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MARXISTISCHE BLÄTTER/553: Venezuela - Ohne organisierte Arbeiterklasse wird das nichts!


Marxistische Blätter Heft 4-13

Ohne organisierte Arbeiterklasse wird das nichts!

Exklusiv-Interview mit Carolus Wimmer, KP Venezuela, vom 4. Juni 2013



Weltweit wurde das Ergebnis der Präsidentschaftswahlen in Venezuela(1) als "äußerst knapp" bewertet und nicht nur von der inneren Opposition zum Anlass genommen, die Wahl anzufechten. Aber auch ein knapper Wahlsieg ist ein Sieg. So sind die Spielregeln der parlamentarischen Demokratie. Warum akzeptiert die Opposition dieses Ergebnis nicht?

Carolus Wimmer: Die Mehrheit des Volkes hat entschieden, dass Maduro sein neuer Präsident sein soll. Nicht das Wort 'knapp' ist wichtig, sondern dass die Wahl legal und fair verlaufen ist. Das wurde von nationalen und internationalen Beobachtern bestätigt. Bei der Nachzählung, die gefordert wurde und die man im Internet live verfolgen konnte, waren speziell auch die europäischen Botschafter eingeladen. Und diese Nachzählung bestätigte das Wahlergebnis voll und ganz. Also muss die Entscheidung des Volkes anerkannt werden. Die Schwierigkeiten bestehen darin, dass ein Teil der Opposition - ich betone das, weil man die oppositionellen Kräfte nicht alle in einen Topf werfen kann - insbesondere die ultrarechte Partei von Capriles, die von uns als faschistisch bezeichnet wird, diese Entscheidung der Mehrheit nicht anerkennt. Und was am Montag nach der Wahl in Venezuela gelaufen ist, das kann man nicht mehr als demokratische Opposition bezeichnen, das war ein faschistischer Putschversuch. Capriles hatte ja schon vorher erklärt, die Wahl sei illegal und er werde das Ergebnis nicht anerkennen. Auf dieser Linie macht er weiter. Das ist eben das Drehbuch des US-Imperialismus bei Wahlen,die nicht in seinem Sinne verlaufen.(2) Auch der deutsche Außenminister Westerwelle hat sich eine Woche vor der Wahl ähnlich positioniert, indem er eine 'große Chance für eine Rückkehr zur Demokratie in Venezuela' sah und betonte, dass man in Europa den Wahlsieg der Opposition verteidigen werde. Er setzte wohl auf diesen Sieg. Für uns ist wichtiger, dass alle Regierungen in Lateinamerika, egal ob links oder rechts, und in ganz Europa das Wahlergebnis anerkannt haben. Und die wenigen, die es nicht anerkennen, z. B. USA und Israel sind die gleichen, die seit je her auf der anderen Seite stehen und auch die Blockade gegenüber Cuba betreiben.

Dass es für Maduro als Persönlichkeit schwer würde, ein ähnliches Ergebnis wie Chávez zu erzielen, war glaub ich jedem klar: Auch wenn die bürgerlichen Meinungsforschungsinstitute ihm - mit welcher Absicht auch immer - ein besseres Ergebnis prognostiziert hatten. Die Frage ist: Warum hat Capriles an Stimmen gewonnen, rund 800.000? Das ist ja nicht wenig. Mit welchen Themen hat er gepunktet?

Carolus Wimmer: Da gibt es viele Faktoren. Was bekannt ist: Der Tod von Chávez war ein wirklich harter Schlag. Er war nicht irgendein Präsident der gestorben ist, sondern - wie sagt man - eine revolutionäre Vaterfigur, ein leader. Viele Menschen sahen und sehen ihn so, waren erschüttert über seinen Tod und fühlten sich danach wie Waisen. Ein populärer Slogan, den wir als KP immer sehr kritisch gesehen haben, war: 'Con Chávez todo, sin Chávez nada' also: 'Mit Chávez alles, ohne Chávez nichts'. Natürlich hat es auch konkrete Schwächen in der Regierungsarbeit und bei uns gegeben, nicht bezüglich der großen politischen Linien, sondern bei der konkreten Lösung von Alltagsproblemen, z. B. der Versorgung mit Strom oder Wasser und auch mit Lebensmitteln, wofür auch die Regierung verantwortlich gemacht wird, obwohl es da auf Unternehmerseite viel bewusste Sabotage gibt. Also nicht nur politische Opposition, sondern gezielte Sabotage, um mit Versorgungsengpässen Unzufriedenheit, Unruhe in der Bevölkerung zu schaffen. Man darf nicht vergessen: Industrie und Handel und übrigens auch die Medien in Venezuela liegen mehrheitlich in den Händen kapitalistischer Privatunternehmer. Es gibt über 7.000 Privatunternehmen und 462 staatliche. Und die privaten Sender erreichen mit ihren einseitigen Kampagnen mehr als 85 Prozent der FernsehzuschauerInnen. Venezuela steckt also noch ganz tief im Kapitalismus. Die Frage für die Regierung ist immer: wie hart greift man da durch? Und wie ist das internationale Echo darauf? Jedes harte Durchgreifen wird als 'Einschränkung der unternehmerischen Freiheit', ja als 'Gefahr der Diktatur' interpretiert. Was man auch sehen muss: ein Teil der Sabotage kommt auch aus den eigenen Reihen. Ein Teil der Opposition sitzt auch dort. Warum? Weil unsere neue sozialistische Partei mit einem total offenen Einschreibeverfahren aufgebaut wurde. Jeder, der wollte, konnte sich da einschreiben. Auch Unternehmer haben sich da eingeschrieben, weil sie mit dem und in dem Staat Geschäfte machen und politisch bestimmen wollen. Die sind natürlich keine Vertrauensleute des Volkes. Aber die Versorgungslage, die harte Zeit, hat sich mit Maduro etwas gebessert. Da gibt es kleine Erfolge und große Hoffnung. Maduro hat Führungsstärke bewiesen, entwickelt ein eigenes Profil weiter. Die Elektrizitätswerke wurden z.B. für 100 Tage unter Militärkontrolle gestellt, um Sabotage zu verhindern. Zweitens: er kommt ja aus der Linken, aus der Gewerkschaftsbewegung und hat 20 Jahre an der Seite von Chávez gekämpft, ist also ein erfahrener, geschulter Mann. Er hat sofort das direkte Gespräch auch mit gegnerischen Kräften gesucht. Das ist neu. Chávez hat immer den Konflikt gesucht. Maduro hat das Gespräch gesucht. Das erste Gespräch war mit Mendoza, dem Besitzer des Polar-Konzerns(3), der u.a. die Landwirtschaft und Lebensmittelbranche beherrscht, sowohl die Produktion, als auch den Handel, wo es viele Probleme gibt. Maduro hat also das Vier-Augen-Gespräch gesucht - wie wir in Venezuela sagen - nicht mit den Clowns, sondern mit dem Zirkusdirektor. Das war ein Vertrauliches Gespräch, aber man hat den Eindruck, dass sich die Situation danach etwas entspannt hat, dass sich Probleme langsam lösen. Die US-gesteuerte Linie, der Regierung Maduro sofort das Rückgrat zu brechen, wurde erst einmal verhindert. Dieses Gespräch mit dem größten, erfolgreichsten und einflussreichsten Unternehmer Venezuelas wurde vom Unternehmerverband scharf kritisiert, auch von Capriles, aber es hat der Konterrevolution doch etwas Wind aus den Segeln genommen. Ein weiterer Schritt Maduros war, mit allen Direktoren der privaten Fernsehsender und Radiostationen direkt Kontakt aufzunehmen. Ich weiß nicht, was sie besprochen haben, aber es hat ihm hoffentlich etwas Luft zum Atmen verschafft.

Hat der 'Medienskandal' um den populären Fernsehmoderator Mario Silva(4) und die Absetzung seiner Sendung etwas damit zu tun?

Carolus Wimmer: Nein, wahrscheinlich nicht. Wir haben als KP eine Erklärung(5) zu den Vorwürfen gegen Silva abgegeben. Wir sagen, dass diese Vorwürfe alle gründlich untersucht werden müssen. Das würden wir auch fordern, wenn er unser Genosse wäre. Die Ultrarechten und die internationalen Medien machen da einen Riesenwirbel. Aber vor deren Karren lassen wir uns natürlich nicht spannen.

Ich möchte diesen konkreten 'Medienskandal' auch gar nicht vertiefen. Es geht ja vielmehr um die generelle Rolle der Medien und ihr Verhältnis zur Regierung in Venezuela. Mitte April hat der Eigentümer des regierungsfeindlichen Hetzsenders Globovisión gewechselt und 'Die Welt' titelt unter Berufung auf Capriles: 'Venezuela schaltet die Opposition ab' und wittert 'Gleichschaltung der Medienlandschaft'.(6)

Carolus Wimmer: Letzteres ist natürlich falsch und albern, auch wenn man sich die Eigentumsverhältnisse anschaut.(7) Richtig ist, dass der Sender für seine besonders parteiische und hetzende Berichterstattung berüchtigt ist." Dazu muss man aber auch wissen: die Eigentümer von Globovisión repräsentierten einen Teil der Bourgeoisie, den es fast nur in Venezuela gibt, nennen wir es eine Bourgeoisie ohne Nationalbewusstsein, die sich einfach nur gewinnsüchtig in Geschäfte stürzt und generell außerhalb Venezuelas lebt. Das ist nicht vergleichbar mit den Bourgeoisien von z. B. Kolumbien, Brasilien, Argentinien, die - egal ob mit rechter oder linker Regierung - klassenbewusst Bourgeoisie sind und in diesem Klassenbewusstsein oft auch gewisse nationale Interessen gegen den US-Imperialismus durchsetzen. Ein Großteil der Bourgeoisie in Venezuela macht sich einfach zum Werkzeug des Imperialismus. Capriles' Hauptsitz ist ein 5-Millionen-Dollar-Appartement in New York. Wenn man im Ausland lebt, dann kann man gut mit Bürgerkriegsszenarien spielen und das Chaos in Venezuela fördern. Andere Interessen haben natürlich Kapitalisten wie Mendoza, der in Venezuela lebt, hier investiert, hier produzieren lässt und auch hier verkaufen will. Die meisten investieren nicht hier, leben vom Export-Import-Geschäft und haben auch kein Interesse an der Industrialisierung Venezuelas. Da ist eine Kette von Faktoren, die diesen Teil der Bourgeoisie - mit wenigen Ausnahmen - zur Konterrevolution drängt. Darum hat das Gespräch mit Mendoza auch eine nicht unerhebliche Bedeutung.

Die Ereignisse direkt nach der Wahl und der nahende 40. Jahrestag des faschistischen Putsches in Chile drängen historische Vergleiche auf Damals war das Szenario der Konterrevolution: Destabilisierung des wirtschaftlichen und öffentlichen Lebens, damit das Militär für 'Ruhe und Ordnung' sorgen kann. Wie berechtigt ist dieser Vergleich?

Carolus Wimmer: Das ist schon ernst zu nehmen. Es gab und gibt solche Putsch-Drehbücher in den USA, in der CIA. Und die ähneln sich alle in den Grundzügen. Drum bleibt die Lage gefährlich. Aber die konkrete Situation Venezuelas ist heute in mancher Hinsicht auch anders, als die chilenische vor 40 Jahren. Denn die Streitkräfte stehen - zumindest im Moment - in ihrer Mehrheit auf dem Boden der Verfassung und hinter der Richtlinie unseres antiimperialistischen Befreiungskampfes, auch aus eigenem Interesse. Sie kennen die Dokumente von Santa Fé, die auf die Abschaffung aller Streitkräfte in Lateinamerika orientieren. In Richtung antiimperialistisches Denken, hat sich auch im Militär einiges qualitativ verändert. Und es gibt dort zweifellos auch revolutionäre Kräfte, antikapitalistisches und pro-sozialistisches Denken, vor allem bei den Jüngeren. Ich will das nicht quantifizieren, aber die große Mehrheit im Militär gilt als verfassungstreu. Konterrevolutionäre mit Beziehungen zu den USA sind da in der absoluten Minderheit. Denn wäre es anders, hätte der faschistische Putsch-Versuch am Montag den 15. April, am Tag nach der Wahl funktioniert. Das war ein Putsch-Versuch, auch wenn die bürgerlichen Medien das nicht schreiben. Capriles, der schon vor der Wahl gesagt hatte, dass er das Wahlergebnis nicht akzeptieren werde, hatte noch in der Wahlnacht dazu aufgerufen, die ganze Wut über das Wahlergebnis rauszulassen und auf die Straße zu gehen. Das wurde dann von vielen kleinen, faschistischen Terrorgruppen gemacht. Es gab eine ganz heiße Nacht und einen heißen Montag. Sie zogen u.a. vor genau die Krankenhäuser, wo kubanische Ärzte arbeiten und bedrohten sie massiv. Es wurden Autos angezündet, Wahlbüros der sozialistischen Partei verwüstet. Es gab elf politische Morde. Das war wohl als Initialzündung gedacht, hat aber nicht funktioniert, weil es für sowas derzeit weder in der Bevölkerung noch beim Militär eine Mehrheit gibt. Im Gegenteil, dieser Putschversuch hat die Differenzen innerhalb der Opposition vergrößert. Und, was man nicht übersehen darf. Das Kräfteverhältnis ist heute deutlich anders. Der Einfluss des US-Imperialismus auf die Regierungen Lateinamerikas ist nicht mehr ungebrochen. Die wirtschaftliche Integration und politische Kooperation hat hier Fortschritte gemacht. Und viel mehr Länder haben die praktische Erfahrung gemacht: Wir können unsere Probleme besser lösen, wenn der US-Imperialismus nicht mit am Tisch sitzt.

Kannst du noch mal auf die Frage eingehen, warum Capriles bei der Wahl Stimmen gewonnen hat?

Carolus Wimmer: Er hat z. B. im Vergleich zur Oktoberwahl 2012 seine Wahlstrategie total verändert. Im Oktober gegen Chávez hatte er ein völlig antikommunistisches Drehbuch, mit der klaren Linie alles zu negieren, was Chávez gemacht hat. Die Renten seien unbezahlbar, die Sozialprogramme machten keinen Sinn, die Kubaner müssten alle raus aus Venezuela etc. pp. Jetzt im April genau das Gegenteil. Sein Wahlkommando benannte er nach Simon Bolivar. Ein Witz! Die hassen Bolivar und schmücken sich mit ihm! Die kubanischen Ärzte hat er eingeladen im Land zu bleiben und die Staatsbürgerschaft anzunehmen. Er versprach alle Sozialprogramme beizubehalten und zu verbessern. Zum 1. Mai hat er eine generelle Gehaltserhöhung von 40 Prozent versprochen. Das hat auf einen Teil unserer Wähler gewirkt. Ein anderer Teil ist desillusioniert nicht zur Wahl gegangen. Die privaten Medien haben natürlich gnadenlos z. B. die Stromausfälle, die jeden wirklich nerven, und auch Mängel der Regierungsarbeit kritisiert und einseitig Partei ergriffen für Capriles. So ist das eben. Darüber muss man nicht jammern und die Konterrevolution kritisieren. Da muss man Wege finden, das abzustellen und die bestehenden Probleme gemeinsam zu lösen.

Die KP Venezuelas hat auch in ihrer Erklärung zu Maria Silva auf die erkennbare Strategie hingewiesen "die Volkskräfte zu spalten, zu demoralisieren und zu demobilisieren" und als Gegen-Strategie nicht nur 'mehr Volksaktivität', 'mehr Räume zur Debatte', 'Vertiefung der revolutionären Diskussion' und 'Eroberung der Avantgarderolle' des arbeitenden Volkes gefordert sondern auch 'mehr Kollektivität in der Führung des Revolutionsprozesses'.(9) Gibt es da neue Chancen mit Maduro?

Carolus Wimmer: Eine kollektive Leitung der Revolution ist dringend erforderlich. Das gab es bisher nicht. Jetzt gibt es positive Ansätze in dieser Richtung. Maduro hat da erste Schritte gemacht. Es gab mehrere Treffen mit allen politischen Parteien, was total neu ist. Er hat gesprochen von einem politisch-militärischen Revolutionsrat, für manche Ohren ein pompöser Name, ja mei, aber richtig ist die Idee dahinter. Auf unserer letzten Nationalkonferenz hat er gesagt: ihr seid als KP dabei. Noch sind solche Pläne nicht Realität, weil der aktuelle Tageskampf sehr viel Zeit und Kraft in Anspruch nimmt. Das Leben, das wir seit 14 Jahren führen, ist tagtäglich harter Kampf, bei dem uns allen wenig Zeit zum Ausschnaufen bleibt. Aber Maduro muss als neuer Präsident die gesellschaftlichen Allianzen festigen. Aber bei allem inhaltlichen Streit über Sozialismus, über seinen Inhalt und seine konkreten Formen, haben wir in Venezuela 7,5 Millionen WählerInnen, die für Sozialismus gestimmt haben, für ein Wahlprogramm, das in Richtung Sozialismus zielt.

Dieses Ziel wird aber wohl kaum zu erreichen sein, wenn man nicht dafür sorgt, dass diejenigen kapitalistischen Unternehmen, die ja nicht wenige Probleme verursachen, die sabotieren, korrumpieren und die Konterrevolution fördern, genau das auf Dauer nicht mehr tun können.

Carolus Wimmer: Das ist richtig. Eins unserer Probleme ist, wenn solche Leute nicht angeklagt werden oder straffrei davonkommen, z.B. bei Korruption. Das schadet dem Ansehen der Regierung in der Bevölkerung. Die drei Hauptfeinde unserer Revolution sind neben dem Imperialismus und seinen Freunden in Venezuela: Korruption, Bürokratie - womit ich nicht das notwendige Maß an Verwaltung meine - und Ineffizienz. Ein Beispiel aus dem Alltag: in deiner Straße sind zehn dicke Schlaglöcher, die über Jahre nicht repariert werden. Dann kommt endlich ein Bautrupp, repariert aber nur vier der Schlaglöcher. Sechs Schlaglöcher bleiben und ärgern die Anwohner weiter. Und manch einer geht dann nicht mehr zur Wahl. Verantwortlich ist zwar der örtliche Bürgermeister, aber der Präsident muss auch dafür den Kopf hinhalten. Es sind ja nicht nur die großen Themen, die über Wahlen entscheiden oder die Zukunft unserer bolivarianischen Revolution.

In unseren bundesdeutschen Medien werden Versorgungsprobleme, Misswirtschaft, Bürokratie ja traditionell mit Sozialismus in Verbindung gebracht und der vermeintlichen Unfähigkeit der Linken, effektiv zu wirtschaften. Zu Venezuela heißt es da: Guck mal, in diesem an Erdöl reichen Land, gibt es nicht mal Toilettenpapier. Und schuld ist die Regierung...

Carolus Wimmer: Fehlendes Toilettenpapier ist ein echtes Problem. Und es werden auf allen Ebenen auch Fehler gemacht. Ein Grundproblem in Venezuela ist aber, dass wir Linken insgesamt - also nicht nur die KP - in der bolivarianischen Revolution ganz klar in der Minderheit sind. Dieses Kräfteverhältnis muss in einer geduldigen, auch politisch-ideologischen Arbeit verändert werden. Auch die Medien müssen auf einen demokratisch kontrollierten Boden geführt werden, was nichts mit Zensur zu tun hat, sondern auf die Verhinderung von Desinformation, Massenmanipulation und Hetzpropaganda zielt. Das kann nicht allein von Maduro oder der Regierung geleistet werden, sondern hauptsächlich vom organisierten Volk. In die kollektive Leitung der Revolution gehören nicht nur Parteien, sondern auch soziale Bewegungen und die Gewerkschaften. Die wichtigste Aufgabe ist die Weiterentwicklung der kommunalen Räte und der Räte von Arbeitern und Arbeiterinnen in den Unternehmen. Das sind für uns die beiden Stützen der Revolution, auf die sich eine revolutionäre Regierung - die es im Augenblick nicht gibt - später stützen muss. Da gibt es Möglichkeiten inmitten eines Meeres von Gefahren. Die Hauptgefahr geht natürlich vom US-Imperialismus und seinen Alliierten aus. Die werden nicht sechs Jahre bis zur nächsten Wahl warten, sondern Maduro und uns von Washington, vom Pentagon aus das Leben möglichst schwer machen, um ihn zu schwächen, die Regierung zu stürzen, die bolivarianische Revolution rückgängig zu machen. Beim Boxen und im Klassenkampf hört ja niemand auf, wenn eine Runde vorbei ist.

Das Wahlergebnis motiviert die Contras ja offensichtlich dazu, weiterzumachen ...

Carolus Wimmer: Ja mei. Wir können vom Imperialismus nicht erwarten, dass er stillhält, wenn wir ihn bekämpfen. Wir müssen wachsam bleiben und auch darauf achten, dass wir unsere Ziele nicht zu hoch stecken, auch bei Wahlen nicht zuviel erwarten und den Menschen nicht mehr versprechen, als wir gegenwärtig erreichen können. Wenn man von 10 Millionen Wählern redet und eine Mehrheit mit 'nur' 7,5 Millionen erreicht, sieht das trotzdem wie eine Niederlage aus. Wenn man da realistischer rangeht und dann etwas besser abschneidet, steht man auch psychologisch besser da. Jetzt stehen schon die nächsten Wahlen an, die Wahl der Bürgermeister und Stadträte im Dezember. Das wirft seine Schatten voraus, d.h. dieser Wahlkampf hat längst begonnen, weil es da nicht nur um die Kommunalpolitik und das konkrete Kräfteverhältnis vor Ort geht, sondern auch um die Frage, wer da auf nationaler Ebene zusammenaddiert eine stabile Mehrheit hinter sich hat. Maduro stellt sich darauf ein, indem er massiv vor Ort in den Provinzen präsent ist, wir nennen das "Regieren auf der Straße". Aber auch dieser Capriles mobilisiert natürlich weiter die Opposition. Das kostet viel Arbeit und Geld. Und das wird spannend. Denn die Opposition ist kein monolithischer Block, sondern gespalten. Die Christdemokraten, die Sozialdemokraten haben Maduro als legitimen Regierungschef anerkannt und sich von Capriles abgewendet und seinen faschistischen Methoden, das Chaos im Land zu fördern.

Im Bundesstaat Bolivar, sozusagen dem industriellen Herzen Venezuelas, wo dementsprechend auch Arbeiterklasse konzentriert ist, hat Capriles, der ja nun wirklich alles andere als ein linker Gewerkschafter ist, 52 Prozent der Stimmen erhalten, also den 'Gewerkschafter Maduro' geschlagen. Linke Kritiker führen das auf die angeblich bremsende Rolle der dortigen Gewerkschaftsführung bei der Durchsetzung von Arbeiterkontrolle in den Betrieben zurück. Ist das der Grund?

Carolus Wimmer: Zum ersten: Ja, Bolivar ist einer der Bundesstaaten, in dem die Regierungsmehrheit verloren wurde. Zum zweiten, damit das nicht nur eine Nachricht ist: eines der Hauptprobleme im revolutionären Prozess in Venezuela ist das Fehlen einer organisierten Arbeiterklasse, die ihn unterstützt. Das haben wir als KP immer gesagt: ohne organisierte Arbeiterklasse kommen wir nie zum Sozialismus. Allein mit der Arbeiterklasse aber auch nicht. Die Arbeiterbewegung existierte vor 14 Jahren als autonome Kraft faktisch nicht mehr, weil seit den 70er Jahren die Organisationen der ArbeiterInnen, aber auch der StudentInnen planmäßig zerstört wurden, um einen neoliberalen Kurs durchzusetzen. Das lief wie auch in anderen Ländern mit Zuckerbrot und Peitsche, mit Korrumpierung führender Köpfe und brutaler Unterdrückung von jeglichem Widerstand. 2001 gab es einen - allerdings gescheiterten - Versuch wieder einen Gewerkschaftsdachverband zu gründen. Das Problem der Spaltung der Gewerkschaftsbewegung ist bis heute nicht gelöst. Es gibt zwar eine sozialistische Einheitspartei, aber deren Mitglieder sind in zwei unterschiedlichen Gewerkschaften organisiert. Wir haben damals 2001 als KP unsere kleine Gewerkschaft geschlossen. Bei uns war der Wille da, eine wirkliche Einheitsgewerkschaft aufzubauen. Das ist gescheitert. Wir haben dann einen anderen Weg gesucht, unsere gewerkschaftlichen Klassenkräfte zu organisieren und werden demnächst beraten, wie es da weitergehen soll. ArbeiterInnen und GewerkschafterInnen nehmen heute auch wieder organisiert Einfluss auf Politik, aber meist in ihren Wohngebieten und zuwenig an ihren Arbeitsplätzen, in Betrieben, Geschäften und Verwaltungen. Insofern mag an Gewerkschaftskritik aus Sicht linker Basisinitiativen ein wahrer Kern sein, das Grundproblem liegt viel tiefer. Aber das können wir heute in Venezuela glücklicherweise offen diskutieren. Patentlösungen hat da derzeit niemand. Auch wir KommunistInnen nicht. Aber wenn man sich in ganz Lateinamerika umschaut, wird man feststellen müssen, dass auch diese Welle der Sozialbewegungen im Moment zum Stillstand gekommen ist. Sozialbewegungen als Hauptsubjekt der Revolution, das hat nicht funktioniert. Ohne eine starke, organisierte Arbeiterklasse wird das auch nichts mit dem Sozialismus im 21. Jahrhundert.


Das Interview führte Lothar Geisler am 4. Juni vor einer Veranstaltung in Konstanz.



Anmerkungen

(1) Am 14. April bekam Nicolas Maduro etwas mehr als 7,5 Millionen Stimmen, d.h. eine halbe Million weniger als Hugo Chávez im Oktober 2012. Capriles, der damals noch mit 44 % der Stimmen haushoch unterlegen war, konnte im April 2013 seine Wählerschaft um rund 800.000 auf knapp 7,3 Millionen steigern.

(2) Siehe dazu auch das Interview mit Carolus Wimmer in Marxistische Blätter 5-2012, S.39

(3) Empresas Polar ist mit über 30.000 Beschäftigten der größte private Arbeitgeber Venezuelas

(4) Am 20. Mai 2013 hatte Ismail Garcia, Vorsitzender der Rechtspartei "Avanzada Progresista" den Medien den Mitschnitt eines angeblichen Telefonats zwischen dem bekannten Fernsehmoderator Mario Silva und einem kubanischen Geheimdienstler präsentiert, in dem u.a. massive Vorwürfe gegen Regierungsmitglieder erhoben werden (Korruption, Putschpläne etc.) Der Journalist hat die Authenzität der Aufnahme bestritten. Am 28. Mai informierte der venezolanische Staatskanal, dass Silva's Magazin "La Hojilla" abgesetzt sei.

(5) Als RedGlobe-Übersetzung aus Tribuna Popular dokumentiert auf www.venezuela-aktuell.de

(6) www.welt.de/116694837

(7) Das Portal Amerika21.de schrieb am 15.3.2013, dass der größte Anteilseigner Guillermo Zuloaga die Anteile seiner Investmentgruppe Unitel zum 15. April an den Finanzinvestor Juan Domingo Cordero verkaufen wird. Und: "Damit bleibt der Sender praktisch im Familienbesitz, denn bei Cordero handelt es sich um den Onkel von Zuloagas Ehefrau." Und am 18. Mai 2013 berichtete das Portal, dass auch die redaktionelle Leitung des Senders vornehmlich aus der Familie der bisherigen Betreiber stammt.

(8) Während des zehntägigen Wahlkampfes im April hatte der Sender fast ausschließlich redaktionelle Beiträge und Werbung für den Kandidaten der Opposition ausgestrahlt. Insgesamt war Henrique Capriles zehn Stunden und eine Minute auf Globovisión zu sehen, während Nicolas Maduro nur 59 Minuten im Programm auftauchte. Ähnlich sah das Missverhältnis bei den anderen großen privaten Sendern aus, kritisierte der Leiter von Maduros Wahlkampfteam, Jorge Rodriguez. Quelle: amerika21.de

(9) Als RedGlobe-Übersetzung aus Tribune Popular dokumentiert auf www.venezuela-aktuell.de

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Quelle:
Marxistische Blätter, Heft 4-13, 51. Jahrgang, S. 35-40
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. September 2013