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MARXISTISCHE BLÄTTER/609: Afrika im Visier deutscher und europäischer Interessenpolitik


Marxistische Blätter Heft 1-16

Afrika im Visier deutscher und europäischer Militär- und Interessenpolitik

Von Sabine Lösing


Es lässt sich kaum übersehen, dass Afrika eines der wesentlichen Zielgebiete für Einsätze im Rahmen der sogenannten "Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik" (GSVP) der EU darstellt. 18 der bislang insgesamt 32 GSVP-Operationen fanden dort statt, soviel wie auf keinem anderen Kontinent. Allein die Größe des Kontinents bedingt dabei, dass die dortigen Interessen Deutschlands und der EU vielschichtig sind. Und dasselbe gilt auch für die Mittel, mit denen sie durchgesetzt werden.

Dabei lassen sich mindestens vier grundlegende Interessen identifizieren, die sich dann auch wiederum in entsprechenden EU-Einsätzen niederschlagen. Erstens steht hier das Bestreben, die Länder des unmittelbar angrenzenden Nachbarschaftsraumes möglichst eng in die europäische Einflusszone zu integrieren; zweitens handelt es sich dabei ganz profan um das Interesse an der Absicherung bzw. der Kontrolle zentraler Rohstoffe und Handelswege; drittens ist die EU bestrebt, die armutsbedingten Konflikte der neoliberalen Globalisierung notfalls militärisch halbwegs unter Kontrolle zu halten; und schließlich spielt gerade in jüngster Zeit die militärische Abschottung und wo möglich die Vorverlagerung der Migrationsbekämpfung eine immer wichtigere Rolle.

1. Nordafrika und die Kontrolle des Nachbarschaftsraums

Innerhalb der Strategiedebatte gilt es als unumstritten, dass die Europäische Union für den Aufstieg zu einer veritablen Großmacht auf Augenhöhe mit Ländern wie China oder den USA in den Nachbarschaftsraum expandieren muss. Hierfür wurde die Sogenannte Europäische Nachbarschaftspolitik (ENP) konzipiert, die darauf abzielt, die angrenzenden Länder in den Binnenmarkt und damit eine europäische Großwirtschaftszone zu integrieren, ohne ihnen allerdings substanzielle Mitspracherechte einzuräumen.

Dies führt unweigerlich zu Konflikten mit Bevölkerungen und/oder dortigen Machthabern, die sich diesem Ziel widersetzen, weshalb die damalige EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton bereits im Dezember 2013 den gesamten Nachbarschaftsraum faktisch zum europäischen Einfluss- und Interventionsgebiet erklärte: "Das neue Augenmerk der USA für die asiatisch-pazifische Region ist eine logische Konsequenz der geostrategischen Entwicklungen [Anm.: des Aufstiegs Chinas]. Dies bedeutet auch, dass Europa mehr Verantwortung für seine eigene Sicherheit und die seiner Nachbarschaft übernehmen muss. [...] Die Union muss in der Lage sein als Sicherheitsgarant - mit Partnern so möglich, autonom wenn nötig - in seiner Nachbarschaft entschieden zu handeln, dies schließt direkte Interventionen ein. Strategische Autonomie muss sich zuerst in der Nachbarschaft der Europäischen Union materialisieren."(1)

Die häufig mit US-Unterstützung betriebene Politik hat im Nachbarschaftsraum, allen voran in Syrien und Libyen, nicht nur Krieg und Zerstörung angerichtet, sondern sie hat auch chaotisierend auf andere Länder ausgestrahlt. Aus diesem Grund rücken nun auch zunehmend die "Nachbarn der Nachbarn" ins Visier, also Länder wie Mali. Nach der französischen Aktivierung der EU-Beistandsklausel in Folge der Pariser Attentate vom 13. November 2015 wird diese Interventionspolitik aktuell unter tatkräftiger deutscher Mithilfe noch weiter intensiviert, wenngleich wenig dafür spricht, dass sie andere Resultate als bisher zeitigen wird.

2. Rohstoffe und EU-Militäreinsätze

Tendenziell(2) werden Rohstoffe immer knapper und es gibt eigentlich kaum ein Strategiepapier,(3) das nicht wachsende Konflikte um deren Ausbeutung prognostiziert.

Das ist in gewisser Weise ein alter Hut: Seit Jahren werden offen Szenarien zur Führung von EU-Rohstoffkriegen konkret ausgeplant. Bereits 2004 veröffentlichte das "Institute for Security Studies" (ISS), die wichtigste EU-eigene Denkfabrik, die Ergebnisse einer hochrangig besetzten Expertengruppe. Unter dem vollen Titel "Europäische Verteidigung: Ein Vorschlag für ein Weißbuch" wurden zahlreiche EU-Interessen definiert sowie verschiedene militärische Einsatzoptionen präsentiert, um diese gewaltsam durchzusetzen. Unter anderem heißt es darin: "Künftige regionale Kriege könnten europäische Interessen tangieren [...]. indem europäische Sicherheit und Wohlstand direkt bedroht werden. Bspw. durch die Unterbrechung der Ölversorgung und/oder einer massiven Erhöhung der Energiekosten, [oder] der Störung der Handels- und Warenströme." Konkret wird folgendes offensichtlich an den Golfkrieg 1991, der auch offen als Vorbild benannt wird, erinnernde Szenario beschrieben, bei dem eine US/EU-Truppe im Umfang von 250.000 Soldaten zum Einsatz kommen soll: "In einem Land X, das an den indischen Ozean grenzt, haben anti-westliche Kräfte die Macht erlangt und benutzen Öl als Waffe, vertreiben Westler und greifen westliche Interessen an." Ziel sei es, "das besetzte Gebiet zu befreien und die Kontrolle über einige der Ölinstallationen, Pipelines und Häfen des Landes X zu erhalten".(4)

Auch in Deutschland wird - inzwischen - kaum mehr ein Hehl daraus gemacht, dass die militärische Rohstoffsicherung ein integraler Bestandteil des außenpolitischen Werkzeugkastens darstellt. Während der damalige Bundespräsident Horst Köhler noch im Mai 2010 für Aussagen in diese Richtung derart unter Beschuss geriet, dass er seinen Hut hatte nehmen müssen, konnte der damalige Verteidigungsminister Thomas de Maizière nur ein Jahr später noch schärfere Sätze vom Stapel lassen, ohne dass dies auf größere Kritik gestoßen wäre: "Eigentlich sollte es inzwischen eine Selbstverständlichkeit sein, dass wir uns über unsere nationalen Interessen im Klaren sind und sie offen vertreten. [...] Unsere nationalen Sicherheitsinteressen ergeben sich aus unserer Geschichte, unserer geografischen Lage, den internationalen Verflechtungen unseres Landes und unserer Ressourcenabhängigkeit als Hochtechnologieland und rohstoffarme Exportnation. [...] Das beinhaltet auch den Einsatz von Streitkräften."(5)

Dabei gilt es zu bedenken, dass sich die Begehrlichkeiten nicht nur auf Öl und Gas beschränken, sondern sich auch auf eine Reihe weiterer Rohstoffe erstrecken. Im Jahr 2010 veröffentlichte die EU-Kommission eine Liste mit 14 sogenannten kritischen Rohstoffen, deren gesicherte Versorgung als überlebenswichtig für das Funktionieren der heimischen Industrie bezeichnet wurde. Im Mai 2014 wurde diese Liste auf 20 kritische Rohstoffe erweitert.(6) Etwas salopp brachte BDI-Präsident Ulrich Grillo die Bedeutung nicht-energetischer Rohstoffe mit folgendem Spruch auf den Punkt: "Nicht nur Öl und Gas, auch die nichtenergetischen Erze und Metalle sind für den Industriestandort Deutschland strategisch wichtig. Wenn wir kein Benzin mehr bekommen, fahren unsere Autos nicht mehr. Aber: Wenn wir keine Metalle mehr bekommen, brauchen wir kein Benzin mehr, dann haben wir keine Autos mehr!"(7)

Ein wichtiges Beispiel für einen EU-Einsatz zur Rohstoffsicherung ist der Kongo, wo zahlreiche wertvolle Rohstoffe lagern. Dort hatte Joseph Kabila als Chef einer nicht-gewählten Übergangsregierung zwischen 2003 und 2006 die Rohstoffe des Landes günstig an westliche Konzerne verscherbelt. Aufschlussreich ist hier eine Untersuchung verschiedener Nichtregierungsorganisationen zur Vergabe von Minenkonzessionen: "Schon anfangs 2007 bildete eine Gruppe von nationalen und internationalen NGOs wieder ein Team, welches sich aufmachte, die letzten Vertragsabschlüsse des kongolesischen Staates mit zwölf internationalen Bergbau-Unternehmen zu studieren. [...] Von den 61 begutachteten 'Joint Venture'-Verträgen wurde hier kein einziger als akzeptabel bewertet, 38 hingegen als revisionsbedürftig und 23 als nicht verhandelbar, also aufzulösen. [...] Nicht weniger als zwei Drittel der Verträge waren in den Jahren 2003 bis 2006 abgeschlossen worden, also während der Interimsregierung."(8)

Dennoch - oder wohl gerade deswegen - wurde und wird Kabila von der EU massiv unterstützt. Nachdem er zweimal die Wahlen verschieben ließ und dabei Proteste der Zivilbevölkerung unter Todesopfern niedergeschlagen wurden, kam Kabila 2006 um Wahlen nicht mehr herum. Sie waren jedoch so unfair, dass die UDPS als größte zivile Oppositionspartei die Wahlen von vorneherein boykottierte. Trotzdem schickte die EU 2.000 Soldaten zur Absicherung der Wahlen, um sicherzustellen, dass der willfährige Kabila - nun demokratisch "legitimiert" - an der Macht bleiben und man selbst beim Run auf die Rohstoffe nicht ins Hintertreffen geraten würde. Ganz offen erklärte etwa der damalige deutsche Verteidigungsminister Franz-Josef Jung: "Stabilität in der rohstoffreichen Region nützt auch der deutschen Wirtschaft."(9)

"Operation gelungen, Patient fast tot", könnte man zu den Ergebnissen des EU-Einsatzes sagen. Joseph Kabila gewann 2006 die Wahl, sein wichtigster Herausforderer, Jean-Pierre Bemba, musste ins Exil flüchten. Anschließend ging Kabila rasch dazu über, seine Macht zu festigen und ein autoritäres Regime zu etablieren. Im Vorfeld der bislang letzten Wahlen am 28. November 2011 kam es erneut zu heftigen Auseinandersetzungen und massivem Wahlbetrug. Die Wahlen "gewann" Kabila und er ist bis heute an der Macht.

Aus der EU sind aber dennoch kaum kritische Töne dazu zu vernehmen - im Gegenteil: Mit zwei weiteren GSVP-Missionen baut bzw. baute die Europäische Union Kabila sogar den Repressionsapparat auf, um sich an der Macht halten zu können: "EUSEC RD Congo" konzentriert sich bis heute darauf, eine schlagkräftige Armee aufzubauen; "EUPOL-KINSHASA" (später umbenannt in EUPOL RD Congo) hatte bis 2014 u. a. zum Ziel, den Aufbau paramilitärischer Integrierter Polizeieinheiten (Integrated Police Units, IPUs) zu überwachen und anzuleiten.

Im Ergebnis bleibt der Kongo rohstoffreich, die dort lebenden Menschen aber bettelarm. Im UN-Entwicklungsindex belegt der Kongo den vorletzten Platz. Was sich im Kongo abspielt, ist leider geradezu symptomatisch, wie Jean Djamba von der Pax Christi-Kommission "Solidarität mit Zentralafrika" kritisiert: "Die Studie 'Gerechtigkeit mit Rohstoffen' [des Africa Progress Report 2013] legt die Finger auf offene Wunden. Sie zeigt z.B. auf, dass multinationale Konzerne durch Rohstoffausbeutung doppelt so viele Geldmittel aus Afrika abziehen, als durch Sogenannte Entwicklungshilfe den Kontinent erreichen. Am Beispiel der Demokratischen Republik Kongo wird dargestellt, wie Briefkastenfirmen für Schürfrechte 'einen Pappenstiel' bezahlen und diese in Einzelfällen in Steueroasen kurz darauf mit hohem Profit weiter veräußern."(10)

3. Neoliberalismus, Armut, Krieg

Diese Rohstoffpolitik der EU trägt natürlich massiv zur Verarmung des Kontinents bei, die auch durch Studien belegt ist. Anfang 2015 veröffentlichte die britische Entwicklungsorganisation Oxfam die Studie "Wealth: Having It All and Wanting More", derzufolge die Ungleichheit der Vermögensverteilung in der Welt immer ausgeprägter wird: "Im Jahr 2009 gehörten noch 44 Prozent des Wohlstands einem Prozent der Weltbevölkerung. Vergangenes Jahr lag der Anteil bereits bei 48 Prozent. 2016 werde er erstmals auf mehr als die Hälfte anwachsen."(11) Umso empörender ist es, dass die EU und Deutschland bis heute weit hinter ihrer Zusage aus dem Jahr 1970 zurückbleiben, mindestens 0,7% ihres Bruttonationaleinkommens für Entwicklungshilfe auszugeben (2014: EU: 0,42%; Deutschland 0,41 %).

Und regelrecht dem Fass den Boden schlägt dann noch aus, dass nicht geringe Teile dieser Entwicklungsgelder faktisch zur Finanzierung von Militäreinsätzen regelrecht zweckentfremdet werden. Das geschieht vor allem über die sogenannte "African Peace Facility" des Europäischen Entwicklungsfonds. Über sie wurden zwischen 2004 und 2014 insgesamt 1,6 Mrd. Euro zur Finanzierung von Militäreinsätzen der Afrikanischen Union und für den Aufbau Afrikanischer Eingreiftruppen bezahlt.(12)

Vor allem aber das stiernackige Festhalten am Neoliberalismus ist es, das nicht nur Armut schafft, sondern auch Kriege und Konflikte. Denn nicht etwa religiöse, ethnische Konflikte, Habgier o. ä., wie man uns stets weismachen will, sind der ausschlaggebende Faktor für das Ausbrechen von Bürgerkriegen, sondern Armut. Dies ist eine Tatsache, die in der Kriegsursachenforschung nahezu unbestritten ist. Selbst die Weltbank kam in einer bahnbrechenden Studie zu dem Ergebnis: "Empirisch ist das auffälligste Muster, dass sich Bürgerkriege besonders auf arme Staaten konzentrieren. Krieg verursacht Armut, aber wichtiger noch für diese Konzentration ist, dass Armut die Wahrscheinlichkeit von Bürgerkriegen erhöht. Somit kann unser zentrales Argument bündig zusammengefasst werden: die zentrale Konfliktursache ist das Scheitern ökonomischer Entwicklung."(13) Hält man demzufolge an der neoliberalen Politik fest - und nichts deutet derzeit auf einen Kurswechsel hin -, so bleibt den EU-Strategen wenig anderes übrig, als mit militärischen Mitteln den Dampfkessel der hierdurch verursachten Armutskonflikte notdürftig unter Kontrolle zu halten; zumindest dort, wo durch diese Konflikte relevante EU-Interessen gefährdet werden.

Ein besonders bedenkliches Beispiel für die Zusammenhänge zwischen neoliberalem Weltwirtschaftssystem, Armut und westlichen Kriegseinsätzen ist die Pirateriebekämpfung. Wo liegen die Ursachen für das "Piraterieproblem" am Horn von Afrika vor der Küste Somalias? Somalia war in den 1980er Jahren in die sog. Schuldenfalle geraten. Es folgten Strukturanpassungsprogramme des Internationalen Währungsfonds - Rückbau des Staates, Öffnung für westliche Investitionen und Produkte, Abbau von Sozialleistungen, etc.(14)

In der Folge brach Somalia zusammen, es entstand das, was man heute einen "gescheiterten Staat" nennt. Die Küstenwache konnte nicht mehr entlohnt werden und musste entlassen werden. Da niemand mehr zur Verfügung stand, um die Zwölf-Meilen-Zone zu kontrollieren, wurde diese anschließend von EU-Fischfangtrawlern leergeräumt, womit zahlreichen dortigen Fischern die Lebensgrundlage entzogen wurde. Aus Küstenwache und verarmten Fischern setzten sich dann die ersten "Piraten" zusammen, die Schiffe aufbringen und - aus Sicht der EU - den freien Warenverkehr und insbesondere die Tankerschifffahrt durch den Golf von Aden gefährden. Anstatt die Ursachen anzugehen, entsendet die EU seit 2008 im Rahmen der Mission ATALANTA Kriegsschiffe in die Region, die dort gemäß der jüngsten Mandatsverlängerung noch bis mindestens Dezember 2016 agieren werden. Sie sollen ein Problem wortwörtlich bekämpfen, dessen Ursache viel mit der EU-Interessenspolitik zu tun hat und dessen Lösung auch genau dort ansetzen müsste.

4. Abschottungsoperationen

Als wäre das alles nicht schon schlimm genug, tragen weitere Aspekte wie etwa die EU-Rüstungsexportpolitik oder auch die katastrophal fehlgeschlagene Intervention in Libyen, an der vor allem die beiden EU-Mitglieder Frankreich und Großbritannien führend beteiligt waren,(15) zur Verschärfung zahlreicher Konflikte massiv bei.

Man sollte sich hier aber keinen Illusionen hingeben: Dies ist natürlich auch den EU-Strategen klar. Und sie räumen dies teils auch ohne Umschweife ein. Worum es ihnen jedoch lediglich geht, ist, wie man den "Verdammten dieser Erde" begegnen kann: So erschien im Mai 2011 die deutsche Ausgabe des Sammelbandes "Perspektiven für die europäische Verteidigung 2020", die vom bereits erwähnten "Institute for Security Studies" in Paris herausgegeben wurde. Darin findet sich ein programmatischer Artikel zu den wichtigsten Aufgaben der künftigen EU-Außen- und Militärpolitik, der in beängstigender Weise die aktuellen Maßnahmen zur Migrationsbekämpfung vorwegnahm: "Abschottungseinsätze - Schutz der Reichen dieser Welt vor den Spannungen und Problemen der Armen. Da der Anteil der armen, frustrierten Weltbevölkerung weiterhin sehr hoch sein wird, werden sich die Spannungen zwischen dieser Welt und der Welt der Reichen weiter verschärfen - mit entsprechenden Konsequenzen. Da es uns kaum gelingen wird, die Ursachen dieses Problems, d. h. die Funktionsstörungen der Gesellschaften, bis 2020 zu beseitigen, werden wir uns stärker abschotten müssen. [...] Für den Schutz der Ströme werden globale militärpolizeiliche Fähigkeiten (Schutz von Seewegen und kritischen Knotenpunkten etc.) und eine gewisse Machtprojektion (Verhinderung von Blockaden und Bewältigung von regionaler Instabilität) erforderlich sein."(16)

Zur Migrationsbekämpfung setzt die EU vor allem auf zwei unterschiedliche Einsatzformen: Einmal sollen "befreundete" Staaten durch Ausrüstung und Ausbildung lokaler Repressionsorgane in die Lage versetzt werden, illegalisierte Migration "besser" bekämpfen zu können. Diese sogenannten "Ertüchtigungsmaßnahmen" helfen den jeweiligen Machthabern, sich an der Spitze halten zu können und dienen der EU dabei, die Grenzen möglichst weit nach vorne zu verlagern. In diese Einsatzkategorie fallen etwa die EU-Operationen EUTM Mali, EUBAM Libya oder EUCAP Sahel Niger.

Weil dies aber lediglich begrenzten "Erfolg" hat, wird die EU jetzt immer massiver selbst direkt aktiv. Vor diesem Hintergrund ist es ein unerträglicher Zynismus, wenn so getan wird, als handele es sich bei der am 22. Juni 2015 begonnenen EU-Operation EUNAVFOR Med (auch: Operation SOPHIA) um einen humanitären Einsatz zur Rettung von in Seenot geratenen Flüchtlingen. Denn vor allem geht es bei dem Einsatz darum, illegalisierte Migration zu verhindern und Schleusernetzwerke aktiv zu bekämpfen - und damit Flüchtende zu zwingen, noch riskantere Wege zu suchen.

Dafür gäbe es aber eine viel einfachere Möglichkeit: Nämlich den Schleppern schlichtweg das Geschäftsmodell zu entziehen, indem sichere Flucht-Korridore und legale Einreisemöglichkeiten geschaffen werden. Doch sobald auch nur kleine Versuche in diese Richtung gestartet werden, folgen hierauf regelrecht hysterische Reaktionen. Anfang Oktober 2015 ging EUNAVFOR Med in seine zweite Phase. Stand zuvor Aufklärung und das Sammeln von Daten im Vordergrund, steht nun auch das "Anhalten, Durchsuchen, Beschlagnahmen und Umleiten" Verdächtiger Schiffe auf dem Programm. Phase drei, die vom Rat - wohl auch, weil hierfür ein UN-Mandat notwendig wäre - noch nicht aktiviert wurde, schließt auch die "Zerstörung oder Unbrauchbarmachung" von Schiffen und sogar mögliche Bodeneinsätze in Libyen ein. Für die ersten 12 Monate des Einsatzes sind 11,82 Mio. Euro aus dem sogenannten ATHENA-Mechanismus vorgesehen - die tatsächlichen Kosten liegen aber weit höher, da über ATHENA in der Regel lediglich ca. 10 % der Gesamtkosten eines Einsatzes abgerechnet werden können, den Rest müssen die am Einsatz beteiligten Staaten aufbringen.

Laut Christoph Marischka von der Informationsstelle Militarisierung (IMI) trägt dieser Einsatz insgesamt zur weiteren Militarisierung Afrikas bei: "Zusammenfassend dient die Operation Eunavfor MED primär der Lagebilderstellung zwischen den Küsten Europas und Nordafrikas und als ein(er von verschiedenen) Handlungsrahmen für exekutives Vorgehen. Sie reiht sich damit ein in verschiedene weitere Maßnahmen der EU, ihrer Mitgliedstaaten und Verbündeten, zwischen dem Sahel und Europa eine zusammenhängende Zone militärisch-geheimdienstlicher Überwachung mit quasi-polizeilichen Befugnissen für ihre Militärs zu schaffen, in der Aufgaben wie die Bekämpfung des Terrorismus und der Mobilität ineinander verschwimmen. Dass die Zusammenarbeit zwischen nationalen und internationalen, polizeilichen und militärischen Behörden und Organisationen dabei so reibungslos verläuft, wie es die offiziellen Dokumente suggerieren, ist kaum anzunehmen. Vielmehr ist davon auszugehen, dass gerade auch in der Konkurrenz unter ihnen die Ursache für das völlig irrationale Ausmaß der Militarisierung der Region zu finden ist, die zugleich eine Entrechtung der Bevölkerung und Milliardengewinne für die Rüstungsindustrie mit sich bringt."(17)

Wenn also gerade vor dem Hintergrund der aktuellen Flüchtlingsbewegung vor Krisen und Konflikten nicht zuletzt in Afrika gewarnt wird, so gilt es sich vor Augen zu führen, dass Deutschland und die EU hierzu maßgeblich beigetragen haben. Nur eine radikale Abkehr von dieser Politik und ganz bestimmt nicht ihre immer wieder propagierte Verschärfung bieten hier einen Ausweg. Einer, der den Nagel auf den Kopf trifft, indem er dies immer wieder lautstark einfordert, ist der ehemalige Asylrichter Peter Vonnahme: "Bei der Suche nach den Fluchtursachen fällt sofort auf, dass die mit Abstand meisten Flüchtlinge aus Ländern kommen, die in den letzten 20 Jahren Schauplätze von Kriegen waren: das ehemalige Jugoslawien, Afghanistan, Irak, Syrien, Äthiopien, Somalia. Nach einer Statistik des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) waren 2014 die genannten Staaten und ihre Zerfallsprodukte die zehn wichtigsten Herkunftsländer für Asylbewerber in Deutschland. [...] Wer also Massenflucht eingrenzen will, muss in einem ersten Schritt militärische Abenteuer unterbinden und Militärbündnisse wie die Nato auf reine Verteidigungsaufgaben zurückführen. [...] Außerdem werden wir uns mit dem Gedanken anfreunden müssen, den notleidenden Staaten echte Solidarität anzubieten. Wohlklingende Rhetorik und Almosen werden auf Dauer nicht ausreichen."(18)


Sabine Lösing, Göttingen/Brüssel, Mitglied des Europaparlaments für die Partei Die Linke


Anmerkungen

(1) Ashton, Catherine: Preparing the December 2013 European Council on Security and Defence, Final Report by the High Representative/Head of the EDA on the Common Security and Defence Policy, Brussels, 15. Oktober 2013, S. 2.

(2) Eine gewisse Abmilderung gab es durch den FIüssiggas-Fracking-Boom, der aber primär auf die USA beschränkt ist und ohnehin natürlich keine Auswirkungen auf nichtenergetische Rohstoffe hat.

(3) Z. B. heißt es in dem Papier "Neue Macht - Neue Verantwortung", das im November 2013 veröffentlicht wurde und derzeit als eine Art Blaupause der aktuellen deutschen Außen- und Sicherheitspolitik gilt: "Deshalb wird es in Deutschlands Beziehungen zu den neuen wirtschaftlichen und politischen Kraftzentren der Welt unweigerlich auch zu Konkurrenz und Konflikten kommen: um Einfluss, um den Zugang zu Ressourcen, aber auch um die Architektur der internationalen Ordnung sowie um die Geltung der Normen, die ihr zugrunde liegen."

(4) European Defence Paper: A Proposal for A White Paper, Institute for Security Studies, Paris, Mai 2004, S. 81 ff.

(5) Regierungserklärung des Bundesministers der Verteidigung, Dr. Thomas de Maizière, zur Neuausrichtung der Bundeswehr vor dem Deutschen Bundestag am 27. Mai 2011 in Berlin.

(6) Konkret benannt sind das: Borate, Chrom, KokskohIe, Magnesit, Phosphatgestein, Silicium, Antimon, Beryllium, Flussspat, Gallium, Germanium, Graphit, Indium, Kobalt, Magnesium, Niob, Metalle der Platingruppe, schwere seltene Erden, leichte seltene Erden und Wolfram. Siehe Renz, Lukas: Rohstoffimperialismus. Deutsche und europäische Entwicklungspolitik im Dienste von Wirtschaft und Machtpolitik, IMI-Studie 1/2014.

(7) Ebenda, S. 8.

(8) Greuter, Susy: Demokratische Republik Kongo. Das 'Herz der Finsternis' schlägt im Bergbau. In: afrika-bulletin. Jan./Feb. 2008, Nummer 129, S. 6f.

(9) Jung setzt Solana Frist zu Kongo, Tagesspiegel, 17.3.2006. Noch deutlicher war damals Ex-BMVg-Staatssekretär Walther Stützle: "Worum geht es? Afrika ist arm an Wohlstand, aber reich an Bodenschätzen. Vorn Erdöl bis zum Uran, von Kobald über Platin bis Titan - alles, was selten und teuer ist, findet sich in afrikanischer Erde. Unter den afrikanischen Staaten aber ist der Kongo das rohstoffreichste Land - das Land, mit dem größten Potential. Der Wettlauf um die Ausbeutung der afrikanischen Rohstoffe ist längst und heftig im Gange, auch im Kongo - Amerikaner und Chinesen gehen längst planvoller zu Werke als die Europäer. Gegen sie in Afrika den Wettlauf um Einfluß, Macht und Rohstoffe zu verlieren, ist für Frankreich undenkbar. Paris ist entschlossen, das Blatt zu wenden. Statt Schauplatz für afrikanische Flüchtlingsdramen zu sein, soll von Europas Küsten künftig Präsenz in Afrika ausgehen. Den Flüchtlingsstrom erst gar nicht entstehen zu lassen, die Bodenschätze dort heben wo sie sich befinden - Afrika-Politik in Afrika betreiben - das ist der Kern der im Dezember des letzten Jahres beschlossenen, weithin unbeachteten Afrika-Strategie der EU mit dem keineswegs unbescheidenen Titel: 'Die EU und Afrika: Auf dem Weg zu einer Strategischen Partnerschaft'. Sechs Ziele nennt die Strategie - auf Platz eins stehen 'Frieden und Sicherheit' - zu erreichen, unter anderem und im Dokument an prominent vorderer Stelle genannt, - mit militärischen Krisen-Einsätzen der Europäischen Union." Stützle, Walter (2006): Hände weg von Kongo! Der Tagesspiegel, 13.4.2006.

(10) Schluss mit Freibriefen für multinationale Konzerne zur Ausplünderung Afrikas, Pax Christi, Berlin, 13. Mai 2013.

(11) Ein Prozent der Weltbevölkerung hat mehr als alle anderen, Zeit Online, 19.1.2015.

(12) Deutschland trägt zum Europäischen Entwicklungsfonds 20% bei.

(13) Collier, Paul: Breaking the conflict trap, World Bank Policy Research Report, 2003, S. 53.

(14) Vgl. Mahnkopf, Birgit: Piraten am Horn von Afrika - eine neue Gefahr für die globale Sicherheit? in: Roithner, Thomas (Hg.): Söldner, Schurken, Seepiraten: Von der Privatisierung der Sicherheit und dem Chaos der "neuen" Kriege, Wien 2010, S. 139-164.

(15) Der Libyen-Einsatz selbst war keine EU-, sondern eine NATO-Operation ("Unified Protector").

(16) Ries, Tomas: Die EU und das globalisierte Sicherheitsumfeld, in: Vasconcelos, Álvaro de (Hg.): Perspektiven für die europäische Verteidigung 2020, Institut für Sicherheitsstudien, Paris, Mai 2011, S. 67-84.

(17) Marischka, Christoph: Marineoperation im Mittelmeer, in: AUSDRUCK (Oktober 2015).

(18) Vonnahme, Peter: Massenflucht - Vorboten einer neuzeitlichen Völkerwanderung, NachDenkSeiten, 28.8.2015.

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Quelle:
Marxistische Blätter, Heft 1-16, 54. Jahrgang, S. 67-75
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veröffentlicht im Schattenblick zum 14. Juni 2016

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