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MARXISTISCHE BLÄTTER/566: Vor der Desillusionierung - Zu Aufgaben und Perspektiven der Großen Koalition


Marxistische Blätter Heft 2-14

Vor der Desillusionierung
Zu Aufgaben und Perspektiven der Großen Koalition

Von Klaus Wagener



Die SPD stellt die Regierung. Zumindest teilweise. Sigmar Gabriel und Andrea Nahles halten das für eine gute Sache. Das ist naheliegend. Michael Sommer, Detlef Wetzel und Michael Vassiliadis auch. Das weniger. Auch die Damen Springer und Mohn haben der Veranstaltung ihr OK gegeben. Das erstaunt erst einmal.

Die deutsche Bourgeoisie hat nun zum fünften Mal ihre SPD in die Verantwortung, ihren "Arzt ans Krankenbett" (Fritz Tarnow), gerufen. Warum also? Beim ersten Mal war es ziemlich naheliegend. 1918. Eine katastrophale Niederlage trotz der Millionen Opfer. Ein humanes, ökonomisches und finanzielles Desaster. Niemand wollte es gewesen sein. Der Kaiser war geflohen. Keiner der blitzenden Herren besaß Legitimität. Es gab halt niemand anderes, der den Kriegstreibern ihren Arsch und den Monopolen ihre Eigentumstitel retten konnte. Außerdem stand die Frage an, wer sollte denn den ganzen Schlamassel bezahlen? Eine Glanzepoche der Burgfrieden-Sozialdemokratie also. Diese Tradition könnte in Bezug auf die Europapolitik wieder an Relevanz gewinnen.

Ebenso klar erscheint der "Kampfauftrag" aus den Etagen der Bertelsmannstiftung, der Finanzwirtschaft und des BDI an die Herren Schröder und Müntefering. Hier geht es um ein Hunderte Milliarden schweres Eigentumsdelikt: Das Ausbomben der Staatsfinanzen und Sozialkassen. Die Schaffung eines permanenten Staatsfinanznotstandes also, der das Streichen von Ansprüchen an die Renten- und Sozialkassen und eine permanente Kürzungs-, besser Lohnsenkungspolitik plausibel machen sollte. Kurz, die Realisierung des "schlanken Staates" und eines wachsenden Niedriglohnsektors, auf den der "Genosse der Bosse" so ausdrücklich stolz ist. Und nicht zu vergessen - die Bomben auf Belgrad. Nach 54 Jahren schien die Zeit gekommen, mal wieder einen Sozialdemokraten vorzuschicken um mit dem "Nie wieder ...!" Schluss zu machen. Der deutsche Imperialismus hatte seine kurze Schamfrist nach der erfolgreichen Rückeroberung für beendet erklärt und Kurs auf die Durchdringung seines europäischen Basisgebietes wie auch auf die Manifestation seines globalen Anspruches genommen. Wer wäre geeigneter gewesen dies umzusetzen als Rosa-Oliv.

Etwas verwickelter scheint die Lage in der Brandt/Schmidt-Phase. Die Sackgasse, aus der die willigen Kerls den alten Herren diesmal heraushelfen sollten, war zwar unterschwellig spürbar, aber nicht so leicht zu erkennen. Es sollte immerhin aufwärts gehen. Aber nicht ohne Grund. Das konfrontative Roll-Back war an der Nachrüstung der SU gescheitert. Nahm die Nato-Strategie "Massive Retaliation" noch eine Viertelmilliarde Opfer in der SU und der VR China billigend in Kauf, so musste das Pentagon nach dem Sputnik-Schock zur Zahl der möglichen Opfer widerstrebend auch die eigene Belegschaft zählen. Das änderte die Lage grundlegend. Die integrative Variante kam zum Zuge: Sozialen Fortschritt und Friedensfähigkeit galt es zu demonstrieren. Dafür nahm die US-Bourgeoisie Steuersätze von über 9o Prozent in Kauf. Und in Deutschland durfte der "Vaterlandsverräter Herbert Frahm" plötzlich "mehr Demokratie wagen", gegen einen dramatisch inszenierten Widerstand von CDU/CSU die "Ostverträge" ratifizieren sowie, mit einer Verspätung von 25 Jahren, das Kriegsergebnis Oder-Neiße-Grenze zur Kenntnis nehmen.

Das hatte natürlich nichts mit den unverminderten Anstrengungen "des Westens" zu tun, im Kalten Krieg endgültig und auch militärisch die Oberhand zu gewinnen, wie uns die Hauptprotagonisten heute offen und mit viel Stolz erzählen. Das Generalverdikt Verschwörungstheorie gilt ja nur, bis die andere Seite erledigt ist. Aber zugegeben, die Inszenierung verfehlte ihre Wirkung nicht. Man darf hier ruhig von einer gelungenen ideologischen Entwaffnung reden.

Die stärkste historischer Parallele dürfte aber das Kabinett Müller II (1928-30) bieten. Dessen Agenda klingt auf geradezu frappierende Weise modern. Oder besser, die des Kabinett Merkel III auf frappierende Weise gestrig. Es ging und geht, gestern wie heute, um die Durchsetzung prozyklischer Austeritätspolitik. Die kurze nachinflationäre Nachkriegserholung 1924-28 hatte ihren Schwung verloren. Die Konzerne hatten die durch die Inflation wieder hergestellte Finanzkraft (Verschuldungsfähigkeit) des Staates für ein immenses Modernisierungs- und Konzentrationsprogramm genutzt. Moderne, international wieder wettbewerbsfähige Betriebe waren entstanden und marktbeherrschende Monopole vor allem in der Schwerindustrie (I.G. Farben, Vereinigte Stahlwerke). 1928 wurden erstmals die volle Annuität von 2,5 Mrd. Reichsmark aus dem Dawes-Plan fällig (12,5 Prozent der Staatsausgaben). Zusätzlich belasteten die Rüstungsambitionen der Reichswehr (Panzerkreuzer A) die Staatsfinanzen verschärft. (KPD: Kinderspeisung statt Panzerkreuzer)

Nun ging es darum, die zu Staatsschulden gewordenen Reparations- und Investitionskosten und die neu auflaufenden Krisenlasten, insbesondere die Kosten der rapide zunehmenden Arbeitslosigkeit, auf die Arbeiterklasse und den Mittelstand abzuladen. Die Staatsschuldenkrise wurde geboren. Es musste "gespart" werden. Ein auch nach der Bankenrettung 2008 ff. bekannter Vorgang. Anders als 2003 stimmte die SPD-Fraktion 1930 der Kürzung der Arbeitslosenunterstützung nicht zu. Es gab eine starke und stark wachsende KPD. Die Koalitionsregierung war am Ende. Der Reichsverband der Deutschen Industrie (RDI) hatte schon im "Ruhreisenstreit" das Ende der Nachkriegsbescheidenheit klargemacht und mit einer mehr als einen Monat andauernden Aussperrung von 260.000 Arbeitern die Phase der konfrontativen Durchsetzung seiner Interessen eingeleitet. Die objektive Funktion des Kabinetts Müller II bestand eher darin, die Unfähigkeit des Parlamentarismus insgesamt unter Beweis zu stellen. Da sich für die Krisen-Strategie der Monopole keine parlamentarischen Mehrheiten organisieren ließen, musste es eben ohne das Parlament gehen. Mit dem Kabinett Brüning I begann die Entmachtung des Reichstags und der Einstieg in die Präsidialkabinette. Und es begann der Aufstieg der NSDAP. Die Splitterpartei (2,6 Prozent, 1928) wurde bei den Reichstagswahlen 1930 auf 18,3 Prozent zur zweitstärksten Kraft nach der SPD hochkatapultiert, Wenn es schnell gehen musste, ging es schon damals, mit den entsprechenden Finanzen, recht schnell.

Verfassungsaushebelnde Regierungsmehrheit

Die Wahlkampfstimmung 2013 war von einlullender Schönfärberei geprägt, an der sich alle Regierungszugelassenen beteiligten. Deutschland ging es gut. Die NSA hielt sich an die Gesetze. Sogar Griechenland war auf dem bekannten guten Weg. Das langte, um 71,5 Prozent der Wahlberechtigten an die Urnen zu bringen und der künftigen "GroKo", SPD und CDU/CSU, eine komfortable Mehrheit von 67,2 Prozent der abgegebenen Stimmen zu sichern.

Dass die Wahl-"Kampf"-Rhetorik nicht die Wirklichkeit war, dürfte nicht unbekannt geblieben sein. Die abrupte Demontage des Bundespräsidenten leitete schon eine Modifikation der Politikpräsentation ein und mehr. Der Wechsel des Bundespräsidenten gab in der Geschichte schon mehrfach das Startsignal für einen Wechsel in der Regierungskoalition. Wenngleich es in den entscheidenden Fragen wie Krieg und EU-Politik längst eine Große Koalition aller vier neoliberalen Parteien gab, so suggerierte die "Opposition" zur schwarz-gelben Regierung eine Art Parlamentarismus-Fata-Morgana, die so tat, als gebe es so etwas wie Kontrolle oder sogar Alternative. Diese Fiktion ist nun zugunsten eines großen gemeinsamen Wollens abgeräumt, bei der die Grünen nur aus eher technischen Gründen außen vor stehen. Das marktradikale "Ich kenne keine Parteien mehr, sondern nur noch neoliberale Interventionisten" ist hier zu seiner freiwillig-postdemokratischen Form gekommen. Aber wie sich nicht zuletzt auf der Münchener "Sicherheitskonferenz" andeutet, geht es natürlich nicht nur um die Form, sondern vor allem um neue Politikinhalte, die mit dieser, nun verfassungsaushebelnden, Regierungsmehrheit ins Werk gesetzt werden dürften.

Natürlich ist die Große Krise nicht beendet. Erst recht nicht in der EU. Bislang hat die expansive Geldpolitik der Zentralbanken die Anpassungsprozesse des Krisenzyklus zu einem erheblichen Teil abgebremst. Weder die realwirtschaftlichen (Über-Kapazitäten sind der Unterkonsumption angepasst, noch die Unterkonsumption auf das vorhandene Produktionsniveau angehoben. Auch die Finanzblase ist dank der üppig verteilten Zentralbank-Billionen auf neue Rekordvolumina aufgeblasen worden. Die Wachstumsphase der "Emerging Markets", den von einer nachholenden Industrialisierung, dem Rohstoffboom und der Überliquidität getriebenen einzigen wirklich wachsenden Sektoren der Weltwirtschaft, scheint sich deutlich abzuschwächen. Die Wahrnehmung hat sich von den "Boom-BRlCS" zu den "Fragile Five" oder "Sorry-Six" (Brasilien, Indien, Indonesien, Türkei, Südafrika und fallweise Russland) gewandelt. Da die Abnahme in den entwickelten kapitalistischen Staaten ins Stocken geraten ist, gerät auch der rapide Aufbau weiterer Produktions- und Infrastrukturkapazitäten zunehmend unter Druck. Wachstumsraten von 10 Prozent und mehr gehören der Vergangenheit an. So wird man sich in einigen dieser "aufstrebenden Staaten" den schwachen Zahlen des entwickelten Kapitalismus deutlich annähern. Einige der gepriesenen Boomtowns könnten sich zu Investitionsruinen wandeln. Schon unter der Vorahnung des Abbremsens (Tapering) des Notenbank-Expansionismus geraten die immensen Kreditvolumina dieser Staaten unter Druck. Ein mehr oder weniger rapider Abzug von Investmentkapital deutet sich an. Die panischen Notenbankreaktionen in der Türkei und in Indien veranschaulichen die Ernsthaftigkeit der Probleme. Damit steht naturgemäß auch das Geschäftsmodell der Bundesrepublik, die hohe Exportrate im Bereich Investitions- und Luxusgüter, im Feuer.

Als wäre das nicht schon problematisch genug, betreibt die Berliner Regierung in der EU noch ihren ganz eigene Krisen-Herd. Dieser resultiert bekanntlich im Kern aus einer Art Germanisierung der EU mit Hilfe eines finanztechnischen Interventionismus unter dem Label Euro-"Rettung". Ziel ist es erklärtermaßen, eine europäische Konkurrenzveranstaltung zu der alternden Supermacht USA und dem aufstrebenden asiatischen Südosten zu etablieren. Die dazu für erforderlich gehaltene "Preis-Wettbewerbsfähigkeit" soll vor allem über eine innere Abwertung, im Klartext über Lohn- und Sozialabbau in den "Krisenstaaten", erreicht werden. Als Vorbild gilt die "Agenda"-Politik der Schröder-Regierung. Abgesehen von den katastrophalen sozialen Folgen, bleibt diese Strategie auch im Herrschaftsinteresse dysfunktional. Staaten wie Griechenland und Portugal lassen sich auch bei Inkaufnahme von Hungertoten nicht zu industriellen Exportweltmeistern zusammensparen. Gegen Konkurrenten wie Deutschland oder China beispielsweise. Es funktioniert nicht einmal bei Italien. Aber unverdrossen setzt die deutsche Elite, analog 1928 ff, auf eine prozyklische Austeritätspolitik. In Deutschland und in verschärfter Form, in Europa. Die große Frage ist nun, ob und wie sich eine Weiterführung des Austeritätskurses trotz der desatrösen Ergebnisse durchsetzen lässt.

Bislang steht das Ziel einer "großeuropäischen Lösung" außer Frage. Selbst Griechenland soll die Eurozone nicht verlassen. Das bedeutet aber strukturell eine weitere Akkumulation der Ungleichgewichte. Da der bisherige Ansatz einseitig auf Lohnsenkung, folglich Nachfragedämpfung, folglich Importreduzierung setzt, entstehen zwar, getreu dem deutschem Vorbild, durchaus europäische Handelsbilanzüberschüsse, aber zum Preis großflächiger Verelendung und sich auftürmender Defizite, Schulden und geplatzter Kredite. Die realwirtschaftliche Krisenentwicklung spiegelt sich in den wachsenden finanziellen Ungleichgewichten. Zwar hat die EZB die darauf aufsetzende Spekulation bislang erfolgreich aushebeln können, was aber die treibende Basisdynamik nicht außer Kraft gesetzt hat. Diese dürfte in einem rezessiven globalen Krisenumfeld eher an Fahrt gewinnen. Der nächste Zyklus von Rettungsmilliarden, Sparpaketen, Pleiten und Schuldenschnitten wird ebenso längst diskutiert wie die angeblich stufenweise Beteiligung von Gläubigern, Sparern und Steuerzahlern an den künftigen Rettungsaktionen. Zypern war da die Blaupause inklusive der Kapitalverkehrskontrollen. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt bereits in fünf EU-Staaten (GR, I, ESP, CRO, CY) über 40 Prozent. Der Süden verfallt zusehends. Auch wenn man den Sinnschen Alarmismus und seinen Wahrungschauvinismus nicht teilt, so stellen die im Feuer stehenden und möglicherweise ins Feuer geratenden Summen in mehrstelliger Milliardenhöhe alle anderen Risiken weit in den Schatten.

Die Herausforderung Europa

Hier dürfte die eigentliche Herausforderung für die "GroKo" liegen. Es ist kein kalendarischer Zufall, dass die Bewusstseinsindustrie der Parallele WK I einen derartig breiten Raum einräumt. Es geht tatsächlich wieder einmal um das Große Ganze. Um die deutsche Europastrategie. Den Kern der deutschen imperialen Expansion. Um die Rolle in der Welt. Die Krise hat den deutschen Europa-Ambitionen erheblichen Vortrieb verschafft. Gleichzeitig allerdings sind die dadurch ausgelösten zentrifugalen Kräfte beträchtlich angewachsen. Und sie nehmen zu. In Folge der antikommunistischen Blockade eines linken Auswegs, eines Europa von Unten, wächst der Einfluss der "rechtspopulistischen" Euro-Kritiker rapide. Das Potential wird derzeit bei 25-30 Prozent verortet. Ein Beppe Grillo erreichte aus dem Stand 25,5 Prozent. Selbst die so wenig massentaugliche AfD schaffte es gegen das mediale Sperrfeuer bis fast in den Bundestag. Mit professionellem Management ist das Potential auch in der Bundesrepublik sicher ein Mehrfaches höher. "Der wohlüberlegte Aufschrei der Schweizer", titelte die "Welt" zur spektakulär gewonnenen Volksabstimmung. Der europäische Formierungsprozess wird zunehmend als Verlust und Bedrohung empfunden. Das britische Forschungsinstitut Capital Economics hat selbst den Niederlanden in einer Studie ein höheres Wachstumspotential im Falle des Euro-Austritts bescheinigt. Es gibt laut "EU-Monitor" der Deutschen Bank "28 euroskeptische Parteien in 16 Ländern". Die Untersuchung betont zwar beruhigend, dass das Europaparlament "bislang keinen Einfluss bei der Ausgestaltung der Euro-Rettungspolitik" gehabt habe, kommt dann aber in einem "Extremszenario" zu dem Ergebnis, dass die euroskeptischen Kräfte 27 Prozent der Stimmen, also 203 der 751 Sitze, auf sich vereinigen könnten. Betont werden zwar die "mangelnde Zielkonsistenz" sowie die "schwierige Fraktionsbildung", aber "nicht zu unterschätzen" sei das "Risiko einer möglichen Rückkoppelung" mit der nationalen Politik."Ein gutes Abschneiden des Front National könnte beispielsweise den jüngst angekündigten marktwirtschaftlichen Reformkurs von Präsident Hollande gefährden." Denkbar sei, dass sich Regierungen im Lichte der Wahlergebnisse bei künftigen Verhandlungen "als Wahrer nationaler Interessen zu profilieren" versuchten. Die Europäische Integration, so resümiert der Text, sei in der Zukunft "keine Einbahnstraße" zu "mehr Europa" mehr.

Aus dieser strukturellen Schwächung der Massenzustimmung für das imperialistische EU-Projekt erwächst die Notwendigkeit einer politischen Verbreiterung. Die Aufgabe für die "GroKo" dürfte in der Installierung einer Art europäischer Burgfriedenspolitik mit Hilfe der deutschen Sozialdemokratie liegen. Die Attraktivität von Merkels "schwäbischer Hausfrau" lässt zunehmend zu wünschen übrig. Ein machtpolitischer Rückgriff auf den Rechtspopulismus oder auf noch weiter rechte Gruppierungen erscheint im Herrschaftskalkül im Gegensatz zu 1930 unter der gesetzten Zielstellung dysfunktional. (Was ihre innenpolitische Teilverwendbarkeit - nicht nur NSU - natürlich nicht in Frage stellt.) Die Entsendung von ausgerechnet Peter Hartz als kompetenten Modernisierer in den Elysee ist nur eine besonders skurrile Ausprägung dieser "Sozialdemokratisierung". Die deutsche Sozialdemokratie und insbesondere die Gewerkschaften der besonders exportorientierten Sektoren, IGM und IG BCE, haben längst ihren Frieden mit der strategischen Ausrichtung des deutschen Imperialismus gemacht. Die Fokussierung auf die Kernbelegschaften und das allenfalls noch deklamatorische Interesse an den "Modernisierungs"-Verlierern entspricht ihrem verbreitet praktizierten Co-Management-Ansatz.

Hier liegen, nebenbei bemerkt, eben auch die Grenzen dieser Strategie. Die betriebsbornierte Perspektive schafft in der Konsequenz eine Entsolidarisierung selbst auf nationaler Ebene, der klassischerweise Opel Bochum zum Opfer fiel. Eine Entsolidarisierung, die sich, transnational analog der gewollten staatlichen Konkurrenz, zu einem immer härteren Standortwettkampf entwickelt. Eine Transnationalisierung des Sozialchauvinismus auf die Ebene des EU-Projekts setzt ein gemeinsames transnationales Interessen voraus. Eine Perspektive, gemeinsam an den Brosamen vom Tische eines potenten "EU-Imperialismus" partizipieren zu können, davon kann angesichts der angerichteten sozialen und ökonomischen Verwüstungen des deutsch-dominierten Europa keine Rede mehr sein.

Natürlich gibt es die Themenfelder Energiewende und Vorratsdatenspeicherung. Und wie sich andeutet, gibt es auch etwas Balsam für die geschundene sozialdemokratische Seele. Es soll zumindest so aussehen, als hätte sich das "Ja" bei der Mitgliederbefragung tatsächlich gelohnt. Ein klein bisschen Mindestlohn und ein klein bisschen Rentenreform. Aber so löchrig und wenig, dass es den großen Trend zu Lohn- und Sozialabbau, zur prekären Beschäftigung und Altersarmut nicht zu stoppen vermag. Von einer Trendumkehr oder gar einer Rückumverteilung erst gar nicht zu reden.

Ähnliches gab es auch im Kabinett Schröder I oder nun auch bei François Hollande. Bei Gerhard Schröder (Leitsatz: "Innovation und Gerechtigkeit") hießen die "linken" Themen: Staatsbürgerschaftsrecht, Green-Card, Atomausstieg, Jump, Schulen ans Netz und Ökosteuer. Bekanntlich hielten die Versprechen nicht sehr lange. Den SPD-Vertretern in der jetzigen Bundesregierung dürfte diese Kehrtwende erspart bleiben. Sie haben, wenn man über den Überschuss an roter Farbe hinwegsieht, im Kern nichts anderes versprochen, als dort weiter zu machen, wo Schröder und Müntefering einst aufgehört haben. De facto haben sie in allen Grundfragen ohnehin immer mit Frau Merkel gestimmt. Dissens, wenn man das Wort verwenden will, gibt es wahlkampfbedingt allenfalls in den Details. Der Mindestlohn, den sich die Allerchristlichsten mit großer Pose abringen lassen, wird kaum anders aussehen als der in einigen Branchen ohnehin zugestandene. Für den Rest gibt es Ausnahmetatbestände und Schlupflöcher. Und die Energiewende á la Kraft und Gabriel dürfte von der des Herrn Altmeier nur schwer zu unterscheiden sein. Und bei der Vorratsdatenspeicherung ist man sich eh einig.

Wie Detlef Hensche überzeugend dargestellt hat, profiliert sich Schwarz-Rosa nun aber schon gewissermaßen zum Einstand mit einem wegweisenden "Tabubruch". Ausgerechnet der BDA hatte 2010 die Heiligkeit der "Tarifeinheit" entdeckt. Und mit ihm die entsprechenden DGB-Gewerkschaften. Seit so genannte Spartengewerkschaften sich nicht mehr dem allgemeinen Sparverdikt beugten und in ihren Bereichen bessere Abschlüsse durchsetzen. Und natürlich dafür streikten. Und genau darum geht es. "Der Kern der BDA-Initiative liegt nicht in der Tarifeinheit, sondern darin, dass die aus dem dominierenden Tarifvertrag folgende Friedenspflicht auch auf die konkurrierende Gewerkschaft erstreckt werden soll." (Hensche) Und weiter: "Wenn Gewerkschaften schon aus nichtigem Anlass eine gesetzliche Streikbeschränkung dulden, offenbart dies ein schwer nachvollziehbares Maß an Grundrechtsvergessenheit und lässt für die Standfestigkeit in existenziellen Herausforderungen nichts Gutes erwarten." Dieses Urteil gilt für die Damen und Herren Sozialdemokraten in der "GroKo" in voller Größe.

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Quelle:
Marxistische Blätter, Heft 2-14, 52. Jahrgang, S. 10-15
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veröffentlicht im Schattenblick zum 14. Juni 2014