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MARXISTISCHE BLÄTTER/540: Stalingrad vor 70 Jahren - Auf Messers Schneide


Marxistische Blätter Heft 1-13

Auf Messers Schneide
Stalingrad vor 70 Jahren - Die Rettung Europas vor der Barbarei

Von Klaus Wagener



"Am Abend des 18. November versammelten sich die Genossen Gurow, Krylow, Posharski, Wainrub und Wassiljew in meinem Unterstand, um über weitere aktive Handlungen der Armee zu beraten. Unsere Kräfte gingen zu Ende."(1) Zu diesem Zeitpunkt hält die 62. Armee unter Generalleutnant Wassili I. Tschuikow noch ein paar hundert Meter vor der Wolga. Eisgang macht die Versorgung schwierig bis unmöglich. Trotzdem wurde erbittert weiter gekämpft. In den Worten eines der einflussreichsten deutschen Kriegs- wie Nachkriegspropagandisten (Zeit, Spiegel, Springer) SS-Obersturmbannführer Paul Karl Schmidt alias Paul Carell: "Vor Tschuikows Gefechtsstand im Steilufer hielt die 45. sowjetische Schützendivision nur noch ein kleines Uferstück von vielleicht 200 Metern Durchmesser. Südlich davon, im Hüttenwerk "Roter Oktober" waren noch die Trümmer des Ostteils, die Sortierabteilung, das Stahlgusswerk und die Kalibrierstation in russischer Hand. Hier kämpften Teile der 39. Gardeschützendivision unter Generalmajor Gurjew um jeden Mauervorsprung. Jeden Winkel, jeden Schrotthaufen mussten die deutschen Stoßtrupps mit Blut erkaufen (...) Südlich vom Hüttenwerk "Roter Oktober" wurde nur noch die chemische Fabrik "Lazur" mit dem "Tennisschläger" sowie ein winziger Brückenkopf um die Landestelle der Dampffähre im Zentralhafen von den Sowjets gehalten. Alles zusammen genommen verteidigte Tschuikow Anfang November noch ein paar Fabrikgebäude und ein paar Kilometer Steilufer."(2) Und das gegen die Eliteverbände der Deutschen Wehrmacht: Die 6. Armee unter dem späteren Generalfeldmarschall Paulus. "Mit der 6. Armee kann ich den Himmel stürmen." (Hitler). Und die 4. Panzerarmee unter Generaloberst Hoth. Die noch am Leben geblieben Verteidiger von Stalingrad lagen unter massierten Artillerie- und Werferbeschuss und unter dem Bombardement der überlegenen 4. Luftflotte unter Generaloberst Richthofen. Der Abstand war auf Handgranatenwurfweite zusammengeschrumpft. Das am Tage verlorene Terrain wurden in der Nacht von kleinen Stoßtrupps mit geballten Ladungen, Maschinenpistolen und Bajonetten wieder zurückerobert. Die Verluste waren ungeheuer. Aber die Faschisten kamen nicht durch.


Der Fall Blau

Nachdem die Blitzkriegsstrategie der Wehrmacht am 5. Dezember 1941 vor Moskau in der Gegenoffensive der Roten Armee zusammengebrochen war, ergab sich für 1942 eine neue strategische Lage. In einem langen, großen Krieg wurde der Zugang zu den materiellen und menschlichen Ressourcen ausschlaggebend. Problematisch für die Achsenmächte wurde vor allem der Mangel an Ölvorkommen bei einem Frontverlauf, der allein im Osten von der Barentsee bis zum Schwarzen Meer reichte. Mit der Weisung 41 vom 5. April 1942 konzentrierte die faschistische Führung die operativen Ziele der wiederaufgefüllten und neu aufgerüsteten Ostfront vor allem in Richtung Süd- und Südost auf das Donezbecken und die Ölfelder bei Maikop, Grozny und Baku. Der Gegner habe nicht mehr über die Möglichkeiten verfügt, "gleichzeitig in allen strategischen Richtungen anzugreifen, wie das noch 1941 nach dem Plan 'Barbarossa' erfolgt war, obwohl seine Streitkräfte uns noch zahlenmäßig überlegen waren."(3) Gleichzeitig, so Marschall Georgi K. Shukow, habe der Vorstoß in Südostrichtung auch der Beschneidung der Verbindung zu den Verbündeten der Antihitlerkoalition gegolten. Stalin habe deren Zusage über die Errichtung einer Zweiten Front "zwar nicht voll geglaubt", habe aber auch nicht die Hoffnung verloren.(4) Letzteres blieb bekanntlich so lange eine Illusion, bis das Wettrennen nach Berlin eröffnet wurde.

Die Aufspaltung der Heeresgruppe Süd in die Heeresgruppe A (Richtung Kaukasus) und die Heeresgruppe B (Richtung Stalingrad) sollte eine Beschleunigung dieses operativ-strategischen Vorstoßes erbringen. Nach den Erfolgen auf der Krim (Swastopol musste nach neunmonatiger Belagerung geräumt werden) und in Rostow glaubte das OKW im Juli 1942 an die Möglichkeit in beiden Richtungen zum Erfolg kommen zu können. Zunächst sah alles nach einer Wiederholung der Blitzkriegssiege des Jahres 1941 aus. Die Heeresgruppe A (Operation Edelweiß) kam bis vor Grozny, die Heeresgruppe B bis zur Wolga. Die Sowjetunion geriet in eine komplizierte Lage. Überlebenswichtige Industrieressourcen und Verkehrsverbindungen drohten verloren zu gehen. Stalingrad war als Industrie- und Rüstungszentrum, als Verkehrsknoten ebenso wie als Flankendeckung für die weit nach Südosten vorstoßende Heeresgruppe A von zentraler Bedeutung. Stalin erließ angesichts der kritischen Lage am 28. Juli 1942 den Befehl 227. "... Die deutschen Okkupanten drängen nach Stalingrad, zur Wolga und wollen um jeden Preis den Kuban und den Nordkaukasus mit ihren Reichtümern an Erdöl und Getreide erobern. (...) Nach dem Verlust der Ukraine, Belorusslands, des Baltikums, des Donezbeckens und anderer Gebiete ist unser Territorium viel kleiner geworden, haben wir viel weniger Menschen, Brot, Metall, Werke und Fabriken. Wir haben über 70 Mio. Menschen, über 800 Mio. Pud Getreide und über 10 Mio. Tonnen Metall der Jahresproduktion verloren. Wir besitzen sowohl an Menschenreserven als auch an Getreidevorräten kein Übergewicht über die Deutschen mehr. (...) Aus diesem Grund muss ein für allemal mit jeglicher Rederei Schluss gemacht werden, dass wir die Möglichkeit hätten, ohne Ende zurück zu gehen, dass wir viel Territorium hätten, dass unser Land groß und reich sei, die Bevölkerung groß und Brot immer im Überfluss vorhanden wäre. (...) "Keinen Schritt Zurück!"(5) Der Befehl war mit "durchgreifenden Maßnahmen zur Bekämpfung von Panikmachern und Leuten (...) die gegen die Disziplin verstießen"(6) ausgestattet.

Am 23. August zerstörte Richthofens Luftflotte 4 die Stadt mit 600 Bombern und 1600 Einsätzen. Etwa 40.000 Zivilisten kamen in diesem barbarischen Bombardement ums Leben. Der Auftakt zu einem dreimonatigen erbarmungslosen Trommelfeuer, bei dem die knapp eine Million Mann der Heeresgruppe B versuchten eine Stadt von 50 km Länge und gerade einmal 5 km Breite zu nehmen. Hitler haue am 9. November im Bürgerbräukeller schon triumphierend den Sieg gefeiert. 61 Jahre später entblödete ein anderer sich nicht, diese imperiale Überheblichkeit auf einem Flugzeugträger zu wiederholen.

Als auch die nach der Bürgerbräurede eilig herbeigeschafften fünf Pionierspezialbataillone am 14. November an der heroischen sowjetischen Verteidigung scheiterten und auch das XIV. Panzerkorps, die 16. Panzerdivision und die 94. Infanteriedivision am selben Tage im schon längst eroberten Stalingrad zurückgeschlagen wurden, versuchte es Hitler am 17. November noch einmal mit einem "Führerbefehl": "Die Schwierigkeiten des Kampfes um Stalingrad sind mir bekannt. Die Schwierigkeiten für die Russen sind jetzt aber bei dem Eisgang auf der Wolga noch größer. Wenn wir diese Zeitspanne ausnutzen sparen wir uns später viel Blut. Ich erwarte deshalb, dass die Führung nochmals mit aller wiederholt bewiesenen Energie und die Truppe nochmals mit dem oft gezeigten Schneid alles daran setzen, um wenigstens bei der Geschützfabrik und beim Metallurgischen Werk bis zur Wolga durchzustoßen und diese Stadtteile zu nehmen."(7) "Wenigsten bei der Geschützfabrik...", so können die Ziele schrumpfen. Er habe "diesen Befehl damals nach all unsern Anstrengungen als reinen Hohn empfunden"(8), bemerkt Generalleutnant Walther von Seydlitz. "Man kann eine seit Monaten höchst beanspruchte und ausgeblutete Truppe nicht immer wieder zu schweren Angriffen ansetzen".(9) Viktor Klemperer habe schon am 9. Oktober notiert: "In Stalingrad nahmen wir in harten Nahkämpfen eine weitere Dreizimmerwohnung mit Bad."(10)


Gegenoffensive

Seit Mitte September hauen Shukow und Generalstabschef Alexander M. Wassilewski an der Vorbereitung einer Gegenoffensive (Operation Uranus) gearbeitet. "Wir wussten, dass die besten Stoßarmeen des Gegners, nämlich die 6. Armee unter Paulus und die 4. Panzerarmee unter Hoth, in aufreibende blutige Gefechte verwickelt waren und die Operationen zur Eroberung Stalingrads schon nicht mehr abschließen konnten, da sie in den Ruinen der Stadt festsaßen."(11) Die Aufstellung der entsprechenden Reserven mit modernen Waffen und Kampftechnik war Anfang November abgeschlossen. Für die Aufklärung "Fremde Heere Ost" unter dem späteren BND-Chef Reinhard Gehlen war der Aufmarsch unbemerkt geblieben. Sie vermutete, dass die Rote Armee über keine operativen Reserven mehr verfügte. Am 19. November begann der Angriff der Südwestfront (N. F. Watutin) und der Donfront (K. K. Rokossowski) von Norden. Einen Tag später griff die Stalingrader Front (A. I. Jeremenko) von Süden an. Die 62. Armee band durch aktive Verteidigung den Gegner in der Stadt. Schon am 23. November konnten sich die Panzerkeile der Fronten beim Vorwerk Sowjetski vereinigen. Damit waren 22 Divisionen und etwa 270-300 Tausend Mann(12) eingeschlossen.

Mit diesem nicht für möglich gehaltenen Einbruch zerbricht die Loyalität wichtiger nationalkonservativer Kreise zur faschistischen Führung ebenso wie die Zuverlässigkeit der Vasallenmächte. Es beginnt sofort mit einer Auseinandersetzung um die operativen Handlungsoptionen. Paulus versucht noch am 27. November mit einer Sammlung leerer Sprüchen das befohlene Einigeln plausibel zu machen: "Die Armee ist eingeschlossen: Das ist nicht Eure Schuld. Zäh, wie immer habt Ihr gehalten, bis der Feind uns im Rücken saß. Wir haben ihn hier gestellt. Er wird sein Ziel uns zu vernichten, nicht erreichen. Viel muss ich noch von Euch fordern: Anstrengungen und Entbehrungen in Kälte und Schnee, dabei Stehen-bleiben und um-Euch-Hauen gegen jede Übermacht! Der Führer hat Hilfe versprochen. Wir müssen halten bis sie da ist. Wenn die ganze Armee wie ein Mann zusammen steht, schaffen wir es!" Und als krönenden Abschluss: "Drum haltet aus, der Führer haut uns raus!"(13)

Nachdem die 2. Gardearmee (Malinowski) und Kräfte der Südwestfront (Watutin) das "Unternehmen Wintergewitter" der 4. Panzerarmee (Hoth) am 23. Dezember 40 km vor dem inneren Kessel gestoppt hatten, war das Schicksal der 6. Armee besiegelt. Sie konnte in den Planungen des OKW noch lediglich die Rolle eines Bauernopfers einnehmen. Die von Hitler ausgegebene Durchhaltebefehl, sollte durch die Bindung starker sowjetischer Kräfte die Abriegelung und Einschließung (Operation Saturn) der nun stark exponierten Heeresgruppe A (ca. 1 Mio. Mann) verhindern helfen. Das Herauszögern der Kapitulation durch die Paulusführung bis zur unmittelbaren Einnahme der Hauptquartiere am 31. Januar/2. Februar 1943 entsprach diesem Zynismus. Er wurde von Hunderttausenden mit dem Leben bezahlt. "Allein in den Tagen vom 24.1. bis 2.2. waren noch über 100.000 Mann gestorben."(14)

Andere wie der Kommandierende General des LI. Armeekorps, Walther von Seydlitz plädierten für den sofortigen Ausbruch. Ob allerdings die 6. Armee in ihrem desolaten personellen wie materiellen Zustand bei ungenügenden Treibstoffvorräten und mangelhafter Versorgung im russischen Winter in der offenen Steppe gegen einen in jeder Hinsicht überlegenen Gegner in der Lage gewesen wäre, erfolgreich den inneren wie den bald auf 150 km vorgeschobenen, äußeren Ring zu erreichen bzw. zu durchbrechen, ist eine ganz andere Frage.

"Bei der Einschätzung des Gegners gingen wir davon aus", schreibt Shukow für die Septemberplanungen, "dass das faschistische Deutschland schon nicht mehr in der Lage war, seinen strategischen Plan für das Jahr 1942 auszuführen. Die Kräfte und Mittel, über die es im Herbst 1942 verfügte, genügten nicht, um seine Ziele im Kaukasus und im Raum zwischen Wolga und Don zu erreichen."(15) Diese nüchterne Erkenntnis galt es sowohl in der faschistischen, als auch in der national-konservativen Darstellung möglichst zu vermeiden.


Die Folgen

Die "Operation Uranus" konnte Mitte Dezember mit der "Operation Kleiner Saturn" weiterentwickelt werden. Ursprünglich war geplant gewesen, die Heeresgruppe A komplett abzuschneiden. (Großer Saturn) Aufgrund des drohenden Ausbruchs bzw. der Entsetzung der 6. Armee musste auf die vorgesehene 2. Gardearmee verzichtet und die Aufgabenstellung enger gesteckt werden. Trotzdem gelang eine mächtige Offensive am mittleren Don in der allgemeinen Richtung Morosowsk, der die Flanke der Heeresgruppe A vital bedrohte und Ende Dezember den Rückzugsbefehl des OKW erzwang. Damit waren nicht nur alle Entsatzvorstellungen für die 6. Armee gegenstandslos geworden, sondern auch alle operativ-strategischen Ziele des Jahres 1942 gescheitert. Die "Operation Edelweiß", mit ihren romantischen Photos von der Bezwingung des Elbrus, endete in einem fluchtartigen Rückzug. Die Verluste waren enorm. "Der Gegner verlor im Raum Don-Wolga-Stalingrad etwa 1,5 Mio. Mann, an die 3500 Panzer und Selbstfahrlafetten, 12.000 Geschütze und Granatwerfer, etwa 3000 Flugzeuge und große Mengen sonstiger Technik."(16)

Grundlage für des sowjetischen Erfolgs war die mit enormen Anstrengungen durchgesetzte Verlagerung und Modernisierung der Rüstungsproduktion. Aber auch die unter brutalem faschistischen Tenor operierenden Partisanenverbände konnten den Transport an die weit vorgeschobene Front wirksam behindern. Kaum zu überschätzen aber dürfte die moralische Wirkung des entschlossenen Kampfes der 62. Armee gewesen sein. "Hinter der Wolga gibt es für uns kein Land mehr."(17) "Die Flakbedienungen oder die Scheinwerferbatterien des Stalingrader Luftverteidigungskorps setzten sich vorwiegend aus Frauen zusammen. Sie schossen weiter, auch wenn Dutzende von Bomben um sie einschlugen und es unmöglich schien, zu zielen oder bei den Geschützen zu bleiben. In Feuer und Rauch, zwischen detonierenden Bomben und Erdfontänen standen sie bis zuletzt auf ihren Posten."(18) Auf dem Mamajew-Hügel, am Hauptbahnhof, in der Nagelfabrik, am Getreidesilo, am Traktorenwerk, bei den Martin-Öfen und den vielen "Mauervorsprüngen" war es genau so. Die nichtfaschistische Welt fieberte mit den hart kämpfenden Verteidigern. Ihre Botschaft war: Auch der Deutsche Faschismus ist zu schlagen!

Zerschlagen war mit dem mißglückten Zugriff auf die kriegswichtige Verkehrswege, Rohstoff- und Industrieressourcen das Eroberungs- und Weltmachtskonzept des deutschen Imperialismus insgesamt. Hatte die faschistische Führung, wie auch die Westalliierten, eine Entscheidungen bewusst offen gehalten (Dünkirchen, die zweite Front), so hatte jetzt die territoriale Ausdehnung, der Macht- und Ressourcenzuwachs der Achsenmächte, 1941/42, eine Dimension erreicht, die bei der für wahrscheinlich gehaltenen Niederlage der SU, eine Kontrolle des Herausforderers mit eigenen Mitteln für die West-Alliierten auf absehbare Zeit irreal erscheinen ließ. "Amerikanische Experten haben errechnet, dass ein Erfolg des 'Russlandfeldzuges' den Nazis Ressourcen für die Aufstellung von etwa 400 Divisionen gebracht hätte - und das zu einem Zeitpunkt, da die Vereinigten Staaten gerade ihre 200 in Stellung gebracht haben würden."(19) Die faktische Reaktion auf diese Erkenntnis war, "dass Roosevelt im September 1942 ein neues, niedrigeres Limit für die Stärke von Army und Air Force festsetzte - insgesamt 8.208.000 Mann (Gegenüber den 10.572.000 Mann, die zuvor allein für die Army für erforderlich gehalten wurden. K.W.). Die Programme der Rüstungsindustrie wurden korrigiert, das Tempo verlangsamt und der absolute Umfang der Produktion, insbesondere von Waffen für die Landstreitkräfte, verringert. (...) Die Landstreitkräfte beliefen sich nun auf 100 Divisionen.(20) Zu diesem Zeitpunkt befand sich die deutsche Offensive, wie die Kampfkraft der Wehrmacht insgesamt, auf ihrem Höhepunkt. Die Chancen für ihren Erfolg mussten, nach dem bisherigen Kampfverlauf, als durchaus realistisch eingestuft werden.

Eine Option hat US-Außenminister Cordell Hull in seinen Memoiren angerissen: "Wir sollten immer bedenken, dass die Russen mit ihrem heldenhaften Kampf gegen Deutschland die Alliierten offenbar vor einem Separatfrieden bewahrt haben. Ein solcher Frieden hätte die Alliierten gedemütigt und dem nächsten Dreißigjährigen Krieg Tür und Tor geöffnet."(21) Die andere Option wäre gewesen, dieses Arrangement möglichst zu prolongieren. Schon der Erfinder der Heartland-Theorie, Halford Mackinder, hatte 1919 diesen unvermeidlichen Zusammenstoß beschrieben.(22) Und er hatte wenig Zweifel, wer letztlich Sieger in diesem Kampf sein würde. Bis heute prägt die Vorstellung von der entscheidenden Dominanz des Herrschers über Eurasien oder der Strategische Ellipse die Theorien der US-Geostrategen (Kissinger, Brzezinski). Die Neigung dieser ungünstigen Konfrontation möglichst aus dem Wege zu gehen, wäre wohl recht ausgeprägt gewesen. Zumindest bis die Kernspaltung neue Optionen ermöglicht hätte. Möglicherweise würde es in diesem Falle nun München, Berlin und Hamburg heißen, statt Hiroshima und Nagasaki.

Stalingrad hat die anglo-amerikanischen Strategen dieser Sorgen enthoben - und neue geschaffen. Wenn die Sowjetunion tatsächlich allein den deutschen Faschismus besiegen kann, wie wird das von ihr befreite Europa dann aussehen? Diese Frage sollte nach dem 2. Februar 1942 die Alliierten ebenso umtreiben wie die nationalkonservative deutsche Opposition. Bis am 6. August 1944 (Invasion) eine militärische und am 5. März 1946 (Fulton-Rede) eine propagandistische wie nuklear-erpresserische Antwort gefunden wurde.


Der Totale Krieg

Nach dem Untergang der 6. Armee wurde das Sterben und der Todeskult in Erwartung des Kommenden geradezu Mode. Göring hatte am 10. Jahrestag der "Machtergreifung" die Soldaten in Stalingrad rhetorisch schon mit Leonidas bei den Thermophylen beerdigt, obwohl ein großer Teil nicht einmal kapituliert hatte. Alfred Rosenberg dagegen bekam im Völkischen Beobachter schon recht ordentlich die Wende zur neuen strategischen Richtung hin: "Aus der 'Tat der 6.Armee' werde der Wille aufsteigen, 'nunmehr 1600 Jahre nach dem Hunneneinbruch das Reich und Europa für immer zu schirmen.'"(23) Hunderttausende Tote bedeuteten aber auch ein Vielfaches an fragenden, entsetzten, trauernden Angehörigen, von denen nicht wenige begannen, die Möglichkeit der Niederlage - und nicht nur in Stalingrad - zu denken. Die Sinnhaftigkeit des Krieges, die Eroberung neuen Lebensraums im Osten verlor angesichts der Toten ihre Überzeugungskraft. Ein neuer Kriegsgrund musste her. Er wurde in der stellvertretenden - Verteidigung Europas vor der "jüdisch-bolschewistischen Verschwörung" oder "moskowitisch-asiatischen Überschwemmung" gefunden. Diese Neuorientierung hatte den Vorteil, nicht sonderlich weit von den Vorstellungen des englischen Premiers entfernt zu liegen. Daran wollte man nun, da es ans Eingemachte ging, doch mal erinnert wissen.

Nach innen erschloss diese Perspektive ein elementares Herrschaftsmittel: Die Furcht. Plötzlich schien die schöne Zeit vorüber, in der man bedenkenlos niederbrennen, rauben, plündern, morden und vergewaltigen konnte. Viele wussten mehr als ihnen lieb war, von den unzähligen Toten in den Städten, auf den Schlachtfeldern und in den Lagern. Was, wenn nun Matthäus 27,25 (Sein Blut komme über uns...) nicht zur üblichen Legitimation zum Juden erschlagen aufgesagt, sondern von mongolenhaften Bolschewiken mit dem Bajonett zwischen den Zähnen auf das eigene Leben gemünzt würde?

Beispielhaft walzte der Propagandaminister diese Perspektive am 18. Februar 1943 in seiner, von ihm selbst am meisten bewunderten Sportpalastrede genüsslich aus, bevor er den erschreckten Pgs, einige nichtorganisierte sollen auch dabei gewesen sein, seine zehn Fragen um die Ohren schlug. Die Einstimmung auf den Totalen Krieg und den totalen Untergang hatte begonnen.

Begonnen hatte aber auch der industrielle Massenmord an den europäischen Juden. Hier hatte Hitler selbst die Einstimmung übernommen. So noch wenige Tage vor der russischen Gegenoffensive, am 8. November 1942: "Wenn das Judentum sich etwa einbildet, einen internationalen Weltkrieg zur Ausrottung der europäischen Rassen herbeiführen zu können, dann wird das Ergebnis nicht die Ausrottung der europäischen Rassen, sondern die Ausrottung des Judentums in Europa sein." Der Rubikon war längst überschritten. Alle Hemmungen gefallen. Nach Stalingrad wurden die Öfen in Auschwitz, Chelmno, Sobibor, Treblinka, Majdanek, Belzec, Bronnaje Gora, Maly Trostinez auf volle Leistung hochgefahren. Auch das hatte die "saubere Wehrmacht" möglich gemacht.

Das Unternehmen Topf & Söhne stellte am 4. November 1942, offenbar die Erfolgsmeldungen im Osten im Ohr, einen Antrag beim Reichspatentamt. Nummer T 58240 Kl. 24. In der Patentschrift heißt es: "In den durch den Krieg und seine Folgen bedingten Sammellagern der besetzten Ostgebiete mit ihrer unvermeidbar hohen Sterblichkeit ist die Erdbestattung der großen Menge verstorbener Lagerinsassen nicht durchführbar. Einerseits aus Mangel an Platz und Personal, andererseits wegen der Gefahr, die der näheren und weiteren Umgebung durch die Erdbestattung der vielfach an Infektionskrankheiten Verstorbenen unmittelbar und mittelbar droht. Es besteht daher der Zwang, die ständig anfallende, große Anzahl von Leichen durch Einäscherung schnell, sicher und hygienisch einwandfrei zu beseitigen. Dabei kann natürlich nicht nach den für das reichsdeutsche Gebiet geltenden gesetzlichen Bestimmungen verfahren werden."

Patentiert werden sollte (und wurde am 8. Juli 1949 in der Bundesrepublik tatsächlich. Man weiß ja nie ...) ein Art Fließbandverbrennungsofen. Die herkömmlichen Verfahren erwiesen sich in Auschwitz als zu leistungsschwach. Die Ingenieure von Topf und Söhne wussten dem beizukommen: "Die Leichen gleiten durch eigene Schwerkraft auf entsprechend geneigten und geformten Unterlagen in den beheizten Ofen hinein und dann weiter herab, geraten auf diesem Wege ins Brennen, um schließlich an geeigneter Stelle des Ofeninneren auszubrennen und zu veraschen. (...) Ferner kann durch entsprechend angeordnete Austrittsöffnungen bei einem evtl. Festbacken der Verbrennungsobjekte von außen nachgeholfen werden."(24)

Im Generalplan Ost sah nach dem "Endsieg" die Ermordung von mindestens 30 Mio. "Slawen" und anderen "minderwertigen Rassen" vor. Die 6. Armee hatte in Babi Jar reichlich Erfahrung mit "nicht durchführbaren Erdbestattungen" gesammelt. Topf & Söhne hatten allen Grund zum Optimismus.

Die selbstlosen Kämpfer in Stalingrad haben den Vormarsch der Barbarei fast im letzten Moment gestoppt. Es gebührt ihnen ewiger Dank.


Klaus Wagener, Dortmund, MB-Redaktion


Literatur

(1) Tschuikow, Wassili Iwanowitsch: Die Schlacht des Jahrhunderts. Berlin 1988. S. 287.
(2) Carell, Paul: Stalingrad: Sieg und Untergang der 6.Armee. Berlin 1992. S. 150.
(3) Shukow, Georgi Konstantinowitsch: Erinnerungen und Gedanken. Bd.2, Berlin 1987. S. 63.
(4) ebd.: S. 64.
(5) Tschuikow, Wassili Iwanowitsch: Die Schlacht des Jahrhunderts. Berlin 1988. S. 50
(6) Shukow, Georgi Konstantinowitsch: Erinnerungen und Gedanken. Bd.2. Berlin 1987. S. 71.
(7) zit. n. Seydlitz, Walther von: Stalingrad - Konflikt und Konsequenz. Oldenburg und Hamburg 1977. S. 167.
(8) ebd.: S. 167.
(9) ebd.: S. 166.
(10) Klemperer, Viktor: Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1942. Berlin 1999. S. 255.
(11) Shukow, Georgi Konstantinowitsch: Erinnerungen und Gedanken. Bd.2. Berlin 1987. S. 85.
(12) Pätzold, Kurt: Stalingrad und kein Zurück. Leipzig 2002. S. 63.
(13) http://www.istorisches-tonarchiv.de/stalingrad/stalingrad-kampf175a.jpg
(14) Doerr, Hans: Der Feldzug nach Stalingrad 1942-1943. Wölfersheim-Bergstadt, o. Jahresangabe. S. 142.
(15) Shukow, Georgi Konstantinowitsch: Erinnerungen und Gedanken. Bd.2. Berlin 1987. S. 85.
(16) Shukow, Georgi Konstantinowitsch: Erinnerungen sind Gedanken. Bd.2. Berlin 1987. S. 129.
(17) Tschuikow, Wassili Iwanowitsch: Die Schlacht des Jahrhunderts. Berlin 1988. S. 121.
(18) ebd.: S. 314f.
(19) Falin, Valentin: Zweite Front. München 1997. S. 332.
(20) ebd.: S. 332f.
(21) zit. n. Falin, Valentin: Zweite Front. München 1997. S. 338. 
(22) Mackinder, H.J.: Democratic Ideals and Reality. New York 1919.
(23) zit. n.: Pätzold, Kurt: Stalingrad und kein Zurück. Leipzig 2002. S. 113.
(24) http://de.wikipedia.org/wiki/J._A._Topf_und_S%C3%B6hne

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Quelle:
Marxistische Blätter, Heft 1-13, 51. Jahrgang, S. 60-66
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veröffentlicht im Schattenblick zum 19. März 2013