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MARXISTISCHE BLÄTTER/532: Klassentheorie und Klassenbewusstsein in der Krise


Marxistische Blätter Heft 5-12

Klassentheorie und Klassenbewusstsein in der Krise
"Sack Kartoffeln" oder politisch und organisatorisch bewusst handelnde "Klasse"?

von Hans Peter Brenner



Die klassenanalytischen Arbeiten der letzten Jahre haben eine nicht unerhebliche neue Akzentuierung der marxistisch-leninistischen Klassentheorie erbracht. Es gibt eine wachsende Übereinstimmung darin, dass ihr kein statischer, sondern ein dynamischer Klassenbegriff zu Grunde liegt. Weiterhin wird deutlicher als zuvor betont, dass innerhalb des modernen Proletariats eine große Differenziertheit vorherrscht. Das Proletariat, die moderne Arbeiterklasse, weist eine Entwicklungsgeschichte auf und durchläuft diverse Stadien - in Abhängigkeit und Verbindung mit der generellen Entwicklung des Kapitalismus.

Das "Kommunistische Manifest" sagte bereits dazu: "In demselben Maße, worin sich die Bourgeoisie, d. h. das Kapital, entwickelt, in demselben Maße entwickelt sich das Proletariat, die Klasse der modernen Arbeiter, die nur so lange leben, als sie Arbeit finden, und die nur so lange Arbeit finden, als ihre Arbeit das Kapital vermehrt. Diese Arbeiter, die sich stückweise verkaufen müssen, sind eine Ware wie jeder andere Handelsartikel und daher gleichmäßig allen Wechselfällen der Konkurrenz, allen Schwankungen des Marktes ausgesetzt. Arbeitermassen, in der Fabrik zusammengedrängt, werden soldatisch organisiert. Sie werden als gemeine Industriesoldaten unter die Aufsicht einer vollständigen Hierarchie von Unteroffizieren und Offizieren gestellt. Sie sind nicht nur Knechte der Bourgeoisklasse, des Bourgeoisstaates, sie sind täglich und stündlich geknechtet von der Maschine, von dem Aufseher und vor allem von den einzelnen fabrizierenden Bourgeois selbst. Diese Despotie ist umso kleinlicher, gehässiger, erbitterter, je offener sie den Erwerb als ihren Zweck proklamiert."(1)

Es sind also nicht nur die formalen strukturellen Eigenarten - wie vor allem anderen der Nichtbesitz an den Produktionsmitteln - und äußerliche Differenzierungen der Arbeiterklasse nach unterschiedlichen Berufsbildern, sondern auch die durch den Wechsel der typischen Unterdrückungs- und Machtstrukturen ("Despotie") hervorgerufenen Bewusstseinszustände und -veränderungen, die das Wesen und Schicksal der Klasse ausmachen.


Kartoffelsack oder "Klasse"

Eine besondere Rolle spielen dabei die konkreten Erfahrungen und praktischen Auseinandersetzungen im Bereich der Arbeitswelt und die Entwicklung spezifischer politisch-organisatorischer und kultureller Milieus sowie die Weitergabe von politischen Kampferfahrungen, die den eigentlichen Nährboden und Erfahrungshorizont darstellen, auf dem sich das Klassenbewusstsein herausbildet.

Wie bedeutsam das Wissen um die politischen und ideologischen Zusammenhänge für die Klassenformierung ist, hatte Marx an einem Negativbeispiel erläutert: es war das Nichtzustandekommen einer einheitlichen nationalen bäuerlichen Bewegung gegen den Feudalismus in Frankreich. Marx hatte dies zum einen auf die Zersplitterung der ökonomischen Lebensweise der Kleinbauern zurückgeführt.

Er erweiterte diesen Erklärungsansatz aber mit dem Hinweis auf ihre unzureichenden sozialen Beziehungen und Kommunikation untereinander. "Ihre Produktionsweise isoliert sie voneinander, statt sie in wechselseitigen Verkehr zu bringen. Die Isolierung wird gefördert durch die schlechten französischen Kommunikationsmittel und die Armut der Bauern." Ihre zahlenmäßige Stärke - so Marx - war daher nur "eine einfache Addition gleichnamiger Größen, wie etwa ein Sack von Kartoffeln einen Kartoffelsack bildet."(2)

Marx hatte demnach nicht allein die formale Zugehörigkeit zu einem gleichartigen sozialen Gebilde im Auge, wenn er von "Klasse" sprach. In der Marx-Studie heißt es dazu: "Insofern Millionen von Familien unter ökonomischen Existenzbedingungen leben, die ihre Lebensweise, ihre Interessen und ihre Bildung von denen der andern Klassen trennen und ihnen feindlich gegenüberstellen, bilden sie ein Klasse. Insofern ein nur lokaler Zusammenhang unter den Parzellenbauern besteht, die Dieselbigkeit ihrer Interessen keine Gemeinsamkeit, keine nationale Verbindung und keine politische Organisation unter ihnen erzeugt, bilden sie keine Klasse. Sie sind daher unfähig, ihr Klasseninteresse im eigenen Namen, sei es durch ein Parlament, sei es durch einen Konvent geltend zu machen. Sie können sich nicht vertreten, sie müssen vertreten werden." (Hervorhebungen durch mich - HPB)(3)

Das Sich-Bewusstwerden einer bestimmten Klasse mit einem ähnlichen Schicksal, ähnlichen Grundinteressen und einer ähnlichen Lebensweise - jenseits aller subjektiven Unterschiede - anzugehören sowie die Entwicklung von Klassenbewusstsein auf der Basis konkreter Kampferfahrungen, dieses Bewusstwerden des kollektiven "Wir" überwindet die Individualisierung, die Konkurrenz untereinander und die politische Zersplitterung. Erst mit Abschluss und Ausprägung dieser sozialpsychologischen und politischen Dimension der Klassenformierung kommt es eigentlich überhaupt zur Konstituierung als Klasse. Das ist die wesentliche Bedingung für die Entwicklung der Klasse "an sich" zur Klasse "für sich".


Marxistische Psychologie zum Vergesellschaftungsprozess der Menschen

Mit Fug und Recht konnte Lenin daher betonen, dass ein soziales Gebilde mit ähnlichen materiellen Lebensbedingungen noch längst nicht die Merkmale einer "Klasse" erfüllt. Auch dieses wäre kaum mehr als eine gemeinsames "Kartoffelsack"-Gefühl. "Klasse ist ein Begriff, der sich im Kampf und in der Entwicklung herausbildet. ... Es wäre absurd, zu behaupten, das Proletariat hätte sich sofort als Klasse organisieren können. Das dauert Jahrzehnte. Niemand hat so gegen solche kurzsichtigen sektiererischen Auffassungen gekämpft wie Marx. Die Klasse entwickelt sich unter kapitalistischen Verhältnissen, und wenn der geeignete Zeitpunkt für die Revolution da ist, ergreift sie die Staatsgewalt. Karl Marx kämpfte vor allen Dingen gegen den alten utopischen Sozialismus und forderte einen wissenschaftlichen Standpunkt, der erkennen lässt, dass sich die Klasse auf dem Boden des Klassenkampfs entwickelt und dass man ihren Reifeprozess fördern muss."(4)

Aus diesem dynamischen Verständnis von "Klasse" und der sukzessiven "Formierung zur Klasse" folgt meines Erachtens: die Klasse existiert erst tatsächlich, wenn sie sich im Kampf um die gemeinsamen Interessen zur handelnden Kraft formiert. Erst dieser Vergesellschaftungsprozess der verschiedenen individuellen Elemente der Klasse mit ihren unterschiedlichen Erfahrungen und Bedürfnissen auf der Basis von gemeinsamen Lebens- und Kampferfahrungen, die mehr sind als nur das emotionale Erleben als einer Schicksals-, Interessens- und Leidensgemeinschaft macht aus einem passiven Kartoffelhaufen eine handlungsbereite soziale Klasse.

Es geht also um mehr als um ein spontanes Empfinden einer allgemeinen Zusammengehörigkeit.

Aus Sicht der marxistisch orientierten Psychologie hat Klaus Holzkamp diesen Prozess der "interpersonalen Verständigung zwischen den Menschen, des Ausdruckverstehens" in kritisch-solidarischer Auseinandersetzung mit der Konzeption der sowjetischen "Leontjew-Schule" so charakterisiert: "Die gesellschaftliche Wirklichkeit, die im individualgeschichtlichen Prozess angeeignet wird, das 'Dritte', über das die Menschen miteinander verbunden sind, ist die Grundlage dafür, dass sie sich soweit untereinander 'kennen', um sich unter gewissen Bedingungen 'erkennen' zu können. Der andere Mensch erscheint in der Wahrnehmung als Wesen, das durch sein bewusste und zweckgerichtete Tätigkeit über den Aneignungsprozess (in gewissem Maße) an der gleichen historisch gewordenen menschlichen Welt teilhat wie der Wahrnehmende und dessen subjektives 'Bei-sich-Sein' mithin nicht prinzipiell anders geartet ist als das eigene."(5)

Bezogen auf die Entwicklung der einzelnen Angehörigen einer bestimmten sozialen Klasse bis hinauf zur Stufe ihrer "Gesellschaftlichkeit" ist diese allgemeine Bestimmung weiter zu konkretisieren:

Welche historisch konkrete "Gesellschaft" ist gemeint und wodurch wird die "kooperative Struktur" der ihr angehörenden und für sie typischen Klassen formiert?

Holzkamp erkannte sehr richtig, dass es in der bürgerlichen Gesellschaft "keine widerspruchsfreien gesellschaftlichen Lebensnotwendigkeiten" gibt, "denen der einzelne sich nur bewusst zu unterstellen braucht, um auch seinem individuellen Interesse zu dienen. Die Bestimmung der gesellschaftlichen Lebensnotwendigkeit in ihrem Zusammenhang mit der individuellen Lebenserhaltung und -entfaltung geschieht immer und unausweichlich von einem Klassenstandpunkt aus."(6)

Nur von seinem Klassenstandpunkt aus kann dann auch der moderne Proletarier den "Schein der Konkordanz zwischen Kapitalinteressen und gesamtgesellschaftlichem" Interesse als Schein und Trugbild erkennen. Dies wiederum ist nur möglich, wenn die Arbeiter über den Standpunkt der Vertretung von Partialinteressen gegen das Kapital hinaus das Bewusstsein der historischen Gewordenheit und gesellschaftlichen Funktion der Arbeiterschaft als Klasse in der bürgerlichen Gesellschaft entwickeln."(7)

Dann und eben nur dann, wenn der "bewusste Klassenstandpunkt des Proletariats mit seiner sozialistischen Perspektive gerade das begreifende Erkennen der wesentlichen Struktureigentümlichkeiten der bürgerlichen Gesellschaft unter Durchdringung der vordergründigen sinnlich-anschaulichen Evidenzen, also den Bruch mit dem Unmittelbaren einschließt", wird der Weg vom Partialinteresse zum Gesamtinteresse der Klasse beschritten.

"Die Herausbildung des Klassenstandpunkts des Proletariats hat die von räumlichen Standpunkten abhängige sinnliche Erfahrung der alltäglichen Lebenswelt der Arbeiterschaft zur Voraussetzung, wobei die sinnlichen Evidenzen hier allerdings nicht bewusstseinsbestimmend sind, sondern nur begreifend in ihrer Scheinhaftigkeit und 'Verkehrtheit' erkannt werden. Unter keinen Umständen dürfen der Klassenstandpunkt des Proletariats und die sozialistische Perspektive als bloße Verallgemeinerung sinnlicher Erfahrungen der Arbeitswelt der Arbeiterschaft interpretiert werden."(8)

Welche Rolle spielt dabei diejenige organisierte Formation der Klasse, die mehr als nur das "Partialinteresse" der Klasse vertritt: die sich auf den wissenschaftlichen Sozialismus von Marx, Engels und Lenin stützende und diesen weiterentwickelnde Partei der Kommunistinnen und Kommunisten?

Diese Frage wird derzeit selbst in deren Reihen kontrovers debattiert.(9)


Aufgabe der KP: den "Reifeprozess" der Klasse fördern

Lenin wählte für das dynamische Verständnis des marxistischen Klassenbegriffs und die Schwierigkeit der Entwicklung von Klassenbewusstsein ein sehr drastisches Beispiel: "Der Proletarier, der sich der Idee der Hegemonie seiner Klasse nicht bewusst geworden ist oder diese Idee verleugnet, ist ein Sklave, der seinen Sklavenzustand nicht begreift; im günstigsten Fall ist er ein Sklave, der für die Verbesserung seines Sklavenzustands, nicht aber für die Beseitigung der Sklaverei kämpft"(10)

Und in seiner Polemik gegen den "Ökonomismus" in der russischen Arbeiterbewegung verwies er in seiner Schrift "Was tun?" darauf, "dass jede Anbetung der Spontaneität der Arbeiterbewegung, jede Herabminderung der Rolle des 'bewussten Elements', der Rolle der Sozialdemokratie (gemeint ist die damalige revolutionäre und marxistische Sozialdemokratie - HPB), zugleich - ganz unabhängig davon, ob derjenige, der diese Rolle herabmindert, das wünscht oder nicht - die Stärkung des Einflusses der bürgerlichen Ideologie auf die Arbeiter bedeutet.(11)

Auf die Frage, warum "die spontane Bewegung, die Bewegung in der Richtung des. geringsten Widerstandes gerade zur Herrschaft der bürgerlichen Ideologie" führt, sagte Lenin: "Aus dem einfachen Grunde, weil die bürgerliche Ideologie ihrer Herkunft nach viel älter ist als die sozialistische, weil sie vielseitiger entwickelt ist, weil sie über unvergleichlich mehr Mittel der Verbreitung verfügt."(12)

In einer Fußnote zu dieser Feststellung schrieb er erläuternd: "Man sagt oft: Die Arbeiterklasse fühlt sich spontan zum Sozialismus hingezogen. Das ist vollkommen richtig in dem Sinne, dass die sozialistische Theorie tiefer und richtiger als jede andere die Ursachen des Elends der Arbeiterklasse aufzeigt; darum wird sie von den Arbeitern auch so leicht erfasst, falls diese Theorie nur selber vor der Spontaneität nicht die Segel streicht, falls sie sich die Spontaneität unterordnet. ... Die Arbeiterklasse fühlt sich spontan zum Sozialismus hingezogen, aber die am weitesten verbreitete (und in den mannigfaltigsten Formen ständig wiederaufstehende) bürgerliche Ideologie drängt sich trotzdem spontan dem Arbeiter am meisten auf."(13)

Das war vor über 100 Jahren geschrieben: Lange bevor es Rundfunk, Fernsehen und die anderen modernen Massenmedien gab, die die bürgerliche Ideologie in unvergleichlich differenzierterer, raffinierterer und intensiverer Form produzierten und in das "Alltagsbewusstsein" der Klasse transportierten.

Entwicklung von Klassenbewusstsein bedingt also eine deutlich bewusstere Form der Auseinandersetzung mit den raffinierteren und differenzierten Methoden und Inhalten bürgerlicher Ideologie. Umso seltsamer muss es anmuten, wenn gesagt wird, man könne "nicht mehr das traditionelle, sozialdemokratische, von Lenin im Hinblick auf die rückständigen Verhältnisse Russlands sogar radikalisierte Bild einer kommunistischen Partei aufrecht erhalten", weil deren Verständnis es angeblich sei, "durch Agitation, Propaganda und Organisation einer unaufgeklärten Masse das sozialistische Bewusstsein 'von außen' (bei)zubringen."(14)

Dieses Argument wirft zwei grundsätzliche Fragen auf.

Erstens: Kann der Parteityp Lenins wirklich gleichsetzt werden mit einer "Methode der Belehrung, der Aufklärung und der Agitation, die darauf zielen ein 'falsches Bewusstsein' durch ein vermeintlich 'richtiges Bewusstsein' zu ersetzen"?

Das "Manifest der Kommunistischen Partei" sagte zum Selbstverständnis der Organisation des revolutionären modernen Proletariats: "Sie (die Kommunisten) kämpfen für die Erreichung der unmittelbar vorliegenden Zwecke und Interessen der Arbeiterklasse, aber sie vertreten in der gegenwärtigen Bewegung zugleich die Zukunft der Bewegung." Das heißt sicherlich in einer uns geläufigen Diktion: die Erweiterung der politischen und sozialen Alltagserfahrungen zu einer weitergehenden Perspektive des Bruchs mit dem kapitalistischen System ist das unverwechselbare Alleinstellungsmerkmal der KP. Kein soziales oder politisches "Netzwerk" vertritt eine von Marx, Engels und Lenin geprägte politische Analyse, Strategie und Taktik; die den Weg zum Bruch mit dem Kapitalismus weist und damit sozialistisches Bewusstsein entwickeln hilft. Dies ist genau der entscheidende historische Auftrag, den die in der KP organisierten Marxisten haben. Dies ist ihr eigentlicher Daseinszweck.

Etwa fünfzig Jahre nach Erscheinen des "Kommunistischen Manifestes betonte Lenin ganz im Sinne dieser "Geburtsurkunde" der organisierten marxistischen Bewegung, dass die Aufgabe der Kommunistischen Partei nicht darin bestehe, sich irgendwelche "modische Mittel zur Unterstützung der Arbeiter" auszudenken, sondern darin, "sich mit der Arbeiterbewegung zusammenzuschließen, ihr Erkenntnisse zu vermitteln, den Arbeitern in diesem Kampf, den sie bereits von sich aus eingeleitet haben, beizustehen."(15)

Worin sollte sich diese "Hilfe" für den Kampf der Arbeiter äußern? Dazu Lenin:

"Das Programm besagt, dass diese Hilfe erstens in der Entwicklung des Klassenbewusstseins der Arbeiter bestehen muss.

Klassenbewusstsein der Arbeiter ist das Verständnis dafür, dass das einzige Mittel zur Verbesserung ihrer Lage und zur Erkämpfung ihrer Freiheit der Kampf gegen die mit den großen Fabriken und Werken aufgekommene Klasse der Kapitalisten und Fabrikanten ist. Klassenbewusstsein der Arbeiter heißt ferner zu begreifen, dass die Interessen aller Arbeiter des betreffenden Landes die gleichen sind, dass sie solidarisch sind, dass die Arbeiter alle miteinander eine einheitliche, von allen übrigen Gesellschaftsklassen gesonderte Klasse bilden."(16)

Schließlich bedeutet Klassenbewusstsein nach Lenin zu verstehen, dass die Arbeiterklasse, um ihre Ziele durchzusetzen, "Einfluss auf die Staatsangelegenheiten erlangen müsse, wie die Grundeigentümer und Kapitalisten sich ihn verschafft" hätten. Die zweite und dritte Aufgabe - so Lenin damals - sei es "die Organisierung der Arbeiter zu fördern" und das "wahre Ziel des Kampfes zu weisen".(17)

Aufklärung über die Funktionsgesetze des Kapitalismus zu leisten und das programmatische Endziel der Kommunisten darzulegen, darum ging es Lenin. Und zwar nicht von einer Katheder-Position aus, sondern ausgehend vom wirklichen Leben, von den wirklichen Erfahrungen. Schon gar nicht in der unterstellten belehrenden Rolle eines Schulmeisters oder eines "Nürnberger Trichters".

Zweitens: Die Bildung von Klassenbewusstsein ist keinesfalls "in erster Linie eine kulturelle und Aufgabe der Volksbildung und politischen Erziehung, die von den 'organischen Intellektuellen' der Arbeiterklasse (die Kommunistische Partei bei Gramsci), heute eher ein Netzwerk von Parteien und Bewegungen, in dem die Kommunistische Partei eine wichtige Rolle spielen muss"(18), zu leisten sei. Das in diesem Kontext zitierte "Netzwerk", das heute diese Aufgabe an Stelle der Kommunisten zu erfühlen habe, ist ein pluralistisch zusammengesetztes Bündnis von Menschen unterschiedlicher politischer Grundausrichtung und weltanschaulicher Orientierung. Mit diesen Menschen, ihren Bündnispartnern, haben Marxisten und Kommunisten natürlich viele gemeinsame Anliegen, sonst gäbe es ein solches Bündnis nicht. Zugleich aber unterscheiden sie sich doch aber auch von ihnen in ihrer Weltanschauung, in ihrer Programmatik, in ihrer Strategie und Taktik, in der Wahl ihrer politischen und organisatorischen Methoden und in ihrem revolutionären, sozialistischen Ziel. Wenn dies anders wäre, gäbe es keine Existenzbegründung und auch keine Notwendigkeit für sie.

Die Berufung auf Antonio Gramsci ist in diesem Zusammenhang völlig verfehlt. Gramsci war Marxist-Leninist und zeitweilig ein führender Funktionär der Kommunistischen Internationale. Er war einer derjenigen, die die bewusste und entschiedene Trennung von der durch den Reformismus deformierten damaligen Sozialistischen Partei Italiens und die eigenständige Formierung der Marxisten zur KP forderten.

Er setzte sich später auch energisch für die "Bolschewisierung" der italienischen KP ein Er verlangte, dass jeder Kommunist "Leninist" sein müsse und dass die KP ideologisch und organisatorisch eine besondere Verantwortung, eine Avantgardeaufgabe, wahrzunehmen habe.

Antonio Gramsci sah dies nicht anders als Lenin, wenn er sagte: "Das Element der 'Spontaneität' genügt für den revolutionären Kampf nicht, es führt die Arbeiterklasse niemals über die Grenzen der jetzigen bürgerlichen Demokratie hinaus. Dafür ist das Element des Bewusstseins notwendig, das 'ideologische' Element, das heißt das Verstehen der Bedingungen, unter denen der Kampf geführt wird, der sozialen Verhältnisse, in denen der Arbeiter lebt, der grundlegenden Tendenzen, die im System dieser Verhältnisse wirken, des Entwicklungsprozesses, den die Gesellschaft durch die in ihrem Schoß vorhandenen unlösbaren Widersprüche durchmacht usw."(19)


"Dörre-Studie": Krise erschwert Bewusstseinsbildung

Es ist ein eklatanter Fehler zu meinen, dass die heutzutage natürlich bessere technische und (natur-)wissenschaftliche Qualifizierung der Arbeiterklasse irgendetwas mit einem automatischen Vorsprung in Sachen Klassenbewusstsein zu tun hätte.

Dies bestätigt auch die Arbeit einer Forschungsgruppe der Universität Jena um Prof. K. Dörre. Sie zeigte kürzlich: Anpassung, Angst, Sozialpartnerschaft, Bunkermentalität und geringe Solidarität in der Klasse sind auch in den höher qualifizierten und relativ gut etablierten Schichten der Arbeiterklasse massenhaft verbreitet. Das ist keine Frage der "Bildung". Es ist vor allem die Erfahrung von praktischem kollektiven Klassenkampf und von Solidarität in Verbindung mit der marxistisch-leninistischen Theorie nötig.

Die neue Dörre-Studie basiert auf einer Befragung von insgesamt 2 074 Arbeitern und Angestellten in Ost- und Westdeutschland. Dazu wurde in 2008 und 2010 die Belegschaft je eines ost- und eines westdeutschen Betriebs ausgesucht.(20)

Das wichtigste Resultat lautet: Die tiefe wirtschaftliche Krise stellt sich selbst für die Beschäftigten in relativ stabilen Industrie- oder Dienstleistungsbetrieben mit "sicheren" Arbeitsverhältnissen als dauerhafte Infragestellung und Bedrohung der eigenen Existenzgrundlagen dar.

Das Erahnen gesamtgesellschaftlicher Zusammenhänge von betrieblicher Entwicklung und ihrer Abhängigkeit von den Grundmechanismen der kapitalistischen Wirtschaftsordnung ist zwar verbreitet; aber es führt keinesfalls von selbst zu einer grundsätzlichen antikapitalistischen Einstellung und Kampfbereitschaft. Im Gegenteil: die verbreitete und verstärkte Kritik am "Finanzmarktkapitalismus" geht einher mit einer zunehmenden Entsolidarisierung.

Vor allem Arbeiter in der Alt-BRD stimmen der Aussage zu "Es reicht nicht mehr für alle". Und nicht jeder - zum Beispiel Leiharbeiter - könne noch "mitgenommen" werden. 80 Prozent der Befragten im Osten und 74 Prozent im Westen stimmen andererseits der Meinung zu, dass der gesellschaftliche Wohlstand "gerechter verteilt" werden müsse und könne. 58 Prozent, von den Facharbeitern 69 Prozent, stimmen der Aussage zu, in der Gesellschaft gebe es nur noch ein "Unten" und ein "Oben", keine Mitte mehr.

Und mehr als die Hälfte stimmt der Aussage zu, dass die heutige Wirtschaftsweise auf "Dauer nicht überlebensfähig" sei. Mit dieser nicht unkritischen Gesellschaftssicht verbindet sich mehrheitlich zunächst eine emotionale solidarische Haltung gegenüber Erwerbslosen und in prekären Verhältnissen lebenden Kolleginnen und Kollegen.

Das kapitalismuskritische Bewusstsein unter den ostdeutschen Arbeitern und Angestellten scheint deutlicher ausgeprägt zu sein als bei ihren Kollegen im Westen. Dieses kritische Bewusstsein setzt sich jedoch nicht ohne weiteres in aktives gewerkschaftliches Engagement um. Das Dörre-Team machte in dem ostdeutschen Betrieb eine Gruppe sogenannter "gewerkschaftsentfremdeter Gesellschaftskritiker" ausfindig, die fast ein Viertel der Befragten umfasst. Diese Gruppe - so die Studie - "verkörpert eine heimatlose Gesellschafts- und Kapitalismuskritik", die den Gewerkschaften keine wirkliche gesellschaftspolitische Rolle zutraut.

Dabei ist von Interesse, dass sich hier nicht nur Generationenunterschiede, sondern auch die ganz alten klassischen Unterschiede zwischen Arbeitern ("blue-collar worker") und Angestellten ("white-collar worker") zu reproduzieren scheinen.

Ein knappes Drittel der Befragten - hauptsächlich technische und kaufmännische Angestellte sowie jüngere Mitarbeiter - hält zwar Kapitalismuskritik für berechtigt und wendet sich gegen die Ausgrenzung sozial Schwacher, lehnt aber eine Bindung an Betriebsrat oder Gewerkschaft ab.

Im untersuchten Westbetrieb ist die IG Metall akzeptierter Bestandteil der Kooperationsbeziehungen. Gleichzeitig ist aber das kapitalismuskritische Bewusstsein unter den westdeutschen Beschäftigten deutlich niedriger ausgeprägt als bei den Ostkollegen. Mehr als die Hälfte stimmte zum Beispiel der Aussage zu, dass auf Erwerbslose ein größerer Druck ausgeübt werden müsse, und ein weiteres Drittel stimmte dem teilweise zu.

Die Jena-Studie kommt zu einem "durchaus irritierenden Befund. Die Ost-Belegschaften mit ihrem mehrheitlich distanzierten Verhältnis zur Gewerkschaft bekunden eine größere Toleranz gegenüber Outsidern als die gewerkschaftlich hoch organisierten und gegenüber der IG Metall deutlich aufgeschlosseneren Westbeschäftigten."(21)

Irritierend ist diese Feststellung für Linke und Marxisten, weil Gewerkschaftsbindung damit "offenkundig kein verlässlicher Indikator für die Bereitschaft zu inklusiver, werks-, betriebs- und gruppenübergreifender Solidarität" ist.

Drei von vier Befragten identifizieren sich weiterhin "stark" oder "sehr stark" mit "ihrer Firma". Die "Firma" stellt den Jenaer Soziologen zufolge subjektiv einen Hort der Stabilität inmitten einer stürmischen See dar, den es - punktuell auch gegen die eigene Unternehmens spitze - zu verteidigen gilt. Dazu passt auch, dass der Betriebsrat als Institution und unternehmerischer Akteur eine deutlich größere Anerkennung genießt als die Gewerkschaft.

Zwar möchte die große Mehrheit der Beschäftigten (vor allem im Westen) die Gewerkschaft, konkret die IG Metall, "als Gegengewicht zum Unternehmer" nicht missen. Doch das ändere nichts daran, dass die IG Metall von vielen Befragten im Grunde als 'äußerer Akteur' betrachtet wird, dessen man sich nur im Bedarfsfall bedient, zu dem jedoch keine wirkliche innere Bindung besteht. Hier deutet sich laut Dörre ein Funktionswandel der organisierten Interessenvertretung an, bei dem Belegschaften und Management oftmals "Wettbewerbskoalitionen" bzw. "Überlebensgemeinschaften" eingehen - und vor allem den prekär Beschäftigten die Risiken aufbürdeten.

"Aus einer solchen Perspektive heraus wird die IG Metall subjektiv (von den West-Belegschaften - HPB) zum Instrument selektiver Interessenpolitik. Sie dient den Festangestellten dazu, ihren sozialen Status zu verteidigen. Positiver Gewerkschaftsbezug und exkludierende Solidarität gehen eine überraschende Wahlverwandtschaft ein.

Anders die Ost-Belegschaften: Für sie ist die Gewerkschaft mehrheitlich seit langem allenfalls Mittel zum Zweck. Nach der Wende wollte man 'keinen neuen FDGB'".(22) Bei der Stammbelegschaft kommt es dadurch zur Entwicklung einer ausgeprägten "Wagenburg-Mentalität".

In der Studie heißt es dazu: "Mit der als positiv empfundenen Zugehörigkeit zum Betrieb geht die Bereitschaft einher, sich mehr als nötig zu engagieren, um zum Unternehmenserfolg beizutragen: 65 % stimmen dieser Aussage zu, nur 8 Prozent lehnen sie ab. ... Durch eigene Flexibilität zum wirtschaftlichen Erfolg des Standorts beizutragen, gehört somit zu den akzeptierten Grundsätzen in der (West-)Belegschaft."(23)

Die eigenen Chancen auf Beschäftigungssicherheit steigen, wenn man den Club der Festangestellten einigermaßen exklusiv hält. So ist fast die Hälfte der befragten westdeutschen Facharbeiter der folgenden Meinung: "Eine Gesellschaft, in der jedermann aufgefangen wird, ist nicht überlebensfähig."(24)

Die Jena-Studie belegt mit neuen Daten und Fakten eine uralte Erfahrung, mit der sich klassenkämpferische und sozialistisch-kommunistische Gewerkschafts- und Betriebsarbeit eigentlich schon immer herumplagt. Es ist die grundsätzliche Dominanz der bürgerlichen Ideologie auch in der Arbeiterklasse, hier im speziellen die Dominanz von rein betrieblich-gewerkschaftlicher Interessenpolitik, der sogenannte "Ökonomismus".

Die Gewerkschaften laufen damit Gefahr, nur noch zu exklusiven Vertretern der Interessen von Stammbelegschaften zu werden, auf Kosten von Arbeitslosen und prekär Beschäftigten.

Damit wird die Notwendigkeit unterstrichen, dass Kommunisten sich immer wieder neu im Zusammenhang mit den aktuellen politischen Entwicklungen, die Erkenntnisse des Marxismus und Leninismus aneignen müssen, die vor allem in der frühen Geschichte der deutschen und russischen Arbeiterbewegung eine bis heute aktuell gebliebene praktische und theoretische Auseinandersetzung mit dem "Nur-Gewerkschaftertum" und dem "Ökonomismus" in seinen verschiedenen Varianten geführt hatten. Wobei selbst dieser moderne "Ökonomismus" anders als der frühere "Tradeunionismus" heute keine feste positive und keine prinzipielle Bindung an die Gewerkschaften bedeutet.

Die technisch bedeutend höher stehende Arbeiterklasse steht verglichen mit den Generationen ihrer Groß- und Urgroßväter in der doch so wichtigen Frage "Wie stehst du als Arbeiter zu deiner Gewerkschaft"? auf einem vergleichsweise deutlich niedrigeren Bewusstseinsstand, wenn es um das Erkennen der Notwendigkeit der eigenen Organisiertheit geht. Der Nachweis der nur bruchstückhaften, widersprüchlichen und in sich absolut nicht stimmigen und von wenig klarer politischer Bewusstheit zeugenden gedanklichen und ideologischen Verarbeitungs- und Bewältigungsmuster der Krise durch die Dörre-Studie verdeutlicht, wie aktuell die Einschätzungen Lenins und auch Gramscis über die notwendige und unersetzbare bewusstseinsbildende Aufgabe der Kommunistischen Partei geblieben sind.

So sagte Gramsci in seiner Einführung in den ersten Kurs der internen Parteischule der KPI (April/Mai 1925): "Vor der Machtergreifung im Staat kann man sich nicht vornehmen, das Bewusstsein der gesamten Arbeiterklasse vollständig zu verändern; das wäre eine Utopie, denn das Klassenbewusstsein als solches verändert sich nur, wenn die Lebensweise der Klasse selbst verändert wurde, das heißt, wenn das Proletariat zur herrschenden Klasse geworden ist ... Aber die Partei kann und muss dieses höhere Bewusstsein in ihrer Gesamtheit verkörpern; sonst wird sie sich nicht an der Spitze, sondern im Nachtrab der Massen befinden, dann wird sie sie nicht anführen, sondern von ihnen mitgezogen werden. Deshalb muss sich die Partei den Marxismus zu eigen machen, und zwar in seiner jetzigen Form, dem Leninismus."(25)

Der schwierige Weg zur stärkeren Verankerung der Kommunistinnen und Kommunisten in Gewerkschaften und Betrieben, die stärkere Akzentuierung und Fokussierung auf ihre gegenwärtig stark geschrumpften betrieblichen "Stützpunkte" lässt sich nicht ersetzen durch das "Mitschwimmen" in verschiedenen Bewegungen.

"Ein Netz ist nur eine Verbindung von Löchern", könnte man vielleicht scherzhaft sagen. Es geht aber bei der bewussteren und stärkeren Gewichtung von Arbeiter, Betriebs- und Gewerkschaftspolitik und deren Verknüpfung mit den programmatischen Ziele der kommunistischen Partei weit mehr als um das Schließen und Stopfen von "Löchern". Es geht um ihre Daseinsberechtigung.


Anmerkungen:

(1) K. Marx / F. Engels: Manifest der Kommunistischen Partei. In Marx-Engels-Werke, Bd. 4, S. 468 f.

(2) K. Marx: Der 18. Brumaire des Napoleon Bonaparte, in MEW 8, S. 198

(3) Ebd.

(4) W. I. Lenin: Rede auf dem III. Gesamtrussischen
Gewerkschaftskongress. In Werke Bd. 30, S. 505 / 506)

(5) K. Holzkamp: Sinnliche Erkenntnis. Historischer Ursprung und gesellschaftliche Funktion der Wahrnehmung. Frankfurt 1973, S. 198

(6) Ebd., S. 237

(7) Ebd., S. 238

(8) Ebd., S. 268

(9) Vgl. Hans-Peter Brenner und Leo Mayer. Antworten auf die Fragen der UZ-Redaktion. In "unsere zeit" vom 20.7.11

(10) W. I. Lenin: Der Reformismus in der russischen Sozialdemokratie, in LW 17, S. 219

(11) W. Lenin: "Was tun?", Einzelbroschüre S. 71, Berlin 1970

(12) Ebd., S. 74 f.

(13) Ebd.

(14) Vgl. DKP Südbayern (Fig.): L. Mayer: Krise, Hegemonie und Transformation bei Antonio Gramsci, S. 7

(15) W. I. Lenin: Entwurf und Erläuterung des Programms, in Lenin Werke 5, S. 105

(16) Ebd.

(17) Ebd., S. 105 f.

(18) L. Mayer, a. a. O.

(19) A. Gramsci: Die Partei des Proletariats. In A. Gramsci: Zu Politik, Geschichte und Kultur, Leipzig 1980, S. 115 ff.

(20) K. Dörre /A. Hänel / H. Holst / I. Matuschek: Guter Betrieb, schlechte Gesellschaft? Arbeits- und Gesellschaftsbewusstsein im Prozess kapitalistischer Landnahme. in. C. Koppetsch (Hrsg.): Nachrichten aus den Innenwelten des Kapitalismus. Zur Transformation moderner Subjektivität, Wiesbaden, 2011; S. 21ff.

(21) Ebd., S. 40

(22) Ebd., S. 41

(23) Ebd., S. 36

(24) Ebd., S. 38

(25) A. Gramsci: Einführung in den ersten Kurs der internen Parteischule der KPI (April/Mai 1925), a. a. O., S. 117

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Quelle:
Marxistische Blätter, Heft 5-12, 50. Jahrgang, S. 16-20
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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. November 2012