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MARXISTISCHE BLÄTTER/616: Schöne deformierte Arbeitswelt


Marxistische Blätter Heft 3-16

Schöne deformierte Arbeitswelt
Versuch eines lesenden Arbeiters, vor lauter digitalen Bäumen den Wald nicht aus dem Auge zu verlieren

Von Lothar Geisler


Eins. Vernetzt in die Zukunft

Da kann einem schon der Kopf brummen, bei all dem, was sich da an rasanten Umbrüchen zukünftig auch in der Produzentenwelt "entlang der Wertschöpfungskette"(1) abzeichnet: Cyber-physische Systeme (CPS), Cyber Physical Production Systems (CPPS), Enterprise Resource Planning Systems (ERP-System), PPS (Produktionsplanungs- und Steuerungssystem), Cloudworking, Crowdsourcing etc. pp. Worum geht's da im Kern? Keineswegs nur um neue Technik, sondern auch um Neu-Organisation von der Planung über den Produktionsprozess bis zum Vertrieb. Kurz: Um die Vision einer umfassenden Vernetzung von (produzierenden und konsumierenden) Menschen mit (rechnenden und produzierenden) Maschinen im WorldWideWeb, wobei die Maschinen, ausgestattet mit Sensoren, immer mehr Daten sammeln, diese immer schneller verwerten und sich immer mehr selbst steuern sollen. Dort, wo in der Vergangenheit menschliche Entscheidungen, Eingriffe, also Arbeitskraft "zwischengeschaltet" waren, regeln vernetzte "Denkzeuge" vieles (scheinbar) von selbst, laufen sozusagen auf "Autopilot". Noch verkürzter: ins "Internet der Dinge" (Kühlschrank an Händler: Milch ist aus!) soll auch die industrielle Produktion eingebettet werden.

Im Mitarbeitermagazin des Chemiekonzerns Evonik lese ich in der Titelstory:(2) "Die neue Datenwelt revolutioniert bisherige Denk- und Arbeitsweisen. Evonik mischt bei diesem Wandel kräftig mit. Industrie 4.0: DAS WIRD SMART". Es gehe um ganz neue Produkte, Kunststoffe für 3D-Drucker, weiche Materialien für Roboter, die künftig Seite an Seite mit Menschen arbeiten sollen und Werkstoffe, die selbst als Sensor, als Daten- oder Energiespeicher fungieren. Es gehe um mehr Flexibilität, um modulare und flexible Anlagenkonzepte, die es dem Konzern angesichts kürzerer Produktions- und Innovationszyklen bei seinen Kunden erlauben, neue Produkte schneller und auch in kleineren Mengen wirtschaftlich herzustellen.

Automatisierung und Fernsteuerung der Produktion sind in der chemischen Industrie beileibe keine Neuheit. Zukünftig sollen zusätzliche Sensoren und digitale Datenquellen noch mehr Daten auch aus dem Umfeld des eigentlichen Produktionsprozesses erfassen: Von den Vertriebsdaten über Rohstoffeingänge, Markt- und Preisinformationen, Wetterprognosen bis hin zu den Abfall- und Abwasserströmen ließe sich der Produktionsprozess genauer abbilden und besser steuern.

Wie da das konkret funktionieren soll, ist noch Gegenstand von Forschungs- und Pilotprojekten, z.B. über das staatlich geförderte, d. h. von unseren Steuergeldern finanzierte, Projekt SIDAP. Der Name sagt, um was es geht: ein "Skalierbares Integrationskonzept zur Datenaggregation, -analyse und -aufbereitung von großen Datenmengen in der Prozessindustrie". Evonik, IBM und die TU München erproben dieses Sammeln und Verwerten großer Datenmengen in Produktionsprozessen praktisch und erarbeiten gemeinsame Standards. Eine andere Forschungsgruppe mit Namen "Manufacturing Intelligence" erforsche derweil, wie Computer Muster in wachsenden Datenbergen erkennen und nutzbar machen können. Und in einem weiteren Pilotprojekt werde gemeinsam mit einem Gerätehersteller am Beispiel eines Ventils erforscht, welche Daten es überhaupt brauche, wie sie ausgetauscht, aufbereitet, verschlüsselt und geschützt werden. Denn die "smarte Fabrik" brauche "smarte Komponenten", d. h. auch Ventile, Pumpen und Behälter sollen "smarter" werden.

Große Aufgaben hat bei diesem Umbau insbesondere die Konzern-IT zu leisten, die bereits 2014 zu einem "Global IT & Process Center" umgebaut wurde. Seine neue Leiterin formuliert mit Blick auf die Zukunft Sorgen um Know-how-Schutz bzw. IT-Sicherheit. Ganz andere Sorgen haben derweil gut 1000 Evonik-MitarbeiterInnen aus der Verwaltung, z.B. den "Financial Services" (Buchhaltung) und sogar der internen IT, weil ihre Arbeitsplätze als überflüssig wegrationalisiert worden sind. Davon steht nichts in der Titelstory über das so schön "smarte manufacturing" oder darüber, was das eine mit dem anderen zu tun hat. In der vielzitierten Studie der ING.DiBa ist hingegen zu lesen, in welchen Tätigkeitsbereichen dieser neuerliche Technologieschub am meisten lebendige Arbeit überflüssig macht: administrative Tätigkeiten (Büro/Sekretariat/Sachbearbeitung), Hilfsarbeitstätigkeiten (z.B. Lagerwirtschaft/Logistik), Mechaniker, Fahrzeugführer und Maschinenbediener.

Zwei. Der alte, harte Wesenskern

Egal, welches neue Label man den aktuellen technischen und organisatorischen Umbrüchen in der Arbeitswelt verpasst - "Industrie 4.0", "Smart Factory", "Office 2.0", "Wirtschaft 4.0", "Digitale Transformation", "Zweites Maschinenzeitalter, "Digitalisierung der Arbeitswelt", "Industrial Internet"... -, ihr harter Wesenskern ist bei aller wirklich neuen Qualität, bei aller Fülle wirklich neuer, (auch für den Marxismus als Wissenschaft) noch ungeklärter Detailfragen, arbeitenden Menschen mit ganz wenigen alt-eingeführten Begriffen hinreichend begreifbar zu machen, mit Begriffen wie z.B. "Automatisierung", "Flexibilisierung", "Rationalisierung", "Intensivierung", "Profitmaximierung" etc.

Man muss also als lesender Arbeiter nicht auf jeden "Alles-ist-so-neu"-Hype abfahren. Vor allem aus zwei Gründen. Der erste: die hinter den konkreten Dingen und neuen Entwicklungen steckenden Motive und Triebkräfte des Kapitals sind und bleiben die alten. Der zweite: die Brücke zu den bis heute gemachten (Klassenkampf-)Erfahrungen mit "industrieller Revolution" und den bisherigen Gestaltungskonzepten und -instrumenten kann so anschaulicher geschlagen werden.(3) Denn bei aller Wichtigkeit neuer Kampferfahrungen, z. B. der "neuen Clickarbeiter" oder der KollegInnen beim Onlinehändler Amazon,(4) verlieren die älteren ja nicht an Bedeutung.

Und was ist nun dieser alte, harte Wesenskern? Vor gut 30 Jahren, als das Bündnis zwischen marxistischen WissenschaftlerInnen und der Arbeiterbewegung noch enger war und beide noch stärker waren, wurde er so formuliert: "... neue Arbeitsmittel, die bestimmte Formen menschlicher Tätigkeit ersetzen, aber Instrumente menschlichen Handelns sind ..., werden unter kapitalistischen Klassen- und Eigentumsverhältnissen als Produktivkräfte des Kapitals entwickelt, sind insofern keine 'neutrale' Technik, sondern Mittel der Intensivierung und Ökonomisierung der Kapitalreproduktion, was die Gestaltung ihrer betrieblichen Einsatz- und Anwendungsformen wesentlich beeinflusst. Ihre Universalität hebt ihre Bindung an das einzelkapitalistische Verwertungsinteresse nicht auf, ihre Anwendung bewegt sich vielmehr innerhalb des Widerspruchs von einzelbetrieblicher Rationalität und gesamtgesellschaftlicher Konkurrenz. Sie sind Instrumente kapitalistischen auf Intensivierung von Lohnarbeit gerichteter Rationalisierung und nicht Mittel bewusster, geplanter Entfaltung von Persönlichkeit und Produktivkräften der Individuen."(5)

Wen wundert's da, dass die Bundesvereinigung der Arbeitgeber in ihrem Positionspapier zur Digitalisierung (Mai 2015) weiter voll auf Wettbewerbs- und Standortlogik setzt und neue Chancen sieht für eine noch offensivere Deregulierung der Arbeits-, Sozial- und Mitbestimmungsrechte, Flexibilisierung der Arbeitszeiten und Abbau der Reste sozialstaatlicher Regelungen: also mehr Leiharbeit, mehr Werk- und Dienstverträge, mehr Befristungen. Statt einer täglichen Höchstarbeitszeit von 8 Stunden soll es eine wöchentliche von 48 Stunden geben. Die Betriebsverfassung soll der absehbaren höheren Geschwindigkeit bei Entscheidungs- und Umsetzungsprozessen angepasst werden. "Verzögerungspotentiale" - gemeint sind Mitbestimmungsrechte der Betriebsräte - sollen abgebaut werden. Das ist das, was auch Frau Merkel als "marktkonforme Demokratie" durchsetzen will. Und wenn der BDA-Chef all das ausspricht, vergiftet er keineswegs die Debatte um Arbeiten 4.0, wie Kollegin Buntenbach (DGB) kritisiert. Er verdeutlicht vielmehr: Das Interesse des Monopolkapitals ist das Gift, das mit Blick auf die Gesamtheit der Produktivkraftentwicklung all das Sorgen machend Destruktive hervorbringt. Das vorrangige Problem ist nicht die wissenschaftlich-technische Revolution, sondern die überfällige soziale.

Drei. Über Chancen und Risiken

"Erste Umrisse der Arbeitswelt 4.0 werden erkennbar, auch wenn es bis dahin noch ein weiter Weg sein mag. In welche Richtung dieser Weg aber führt - dafür werden die Weichen jetzt gestellt", heißt es im Vorwort des Buches, das ich allen lesenden ArbeiterInnen, die bei diesem Thema mitreden und auch unterschiedliche Positionen selbst beurteilen wollen, dringend zur Lektüre empfehle: das Jahrbuch "Gute Arbeit 2016". "Aus gewerkschaftlicher Sicht ist es allerhöchste Zeit, sich mit den möglichen Folgen für die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten auseinanderzusetzen und Elemente einer gewerkschaftlichen Strategie zu entwickeln." Dem und der Zweiten Vorsitzenden der IG Metall Christiane Benner kann nur zugestimmt werden, wenn sie sagt: "Die Chancen sind potentiell, die Gefahren real." Das Buch liefert viele wertvolle Fakten und Denkanstöße über Chancen und Risiken, neue Konfliktlinien und Handlungsfelder, die hier nicht im Einzelnen referiert oder bewertet werden sollen.

Aber ein Gedanke sei vorab erlaubt. Über die Fragen, ob und in welchem Maße potentielle Chancen Realität werden und ob und in welchem Maße reale Risiken eingedämmt werden können, entscheidet einzig und allein das gesellschaftliche Kräfteverhältnis, die globale Machtverteilung zwischen Monopolkapital und Arbeit. Und alles auf einzelbetrieblicher, tarifvertraglicher oder gesetzlicher Ebene Erkämpfte und noch Erkämpfbare kann wieder eingesargt werden, z.B. wenn TTIP, CETA etc. nicht verhindert werden. Und wenn wir mit den Gewerkschaften hier nicht mehr Widerstand entwickeln.

So gesehen ist natürlich auch der gegenwärtige Zustand der Arbeitswelt in der BRD (und darüber hinaus) als Resultat dieser realen Machtverteilung und auch der gewerkschaftlichen Strategien in den vergangenen "neoliberalen" Jahrzehnten zu sehen. Alles Zukünftige kommt on Top! Insofern gehört der höchst hilfreiche Anhang des Jahrbuches "Gute Arbeit 2016" mit den wichtigsten Basisdaten und Trends aus der "Arbeitswelt von heute" an den Anfang. Und wegen der neuen Herausforderungen gehören auch die bisherigen Gewerkschaftsstrategien auf den Prüfstand! Um nicht missverstanden zu werden: Die gewerkschaftliche Debatte um gute digitale Arbeit ist unbestreitbar notwendig. Aber wer den konsequenten Kampf um das "Recht auf Arbeit für Alle!" weiter hinten runter fallen lässt, wer radikale Arbeitszeitverkürzung nur "unter ferner liefen" fordert und nur die deutschen Arbeitsverhältnisse im Blick hat, schießt am Ziel vorbei.

Da finde ich einen alten Denkanstoß des Arbeitsrechtlers Wolfgang Däubler nach wie vor hilfreich: "Die Forderung nach dem Recht auf Arbeit immer wieder zu betonen, ist deshalb wichtig, weil sie sich ähnlich wie Lohnforderungen dazu eignet, über alle weltanschaulichen und politischen Gräben hinweg ein einheitliches Handeln aller Arbeitnehmer zu ermöglichen: Einen angemessenen Arbeitsplatz zu besitzen, ist ein unmittelbar anschauliches Verlangen. Schließlich kann die Vorstellung eines Rechts auf Arbeit insofern aufklärerisch wirken, als sie auf die im bestehenden Wirtschaftssystem angelegten Grenzen verweist und den Gedanken an gesellschaftspolitische Alternativen wachhält, die nicht nur dem Anspruch nach, sondern in der Realität ein Recht auf Arbeit praktizieren."(6)

Vier. Deformierte Produktivkraftentwicklung 4.0

Als marxistische WissenschaftlerInnen in den 1980er Jahren über die damals schon absehbaren Umbrüche und die Beherrschbarkeit der wissenschaftlich-technischen Revolution(7) stritten, sprachen sie durchweg von "deformierter Produktivkraftentwicklung". Hier ist nicht der Platz diese Debatte im Detail nachzuzeichnen. Aber wir sollten sie wieder aufgreifen und für heutige Debatten nutzbar machen - und auch das Bündnis mit marxistischen WissenschaftlerInnen stärker suchen, um Produktivkraftentwicklung besser zu verstehen und ihre Deformationen bzw. deren Ursachen wirksamer zu bekämpfen. Denn dass solche Deformationen und destruktive Tendenzen nicht weniger geworden sind, ist unübersehbar. Um schlagwortartig nur drei zu nennen:

Der Trend der "Zur-Ware-Machung" und Privatisierung aller Lebensbereiche für kapitalistische "Plusmacherei" ist trotz oder wegen aller kapitalistischen Krisenprozesse ungebrochen und reicht bis in den Gen-Pool der Natur (Saatgut, Heilmittel etc.) und des Menschen. Er treibt auch ganz maßgeblich die Datensammelwut im Internet an und hat weitreichende Konsequenzen z.B. für die Versicherungswirtschaft (individualisierte Tarife etc.)

Das Internet und seine Angebote (inklusive des "Systems der Systeme", der Datenkabel, Router, Provider und zentralen Server) wird nur von einem halben Dutzend globaler IT-Monopolisten beherrscht.(8) Ihre Macht und ihre "digitale Dominanz" sind ungebremst.(9) Und ihre eigenen Zukunftsvorstellungen und Pläne zur weiteren Vernetzung der Welt sollten bei uns die Alarmglocken klingeln lassen.(10)

Die Militarisierung aller Lebensbereiche bzw. der Einfluss des Militärisch-industriellen Komplexes (inklusive der Geheimdienste) auf Forschung, Entwicklung, Nutzung neuer Technologien und die weltweite Sicherung der dafür notwendigen Rohstoffe ist größer denn je. Gleiches gilt für Bildung, Kultur, Medien und die Nutzung des Internets für militärische und andere Zwecke, z. B. Machtsicherung und Massenmanipulation.

Was ich damit nur andeuten will: Die Bretter, die wir alle gemeinsam zu bohren haben, sind dicker und erfordern weit mehr gewerkschaftliche und gesellschaftliche Gegenmacht (und zwar international vernetzte), als mit einem fröhlichen 4.0-Upgrade von "Sozialpartnerschaft", "Co-Management", "Humanisierung der Arbeitswelt", "Bündnis für Arbeit" oder "Standortnationalismus" für "Gute Digitale Arbeit" überhaupt zu haben ist. Dass die Menschen "ihren Stoffwechsel mit der Natur rationell regeln, unter ihre gemeinschaftliche Kontrolle bringen ...; ihn mit dem geringsten Kraftaufwand und unter den ihrer menschlichen Natur würdigsten und adäquatesten Bedingungen vollziehn"(11) ist weiterhin Ziel und Maßstab für unsere Politik.

Fünf. Nachbemerkung

Bei der diesjährigen CeBIT präsentierte Bundeswirtschaftsminister Gabriel (SPD) stolz seine neue "Digitale Strategie 2025": "Die erfolgreiche digitale Transformation unserer Volkswirtschaft ist die Voraussetzung den Erhalt und die Stärkung unserer Wettbewerbsfähigkeit. Unser Ziel ist es, Deutschland zum modernsten Industriestandort zu machen. Mit der Digitalen Strategie 2025 legen wir jetzt den ersten systematischen Ansatz vor, der aufzeigt, welche Instrumente in Zukunft notwendig sind."(12) Bis 2025 soll demnach ein nationales Glasfasernetz aufgebaut werden, das den Sprung in den Gigabit-Bereich möglich macht. Dies erfordere Investitionen von bis zu 100 Milliarden Euro. Mit einem 10-Milliarden-Fonds will der Bundeswirtschaftsminister sichern, dass auch die ländlichen Regionen den Anschluss kriegen. Weitere Milliarden sollen Start-ups Starthilfe leisten und auch mittelständische Unternehmen bei Investitionen in Digitales und Mikroelektronik entlasten. Die schulische und die duale Berufsausbildung sollen stärker auf die Anforderungen der digitalen Wirtschaft ausgerichtet werden. An deutschen Hochschulen sollen zusätzlich Lehrstühle, etwa für Big Data oder IT-Sicherheit eingerichtet werden.

Gabriel hatte seine Pressekonferenz noch gar nicht eröffnet, da ließ Sven Gabor Janszky, Direktor des Unternehmer-Think-Tanks "2b AHEAD", verlauten, er halte diesen Ausbau des Glasfasernetzes für eine "Fehlinvestition", da dies dem "technologischen Stand der 90er Jahre" entspreche. Als zukunftsträchtigere Alternative zeichne sich die Internetversorgung der Weltbevölkerung aus dem All ab: "Egal ob Google, Facebook oder Qualcom ... sie alle arbeiten daran, Minisatelliten in den niederen Orbit zu schicken ... Diese Internetversorgung aus dem niederen Orbit wird weltweit zu einer Veränderung führen, die die Dimensionen des deutschen Mauerfalls weit überschreitet." Die Vision werde der weltweiten Wirtschaft nicht nur neue Informationsströme ermöglichen, sondern vor allem neue Absatzmärkte bringen "... genau wie damals beim Zusammenbruch des Ostblocks. Nur dass es diesmal nicht nur hunderte Millionen Menschen betrifft, sondern etwa 3 Milliarden." Eine deutsche Digitalstrategie wäre also (von ihm) "gut beraten, wenn sie die geplanten 100 Milliarden einsetzt, um die deutschen Regionen möglichst schnell an diese neue Technologie anzuschließen und wenn sie versuchte gemeinsam mit der deutschen Wirtschaft zu verhindern, dass dann einige wenige US-Konzerne nicht nur die Macht über die Inhalte, sondern ebenso die Macht über die Verbreitungswege haben. Kurz gesagt: Nehmt das Geld und startet damit eine europäische Satellitenflotte zur Internetversorgung."(13)

Was kriegt der lesende Arbeiter hier noch einmal bestätigt? Erstens, es geht hier nicht um ihn, sondern zu allererst um die deutsche Wirtschaft, um ihre Wettbewerbsfähigkeit, ihre (bornierte) Standortpolitik und um (imperialistische) Konkurrenz um Marktanteile und neue Absatzmärkte auf dem gesamten Globus. Zweitens, da wo es um ihn geht (z.B. schulische und duale Berufsausbildung), geht es ums Ausrichten, Anpassen und nicht ums Gestalten der gesamten Digitalisierung in seinem Interesse als arbeitender Mensch. (Letzteres muss wie eh und je und alles andere gegen Unternehmerwiderstand hart erkämpft werden.) Drittens, selbst unter Interessenvertretern des Kapitals gibt es und wird es weiter eine Fülle von widerstrebenden Interessen und ungeklärten Fragen geben. (Und es werden neue Widersprüche entstehen!) Also: für uns kein Grund zu Minderwertigkeitsgefühlen, wenn derzeit viele neue Fragen offen sind und sie es auch absehbar bleiben - sondern mutig ran an die Formulierung eigener Interessen und die Erarbeitung eigener Antworten. Und dann ran an ihre noch bedeutend schwerere Durchsetzung.


Lothar Geisler, Dülmen, Chemielaborant, Journalist, MBl-Redaktion


Anmerkungen

(1) Unter Wertschöpfung verstehen bürgerliche Ökonomen die Größe, um die der Wert des Outputs einer Produktion, den Wert ihres Inputs übersteigt. Sie reden von Wertschöpfungskreisen, -ketten, -netzwerken und lassen gerne im Nebel, was Wert ist und wie er vermehrt wird - nämlich durch Arbeitskraft! Gewerkschafter und Linke sollten das besser immer betonen, bevor sie sich auf dieses Wording einlassen.

(2) Folio 1/Februar 2016, Seite 12 ff.

(3) Was auch ein wenig davor schützen mag, der 'digitalen Transformation' an sich oder aus sich heraus ein weitergehendes Transformationseffizienz anzudichten.

(4) Jokern Borowez, Johannes Schulten, "Der lange Kampf der Amazon-Beschäftigtem, Labor des Widerstands: Gewerkschaftliche Organisierung im Onlinehandel, Analysen der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

(5) André Leisewitz, "Wissenschaftlich-technische Revolution und deformierte Produktivkraftentwicklung", in: IMSF Jahrbuch 13, 1987, Seite 19.

(6) Wolfgang Däubler, Das Arbeitsrecht 2, 2. Auflage, Reinbek 1981, S. 42. Sehr lesenswert ist auch sein Artikel "Arbeitsrecht in der digitalisierten Gesellschaft" in der Zeitschrift SPW, Heft 212, S. 40 ff.

(7) Siehe Jahrbuch des IMSF 13, Umbrüche: Beherrschbarkeit der Technik, Rationalisierungstyp und Technologiepolitik, Tendenzen politischer Kultur, Frankfurt/Main 1987.

(8) Siehe Ulrich Dolata, "Internetökonomie und Internetkonzerne, Märkte - Expansion - Macht" in: "Gute Arbeit - Ausgabe 2016", Seite 148 ff.

(9) Siehe Malte DaniIjuk, "Digitale Dominanz - Wie Informationstechnologie globale Herrschaft verändert" in: Luxemburg 3_2015, S. 22 ff.

(10) Eric Schmidt, Jared Cohen, Die Vernetzung der Welt, Reinbek 2013 und Rezension in Marxistische Blätter 5_2014, Seite 120.

(11) MEW Band 25, S. 828.

(12) Pressemitteilung des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie vom 14. März 2016.

(13) Pressemitteilung von 2b AHEAD vom 14. März 2016.

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Quelle:
Marxistische Blätter, Heft 3-16, 54. Jahrgang, S. 38-45
Redaktion: Marxistische Blätter
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veröffentlicht im Schattenblick zum 20. September 2016

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