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MARXISTISCHE BLÄTTER/541: Der 18. Parteitag der Kommunistischen Partei Chinas


Marxistische Blätter Heft 1-13

Der 18. Parteitag der Kommunistischen Partei Chinas
Ein Vorschlag zur Auswertung

Von Lars Mörking



Etwa zeitgleich fanden zwei Ereignisse von globaler Bedeutung statt: Die Präsidentschaftswahl in den USA und der 18. Parteitag der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh), der vom 8.-14. November in Beijing abgehalten wurde. Und während die Wahl in den USA live übertragen und schon Wochen zuvor ausgiebig in den deutschen Medien über den Wahlkampf berichtet wurde, beließen es die deutschen Journalist/innen in Beijing meist bei ein paar bissigen Kommentaren, die vor allem kritisierten, dass die KPCh ihnen die Negativschlagzeilen nicht auf dem Silbertablett präsentiert. Das wussten sie bereits, denn ein Parteitag ist in China seit jeher das Ergebnis einer langen Diskussion verschiedener Papiere und Beschlüsse auf allen Ebenen der KP. Anträge, die keine Aussicht auf eine breite Unterstützung durch die Delegierten haben, werden in der Regel gar nicht erst zur Abstimmung gestellt. Wer für eine Woche anreist, um über Kontroversen und Konfliktlinien zu berichten, hat daher schlechte Karten.

Auch wenn es sich im Vergleich zur US-Wahl eher um eine sachliche Veranstaltung handelte, der 18. Parteitag der KPCh hatte durchaus seine Highlights: Wahl einer neuen Parteispitze, Vorstellung des Arbeitsberichtes, der neben einem Resümee der vergangenen Jahre immer auch orientierende Funktion für die nächsten fünf Jahre hat, sowie Aufnahme des Wissenschaftlichen Entwicklungskonzeptes (kexuéfazhanguan) in das Parteistatut und damit in den offiziellen Parteikanon wichtiger theoretischer Grundlagen der Parteiarbeit auf allen Ebenen.

Zum neuen Generalsekretär und Vorsitzenden der Zentralen Militärkommission gewählt wurde Xi Jinping. Erlöst somit Hu Jintao ab, der auf dem Parteitag den Arbeitsbericht präsentierte. Abgesehen von Bo Xilai, der bereits vor dem Parteitag aufgrund seiner Verwicklung in die Vertuschung des Mordes an einem britischen Staatsbürger aus dem Politbüro ausgeschlossen wurde, kennzeichnete der Wahlverlauf zu den zentralen Führungsgremien einen geordneten Übergang zur nun fünften Generation von Parteikadern. Herausragende Persönlichkeiten wie Mao Zedong oder Deng Xiaoping sind nicht mehr darunter, was auch daran liegen mag, dass in den letzten 30 Jahren eine zunehmend kollektive Arbeitsweise etabliert wurde. Ideologische Debatten und politische Entscheidungen werden zudem innerhalb und außerhalb der Partei mittels griffiger Formulierungen und Sprachbilder kommuniziert und sind nicht mehr einzelnen Führungspersönlichkeiten zuzuschreiben. Verpflichtende interne Schulungen für Parteikader aller Ebenen tragen dazu bei, dass aktuelle Leitlinien der Parteipolitik breit diskutiert und in der Partei verankert werden können.

Zu diesen Leitlinien gehört auch das Wissenschaftliche Entwicklungskonzept. Bereits 2007 auf dem 17. Parteitag in die Diskussion gebracht, wird damit eine neue Phase der wirtschaftlichen Entwicklung verbunden. Dafür kennzeichnend sind die Verlangsamung des Wirtschaftswachstums und eine neue Qualität von Investitionen, die sich vor allem durch ökologische und soziale Nachhaltigkeit auszeichnen soll, sowie eine Abwendung von arbeitsintensiven und Hinwendung zu Ressourcen schonenden Produktionszweigen.

Das formulierte angestrebte Ziel der Harmonischen Gesellschaft (héxié shèhuì), welches zum 100. Bestehen der KPCh (Gründung 1921) erreicht werden soll, ist in diesem Sinn definiert als Verringerung der sozialen und ökologischen Widersprüche, die das bisherige Wirtschaftswachstum hervorgerufen hat. Die Frage, ob die Ausrufung der Harmonischen Gesellschaft nicht nur eine hohle - weil sehr allgemein gehaltene - Phrase ist, hat angesichts der offensichtlichen sozialen Widersprüche und massiven ökologischen Probleme, die die Reform- und Öffnungspolitik mit sich gebracht hat, ihre Berechtigung. Dazu ist grundsätzlich zu sagen, dass die rasante wirtschaftliche Entwicklung Chinas von der KPCh als notwendige (materielle) Grundlage für eine eigenständige Entwicklung und Stärkung des Landes betrachtet wird. Alle daraus resultierenden Probleme sind sekundär und prinzipiell lösbar, so die Logik. Mit Deng Xiaoping könnte man sagen: Armut hat nichts mit Sozialismus zu tun. Die Verteilungsfrage kann demnach erst gelöst werden, wenn es etwas zu verteilen gibt.

Die Beschlüsse des 18. Parteitages beinhalten bei aller Kontinuität durchaus neue Akzente in der Sozial- und Wirtschaftspolitik der KPCh. Auf der derzeitigen Entwicklungsstufe ist mit der Ausweitung arbeitsintensiver Produktion, die vor allem auf der Verfügbarkeit billiger Arbeitskraft und der Bereitstellung der notwendigen Infrastruktur durch den Staat sowie einer Nicht-Einbeziehung von Umweltschäden in die betriebswirtschaftliche Kalkulation kein nachhaltiges Wirtschaftswachstum zu realisieren, so die Einschätzung. Die Parteimedien senden diese Botschaft entsprechend auf allen Kanälen. Trotzdem werden immer noch billige Güter per Hand gefertigt, Infrastrukturprojekte zerstören weiterhin landwirtschaftlich nutzbare Flächen und industrielle Abwässer verschmutzen dringend benötigte Trinkwasserreservoirs.

Das wirtschaftspolitische Fazit des Parteitages könnte lauten: das alte Entwicklungsmodell verschwindet nicht von einem Tag auf den anderen. Wir brauchen für die weitere Entwicklung jedoch ein anderes.

"Die unausgewogene, nicht abgestimmte und nicht nachhaltige Entwicklung bleibt ein großes Problem. Die Fähigkeiten, wissenschaftliche und technische Innovation hervorzubringen, sind schwach ausgebildet. Die Industriestruktur ist unausgewogen. Landwirtschaftliche Infrastruktur bleibt schwach entwickelt. Die ressourcen- und umweltbedingten Hemmnisse sind schwerwiegender geworden. (...) Der Entwicklungsunterschied zwischen städtischen und ländlichen Gebieten und zwischen den Regionen ist immer noch groß, dies trifft auch auf die Einkommensunterschiede zu. Soziale Probleme haben merkbar zugenommen. (Hu Jintao, Arbeitsbericht an den 18. Parteitag der KPCh)

Um die materielle Grundlage für die Lösung all dieser Probleme zu schaffen, wird eine Verdoppelung des BIP pro Kopf im Zeitraum von 2010 bis 2020 angestrebt. Damit soll einhergehen, die Exportorientierung der chinesischen Wirtschaft deutlich zu verringern. Eine sinkende Nachfrage aus den USA und aus Europa konnte bereits in den letzten Jahren durch gestiegene Nachfrage aus dem Inland erfolgreich kompensiert werden. Das Wirtschaftswachstum in diesem Jahr wird auf etwa 7,5 % geschätzt und wohl zu 100 % auf die steigende Inlandsnachfrage zurückgeführt werden können. Zusätzlich war es in den ersten drei Quartalen diesen Jahres möglich, die sinkenden Exporte (- 5,5 %) damit aufzufangen. Zhang Ping, Minister der Staatlichen Kommission für Entwicklung und Reform, wies im Rahmen eines Pressegesprächs am Rande des Parteitages denn auch darauf hin, dass die Inlandsnachfrage eine zentrale Rolle bei der Überwindung der Folgen der Weltwirtschaftskrise gespielt hat. Die starke Ungleichverteilung der Einkommen stellt derzeit ein spürbares Hindernis für die weitere Entwicklung der Inlandsnachfrage dar. Der chinesischen Tageszeitung China Daily zufolge wird derzeit an neuen Rahmenbedingungen zur Einkommensverteilung gearbeitet, welche die Ungleichheit der Einkommen reduzieren soll (China Daily vom 11.11.2012). Es braucht solche Instrumente, denn bisher lässt sich für die VR China zwar eine bedeutende und sich fortsetzende Abnahme der absoluten Armut, nicht jedoch der relativen Armut statistisch belegen.

Bei der Betrachtung der Umweltschäden ist das Verhältnis umgekehrt. Zwar konnte relativ gesehen eine Verringerung der Umweltbelastung durch das chinesische Wirtschaftswachstum erreicht werden, absolut steigt die Umweltbelastung aber weiter an. Dies - und nur dies - ist auch die statistische Grundlage, auf der die VR China mit ihren 1,4 Mrd. Einwohner/innen international gerne als Umweltsünder Nr. 1 (noch vor den USA!) an den Pranger gestellt wird. Dass die VR China pro Kopf gerechnet weit davon entfernt ist, die USA in ihrer Paradedisziplin Umweltverschmutzung einzuholen, obwohl die Chinesinnen und Chinesen einen beträchtlichen Teil der in den entwickelten Ländern konsumierten Güter in ihrem Land produzieren, passt nicht in die große Erzählung von der chinesischen Bedrohung und wird deshalb gerne vernachlässigt.

Zutreffend ist dagegen, dass staatliche Konjunkturprogramme gezielt und massiv "grüne", also umweltverträgliche oder auf den Ausbau regenerativer Energien ausgerichtete Investitionen getätigt oder subventioniert haben. Freunde hat sich die VR China im Ausland jedoch auch damit nicht gemacht. Europäische Regierungen fordem von China zwar wiederholt die Unterzeichnung verbindlicher Abkommen zum Klimaschutz, wollen aber die dafür notwendige Technologie, die es ja in einigen Bereichen bereits gibt (von Filtersystemen bis zu Solaranlagen), teuer auf dem Weltmarkt verkaufen. Die staatliche Förderung zur Entwicklung eigener Alternativen in der VR China wird dann gerne als "Wettbewerbsverzerrung" verteufelt, wenn deutsche und andere europäische Anbieter nicht mehr mithalten können.

Vor allem aber der wachsende Einfluss Chinas auf der internationalen Bühne wird in Europa und - der Präsidentschaftswahlkampf deutete es an - in den USA als Bedrohung empfunden. Auch Linke dürften ihre Probleme mit den nationalistischen Tönen haben, die Xi Jinping bereits auf seiner ersten Pressekonferenz als neuer Generalsekretär angeschlagen hat. Die neue Rhetorik der "wiedererstarkten Nation China" ist nicht nur ein positives Signal nach innen, sondern auch ein deutliches nach außen: die schrittweise Abkehr von der Deng-Xiaoping-Doktrin, in diplomatischen Fragen den Ball möglichst flach zu halten, bringt u. a. den Anspruch nach angemessener Vertretung in den internationalen Organisationen mit sich. Der Parteitag der KPCh hat noch einmal deutlich gemacht, dass China für eine Demokratisierung internationaler Institutionen auch im Rahmen der UNO zugunsten der sogenannten Entwicklungsländer Asiens, Afrikas und Lateinamerikas eintritt. Die KPCh sieht darin nicht nur eine taktische Frage, sondern ist der Auffassung, dass die VR China objektiv das Interesse an einer Reform der internationalen Institutionen mit diesen Ländern teilt. Es ist zu erwarten, dass die VR China in den nächsten fünf bis zehn Jahren deutlicher als bisher die eigenen Interessen und Ansprüche auf der internationalen Bühne formulieren wird.

Insgesamt muss der 18. Parteitag der KPCh in der Kontinuität der vorherigen Parteitage gesehen werden. Die Reform- und Öffnungspolitik wird fortgesetzt, Änderungen am Wachstumsmodell werden schrittweise vorgenommen, ohne das Bestehende zu gefährden. Die KPCh geht den ökologischen Umbau der Wirtschaft, den Ausbau der Sozialsysteme, den Umbau des Militärs, Veränderungen in der Industriestruktur usw. behutsam an. Und trotzdem: rückblickend wird in ein paar Jahrzehnten sicherlich festgestellt werden, dass sich tiefgreifende Veränderungen vollzogen haben.

Mit dem eingeleiteten Reformkurs wurden bestehende soziale und ökologische Probleme als Hindernis für das weitere Wirtschaftswachstum identifiziert. Lösungsmöglichkeiten sollen die verantwortlichen Parteifunktionäre unter Nutzung wissenschaftlicher Expertise erkennen und im Interesse des Volkes umsetzen. Das klingt gut, zumal die KPCh in der Vergangenheit erfolgreich Wachstumsmodelle in die Praxis umgesetzt hat.

Einige Fragen lässt der Parteitag allerdings offen. Beispielsweise, ob eine umfassende Formulierung und Umsetzung der notwendigen Reformschritte auch dann möglich sein wird, wenn wirtschaftliche Interessen einheimischer und ausländischer Investoren dem entgegenstehen? Damit im Zusammenhang steht auch die Frage der weiteren Entwicklung des politischen Systems der Volksrepublik, also die Demokratiefrage: Wie lässt sich die indirekte und direkte Einbindung der Arbeiterklasse, die langsam aber sicher zur Bevölkerungsmehrheit angewachsen ist, vollziehen?


Lars Mörking, Münster, Doktorrand, Mitgl. des Vorstands der Marx-Engels-Stiftung

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Quelle:
Marxistische Blätter, Heft 1-13, 51. Jahrgang, S. 14-17
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veröffentlicht im Schattenblick zum 20. März 2013