die Einblicke, die sie uns mit ihren Texten geben! Wir danken auch, dass sie uns nebst dem Abdruck im "Mascara" nun auch erlauben, ihre Texte an dieser Stelle einem noch breiteren Publikum zugänglich zu machen.

- KIRCHLICHE GASSENARBEIT BERN -

Raute

Umschlagplatz des Frauenhandels

SONAGACHI - IM GRÖSSTEN ROTLICHTVIERTEL KOLKATAS

Kolkata, Indien - Landung am Flughafen Dum Dum. Der Geruch ist das erste, was mich fesselt. Unmittelbar danach folgen nächste Sinneseindrücke: Das feuchte Klima, die anderen Farbtöne, die vielen Menschen. In der Erinnerung gesellen sich erst dann Geräusche dazu.


Auf dem Weg vom Flughafen zu meinen Verwandten wandert der Blick und die Sinne werden zum ersten Mal überfordert: unzählige Geschichten auf kleinstem Raum. Das Leben pulsiert. Neben den Ärmsten, die sich am Strassenrand aus ihrem Kartonlager erheben, um den neuen Tag in Angriff zu nehmen, machen sich Geschäftsleute auf den Weg ins Büro. Ein Einzelner joggt am Strassenrand, verschiedenste Lasttransporte sind unterwegs - Velo-Rikschas, Mopeds, alte, älteste und neue Autos, Ochsenkarren, bunt bemalte Lastwagen... Mittendrin eine Kuh, und, und, und... Manchmal herrscht ein einziges Chaos: Alle und alles, was an einer Kreuzung aufeinander trifft, ist anscheinend auf ewige Zeiten ineinander verkeilt. Es wird gehupt und gerufen, gedrängelt und gestossen und urplötzlich löst sich das Knäuel wie durch einen vorbestimmten Plan wieder auf: Ein Wunder?!


Sonagachi

Im Norden Kolkatas wohnen die alteingesessenen BewohnerInnen der Stadt. Die Quartiere sind hier durch enge Gassen und die Baubeschränkung auf drei Stockwerke sichtbar anders; weniger TouristInnen prägen das Strassenbild und es scheint deshalb etwas weniger modern.

Unbemerkt in dieser Welt, in welcher sich an jeder Strassenecke kleinste Universen öffnen, blieb mir das grösste Rotlichtviertel der Stadt lange verborgen. Dabei liegt es nur wenige Strassen vom Haus meiner Familie entfernt. Sonagachi: Auf einer Fläche von vier Quadratkilometern leben hier 50.000 Menschen. In über hundert Bordellen arbeiten 10.000 Frauen im Sexgeschäft. Das Quartier ist bekannt, Sonagachi ein Begriff - für meine Verwandten war es wohl ein Tabu mit mir darüber zu sprechen.

In den Strassen bieten sich die Frauen feil, warten auf Kundschaft und vertreiben sich die Zeit mit etwas Tratsch. Im Quartier läuft neben dem Sexgeschäft der normale Alltag - Männer gehen ihren Geschäften nach und beachten die Frauen kaum. Diese sind jung, sehr jung, stark geschminkt und freigiebig gekleidet. Viele von ihnen können weder lesen noch schreiben, sie entstammen armen Familien vom Lande. Manche Gesichtszüge verraten, dass sie von weiter her kommen, aus dem nahe gelegenen Bangladesch oder ländlichen Regionen um Kolkata herum: Nepalesinnen, Tibeterinnen werden hierhin verkauft und teilweise weiter nach Mumbai verfrachtet. Die jungen Mädchen wissen kaum, wie ihnen geschieht. Sie werden mit Vorwänden in die Stadt gelockt und finden sich schliesslich in einem kleinen Zimmerchen wieder. Ihre Besitzerin hält ihnen Männer zu und kassiert das Geld. Im Buch "Guilty Without Trial. Women in the Sex Trade in Calcutta" werden diese Geschichten nachgezeichnet.


Gesundheit und AIDS-Prävention

1992 wurde das Sonagachi Project von einer Gesundheitsexpertin mit dem Ziel der AIDS-Prävention und dem Kampf gegen Missbräuche ins Leben gerufen. Erfolgreich - die Zahl der Benutzung von Kondomen stieg von einem Prozent 1992, auf 50 Prozent 1998. Durch den Einbezug der Frauen wurde das Projekt zum Vorzeigemodell für AIDS-Prävention. Die Frauen tragen die Präventionsarbeit selbst und bemühen sich um weitere Verbesserungen ihrer Arbeitsbedingungen. Sie haben sich im "Durbar Mahila Samanwaya Committee" (DMSC) organisiert. Dieses Komitee trägt weitere Projekte und erreicht im ganzen Staat West Bengal 65.000 Sexarbeiterinnen.


Calcutta Project

Mit der Absicht, das Calcutta Project (siehe Kasten) respektive die Partnerorganisation S.B. Devi Charity Home in Kolkata, kennenzulernen, habe ich das Gesundheitszentrum besucht. Ich hatte die Vorstellung, für mein Studium eine Biographie einer der Frauen im Rotlichtviertel aufzunehmen. Durch den Kontakt zum S.B. Devi Charity Home habe ich einen beeindruckenden Einblick in Sonagachi erhalten.

Das Gesundheitszentrum S.B. Devi Charity Home liegt in einem Quartier, das durch eine grosse Strasse von Sonagachi getrennt wird. Es bietet Sprechstunden für die lokale Bevölkerung an. Nachdem im Ambulatorium festgestellt wurde, dass die Sexarbeiterinnen nicht vom Angebot profitierten und wohl aufgrund ihres sozialen Status den Gang über die Strasse nicht wagten, wurde die Idee eines Angebots in Sonagachi diskutiert. Um nicht ein weiteres AIDS-Präventionsprogramm zu lancieren, wurde der Fokus auf Gesundheitsprävention im Allgemeinen und eine homöopathische Sprechstunde gelegt.

Drei Mal pro Woche betreiben zwei Homöopathen eine Sprechstunde in Sonagachi. Zu Beginn wurde das Angebot aufgrund der Skepsis der Frauen nicht genutzt. Mit der Zeit hatten einzelne Frauen positive Erfahrungen gemacht und brachten selbst weitere Frauen mit. Die Sprechstunde für 2 Rupien, ist nicht nur eine medizinische. Das Team des S.B. Devi Charity Home hat ein Vertrauensverhältnis zu den Frauen aufgebaut und ihre Arbeits- und Lebensbedingungen kennengelernt. Neben der Abgabe von Kondomen und der Pille haben sie ihr Angebot weiter ergänzt. Einerseits wurden Angebote für die Kinder geschaffen, damit diese während der Arbeit ihrer Mütter anderweitig betreut werden und auch die Möglichkeit auf Unterricht haben. Ein weiterer logischer Schritt in diesem offenen Vorgehen war, die Sprechstunden grundsätzlich für alle Bewohnerinnen des Quartiers zu öffnen. So waren bei meinen Besuchen neben den vielen Frauen, die bereitwillig über ihr Leben erzählten, auch immer wieder Kinder und Männer in der Sprechstunde.

Der Schwerpunkt der Arbeit des S.B. Devi Charity Home liegt in der Gesundheitsprävention. Bei diesem Bemühen wurde klar, dass der Erfolg durch den Einbezug der "Besitzerinnen" gesteigert werden kann. Die Unterstützung der Frauen selbst und ihrer Kinder bleibt ein weiteres Anliegen. Für einzelne Kinder ist es durch die Unterstützung von Aussen möglich geworden, aus dem Kreislauf auszubrechen und den Auf- und/oder Ausstieg zu schaffen: Zana Briski, eine New Yorker Photographin kam nach Sonoagachi, um Frauen zu porträtieren. Während ihrer Arbeit startete sie mit den Kindern ein Projekt. Sie lehrte 21 zu fotografieren und überliess ihnen eine Kamera mit der Aufforderung, ihre Umwelt abzulichten. Der Film, der dieses Projekt begleitete und dokumentierte "Born into Brothels" erhielt 2005 den Oscar. Für diese Kinder, welche auch durch ihre Fotos bekannt wurden, brachte das Projekt tatsächlich den sozialen Aufstieg (www.kids-with-cameras.org/bornintobrothels).

Für die meisten anderen bleibt Sonagachi - was übrigens goldener Baum heisst - weiterhin der Ort des grossen Sexgeschäfts: eine Befriedigung für unzählige Männer und ein Umschlagplatz des Frauenhandels. Für die allermeisten Frauen in Sonagachi bleibt es ein schwieriger Alltag in einem anstrengenden Gewerbe.

- NEELA CHATTERJEE -


CALCUTTA PROJECT

Das Calcutta Project wurde 1990 von Studierenden der Universität Basel ins Leben gerufen.

Zum Betrieb eines Ambulatoriums in der Altstadt Calcuttas, das zur medizinischen Grundversorgung der Bevölkerung beiträgt und inzwischen zu einem Health Centre ausgebaut wurde, sind im Laufe der Jahre Programme hinzugekommen, die bestimmte Zielgruppen ansprechen (z.B. Mutter/Kind, Prostituierte etc.) und der Prävention zugute kommen.

Für die Durchführung der Programme und für den Betrieb des Health Centres ist der Partnerverein S.B. Devi Charity Home (SBDCH) zuständig. Somit wird die praktische Arbeit vor Ort hauptsächlich von einem indischen Team geleistet, das mit den Menschen im Quartier verwurzelt ist und neben allopathischer (westlicher Schul-) Medizin auch Homöopathie und Ayurveda anbietet.

Die Stiftung Calcutta Project Basel verfolgt vier Hauptziele: Die Verbesserung der medizinischen Grundversorgung, Prävention, die Organisation der Ausbildung innerhalb des Projekts beziehungsweise Studierendenaustausch Indien-Schweiz und umgekehrt sowie die Durchführung wissenschaftlicher Studien.

Quelle: www.calcutta-project.ch

Raute

Freierbildung in Bern

DAS PROJEKT DON JUAN DER AIDS-HILFE SCHWEIZ

Bei Sexarbeit denken wir in erster Linie an Frauen, die sich prostituieren. Wir denken an ihre Lebenssituation, die Arbeitsbedingungen und ihren Alltag. Fast vergessen gehen dabei die Männer - die Freier. Das Projekt "Don Juan" der AIDS-Hilfe Schweiz setzt den Fokus auf die Männer. Im direkten Kontakt sollen sie sensibilisiert werden.


Im Herbst 1999 wurde erstmals in verschiedenen Schweizer Städten das von der Aids-Hilfe Schweiz konzipierte und finanzierte Projekt "Don Juan, Face to Face-Freierbildung" umgesetzt. Mit "Face to Face" ist gemeint, dass der Kontakt zu den Freiem von entsprechend geschulten Männern und Frauen (so genannten EdukatorInnen) ganz direkt gesucht wird.

2001 wurde das Projekt erstmals in Bern umgesetzt. Die Präsenz beschränkte sich anfangs vorwiegend auf die Kleine Schanze, wo sich der Drogenstrich befindet. Im direkten Gespräch, mit Infomaterial wie Broschüren und Präservativen, mit praktischer Anleitung zur Benutzung von Kondomen wurde der Kontakt hergestellt.

Diese Kernarbeit ist bis heute so geblieben, das Angebot und die Face to Face-Präsenz wurden jedoch im Jahr 2004 erweitert.

Auf der Homepage der Aids-Hilfe Bern (www.ahbe.ch) wird das Projekt kurz und verständlich vorgestellt. Im Telefoninterview mit Peter Briggeler von der Aids-Hilfe Bern hatte ich die Gelegenheit, noch etwas mehr und praxisbezogener über "Don Juan" zu erfahren.


megafon: Auf der Homepage ist zu den Zielsetzungen von "Don Juan" zu lesen, dass das Präventionsbewusstsein der Freier gesteigert werden soll, den "Safer Sex Regeln" zu konsequenter Anwendung verholfen werden soll und Voraussetzungen geschaffen werden sollen, um HIV-Neuinfektionen in der Bevölkerung zu reduzieren. Wie schätzt du den Erfolg dieser Zielsetzungen ein?

Peter Briggeler: Ein direkt messbarer Erfolg etwa in Form von Erhebungen ist sehr schwierig, wie allgemein in der Sozialarbeit. Es ist schwierig, verlässlich zu sagen, dass nun so und soviel Männer mehr Kondome benutzen. Was aber sicher der Fall ist, ist, dass unsere Präsenz und Information, im Gespräch oder durch Broschüren, auf der Gasse ein anderes Klima schafft, dass eine Sensibilisierung stattfindet, dass die Frauen auf dem Drogenstrich froh über unsere Anwesenheit sind und auch gewisse Freier froh sind, wenn sie mit jemandem über Probleme sprechen können. Ich habe auch den Eindruck, dass das Beratungsangebot der Aidshilfe von Freiem reger benutzt wird.

Wie muss ich mir eine solche Präsenz auf der Gasse genau vorstellen?

Unterwegs sind in der Regel Zweierteams, die Mitarbeitenden sind speziell auf diese Thematik geschulte EdukatorInnen, die eigentlich recht offensiv den Kontakt zu den Freiem suchen. Alle gehen da natürlich auf ihre eigene Art und Weise vor. Dabei haben wir immer Infomaterial, Broschüren, wir verteilen Präservative. Wir haben auch schon praktische Anleitungen zum richtigen Gebrauch von Parisern gemacht.

Und da machen die Freier wirklich mit?

Natürlich nie alle, aber die Akzeptanz und die Empfänglichkeit sind sehr hoch, da waren wir am Anfang ja auch unsicher. Und man muss halt auch Zückerchen verteilen: Die Präservativaktion war im Winter und alle Männer die mitgemacht haben, haben dann einen Glühwein bekommen!

Und richtig schlechte Erfahrungen habt ihr nie gemacht?

Nie, wie gesagt, entweder lassen sich die Männer ansprechen oder nicht, aber Aggressionen haben wir nie erlebt.

Wie hat sich das Projekt seit den Anfängen entwickelt, verändert?

Wir haben seit 2004 unser Angebot ausgebaut und die Präsenz auf der Gasse erhöht. Zum Ausbau gehört, dass wir vermehrt auch in Cabarets und Animierbars präsent sein wollen, dort einerseits die Besucher aber auch die Betreiber der Etablissements erreichen wollen. Da ist der Zugang übrigens bedeutend schwieriger als bei den Männern auf der Gasse. Wichtig ist zu erwähnen, dass wir die Gassenpräsenz zusammen mit der Kirchlichen Gassenarbeit ausgebaut haben und so mehr Ressourcen vorhanden sind. Zusätzlich wurde eine Begleitgruppe, die sich zweimal im Jahr trifft, installiert. Diese besteht aus jemandem von der Xenia (Beratungsstelle für Frauen im Sexgewerbe), jemandem vom "La Strada Frauenbus" (mobile Beratungsstelle für drogenabhängige SexarbeiterInnen) und der Kirchlichen Gassenarbeit. Je nach Bedarf werden auch Themen mit der Polizei diskutiert.

Und eine letzte, sehr wichtige Entwicklung ist der Versuch, das Projekt mehr und mehr zu kantonalisieren, in die Regionen zu tragen und vom Platz Bern herauszutragen. Da gilt es, immer wieder neue Kontakte zu knüpfen.

Nochmal zu dieser Begleitgruppe: Sind da auch betroffene Frauen dabei?

Nein, aber die vertreten die jeweiligen Leute von Xenia, La Strada und Gassenarbeit. Diese Leute sind ja nah am Puls und können Themen und Bedürfnisse einbringen. Sicher hat die Begleitgruppe auch zu einer inhaltlichen Neuausrichtung geführt. Die Themen sind nicht mehr nur HIV- und Prävention in Bezug auf sexuell übertragbare Krankheiten, sondern immer mehr auch Freierregeln wie Umgang mit den Frauen, Bezahlen von fairen Preisen, keine Gewaltanwendung, Alkoholmissbrauch, Respekt, Fairness... Dies wird auch in Form von Gesprächen und Broschüren thematisiert.

Wie sieht die Zukunft von "Don Juan" aus?

Vieles ist gut aufgegleist, inhaltlich wollen wir natürlich immer dran bleib. Prioritär ist aber in nächster Zeit diese Verbreiterung und Vernetzung der Projekts. Wir haben eine Liste mit Orten, die wir aufsuchen wollen, die Regionalisierung soll vorangetrieben werden.

Ich wünsche euch viel Erfolg dabei und vielen Dank für das Gespräch.

- USH -

Raute

Freier-Perspektive

WIESO MANN ZU EINER PROSTITUIERTEN GEHT

Die Soziologin Christiane Howe hat in Deutschland Freier zu ihren Motivationen und Sichtweisen befragt. Wieso gehen Freier zu Prostituierten? Wie gestaltet sich das Verhältnis zwischen Kunde und Anbieterin? Was wissen diese Männer über Menschenhandel? Eine Zusammenfassung ihrer Erkenntnisse.


Ganz verschiedene Bedürfnisse bewegen Freier zu einem Besuch bei einer Prostituierten: Das Gefühl von Anerkennung, angenommen und akzeptiert werden, der Körperkontakt, das Ausleben von Sexualität, Lust und Spass haben oder auch unerfüllt gebliebene Beziehungswünsche. Die befragten Männer schätzen grundsätzlich den schnellen, unkomplizierten Sex mit klaren Absprachen ohne weitere Verpflichtungen, ohne Schuldgefühle und ohne Leistungsdruck.

Die wichtigsten von den Männern genannten Gründe können in verschiedenen Gruppen zusammengefasst werden, wobei diese Typologien - wie jede Kategorisierung - mit Vorsicht zu geniessen sind. Die offensichtlich grösste Gruppe der Freier sind Männer, die ihre Sexualität ausleben möchten und die sexuelle Abwechslung und den Reiz des Neuen suchen. Sie möchten verschiedene sexuelle Praktiken ausprobieren, welche sie mit der Partnerin oder Ehefrau nicht leben und umsetzen können, - wobei es sich hier meist um orale Praktiken handelt. Insofern stellt der Prostitutionsbesuch eine relative "Frustregulierung" dar. Eine weitere Gruppe bilden Kunden, die nach einem stressigen Tag, nach wichtigen Entscheidungen und Geschäftsabschlüssen oder auch nach Ärger abschalten und Spannungen abbauen wollen. Sie wollen sich wohl fühlen, sich etwas Gutes gönnen, etwas feiern und einfach Sex haben. Auch hier spielt hinsichtlich einer bestehenden Partnerschaft die "Frustregulierung" eine nicht zu unterschätzende Rolle. Eine andere Kategorie stellen Männer dar, die "speziellere" Wünsche haben und diese in ihrer Partnerschaft nicht äussern oder umsetzen können, weil sie sich nicht trauen oder es auch nicht möchten, zum Beispiel Sado-Masochismus oder "Natursektspiele". Schliesslich gibt es auch Kunden, die eigentlich eine ausgefüllte Beziehung mit entsprechend (aus-)gelebter Sexualität suchen und den Besuch bei Prostituierten romantisieren. Sie verlieben sich teilweise in die Prostituierte und wollen sie aus der Prostitution herausholen. Ihr persönlicher Einsatz kann zwanghafte Züge annehmen und bisweilen bis hin zur psychischen Überforderung und zum finanziellen Ruin führen. Manche dieser Freier fühlen sich dem eigenen Tun zunehmender hilflos ausgesetzt und nehmen dann auch Kontakt zu (Prostituierten-)Beratungsstellen auf. Wie die Forschungsinterviews gezeigt haben, ist es generell für viele Kunden eher schwierig, keine weitergehenden Phantasien bezüglich jeweiligen Prostituierten zu entwickeln und den Sex losgelöst von den Begegnungen zu betrachten.


Gekaufte Inszenierung einer sexuellen Phantasie

Grundsätzlich handelt es sich bei der Prostitution um einen projektiven Vorgang und weniger um eine persönlich-private Beziehungsaufnahme. Die Beziehung ist hinsichtlich ihrer Intimität, Intensität und Beschaffenheit am ehesten mit einem therapeutischen Gespräch vergleichbar, das ebenfalls auf keiner im engeren Sinne "privaten" Beziehung beruht. Sie umfasst eine Inszenierung, die Umsetzung sexueller Wünsche und Phantasien. Die gewünschten sexuellen Inszenierungen scheinen keineswegs spektakulär, meist handelt es sich um orale Praktiken oder Geschlechtsverkehr in verschiedenen Stellungen. Die Prostituierte als Dienstleisterin setzt qua "Arbeitsauftrag" die Kundenwünsche um - im besten Fall so, wie es ihren eigenen Vorstellungen und Grenzen entspricht. Prostituierte sagen denn auch, dass sie meistens "Verständnis" für die Probleme der Kunden haben. Für die bewussten Phantasieproduktionen darf und soll es keine Rolle spielen, wer diese Frau wirklich ist - auch im Interesse der Frauen selbst. Die Einschätzung und Wahrnehmung der Männer ist vielmehr geprägt durch gesellschaftliche und geschlechterspezifische Codes und Zuschreibungen, durch Stereotypen und Klischees und geleitet von den eigenen Phantasien, sexuellen Wünschen, oft uneingestandenen Bedürfnissen, Sehnsüchten und Ängsten. Dies ist den meisten der befragten Freier auch bewusst. Migrantinnen werden von den Männern vielfach als schöner, sinnlicher, in gewisser Weise potenter und authentischer wahrgenommen und beschrieben als deutsche Frauen.

Allen interviewten Männern ist klar, dass die Prostituierte ihnen gegenüber eine "Rolle" spielt, die Teil der zuvor ausgehandelten Konvention "sexuelle Dienstleistungen und Illusionen gegen Entgelt" darstellt. Dieses Bewusstsein geht jedoch bei den meisten im persönlichen Kontakt ein wenig verloren, was nicht nur der professionellen Erzeugung einer Illusion zuzuschreiben ist. Die Grenzen zwischen emotionalen und sexuellen Gefühlen verschwimmen durch den intimen körperlichen und sexuellen Kontakt mit einer Prostituierten. Zudem gehört es zum Arrangement, dass die Frau dem Freier das Gefühl gibt, sie habe lustvoll mit ihm Sex - was real sein kann oder auch nicht.


Sie ist die "Chefin im Ring"

Für die Männer muss die "Chemie mit der Frau stimmen", sie müssen sich angenommen und willkommen fühlen. Prostituierte werden dann als besonders "gut" beschrieben, wenn sie ein grosses Einfühlungsvermögen und "Natürlichkeit" besitzen. Sie sollte die Wünsche gut erfassen und weder verklemmt, noch kurz angebunden, zu geschäftsmässig oder zu "nuttig" sein. Die Freier sind von Prostituierten enttäuscht, wenn sie ihre Wünsche nicht äussern konnten, wenn sie meinen, dass Absprachen nicht eingehalten wurden oder hinterher auf dem Zimmer nach verhandelt wurde.

In der Realität scheinen das Verhältnis und der Umgang zwischen der Prostituierten und dem Freier - entgegen der gängigen Annahme - eher von einer suchenden Unsicherheit und Sehnsucht des Mannes als von seiner Machtposition geprägt zu sein. Das wirkliche Tabu in der Prostitution scheint hierin zu liegen: Männer zeigen ihr sexuelles Begehren, ihre Geilheit, aber auch ihr Bedürfnis nach körperlicher Zuwendung, Trost und Zärtlichkeit. Freier geben zudem gerne ihre sonst oft einseitig aktive Rolle ab, insbesondere die Verantwortung für die Lust und den Orgasmus der Partnerin entfallen. Mit Ablehnung muss er kaum rechnen, da im Voraus ausgehandelt wurde, was umgesetzt wird und sie kundenorientiert arbeitet. Die professionell arbeitende Prostituierte vermittelt Sicherheit und Aufgehobenheit: Es gibt einen klaren Anfang, ein klares Ende und klare Grenzen. Dadurch besteht - weder für Kunde noch für Anbieterin - die Gefahr, die Kontrolle über dieses Loslassen, diese Geschäftsbeziehung oder die eigenen Gefühle zu verlieren. Die konkrete Umsetzung und deren Verlauf obliegen ihr. Er ist aufgeregt und bestenfalls erregt. Sie schafft das gewisse Ambiente, sorgt für das "gute Gelingen" und damit für die Bestätigung. Letzten Endes ist sie "die Chefin im Ring". Sollte ein Kunde einmal übergriffig, unverschämt oder gewalttätig werden, sind entsprechende Wirtschafter oder Betreiber meist schnell zur Stelle.

Insgesamt kann das direkte Kunden-Prostituierten-Verhältnis nicht einfach als Gewaltverhältnis gefasst oder beschrieben werden. Macht- und Gewaltausübung sind für Kunden, auch im Hinblick auf Migrantinnen in der Prostitution, keine zentralen Eigenschaften, auch wenn es unter ihnen sicherlich gewaltbereite und gewalttätige gibt. Dieses Merkmal kennzeichnet jedoch nicht die gesamte Gruppe der Freier. Dass sich auf der strukturellen Ebene die geschlechtsspezifischen Machtverhältnisse auch in der Prostitution widerspiegeln - sei es gesetzlich, in den Rahmenbedingungen, im Umgang oder der Darstellung - ist hingegen nicht von der Hand zu weisen.


Menschenhandel wahrnehmen

Für Kunden ist es aufgrund dieser Rahmenbedingungen, dieser Inszenierungen kaum möglich, Opfer von Ausbeutung und Gewalt zu identifizieren, zumal bei betroffenen Frauen körperlich meist keine Spuren ersichtlich sind. Die einzige Möglichkeit besteht dann, wenn sich die Frauen direkt an sie wenden und um Hilfe bitten. Dies kommt allerdings eher selten vor. In solchen Fällen, so zeigen die Interviews, würden Kunden auch helfend eingreifen. Zudem zeigen die Erfahrungen der Fachberatungsstellen, dass sie es auch tun - zum Beispiel indem sie die betroffene Frau zu einer ihnen bekannten Beratungsstelle bringen oder anonym die Polizei informieren. Meist verheimlichen die betroffenen Frauen ihre Situation jedoch aus guten Gründen.

Nähere Informationen können die Kunden nur dann erhalten, wenn sie mit den Frauen ins Gespräch kommen und sie öfter aufsuchen. Stammkunden können die Situationen zunehmend besser einschätzen, aber auch ihnen bleibt häufig vieles verschlossen. Die meisten der Männer wissen jedoch in Grundzügen, was die Frauen in etwa für die Zimmer zahlen müssen, wann sie arbeiten, ob es eine "Security im Haus" gibt. Manche wissen, woher die Frauen kommen, wie viel sie verdienen. Keiner der befragten Männer ist je einem Opfer von Menschenhandel begegnet oder hat es bei einer Frau vermutet.


Grosser Aufklärungs- und Sensibilisierungsbedarf

Durch die Medienberichterstattung haben Freier zumindest von "Zwangsprostitution" gehört. Es wird allerdings bezweifelt, inwieweit sie wirklich über den Menschenhandel informiert sind. Fast alle Befragten gehen - aufgrund oft skandalträchtiger Berichterstattung - davon aus, dass nur extrem gewalttätige und brutale Machenschaften unter Menschenhandel zu fassen sind. Diesen sind in der Form nicht begegnet, können sie nur schwierig begegnet sein. Ein grundlegende sachliche Informations- und Kampagnenpolitik wäre dringend notwendig und wünschenswert. Freier fürchten sich zudem vor Diskriminierungen oder Konsequenzen in der Öffentlichkeit und Partnerschaft. Sie getrauen sich nicht, sich öffentlich mit dem Tabuthema Prostitution auseinanderzusetzen, obwohl ihnen ihr eigenes Doppelleben oft nicht behagt. Zudem existiert grundsätzlich eher die Haltung, dass Konflikte und Probleme Sache der Frauen und Männer im Milieu sind und man sich da nicht einzumischen hat. Es existiert eine recht grosse Angst davor, durch eine Einmischung zur Zielscheibe des Milieus zu werden.

Und nicht zuletzt haben Freier, wie eine langjährige Prostituierte treffend beschreibt, wenig Gelegenheit, ihre Erfahrungen zu überdenken: "Doch wenn ein Mann in die Bar geht und erzählt - nein, er kann nicht erzählen, d. h. er bleibt auch mit seinen Erlebnissen in der Regel allein und kann sie nicht reflektieren und teilen, ausser wieder im Puff. Und so landen die Geschichten dann auch wieder bei mir."

- CHRISTIANE HOWE -
[Gekürzt von megafon]

Quelle: Christiane Howe, Kunden von Opfer von Menschenhandel - ein Thema für die Strafverfolgung oder/und Prävention?, Hamburg, Januar 2008; ch.howe@contextcps.de.


INFOS ZUM FORSCHUNGSPROJEKT

Grundlage für die Studie bildeten neben Fachliteratur, Gutachten und Medienberichten rund dreissig leitfadengestützte Interviews mit ExpertInnen, AkteuerInnen und Freiern, welche in Hamburg, Frankfurt a.M., Berlin und Dortmund durchgeführt wurden. Die meisten Freier-Interviews fanden direkt in einem Frankfurter Bordellzimmer statt. Viele der Kunden besuchen jedoch auch andere Prostitutionsangebote, zum Beispiel in Wohnungen, Saunaclubs. Nur ein Teil der Männer war zu einem Interview bereit, auch wenn diese einen gewissen Durchschnitt, zum Beispiel hinsichtlich Alter, Bildungsstand und Bindungsgrad darstellen. Zudem kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Befragten ihre Aussagen positiver darstellten, um sich in ein gutes Licht zu rücken. Dennoch können aus den erhobenen Daten allgemeinere Grundmuster und generelle Prinzipien abgeleitet werden, denn die Ergebnisse der Studie decken sich in weiten Teilen mit ähnlichen Forschungsprojekten. Die Autorin zeichnet in ihrer Studie mögliche Sensibilisierungsmassnahmen und die Entwicklung von Arbeitsschutz-Standards für die Prostitution auf. Aus Platzgründen konnte dieser ebenfalls spannende Aspekt ihrer Forschungsarbeit im vorliegenden Artikel nicht wiedergegeben werden. Die Studie ist Grundlage der Dissertation und soll im nächsten Jahr als Buch erscheinen.

Raute

Der weisse Bus und ...

DAS LIED DER STRASSE

Woche für Woche, Jahr für Jahr, seit ewig und in der Zukunft weiterhin, stehen sie, die Frauen, am Rand der Strasse.


Bern, Sonntagabend. Als ich bei der Frau unter der Strassenlampe stehen bleibe, lächelt sie erfreut. Was ich denn wolle?

Nur ein Interview, sage ich.

Ihr Lächeln verschwindet. Sie überlegt, dann zuckt sie mit den Schultern: "Was krieg' ich dafür?"

Das Geschäft läuft schlecht heute. Wie immer stehen an der Strassenecke vorne einige ältere Männer, trinken Dosenbier, diskutieren und beobachten die Szene. Das sind nur Spanner.

Vereinzelt fahren Autos im Schritttempo der Strasse entlang, an der Dreifaltigkeitskirche vorbei, wenden unten, wo die Bundesterrasse beginnt, und kommen wieder zurück. Darin sitzen ausnahmslos Männer. Die meisten alleine, seltener auch zu zweit.

Keine grosse Auswahl, die sich ihnen heute auf dem Strich bietet; da ist nur diese eine Frau, die unter der Strassenlampe steht. Die Autos fahren an ihr vorbei, biegen wieder in die Hauptstrasse ein und verschwinden nach Hause oder in ein Bordell.

Schliesslich stoppt ein Kombi mit Berner Nummernschild, hinten drin ein Kindersitz. Nach wenigen Worten steigt die Frau ein - man scheint sich zu kennen - und die beiden fahren davon, zu einem Parkplatz oder sonst wo hin, wo niemand stört.

Neben dem Kleinen Schanzenpark befindet sich in Bern der Strassenstrich - die Nummer 3 der Schweiz hinter Olten und dem Zürcher Sihlquai. Die meisten Frauen hier sind drogensüchtig.

Schätzungen zufolge prostituieren sich 80-90 Prozent aller abhängigen Frauen irgendwann in ihrer Drogenkarriere. Der Strich ist für sie der einfachste, manchmal der einzige Weg, an Geld zu kommen - rentabler als Betteln, und mit weniger Risiko verbunden, als Dealen und andere kriminelle Aktivitäten.

Prostitution ist in der Schweiz ab einem Alter von 16 Jahren legal und wird von der Stadt in festgelegten Zonen auch auf der Strasse geduldet.

"Wenn Frauen zu uns kommen, die noch minderjährig sind, machen wir mehr Druck. Bei ihnen ist das primäre Ziel, sie schnell von den Drogen und der Strasse wegzukriegen."

Ines Bürge leitet beim Berner Contact Netz den Bereich Risiko- und Schadensminderung. Dazu gehört La Strada - ein Angebot, das zum Ziel hat, die Lebenssituation drogenabhängiger Sexarbeiterinnen zu verbessern.

Mittwoch, Freitag und Samstag steht abends an der Taubenstrasse ein kleiner, weisser Bus. Darin berät das La Strada Team die Frauen, bietet ihnen Zuflucht und einen Treffpunkt.

"Die Türe ist offen. Die Frauen können einfach reinkommen, es sind immer zwei vom Team da. Wenn jemand zum ersten Mal da ist, stellt man sich gegenseitig vor. Dann wird das Angebot erklärt. (...) Wir finden heraus, wie die Situation der Frau ist, zum Beispiel: Ist sie obdachlos? Wie oft ist sie hier? (...) Sie können mit den Anliegen kommen, welche sie beschäftigen. Es geht oft um die Bewältigung von Alltagssachen: familiäre Situation, Wohnen, Arbeiten oder Kinder."

Der Name des Projekts ist verbunden mit dem gleichnamigen Film von Fellini (dt. "La Strada - Das Lied der Strasse", 1954). Er wurde von den Bus-Besucherinnen vorgeschlagen und ausgewählt.

Im Film wird Gelsomina, ein romantisches Mädchen, von ihrer Mutter an einen Strassenartisten namens Zampano verkauft. Er behandelt sie als Sklavin. Doch obwohl ein Wanderzirkus Gelsomina einen Platz anbietet, il Matto - ein fröhlicher Hochseiltänzer - sie fragt, ob sie bei ihm bleiben wolle, und Klosterfrauen ihr Obdach anbieten, bleibt sie beim grossen Zampano. Alles hat seinen Zweck, sagt sie sich. Und wer sonst würde diesen Mann begleiten, wenn nicht sie?

Auf dem Strassenstrich spielen manchmal die Freier die grossen Zampanos - es gibt keine Aufpasser, keine Zuhälter. Die Frauen behalten ihr Geld, sind aber auch auf sich allein gestellt.

"Ich habe ihren Kopf nach hinten gedrückt und ihr die gesamte Ladung in und über den leicht geöffneten Mund (...) in die langen, krausen Haare (...) und die Jeans geschossen; sogar die Schuhe habe einen Teil abbekommen. Das hat mich für das miese Blasen mindestens teilweise entschädigt." So berichtet ein Freier, der regelmässig den Berner Drogenstrich besucht, im Internet.

Um solche - und viel schlimmere - Übergriffe zu reduzieren, können die Betroffenen bei La Strada eine Freierwarnung aufgeben. Dabei wird eine Täterbeschreibung erfasst und im Bus ausgehängt, als Warnung für die anderen Frauen. 2008 gab es zwölf Freierwarnungen. Ines Bürge vermutet eine Dunkelziffer bei Gewaltvorfällen.

"Der Konkurrenzkampf ist da unter den Frauen. Der Solidaritätsgedanke fehlt oft. (...) Sie haben Stress. Wenn der Entzug anfängt, müssen sie möglichst schnell zu Geld und zu Stoff kommen."

Häufiger als Gewalt ist, dass Preise gedrückt oder nicht bezahlt werden. Die Frauen sind alleine mit den Freiern, oft auch an abgelegenen Orten. Manch einer versucht, das auszunutzen.

Die meisten Kunden sind jedoch weder Betrüger noch brutal, sondern verhalten sich anständig. Sie nehmen eine Dienstleistung in Anspruch, bezahlen dafür und sind dankbar. Viele haben eine freundschaftliche Beziehung zu Frauen, die sie öfter sehen.

"Wenn ihr Marion treffen solltet, seid nett zu ihr; sie ist ein wahrer Engel", ermahnt einer online.

Gleich darunter findet sich der Bericht eines Fuss-Fetischisten. Ihn reizen am Strassenstrich die Füsse. Natürlich.

"Die Füsse von ihr waren ein Traum. Genau so wie ich es mir vorgestellt hatte.., leicht feucht und ein himmlischer Geschmack. Und da sie am Akzent hörbar eine Walliserin ist, war der Gedanke vom Raclette gar nicht so weit hergeholt."

Zum Abschied habe die Frau ihm - nicht unfreundlich - versichert, er sei mit Sicherheit der verrückteste Kerl, den sie je getroffen habe. Weit gefährlicher ist eine andere Vorliebe, die viele der Freier auf den Drogenstrich lockt. Hier bekommen sie FO für fünfzig Franken oder weniger. "Französisch Ohne" - also Oralverkehr ohne Kondom. Ines Bürge seufzt. "Ohne Gummi ist ein Dauerthema. Es ist erstaunlich, wie viele Freier das immer noch wollen und verlangen und mehr dafür bezahlen. (...) Jetzt hat man Medikamente, HIV ist kein direktes Todesurteil mehr. Dadurch ist die Hemmschwelle gesunken."

Über den La Strada Bus wurden im vergangenen Jahr monatlich 187 Spritzen und doppelt so viele Nadeln kostenlos an die Frauen abgegeben. Dazu 612 Kondome pro Monat.

Leider wird immer wieder auf den Gummi verzichtet - auch beim Geschlechtsverkehr. Auf Drängen der Freier lassen sich einige Frauen dazu überreden, am ehesten, wenn sie auf Entzug sind.

Schätzungen zufolge sind 50% bis 80 Prozent der sich prostituierenden Frauen, die intravenös Drogen konsumieren, HIV-positiv. Dazu kommen Hepatitis B, Tripper und andere Geschlechtskrankheiten.

Ines Bürge, was kann getan werden, um die Situation auf dem Strassenstrich zu verbessern?

"Das geht weit zurück. (...) Wenn das Konsumieren nicht mehr strafbar wäre, das würde viel an der Situation der Frauen verbessern. Die Kriminalisierung zieht einen Rattenschwanz nach sich. Die Frauen verlieren dadurch viele Chancen, beispielsweise auf dem Arbeitsmarkt."

Vorerst möchte La Strada die Präsenz auf der Strasse verstärken, um die Sicherheit zu erhöhen und näher am Geschehen zu sein. Doch es fehlt am Geld.

Ohne Bezahlung macht eben auch diesen Job niemand.

Im Film La Strada lässt der grosse Zampano Gelsomina am Strassenrand zurück, als sie in den Wahnsinn abgleitet. Zum Abschied legt er seine Trompete neben sie. Dann fährt er weiter - er muss arbeiten. Geld verdienen.

Jahre später hört Zampano, wie eine Frau eine ihm bekannte Melodie summt. Sie erzählt ihm, die Melodie von einer Verrückten gelernt zu haben. Jetzt sei das Mädchen (Gelsomina) tot. Sie habe nie geredet, nur manchmal Trompete gespielt - immer dasselbe Lied.

Der grosse Zampano betrinkt sich, geht ans Meer und bricht weinend zusammen. Ende.

Die "on the job" angesprochenen Frauen wären zu einem Interview bereit gewesen, jedoch nur gegen Geld, das ich nicht bezahlen wollte. Dieser Artikel beschränkt sich daher auf eine Aussenansicht. Zum Schluss einige Aussagen von sich prostituierenden, drogenabhängigen Frauen. Die Zitate stammen aus dem Forschungsbericht Nr. 131 des Schweizerischen Instituts für Suchtforschung, sie sind von Einzelpersonen und sind nicht repräsentativ:

"Es ist immer dasselbe: Du gehst am Abend anschaffen, hast dann das Geld, das du brauchst, gehst etwas kaufen, gehst nach Hause, konsumierst es, gehst dann schlafen, schläfst wieder bis abends, stehst auf und machst dich zurecht und gehst wieder anschaffen. Und dies tagein, tagaus, Woche für Woche, Monat für Monat."


"Auf die Autobahn fahren und irgendwo in ein Haus geschleppt zu werden und dort festgehalten zu werden Tag und Nacht und Tag und Nacht - da habe ich grosse Angst davor."


"Ich gehe nur dann anschaffen, wenn ich Kokain brauche; (...) ich bin dann so geil auf diese Droge irgendwie, dass, wenn ich mal einen Knall gemacht habe, ich das Ende nicht mehr finde."


"Wenn es diese Frauen nicht gäbe, dann gäbe es sicher viel mehr Vergewaltigungen. (..) Man macht ja zum Teil nicht nur Prostitution sondern auch Seelenaufgaben. Man hört diesen Männern auch zu. Es ist nicht nur das Sexuelle. Ich habe auch schon Ehen gerettet."


"Ich hätte eigentlich sehr viele Sachen, die ich gerne machen würde. Zeit 'gottverdeckel' hätte ich ja eigentlich auch! Aber eben, ich mach es dann einfach nicht. Es ist immer nur zudröhnen."


"Ich (...) sage jeder 'dass die roten Lichter nie mehr weiss werden. Das muss einfach jede wissen: Wenn du mal den Schritt gemacht hast (...) Da bist du auch bei der Polizei im Computer und wenn du eine Arbeitsstelle suchst, vielleicht ein Jahr später, fragen die dich, was du gemacht hast in dem Jahr."


- HARRY V. -

Raute

FREIE MENSCHEN STATT FREIER HANDEL - DESTROY WTO!

Vom 30. November bis 2. Dezember 2009 findet in Genf die Ministerkonferenz der World Trade Organisation (WTO) statt. Diese Konferenz verfolgt das Ziel, den Doha-Zyklus bis Ende 2010 abzuschliessen.

80 Prozent der Verträge betreffen die Landwirtschaft, darin eingeschlossen den Nahrungsmittelhandel und zielen darauf ab, die Hürden des freien Marktes zu reduzieren und den Produzenten zu "helfen", den Export- wie Importeuren ihre Aktivitäten zu erleichtern.

Eigentlich ist das Projekt der WTO eines des totalen weltweiten Marktes, der alle Lebensbereiche abdeckt, für eine schrankenlose Vermehrung des Kapitals. Es ist ein profitorientiertes Projekt, das die Industrialisierung der Welt vorantreibt, die Ressourcen verschwendet und es ist ein Herrschaftsinstrument im Dienste der Mächtigsten.

Wir leben auf einem begrenzten Planeten, "nachhaltige" Entwicklung oder nicht - beides ist ein Ausverkauf der Ressourcen, verschlingt Boden, vertreibt Menschen... Sabotieren wir das System das uns versklavt, beginnen wir bei seiner Ideologie und befreien wir uns im Widerstand!

Überall auf der Welt, sind die BäuerInnen und Bauern einem enormen Druck unterworfen. Viele sind zur Aufgabe verurteilt, Platz zu machen für immer grösser werdende, mechanisierte und industrielle Produzenten. Aber überall auf der Welt, beginnen die bäuerlichen Gemeinschaften zu kämpfen, so Anfangs September in Indien, wo über 50.000 BäuerInnen sich gegen die WTO versammelt und protestiert haben zum Missfallen der herrschenden Klasse oder aktuell bei uns der Milchstreik.

Vereinigen wir uns mit den BäuerInnen! Unsere Autonomie entsteht durch den Aufbau eines reichen sozialen Netzes, wo sich Stadt und Land nicht mehr spalten lassen. Bauen wir wieder die Bauernschaft auf, um wieder Autonomie zu verwirklichen!

Beteiligt euch an den vielen Aktionen und besucht die Infoveranstaltungen in Bern. (siehe auch "Agropoly", die dem megafon beigelegte Aktionszeitung antidot inclu.)


Inforundreise WTO. Widerstand & Landwirtschaft:

15 Jahre nach Inkrafttreten der WTO-Verträge von Marrakesch im Jahre 1994 ist das drastische Scheitern der Agrarmarktliberalisierung weltweit spürbar: Massive Zunahme der Hungernden, wachsende Landflucht und zunehmender Existenzdruck auf die Bäuerinnen und Bauern.

Die industrielle Landwirtschaft und das Agrobusiness will die totale Kontrolle über Ernährungsproduktion und Handel erlangen. Deshalb wollen sie am WTO-Ministertreffen in Genf vom 29.11. - 3.12.2009 alles versuchen eine weitere Deregulierung des Agrarmarktes durchzusetzen. Es ist höchste Zeit diesem Szenario ein Ende zu setzen und das globale Recht auf Ernährungssouveränität und bäuerliche, nachhaltige Landwirtschaft umzusetzen.

Mit Rudi Berli von der bäuerlichen Gewerkschaft Uniterre und AktivistInnen der geplanten Anti-WTO Proteste:

09. Nov. 20 Uhr, Basel, Capri Bar, Inselstrasse 79
18. Nov. 20 Uhr, Luzern, Infoladen Romp, Steinenstr. 17
19. Nov. 20 Uhr, Bern, Infoladen der Reitschule
20. Nov. 20 Uhr, Biel, LA BIU, Wydenauweg 38

mehr Infos: www.anti-wto.ch


Monokulturen und der Handel mit CO2-Zertifikaten

Ebenfalls im Rahmen der WTO-Proteste findet eine Infoveranstaltung mit einer/m VertreterIn des Proceso de Comunidades Negras (PCN) in Kolumbien statt.

Die im PCN zusammengeschlossenen afrokolumbianischen Gemeinschaften sind besonders betroffen von Monokulturen, die sich in ihrem Gebiet ausbreiten ? für die Produktion von so genannten Agrotreibstoffen, aber ebenso für die Schaffung und den Handel mit Zertifikaten zur CO2-Reduktion. Die Verbreitung dieser Monokulturen hat Vertreibungen in den Gebieten zur Folge, wo viele afrokolumbianische Gemeinschaften leben.

25. November, 20 Uhr im Kino in der Reitschule


Gross-Demo-Stop-WTO
28. Nov. 2009, Genf, 14 Uhr Place neuve
Traktorblock während der Demo: Schliesst euch an - mit oder ohne Traktor!

29. Nov. 2009. Sonntag, Workshoptag
Salle Communale de Plainpalais, Rue de Carouge 52

30. Nov. - 2. Dez. 2009, Aktionstage

Raute

GSoA-Initiative

JA ZUM VERBOT VON KRIEGSMATERIAL-EXPORTEN AM 29. NOVEMBER!

Ob MOWAG-Panzer in Afghanistan, RUAG-Handgranaten im Irak oder PILATUS-Flugzeuge in Darfur: Weltweit stehen Schweizer Waffen im Kriegseinsatz. Mit Waffenlieferungen unterstützt die Schweiz Kriege und Konflikte. Zur Bekämpfung der Folgen von Kriegen schickt sie dann Hilfswerke in die Konfliktgebiete.


Seit dem 9/11 läuft weltweit eine ungeheuerliche Wiederaufrüstungswelle. 2008 beliefen sich die globalen Militärausgaben auf über 1400 Milliarden Dollar. Ein neuer Rekord. Und die Schweiz dreht an der Aufrüstungsspirale kräftig mit: Im Jahr 2008 hat die Schweiz Waffen im Wert von 722 Millionen Franken in 72 verschiedene Länder exportiert - soviel wie noch nie zuvor. Grösster Kunde der hiesigen Rüstungsindustrie war im letzten Jahr der Konfliktherd Pakistan. Für mehr als 110 Mio. Franken exportierte die Schweizer Rüstungsindustrie Waffen nach Pakistan, obwohl Pakistan im Kaschmirkonflikt zu Indien steht, die Menschenrechte verletzt und in heftige Kämpfe mit den Taliban verwickelt ist. In den ersten 6 Monaten des laufenden Jahres gehört zudem der Folterstaat Saudi-Arabien trotz schwerer Menschenrechtsverletzungen, die Amnesty International erst kürzlich in einem vielbeachteten Bericht angeprangert hat, zu den grössten Abnehmern von Schweizer Waffen. Und: 2008 gingen rund 85 Prozent der Waffenlieferungen in Länder, welche im Irak oder in Afghanistan im sogenannten "Krieg gegen den Terror" stecken. Und diese Waffen kommen dort auch zum Einsatz (vgl. Bild nebenan). Das muss ein Ende haben!


Bundesrat verstösst gegen eigene Verordnung

Im August 2008 hat der Bundesrat als Reaktion auf unsere Initiative die Kriegsmaterialverordnung, welche dem Rüstungsexport den rechtlichen Rahmen verleiht, "präzisiert". Die Kriegsmaterialverordnung hält fest, dass die Schweiz keine Waffen in Länder exportiert, die in einen internen oder internationalen bewaffneten Konflikt verwickelt sind oder die Menschenrechte systematisch und schwerwiegend verletzen. Doch der Bundesrat tut es weiter: Mitte Oktober haben sich nun 70 Schweizer RechtsprofessorInnen zu Wort gemeldet, die den Bundesrat aufgefordert haben, sich an die eigene Verordnung zu halten. Doris Leuthard die zuständige Bundesrätin reagierte "erstaunt" auf die Belehrung durch die AkademikerInnen und witterte hinter dem offenen Brief Abstimmungspropaganda der GSoA. Propaganda betreibt wohl eher der Bundesrat, der im Hinblick auf die Abstimmung einen Gesetzes-/Verordnungstext haben wollte, der gut tönt - an den er sich aber offenbar nicht halten will.


Fehlende Argumente der Gegenseite

Praktisch das einzige Argument der Gegenseite gegen die Initiative - wie die Plakatkampagne der GegnerInnen zeigt - ist das Arbeitsplatzargument. Dabei wird masslos übertrieben: Eine Studie, welche der Bundesrat in Auftrag gegeben hat, spricht von schweizweit 5132 Arbeitsplätzen, welche vom Exportverbot betroffen sind. Die Gegner der Initiative verdoppeln diese Zahl auf abstruse 10.000 Arbeitsplätze. Eine nachvollziehbare Berechnung können sie selbstverständlich nicht liefern. Die InitiantInnen haben das Arbeitsplatzargument von Anfang an Ernst genommen: Als flankierende Massnahme zum Exportverbot sieht deshalb die Initiative finanzielle Hilfe des Bundes während 10 Jahren für die vom Exportverbot betroffenen Regionen und Arbeitnehmenden vor. Dadurch soll den Rüstungsbetrieben ermöglicht werden, ihre Betriebe auf zivile Produktion umzustellen.

Mit der Initiative haben wir die Möglichkeit, dem Geschäft mit dem Tod endlich ein Ende zu bereiten. Deshalb: JA stimmen am 29. November 2009! Jede Stimme zählt! Weitere Infos unter www.kriegsmaterial.ch

- RETO MOOSMANN, GSOA -


UNSAUBERE METHODEN

Dass die Gegenseite im Abstimmungskampf mit unfairen Mitteln spielt, zeigt auch ein Spionagefall bei der GSoA. Eine der grössten PR-Firmen der Schweiz, die Farner PR, schleuste im Juni 2009 eine Spitzelin an ein internes Strategieseminar der GSoA ein, an dem die bevorstehende Abstimmungskampagne entworfen wurde (WOZ vom 21. August). Mehr als zwei Monate stritt Farner PR, die ein Mandat der Rüstungsindustrie hat, die Vorwürfe ab. Mitte Oktober lieferte der "Blick" dann aber den Beweis: Eine interne Aktennotiz, verfasst von der Spitzelin.

Raute

Die Falken sind wieder da

SPIEL, SPASS UND SOLIDARITÄT - DIE ROTEN FALKEN BERN

Die Roten Falken sind eine basisdemokratisch organisierte Kinder- und Jugendgruppe, die aus der ArbeiterInnenbewegung der 1920er-Jahre entstanden ist. Bis vor kurzem gab es in der Schweiz nur noch in Zürich eine aktive Gruppe: Dies hat sich jetzt geändert! Neu fliegen die Falken auch in Bern und Baden wieder!


Seit Mai 2009 treffen sich die Roten Falken Bern wieder am Samstagnachmittag zu einem Programm. Dabei stehen Spiel, Spass und Solidarität im Mittelpunkt. Ob beim Basteln einer Chugelibahn, beim Bedrucken von T-Shirts, beim Strassenkreiden Giessen, beim 1. Mai-Transpi Malen oder beim Baden und Bräteln - bei den Falken steht vor altem das Gruppenerlebnis jenseits der Konsumgesellschaft in Vordergrund. Im Sommer verbringen die Falken ihre Zeit meist in der Natur, unter anderem im Wald und am Wasser. Im Winter gehen sie Schlittschuhlaufen, ins Hallenbad oder verbringen den Nachmittag im Gruppenlokal, wo sie basteln und spielen.

Ein wichtiges Anliegen der Roten Falken ist es, den Kindern und Jugendlichen zu zeigen, dass ihre Meinung zählt und gefragt ist. Dies wollen sie aber nicht nur mit Diskussionen erreichen, sondern viel mehr mit Gemeinschaftsspielen und selbst erlebten Abenteuern. Den Roten Falken ist es wichtig, nachhaltiges Denken, Selbstbestimmung und Kreativität zu fördern und zu leben. Im Falkenalltag haben alle die Möglichkeit, sich selbst zu sein und sich auszutoben, zu träumen und alle gemeinsam eine gerechtere Welt zu fordern.

Die LeiterInnen - bei den Falken HelferInnen genannt - sind politisch interessiert und aktiv. Sie diskutieren viel und hinterfragen ihre Arbeit, ihre Ziele und ihre Strukturen immer wieder von neuem. Sie sind basisdemokratisch und in einer flachen Hierarchie organisiert. Ihr Ziel ist es, die individuelle und freie Meinungsbildung zu fördern und zu kritischem Denken anzuregen. In spontanen Diskussionen und freiwilligen Themenprogrammen wird bei den Roten Falken über das aktuelle Weltgeschehen gesprochen und auch darüber, wie eine bessere und gerechtere Welt aussehen könnte. Eines der Hauptanliegen sind die Kinderrechte, für deren Umsetzung sie sich unter anderem am 1. Mai und am internationalen Kinderrechtstag stark machen. Die HelferInnen leben ihre ideale aktiv vor und fördern die Mitsprache aller teilnehmenden Kinder und Jugendlichen. Ganz nach dem Motto: Spiel, Spass und Solidarität!


Eine Alternative zu anderen Kinder- und Jugendgruppen

Die von den Falken vertretenen Werte unterscheiden sich massgeblich von den traditionell militaristisch oder religiös angehauchten Kinder- und Jugendgruppen, in denen zum Teil hierarchische Gesellschaftsbilder ausgelebt werden und oftmals Geschlechtertrennung gang und gäbe ist. Die Koedukation von Mädchen und Jungen ist eine der Grundprinzipien der Roten Falken, ebenso eine flache Hierarchie und die basisdemokratische Mitbestimmung alter Kinder und Jugendlichen.

Schnuppernachmittag bei den Roten Falken Bern am 28. November 2009, 13.30 Uhr bei der Heiliggeistkirche in Bern für Jugendliche und Kinder ab 6 Jahren. Weitere Infos siehe: www.bern.rotefalken.ch oder www.rotefalken.ch.

- NADJA OLLOZ -


DIE GESCHICHTE DER ROTEN FALKEN

Der Ursprung der Roten Falken liegt in Österreich. In Graz gründete Anton Afritsch 1908 die erste sozialdemokratische Kinderfreunde-Organisation. Die Idee solcher Kinderorganisationen breitete sich in weiten Teilen Europas rasch aus. Für die 12 bis 14 jährigen Kinder in diesen Gruppen schuf Anton Tesarek 1925 die Bezeichnung "Rote Falken". In Bern rief Anny Klawa-Morf 1922 gemeinsam mit Karl Geissbühler die erste Gruppe der Kinderfreunde ins Leben. Markenzeichen der Falkenbewegung waren die grossen Zeltlager ("Kinderrepublik"). In seinen besten Zeiten zählte der LASKO 41 Ortsgruppen mit rund 2000 erwachsenen Mitgliedern, 180 HelferInnen und 3000 Kindern. Der LASKO wurde 1996 aufgelöst.

Die Kinder- und Jugendgruppe der Roten Falken in Bern wurde in den 1980er-Jahren aufgelöst. Der Verein Kinderfreunde Bern sowie die Stiftung Kinderfreunde Bern blieben jedoch weiterhin bestehen. Heute bietet die Zusammenarbeit mit dem Verein Kinderfreunde Bern eine wichtige Grundlage für die Arbeit der neuen Falkengruppe.

Auch wenn der Ursprung der Roten Falken in der sozialdemokratischen ArbeiterInnen-Bewegung liegt, so sind sie heute unabhängig von Parteien, arbeiten jedoch mit verschiedenen linken Gruppierungen zusammen.

Weltweite Falkenbewegung

Es gibt eine weltweit aktive Falkenbewegung, welche im Dachverband IFM-SEI (International Falcon Movement - Socialist Educational International) zusammen mit weiteren Verbänden mit ähnlicher Gesinnung organisiert ist. Unter dem Motto "Span the world with friendship" setzt sich die IFM-SEI weltweit für die Rechte der Kinder ein.

Raute

RUHIGER 9. ANTIFASCHISTISCHER ABENDSPAZIERGANG

Der Antifaschistische Abendspaziergang stand in diesem Jahr unter unüblichen Vorzeichen. Obwohl für die Mobilisierung ein ähnlicher Aufwand wie in den Vorjahren betrieben wurde, stiess der Abendspaziergang kaum auf Resonanz in den bürgerlichen Medien. Lange war in den Zeitungen nichts zu diesem Thema zu lesen. Unerwartet meldete sich die Polizei mit einer ungewöhnlichen Mitteilung. Obwohl nie eine Bewilligung beantragt wurde, erteilten uns die Behörden eine solche unaufgefordert. Die veröffentlichte Meldung sorgte allerdings für Verwirrung. Für einige GenossInnen klang die Nachricht so unglaubwürdig, dass sie einen Trick dahinter vermuteten, welche die Mobilisierung stärken sollte oder aber sie sahen darin eine Falle der Polizei.

Über die Nachricht waren auch wir vom BAgR erstaunt. Warum sich die Behörden zu diesem Schritt entschieden haben, ist Gegenstand von internen Diskussionen an den Nachbereitungssitzungen. Noch gibt es dazu unterschiedliche Einschätzungen. Zum einen kann es sich dabei um einen Umarmungsversuch der Behörden handelt. Zum andern könnten sich im Gemeinderat die PragmatikerInnen gegen die HardlinerInnen durchgesetzt haben oder zu guter Letzt sind vielleicht gewisse Leute zur Einsicht gekommen, dass sie lieber bewilligen wollen, was sie sowieso nicht verhindern können.

Wie immer wenn der Abendspaziergang stattfindet, besammelten sich auch am 26. September um 20.00 Uhr mehrere hundert Leute bei der Heiliggeist-Kirche in Bern. Einige TeilnehmerInnen hängten Transparente mit antifaschistischen Inhalten an der Heiliggeist-Kirche auf. Der Demozug wuchs während seines Verlaufs durch die Innenstadt auf gut 1200 Menschen an. Es nahmen mehr Leute als im Vorjahr (800) teil. Die Teilnehmerzahl erreichte aber nicht das Ausmass der Jahre 2002 bis 2005, an denen teilweise bis zu 4000 Menschen teilnahmen. Während des Umzuges vom Bahnhof, durch die Spitalgasse, Marktgasse, Kramgasse, Rathausplatz, Casinoplatz, zurück über den Bundesplatz zum Bahnhof skandierten die TeilnehmerInnen lautstark Parolen gegen Staat, Kapital und Faschismus.

In kämpferischen Reden und Flugblättern wurde auf den Zusammenhang zwischen Faschismus und bürgerlicher Demokratie hingewiesen, vor den wachsenden faschistischen Tendenzen in der Gesellschaft gewarnt und die Zumutungen, die der Kapitalismus für die ArbeiterInnen bedeutet, aufgezeigt. Es wurde auch erwähnt, dass wir uns die Strasse nehmen, wann wir wollen, egal ob mit oder ohne Bewilligung. Bei den Reden wurde klar gemacht, dass die soziale Revolution die einzige Lösung ist, wenn wir die Missstände des Systems beseitigen wollen und nicht nur dessen Symptome bekämpfen.

Während der Demo wurden Rauchpetarden und Leuchtfackeln gezündet. Es kam zu einzelnen politischen Sprayereien. Am Bahnhof wurden die DemoteilnehmerInnen von einigen wenigen FaschistInnen provoziert, diese flüchteten sich aber in das Bahnhofsinnere und versteckten sich hinter der anrückenden Polizei. Darauf kam es zu kleineren Scharmützeln zwischen DemoteilnehmerInnen und der Polizei. Davon abgesehen verlief die Demo ohne Zwischenfälle. Die Demo wurde um 21.15 Uhr wie vorgesehen auf dem Bahnhofsplatz für beendet erklärt, ein grosser Teil der Demonstrierenden zog in Richtung Reitschule ab, wo sich die Demo endgültig auflöste.

Wir bedanken uns herzlich bei allen TeilnehmerInnen für die Unterstützung! Der Kampf geht weiter...

Dem Faschismus den Weg abschneiden - Die soziale Revolution aufgleisen!

- BÜNDNIS ALLE GEGEN RECHTS -

Raute

Film und Infoveranstaltung

DAS MEXIKANISCHE 1968

Während die Studierenden in Europa und USA ihren Kampf gegen Imperialismus und Ausbeutung in den Zentren der kapitalistischen Welt ausfochten, forderten Demonstrierende in Lateinamerika mehr politische Partizipation und Demokratisierung. Die dortigen 1968er-Bewegungen formierten sich unter Regimen, die alle an Aufstandbekämpfungsprogrammen der USA teilnahmen und mit brutaler Repression und Massakern auf die Protestbewegungen reagierten.


In den 1950er Jahren erlebte Mexiko ein Wirtschaftswunder und durfte 1968 die Olympischen Spiele beherbergen, um der Welt seine "Modernität und Prosperität" vorzuführen. Da kam eine grosse Protestbewegung denkbar ungelegen. Im Sommer 1968 protestierten Studierende massenweise gegen Korruption, Allmacht und Paternalismus der allmächtigen PRI (Partei der institutionalisierten Revolution). Zwischen Juli und Dezember 1968 forderten vor allem die Kinder der privilegierten Mittelschicht, die eine Hochschule besuchen konnten, den Stopp der Repression gegen Oppositionelle und mehr Freiheit.

Die Studierenden organisierten sich basisdemokratisch im Nationalen Streikrat (CNH), der aus bis zu 200 Delegierten aller beteiligten Fakultäten bestand. Es entstand ein Forderungskatalog mit sechs Punkten: Freilassung der politischen Gefangenen, Abschaffung der eingesetzten Spezialeinheiten, Absetzung des Polizeipräsidenten sowie Entschädigungszahlungen für die Angehörigen der Repressionsopfer. Gesellschaftspolitische Forderungen waren sowohl die Aufdeckung der politisch Verantwortlichen für die Repression als auch die Abschaffung des Paragrafen 145 ("gesellschaftliche Zersetzung"), der fast ausschliesslich gegen Regime-GegnerInnen eingesetzt wurde. Studentische Brigaden schwärmten in die Stadt aus, um durch Graffiti auf Wänden und Bussen, Informationskampagnen und Agit-Prop-Theatern ihre Forderungen der Bevölkerung näher zu bringen. Zum Entsetzen der Eltern sprengten die Studierenden gesellschaftliche Normen, die Frauen sogar (zumindest temporär) die patriarchalen, indem sie mit ihren Kommilitonen in den bestreikten Instituten übernachteten und sich gleichzeitig von ihren männlichen Mitstreitern nicht auf die klassische Frauenrolle reduzieren liessen. Durch direkte Aktionen, Provokationen und Publikationen schufen sie erfolgreich eine Gegenöffentlichkeit (contracultura). Bis zu 400.000 Menschen schlossen sich den studentischen Demonstrationen an.


Blutige Repression

Die Bewegung war umgehend mit einer immensen staatlichen Repressionswelle konfrontiert. Die militärische Besetzung der Universitätsinstitute und Hochschulen, irreguläre Verhaftungen, gewaltsame "Verschleppung" von Oppositionellen und Polizeigewalt gehörten zum Alltag der Studierenden. Zehn Tage vor Beginn der Olympischen Spiele, am 2. Oktober 1968, erreichte die staatliche Repression ihren Höhepunkt, als eine Protestkundgebung in Tlatelolco, an der etwa 12.000 Menschen teilnahmen, von Panzern umstellt und beschossen wurde. Mehr als 1000 Personen wurden dabei verletzt. Die genaue Anzahl der Todesopfer ist bis heute ungeklärt, denn die Einreichung von Vermisstenanzeigen wurde verhindert. Danach nahm die staatliche Repression noch stärker zu. Verhaftungen, Entführungen, Folter und das gewaltsame Verschleppen von Personen waren an der Tagesordnung. Die Regierung entfesselte mit Militär, Polizei und Geheimdienst einen systematischen "Krieg niedriger Intensität" gegenüber Bevölkerung und AktivistInnen, um diese in einen permanenten Angstzustand zu versetzten. Viele waren traumatisiert, einige flohen aus der Stadt, andere engagierten sich in Gewerkschaften oder gingen auf der Suche nach dem "revolutionären Subjekt" in die Fabriken oder aufs Land. Wieder andere griffen zu den Waffen und schlossen sich den entstehenden Stadtguerillas an, deren Mitglieder jedoch bis zum Ende der 1970er Jahre fast alle verhaftet, gefoltert, verschleppt oder getötet waren. Während der PRI-Herrschaft wurde die Aufklärung der systematisch begangenen, staatlichen Menschenrechtsverbrechen vermieden und über die Opfer mehr als 30 Jahre lang geschwiegen.


Von gescheiteter staatlicher Aufarbeitung...

Erst nachdem die PRI nach über 70 Jahren Herrschaft über Mexiko abgewählt worden war, wurden staatlicherseits erste zögerliche Schritte zur Aufarbeitung der Menschenrechtsverletzungen unternommen. Der 2000 neu gewählte Präsident Vicente Fox (PAN, Partei der Nationalen Aktion) veranlasste im November 2001 die Öffnung der Archive von Geheimdienst und Militär und gründete dafür eine spezielle Staatsanwaltschaft (FEMOSPP). Diese war nicht nur mit der Aufklärung, sondern auch mit der Strafverfolgung der Verantwortlichen betraut. Während ihres vierjährigen Bestehens häuften sich die Skandale um Verbindungen zwischen FEMPSOO und politischer Polizei. Lediglich 19 Haftbefehle wurden verhängt und fünf Prozesse geführt. Im April 2006 wurde diese spezielle Staatsanwaltschaft wegen ihrer "armseligen Resultate" und dem "Verschleiss des Vorsitzenden" aufgelöst. Ihr Abschlussbericht wurde in Mexiko nie veröffentlicht, sondern gelangte auf ungeklärte Weise in die Hände einer US-amerikanischen Wissenschaftlerin, die ihn der Öffentlichkeit im Internet zugänglich machte. Insgesamt kann die juristische Aufarbeitung von staatlichen Menschenrechtsverletzungen als gescheitert betrachtet werden, da selbst der damals zuständige Innenminister und Ex-Präsident Luis Alvarez Echeverría Anfang 2009 vom Vorwurf der Menschenrechtsverletzungen mangels Beweisen frei gesprochen wurde.


... und lebendigen Erinnerungen auf der Strasse

In Mexiko sind Erinnerungen an "1968" bis heute untrennbar mit dem militärischen Angriff auf die unbewaffnete Menge am 2. Oktober verbunden, da AktivistInnen seit 40 Jahren auf der Strasse konstant die staatlichen Verbrechen thematisieren und die Aufklärung und Strafverfolgung der Verantwortlichen fordern. Zum 25. Jahrestag des Massakers gelang es ihnen, einen Gedenkstein für die Opfer auf dem Platz der drei Kulturen in xxxx zu errichten. Jährlich organisieren sie Veranstaltungen, um die Erinnerung lebendig zu halten, Gerechtigkeit zu fordern und die Erfahrungen an die Jüngeren zu vermitteln. 2007 gründete die Universität xxx ein Museum über die 68er Bewegung, das zwar die Bewegung in allen Facetten und im internationalen Vergleich zeigt, jedoch zu Repression und "schmutzigem Krieg" der Regierung schweigt. Jedes Jahr finden in vielen mexikanischen Bundesstaaten Demonstrationen im Gedenken an das Massaker von Tlatelolco statt, an denen sich vor allem SchülerInnen und Studierende beteiligen. Für sie sind die alten Forderungen immer noch aktuell, da in Mexiko noch immer Straffreiheit für einige TäterInnen gilt und immer noch AktivistInnen verschwinden oder ermordet werden. 2007 gab es mehr politische Gefangene in Mexiko als zu Zeiten des "schmutzigen Krieges" der 1970er Jahre.

Staatlicherseits gilt der 2. Oktober heute als zwar Gedenktag, eine konkrete Strafverfolgung der Verantwortlichen wird jedoch immer unwahrscheinlicher. Auf der Strasse, bei den Demonstrationen vom 2. Oktober stehen die Erinnerungen an 1968 für, den kontinuierlichen, aktuellen Kampf gegen staatliche Menschenrechtsverbrechens, Straffreiheit der Täter/innen und das Recht auf Wahrheit und Gerechtigkeit.

- SHERIN ABU-CHOUKA, ÜBERARBEITET VON BGFZ -


Die 1968er

In Mexiko gelten "die 68er" vor allem als VorkämpferInnen für eine Demokratisierung und als Opfer staatlicher Repression und Menschenrechtsverletzung. Denn ihr kontinuierlicher Kampf um die Anerkennung der Opfer des Massakers von Tlatelolco (2.10.1968), ihre Forderung nach Aufklärung und Strafverfolgung der Verantwortlichen finden kaum europäische Parallelen. Durch das konstante Engagement einiger 68er-AktivistInnen ist das gesellschaftliche Bild der mexikanischen 1968er-Generation vor allem von erlittenem Unrecht und nur sekundär durch Rockmusik und Rebellion geprägt.

Film + Infoveranstaltung mit einer Zeitzeugin
Kino in der Reitschule, Mittwoch, 18.11.09, 20.00 Uhr
"CEMENTERIO DE PAPEL" (Friedhof der Papiere)
Regie: Mario Hernandez, Buch: Xavier Robles/Fritz Glockner,
100 Min., DVD Mexico 2007, Spanisch (engl. UT).
Mit Unterstützung von Amnesty International und grenzenlos e.V.


Der Text basiert auf dem "1,2,3 viele 1968s" von Sherin Abu-Chouka (noch ausführlicher siehe die Uniarbeit "Das erste 68-Museum der Welt" unter
http://prof08b.lai.fu-berlin.de/metropole/uploads/media/Das_erste_68er- Museum_Sherin_ Abu_Chouka_pdf)

Raute

Walal-Schwester, 27.-29.11. Reitschule

KULTUR UND INFOS GEGEN FRAUEN- UND MÄDCHENBESCHNEIDUNG

Mit Konzerten im Dachstock, Filmen im Kino, Debatten, einer Ausstellung, einer Performance sowie einem echt afrikanischen Palaver im Frauenraum und last but not least mit Big Mama's African Dinner im Sous Le Pont kämpft die Gruppe Walal kulturell und informativ gegen Frauen- und Mädchenbeschneidung an.


Vor bald zwei Jahren hat Eva Hardmeier, eine der Projektleiterinnen von walal, die senegalesische Rapperin Fatou Mandiang Diatta, alias Sister Fa, an einem Benefizkonzert in Berlin kennengelernt und war von der Musikalität und dem Charisma dieser Sängerin fasziniert. Es war aber nicht nur die Musik, die sie aufwühlte, sondern auch das Thema, das in den Songs immer wieder aufschien: Die Beschneidung von Mädchen und Frauen.


Die Idee

Sister Fa ist Musikerin und eine mutige Frau, die ihre Stimme gegen diese menschenrechtsverletzende Praxis erhebt.

Eva Hardmeier setzte in der Folge alles daran, diese Musikerin nach Bern zu holen.

Daraus entstanden ist das Projekt walal - eine dreitägige Veranstaltungsreihe zum Thema Mädchen - und Frauenbeschneidung. Walal heisst auf somalisch Schwester und gilt als Metapher für den gemeinsamen weltweiten Kampf gegen Beschneidung.

Die walal-Macherinnen Eva Hardmeier, Lilo Spahr, Veronika Minder, Marie-Jeanne Roulin, sowie Marisa Birri und Simone Eggler von TERRE DES FEMMES Schweiz sowie Sybille Vogt von der aids hilfe bern wollen mit ihrem Projekt mittels Kultur und sachlicher Information Frauen- und Mädchenbeschneidung generell und in der Schweiz thematisieren. Dabei ist es ein zentrales Anliegen, nicht die Migrantin als Opfer sondern als Handelnde im Kampf gegen Mädchenbeschneidung in den Mittelpunkt zu stellen. Walal will die bei uns lebenden afrikanischen Frauen aktiv in den Anlass einbinden und ihnen Gelegenheit geben, ihre Standpunkte hörbar zu machen. Es geht walal also auch um Empowerment und Stärkung des Bewusstseins und der Identität von hier lebenden afrikanischen Frauen.


Sister Fa - Das Konzert

Das Kernstück von walal ist der Auftritt von Sister Fa im Dachstock der Reitschule. Sister Fa ist selbst von Beschneidung betroffen und unterstützt mit den Einnahmen ihrer Konzerte Projekte gegen die Beschneidung von Mädchen und Frauen in ihrer Heimat Senegal. Gemeinsam mit der NGO Tostan, einer Partnerorganisation von UNICEF, geht sie im Süden Senegals auf Tournee. Mit ihrer Musik und ihren Texten über soziale Ungerechtigkeit und die missliche Lage vieler Frauen in Senegal will sie ihre Landsleute aufrütteln und zum Umdenken bewegen.

In Senegal sind ca. 58 Prozent der Bevölkerung unter 20 Jahre alt und für viele junge Senegalesen ist die Musik eine Art Lebenselixir. Doch nur wenigen Musikern und Musikerinnen ist eine internationale Karriere vergönnt. Sister Fa jedoch hat es geschafft. Hat sie als Teenagerin in den Strassen von Dakar ihre selbstproduzierten Demo-Tapes verkauft, wird sie heute in ihrer Heimat und auch hier in Europa als DIE senegalesische Rapperin gefeiert. Soeben ist ihr erstes in Europa veröffentlichtes Soloalbum "Sarabah: Tales From The Flipside Of Paradise" erschienen. Ihre in ihrer Muttersprache und in französisch gesungenen Lieder zeichnen sich nicht durch den männlich-technisch-unterkühlten "Gangsta-Stil" aus, sondern sind beseelt von souligen und funkigen Klängen, begleitet von afrikanischer Perkussion, von Djembe und Kora. Ein höchst musikalischer, poetischer Rap, erdig, kraftvoll, mit dem Sister Fa die Herzen der Menschen nachhaltig berührt.

Das Konzert von Sister Fa findet am Freitag 27. November im Dachstock statt.


Podiumsgespräch

Am Samstag führt Elsbeth Müller, Geschäftsleiterin von UNICEF Schweiz, mit einleitenden Worten in das Podiumsgespräch ein. Diskutiert werden u.a. die Prävention von Mädchenbeschneidung und die Situation von Betroffenen und ihre Bedürfnisse hier in der Schweiz. Das Podiumsgespräch wird von SP-Nationalrätin Maria Roth-Bernasconi geleitet, Autorin der parlamentarischen Initiative "Verbot von sexuellen Verstümmelungen". Am Podiumsgespräch nimmt auch Sister Fa teil, sowie Fatxiya Ali Aden, Macherin des Dokfilms "Femmes mutilées plus jamais", Félicienne Villoz, Grossrätin, Mediatorin und Beraterin für sexuelle und reproduktive Gesundheit und Prävention sowie Mascha Stierli, Gynäkologin (angefragt).


Palaver

Am Sonntag schliesslich findet im Frauenraum ein Palaver für betroffene und interessierte Frauen und Mädchen afrikanischer Herkunft statt - eine Gelegenheit für Austausch und Vernetzung. Dieser Workshop kam auf Initiative der aids hilfe Bern zustande und wird geleitet von Félicienne Villoz. Sie arbeitet seit sieben Jahren als Mediatorin und Beraterin für sexuelle und reproduktive Gesundheit und Prävention beim Projekt multicolore, dem migrationsspezifischen Präventionsprojekt der aids hilfe bern.


Ausstellung

Samstags und Sonntags ist zudem die Ausstellung "Schnitt ins Leben. Weibliche Genitalverstümmelung - auch in der Schweiz" zu sehen. Die Ausstellung von TERRE DES FEMMES Schweiz bietet für Interessierte, insbesondere aber für Fachpersonen einen Einstieg ins Thema. Sie vermittelt Grundinformationen über Formen, gesundheitliche Folgen, soziokulturelle Hintergründe, rechtliche Aspekte sowie über die Situation und Handlungsmöglichkeiten in der Schweiz.

- MARISA BIRRI, TERRE DES FEMMES SCHWEIZ -


WEIBLICHE GENITALBESCHNEIDUNG

International hat sich der Begriff "Weibliche Genitalverstümmelung" (Female Genital Mutilation FGM) durchgesetzt. Dadurch soll verdeutlicht werden, dass FGM wesentlich schwerwiegendere Folgen hat als die Vorhautbeschneidung bei Jungen. Viele Betroffene möchten aber nicht als verstümmelt bezeichnet werden. Im direkten Gespräch mit Betroffenen ist es deshalb angemessener, von "Beschneidung" (Female Genital Cutting FGC) zu sprechen. Bei der weiblichen Genitalverstümmelung oder genitalen Beschneidung (nachfolgend FGM/C) werden die äusseren Geschlechtsorgane von Frauen und Mädchen ganz oder teilweise entfernt. Die Praxis hat schwer wiegende akute und langfristige gesundheitliche Konsequenzen für die Betroffenen - FGM/C kann zum Tod führen.

FGM/C wird gemäss internationalem Recht als Menschenrechtsverletzung an Mädchen und Frauen anerkannt. FGM/C verletzt das Recht auf Gesundheit und physische und psychische Integrität, das Recht frei von Folter zu leben und keiner grausamen, unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Strafe unterworfen zu werden. Zudem verstösst FGM/C gegen die Konvention zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau und der Konvention über die Rechte des Kindes. In beiden Konventionen verpflichten sich die Staaten, schädliche traditionelle Bräuche - zu denen FGM/C gezählt wird - oder entsprechendes kulturelles Verhalten mit allen möglichen Mitteln zu bekämpfen.

FGM/C kommt in verschiedenen Ländern Afrikas und Asiens vor. Durch Migration aus diesen Ländern ist FGM/C auch in Europa ein Thema. Gemäss einer UNICEF-Studie leben in der Schweiz schätzungsweise bis zu 7000 betroffene oder gefährdete Mädchen und Frauen. Viele Fachleute aus dem Gesundheits- und Sozialbereich werden in ihrem Berufsalltag mit FGM/C konfrontiert. Infolge mangelnder Sensibilisierung erhalten die betroffenen Frauen jedoch häufig keine den Umständen angepasste Behandlung und Beratung.

Das Schweizerische Strafgesetzbuch (StGB) enthält keine Bestimmung, die FGM/C ausdrücklich unter Strafe stellt. FGM/C wird in der Schweiz jedoch als einfache qualifizierte (Art. 123 Ziff, 2 StGB) oder schwere Körperverletzung (Art 122 StGB) verfolgt und kann mit bis zu zehn Jahren Zuchthaus bestraft werden.

Aufgrund der parlamentarischen Initiative von Maria Roth-Bernasconi hat die Kommission für Rechtsfragen einen Gesetzesentwurf verfasst, der neu einen expliziten Straftatbestand zu FGM/C vorschlägt. Dieser würde die verschiedenen Formen von FGM/C einheitlich regeln und somit Abgrenzungs- und Beweisschwierigkeiten überwinden. Ein eigener Strafbestand hätte zudem eine symbolische und abschreckende Wirkung und würde das Verbot sichtbarer und einfacher kommunizierbar machen. Das Vernehmlassungsverfahren ist nun abgeschlossen, als nächsten Schritt wird der Gesetzesentwurf im Parlament behandelt werden.

- MARISA BIRRI -


TERRE DES FEMMES Schweiz ist eine Menschenrechtsorganisation, die sich für die Rechte von Frauen und Mädchen einsetzt.

Raute

BUCHTIPP IM NOVEMBER

"Madln, wenn du mehr verdienst, können wir mehr machen?"(*)

Was bedeutet "der Strich"? Ursprünglich stammt der Begriff aus der mittelalterlichen Gaunersprache. Der Strich bezeichnet die festen Routen, die Bettler, Ganoven und Vaganten als Wege benutzen. Weiter findet sich im "Wörterbuch der Gaunersprache" das Wort Senfstrich. Senfstrich steht für Bett. Später wird Strich für den Weg gebraucht, den Unzuchtsdirnen gewöhnlich zur Anlockung der Männer begeht. (siehe: Wörterbuch der Diebs-, Gauner- und Kochemersprache Wien 1854)

Einfacher ist mit Strich jene Orte zu bezeichnen - Wohnungen, Strasse oder Bordelle, an denen die Prostituierten ihre Geschäfte abwickeln. Es ist ein Ort, an dem der Kontakt zwischen der Prostituierten und dem Kunden entsteht.

Das Milieu des Striches umfasst verschiedene Akteure. Wichtig ist die Prostituierte selber, gefolgt von dem Zuhälter, dem Kunden und der Regulation des Staates.

Roland Girtler, Professor der Soziologie in Wien, beschäftigt sich mit den so genannten Randkulturen. Er macht teilnehmende Beobachtung und lebt mit den zu erforschenden Gruppen und Kulturen zusammen. Bald einmal wurde Girtler jedoch aus der Universität Wien ausquartiert. Der Grund dafür war, weil seine Freunde wie Hooligans, Dirnen und Zuhälter, Fahrende und Drogenkonsumierende bei Besuchen des Professors zunehmend das Gelände der Universität bevölkerten und auch hie und da Dinge verschwinden liessen oder sonst wie auffielen. Doch mit Hilfe dieser Freundschaften gelang es Girtler, genaue Beschreibungen der Milieus anzufertigen. Beispielsweise entstand ein leicht lesbarer Bericht, auf der Basis von Interviews, zur Urszene der Prostitution in Wien. Roland Girtler gelang es, in diesem Forschungsfeld noch wenig entdeckte Aspekte der Prostitution herauszuarbeiten. Es gibt beim Lesen von "der Strich-Soziologie" eines Milieus viele ungewohnte Entdeckungen.

"Das ist ein sehr heikles Thema. Es ist schwierig darüber zu reden"(*)

Eine davon wäre die Beziehung zwischen Zuhälter und Prostituierte. Wie bereits oben erwähnt wurde, beschäftigte sich Girtler vor allem mit der ursprünglichen Form der Prostitution. Das heisst mit der österreichischen Frau, die für Geld mit Männern schläft. Der Zuhälter, der meist in einem engen sexuellen Verhältnis zur Prostituierten steht, organisiert den Tages- und Nachtablauf und verwaltet das eingenommene Geld.

"Mir hat er das Gewand, das Privat- und auch das Hackngewand gekauft"(*)

Sehr eindrücklich sind die abgedruckten Interviews im Buch. Sie erzählen davon, was die Frauen dazu bewegt diese Dienstleistung anzubieten. Wobei schnell klar wird, dass die äusseren Verhältnisse den Ausschlag geben. Finanzielle Schwierigkeiten mit unsicheren Lebenslagen zwingen Prostituierte auf den Strich zu gehen. Auch der Zuhälter, "Strizzi" genannt, kommt oftmals aus der Unterschicht. Er versucht ein psychisches und sexuelles Nahverhältniss aufzubauen, um ein Mädchen dazu zu bringen ihre Dienste anzubieten. Drogen und ähnliche Mittel können den Entschluss der zukünftigen Dirne auf den Strich zu gehen, erleichtern.

Geld und Liebe sind die Motive der Prostituierten. Ungewohnt tönen die Aussagen der Frauen, dass der Zuhälter die Hure der Hure ist. Damit ist gemeint, dass die Dirne nach einer Arbeitsschicht seelisch ausgehöhlt nach Hause geht und Zärtlichkeit oder Liebe sucht. Die Prostituierte bezahlt den Zuhälter, damit er den entfremdeten Zustand der Sexarbeit aufhebt und so etwas wie Liebe gibt.

"In deinen vier Wänden willst du ja abschalten, da brauchst du ja irgendwen. Auch wenn der Deppert nur die Hand aufhält. Für jedes Bussen zahlst du. Wenn er dich pudert, zahlst du. Du gibst ihm ja jeden Tag das Geld. In Wirklichkeit ist der Zuhälter die Hur der Hur."(*)

Manche Prostituierte sagen, dass der Zuhälter die Visitenkarte der Dirne ist. Dafür soll er einen schnellen Wagen fahren und entsprechende Kleider tragen. Der Zuhälter ist die symbolische Potenz der Nutte.

"Heute ist ein junges Mädchen stolz darauf, einen Zuhälter zu haben"(*)

Dies sind alles "Aussagen". Sie wurden von Frauen gemacht, die im Milieu arbeiten und leben. Es sind Wiedergaben des Alltages und Ausführungen von Strategien, um in dieser Arbeit bestehen zu können. Gehen oder kaputtgehen.

Der Strich ist ein Kosmos mit vielen Teilnehmenden, die zusammen eine Gemeinsamkeit gehaben: Sie bewegen sich in einer Randkultur.

Egal, was ich jetzt sagen werde, es wird falsch sein. Trotzdem füge ich noch einige Sätze an. Es sind Kreisläufe und ein Zusammenspiel der Macht und Ohnmacht, die im Milieu entscheidend sind. Die Verhältnisse der Prostitution werden von der Gesamtgesellschaft aktiv mitgetragen. Wenn man sich mit dem Strich beschäftigen will, dann nur im Rahmen einer Gesamtdarstellung von Wirtschaft, Politik und Bevölkerung allgemein. Oder aber, man kann die Aussagen und Geschichten der Frauen lesen. Lesen und auf diese Weise an ihrem Leben teilnehmen.

- SAT -

Roland Girtler: Randkulturen ISBN 3-205-98559-1
Roland Girtler: der Strich LIT 3-8258-7699-3 ((*) siehe Zitate)
Girtler goes WWW: http://www.woz.ch/artikel/2008/nr30/leben/16616.htmlKK

Raute

Musiktipps für die kalte Jahreszeit

EINE SCHEIBE (ODER MEHR) FÜR DEN WINTER

Huch, es ist schon lange Redaktionsschluss. Einen Artikel hab ich keinen. Der Scheibenmann hat einfach kalt und vielleicht zuviele warme Getränke zu sich genommen. Trash nennt man den Kaffee hier auf dem Land, die Scheiben, die ich zuletzt gehört habe, sind das aber nicht.


Tocotronic "Kapitulation" (UNIVERSAL)

2 Jahre ist dieses Album schon alt. Aber ich finde diese Musik altert wunderbar. Also Leute, werft die Scheibe in den Player, kapituliert vor der beschissenen Kälte und lasst es euch gut gehen. Harmonie ist nämlich eine Strategie, singen die da. Ausserdem züchten sie Staub und frohlocken: "Ja, ich habe heute nichts gemacht. Ja, meine Arbeit ist vollbracht." Genau.


Thom Yorke "Eraser" (INDIGO)

Auch schon 2 oder 3 Jahre zurück liegt die Veröffentlichung des Solodebuts von Radiohead-Frontmann Thom Yorke. Ein herrlich unkompliziert-komplexes Stück Musik. Elektronische Loops und polyrhythmische Gebilde umranken den Gesang des Singer/Songwriters. Übrigens eines der grössten heutzutage, wie ich finde. Und dann diese Stimme: eine der schönsten männlichen Stimmen in der zeitgenössischen Populärmusik. Die Texte sind poetische Klagelieder, voll mit Unheilbewusstsein, Trauer oder einfach depressiver Verstimmung. Aber hey, der gute Mann ist auf allerhöchstem Niveau verstimmt.


Stiller Has "So verdorbe" (SOUNDSERVICE)

Die Neue von den Hasen. Was soll ich sagen? Mir fällt dazu vor allem eines ein: so unverstimmt, ja so strub poppig klangen die noch nie. Hier sind Lieder über Liebe, Sex und Tod. Wie immer tolle Lieder, tolle Texte. Ich mochte den Endo schon immer, auch wenn der Sauhund meine Ex geschwängert hat.


Ebony Bones "Bone of my Bones" (PIAS)

Schweisstreibender Electro-Punk vom Feinsten ist das. Da bekommt man so richtig warm ums Herz. Es ist, glaub ich, die zweite Platte der jungen Londonerin, die derzeit zwar auf einer Welle mitreitet, aber über genug Selbständigkeit und ausgeflippte Kantigkeit verfügt, um auch auf Dauer erfolgreich und musikalisch interessant zu bleiben.


Mazzy Star "She hangs brightly" (EMI)

Das ist Musik, die fühlt sich an wie Nebel: feucht und kalt und unfassbar. Und dann setzt die Stimme der zauberhaften Hope Sandoval ein, und der Nebel fährt einem mit warmer, libidöser Hand in die Eingeweide. Sie macht alles warm und noch wärmer. Wie eine Droge nach längerer Abstinenz.

Nun hab ich die Tipps doch noch fertig. Das sind die Scheiben, die zuletzt aus meinen Lautsprechern tönten. Na ja, es gab schon noch andere. Aber diese hier find ich zu dieser Zeit einfach sehr passend. Es ist Musik, die wärmt - hält immer noch die beste aller Drogen.

- TOMI KUJUNDZIC -

Raute

COMIXTIPP IM NOVEMBER

Die Rache des Taxifahrers

Das Verbrechen wuchert in Barcelona, in den Vierteln der Hochfinanz genauso wie in den Arbeitersiedlungen am Rande der Stadt. Kein leichtes Pflaster also für einen Taxifahrer. Taxista Cuatroplazas, die Hauptfigur in Martis Comic "Taxista", ist naiv, mutig und fromm. Er ist damit geradezu prädestiniert, in Schwierigkeiten zu geraten: Gegen den wahnwitzigen Plot, den die spanische Comic-Legende Marti für seinen Helden entworfen hat, erscheint das Schicksal von Travis Bickle in Scorseses "Taxi Driver" wie dasjenige eines Sonntagspaziergängers: Taxistas Mutter wird misshandelt und stirbt, die Leiche des Vaters, die seit Jahren mumifiziert im Nebenzimmer liegt, wird geschändet und die Schwester zur Prostitution gezwungen. Taxista hat nichts mehr zu verlieren, als er den Kampf gegen das Böse aufnimmt. Editions Cornélius ist es zu verdanken, dass der aus den 1980er Jahren stammende "Taxista" neu erscheint.

Tatsächlich war dies überfällig, ist dem 1955 geborenen Zeichner, der mit vollem Namen Marti Riera Ferrer heisst, doch bislang die gebührende Anerkennung versagt geblieben. Von allem Anfang an bei dem legendären Magazin "El Vibora" und später bei "Makoki" dabei, fehlt es ihm zwar nicht an Fans auf der ganzen Welt.

Doch der kommerzielle Erfolg blieb bisher aus. Dabei ist "Taxista" einer der faszinierendsten Comic-Romane überhaupt. Ähnlich beeinflusst - wie etwa auch ein Charles Burns - vom Strich und Erzählstil des "Dick Tracy"-Zeichners Chester Gould, führt Marti seine Leser in die tiefsten Abgründe der spanischen Gesellschaft und lässt traditionelle Moralvorstellungen mit postfaschistischer Dekadenz kollidieren. Mit seinem bissigen Witz und seinen oft brutalen Bildern, die in harten Schwarz-Weiss-Kontrasten gehalten sind, bietet er alles andere als leichte Kost, und doch wird sie manch ein Leser gierig verschlingen.

Marti: "Taxista". Editions Cornélius, Paris 2008
200 Seiten, Softcover, s/w, Euro 22.- / sFr. 35.-
"Taxista" ist übrigens in italienischer Übersetzung bei Coconino Press erschienen.


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Mafia und Traumdeutung

In den Strassen von Neapel erzählt der Mafia-Killer einem Strassenhändler einen Traum. Die Analyse fällt kurz aus. Der Traum bedeutet Unglück, und die Prophezeiung erfüllt sich noch im selben Augenblick: Kurzerhand erschiesst der Strassenhändler den Mafioso. Als Anleitung zur effektiven Traumdeutung mag "5 ist die perfekte Zahl", das neue Werk von Igort, nur bedingt tauglich sein, als Comic-Roman jedoch überzeugt er voll und ganz. Die Geschichte handelt vom Mafia-Veteran Peppino, der am liebsten fischt, kocht und sich an die gute alte Zeit erinnert. Doch Peppino gerät durch den eingangs geschilderten Mord an seinem Sohn wieder zwischen die Fronten sich bekriegender Familien. Und die Mafia ist auch nicht mehr das, was sie mal war. Igort, umtriebiger Mit-Gründer der italienischen Künstlergruppe Valvoline, später für den japanischen Mangamarkt tätig, versteht es einerseits, die Stränge dieser Mafia-Story fest in den Händen zu halten, andererseits, sie virtuos zu illustrieren. Ohne dabei aufdringlich zu wirken, variiert er die Stile und Techniken öfter als ein Berufskiller seine Tötungsarten. "5 ist die perfekte Zahl" ist damit schon fast so etwas wie ein perfekter Comic geworden, spannend, mit einer trotz allem Detailreichtum auf die Geschichte konzentrierten Bildsprache und einem überrascheöden Ende jenseits aller "Godfather"-Klischees.

Igort, "5 ist die perfekte Zahl"
174 Seiten Avant-Verlag, Berlin, Euro 17.95 / Sfr. 26.00

- TIM KONGO -

Raute

Eine Geschmacklosigkeit mit Geschmack

P. IM ST.

xlbu xlbu = xenophile luderbubchen, x listige blaue unterhändler
gegens gmüetl a... = gegenseitige gierige miese üble ekle tote lahme abarbeit!
a... = aufarbeit...
tabul tabul = taube buchnarren lesen tabus leichtgläubig
priv trans bhü = prüfen individuell verschüpft transgenerationale bare hüllen
trans bhü! = transzendieren blasphemische hütchen!
kü fig ju zungenku = küren figurativ jugend zum nonnenhaften gen-kult;
intimr intimr = in tollen intrigen martern rotzen intimste rätsel
tägl h'fr = taxieren ängstlich gluten, hör' freund =
h'fr tägl = hör' freudig, tust ärglichst gleichen:
CH MO-FR! = CHarakterlosen MOrd-FRitzen!
TOT A-Z NS! = TOTal Alphabethischen, Zwecklosen NaturSeismographen!
topfig traumabschl = tändeln ohne pfennig, im geiz, traum ab schlagstöcken...
vollb zärtl = vollbrut zagend-ärtiger liebhalter
ju hü ju = junggeblüt hühnenhaft jagtunfähiger;
sehr hüb frankr = seht rotes, haut über, fingert, rankt, ringt
gr nat bu mass = greint flatternd bukolische massaker!
romant o zeitdr = röhr o mensch am nass, tus, o zeuge, eutere irr, turtele dumm, rüde!
attr attr = am tosend tragischen rummel, am tierischen taumel rührend
priv div schla = prüfst im verstand diverse schalmeierne laster
schla div = schnell lurchend aufs divine...
schla = schön lieben andere
a... = ach...

- SIMON VON MÖRDERTHAL -


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REZEPT FÜR EINEN STRUDEL (CA. 2-3 PERSONEN)

1 Zwiebel = halbieren und in Scheiben schneiden
75g Speck = klein schneiden, beides zusammen 5 Min. anbraten

200g geschwellte Kartoffeln = rüsten, in Würfel schneiden
100g Apfel (Boskop) = entkernen, in Würfel schneiden
100g Käse (Raclette, Gruyère) = in Würfel schneiden
2-4 Knoblauchzehen = in Scheibchen schneiden, alles mit Speck/Zwiebel gut vermischen

1 TL Salz
Paprika, Thymian, Pfeffer
3 EL Weisswein = Masse würzen & mischen

70g Butter = in Pfännchen zerlassen

Strudelteig (4 Blätter, Fertigprodukt) = auf einem feuchten Tuch 1 Blatt legen, mit Butter
bepinseln, wieder 1 Blatt, wieder bepinseln, Blatt, bepinseln, etc.

2 Paar Schweinewürstchen = auf unterem Drittel des Teigs die Hälfte der Masse verteilen, Würstli
drauf, andere Hälfte darüber verteilen (Achtung: auf jeder Seite 5 cm Rand lassen!), etwas andrücken.
Zuerst Seitenränder einschlagen, dann mit Hilfe des Tuches zu einem Strudel rollen (an dem Ende,
wo die Masse liegt, das Tuch an den Zipfeln packen, vorsichtig heben & heben & heben, dann ergibt sich
der Strudel von selbst,. (na!: am besten schaut man wohl auf der Packungsbeilage des Strudelteigs
nach, wie man soll & sollte...))
Strudel nochmals mit Butter beschmieren, nach Belieben mit Mandelscheibchen und wenig Salz
bestreuen im auf 200°C vorgeheizten Ofen 25-30 Min. backen, ab und zu wieder mit Butter beschmieren.
Strudel in grobe Stücke schneiden, ev. mit Salat servieren, Bier saufen oder Weisswein nippen.

Raute

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DRUCK Kollektiv Druckwelle, Reitschule.

REDAKTION DIESER NUMMER Natalia Funariu (nafu), Milena Gsteiger (mfg), Ursula Häni (ush), Agnes Hofmann (ans),
Judith Huber (juh), Patrick Kuhn (pak), Rahel La Bey (rel), Leena Schmitter (mc), Urslé von Mathilde (uvm),

REDAKTIONSSCHLUSS 14. Oktober, näxter 11. November 2009

ERSCHEINT monatlich, Auflage ca. 1000 Ex.; JAHRESABO (mind. 72 Franken auf PC 30-34495-5 einzahlen, Abo bei obenstehender Adresse).

Die in den Beiträgen wiedergegebene Meinung muss sich nicht mit der Meinung der Redaktion decken. Die Schwerpunkt-Beiträge dokumentieren die Entwicklung von Kunst- und Jugend- und Politszenen. Weder mit bildlichen noch textlichen Inhalten sollen die LeserInnen dazu aufgerufen werden, Straftaten zu begehen.

Die Artikel dieser Zeitung unterstehen einer CreativeCommons Lizenz. Für nichtkommerzielle Zwecke können sie mit Quellenangabe frei verwendet werden.


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Quelle:
megafon - Nr. 337, November 2009
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veröffentlicht im Schattenblick zum 20. Februar 2010