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MARXISTISCHE BLÄTTER/516: Rückblick auf den Rückblick - 40. Jahrestag des Extremistenerlasses


Marxistische Blätter Heft 2-12

Aufarbeitung und Wiederaufbereitung
Rückblick auf den Rückblick: 40. Jahrestag des "Extremistenerlasses"

von Eva Petermann



"Ein eher stilles Jubiläum" würde der 40. Jahrestag werden, fürchtete Georg Fülberth(1). Doch er sollte sich ausnahmsweise täuschen: Nicht nur, dass linke Zeitungen wie die "UZ" und die "junge Welt" dem Thema breiten Raum gaben. Von der "TAZ" bis zur "FAZ" brachten regionale und überregionale Printmedien sowie Radio- und TV-Sender Interviews, Hintergrundartikel und Kommentare. In der ARD-Tagesschau am 28. Januar kam das DKP-Mitglied Uwe Koopmann mit seinem Berufsverbotsfall zu Wort. Ein Abglanz der damaligen Massenproteste flimmerte in die Wohnzimmer der Republik.

Wie in Frankfurt, Freiburg und Nürnberg, in Bonn und Bremen ging es auf Veranstaltungen vor allem der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) wie auch der DKP auf einmal wieder um ein anscheinend längst vergessenes Kapitel westdeutscher Geschichte. Am 17. März sprachen in Göttingen auf der zentralen Veranstaltung "40 Jahre Radikalenerlass" nicht nur der GEW-Bundesvorsitzende Ulrich Thöne, sondern auch DGB-Vorsitzender Sommer.

Die Wiederbelebung des öffentlichen Interesses ist allerdings nicht nur Grund zu ungeteilter Freude, hängt sie doch u. a. zusammen mit fataler Aktualität und Kontinuität des Problems. Die dreiste Bespitzelung von Dutzenden Bundestagsabgeordneten der "Linken" einerseits und "zugleich das Versagen im Kampf gegen den rechten Terror" vermitteln "das Gefühl, dass der Radikalenerlass ... noch immer wirkt", wie es Klaus Lipps in der "Süddeutschen Zeitung" formuliert. Er ist Mitinitiator des "Aufrufs Berufsverbotsbetroffener" zu diesem Jahrestag (2,3).

Was da "nachwirkt", ist der ungebrochene Jagdinstinkt eines zutiefst unsozialen Systems, das sich auf die Loyalität seiner Bürgerinnen und Bürger zu Recht nicht meint verlassen zu können. Wie zur Zeit der Berufsverbote kommen alle unter staatlichen Verdacht, die diesen kapitalistischen Staat kritisieren und - sei es auch noch so vage - für eine andere, eine sozialistische Gesellschaft kämpfen und sich dabei irgendwie mit Kommunisten gemein machen.

Wie 1972 werden passives Wahlrecht und Parteienprivileg flagrant verletzt. Zudem hat der neuerliche Geheimdienstskandal um die Serienmorde durch Neofaschisten die scheinbar Hooversche Eigenmächtigkeit des Verfassungsschutzes schockartig ins öffentliche Bewusstsein gerückt.

Auch einige bürgerliche Medien konstatierten an diesem 28. Januar eine offenbar chronische Rechts-Blindheit der Herrschenden. Bekanntlich war auch der Ministerpräsidentenbeschluss angeblich gegen linke und rechte "Extremisten" gleichermaßen gerichtet. Die wenigen Berufsverbotsfälle von NPD-Mitgliedern allerdings kann man an einer Hand abzählen. Die "Extremistentheorie" jedoch hat sich von Stund an als propagandistischer Renner erwiesen und schickt sich an, der Totalitarismusdoktrin den Rang abzulaufen.

Zu Recht kam jetzt auch wieder die "Extremistenklausel" der jungforschen Familienministerin Kristina Schröder zur Sprache, mit der sie Zuschüsse von der Unterzeichnung eines (selbst-)denunziatorischen Revers abhängig macht. Der GEW-Bundesvorsitzende Ulrich Thöne übrigens empfahl der CDU-Ministerin Nachhilfeunterricht in Geschichte. Sie solle sich besser "mit der erschreckenden Tatsache befassen, dass gut ein Fünftel der jungen Menschen unter 30 Jahren mit dem Begriff Auschwitz nichts anfangen kann", wie eine soeben publizierte Umfrage festgestellt hat.(4)

Insgesamt lag beim medialen Rückblick der Hauptakzent auf der Massenbespitzelung und Gesinnungsschnüffelei einerseits sowie der schier unerschöpflichen Duldsamkeit staatlicher Behörden gegenüber Neofaschisten andererseits. Nicht wenige Kommentatoren stellten wie Heribert Prantl in der "Süddeutschen Zeitung" "die Daseinsberechtigung des Verfassungsschutzes insgesamt in Frage"(5). Wie im "Aufruf der Betroffenen" wurde die Auflösung dieses unreformierbaren Innen-Geheimdienstes gefordert.

Im Unterschied zu vergangenen Jahrzehnten erheben die Betroffenen in diesem Jahr ihre Stimme nachdrücklicher und mahnender. Eine ähnliche Initiative auf dem Berufsverbote-Kongress in Hamburg im Jahre 2002 verhallte seinerzeit fast ungehört. Auch wenn es die GEW schon damals "für den Rechtsstaat beschämend" fand, dass selbst nach 30 Jahren trotz internationaler Gerichtsentscheidungen "noch immer nicht alle Betroffenen für die durch Berufsverbote entstandenen Einkommens- und Versorgungsverluste entschädigt wurden"(6).

Bei der damaligen politischen Großwetterlage konnten diese Forderungen allerdings kaum auf fruchtbaren Boden fallen. Nach "9/11" hielt die drohende Neuauflage und Verschärfung der "Anti-Terror-Gesetze" das Land in Atem und die Linke weitgehend in der Defensive.

Zehn Jahre danach nun meldeten sich mit über 200 Unterzeichnern mehr als dreimal so viele wie damals in Hamburg zu Wort. Sie wollen Wiedergutmachung und ein öffentliches Schuldbekenntnis dieses Staates. Diese Forderungen haben hier und da durchaus auch Kopfschütteln hervorgerufen im Sinne von "What can you expect from a pig but a grunt?" (altes engl. Sprichwort). Mit anderen Worten: Sind die Betroffenen denn wirklich so naiv, ausgerechnet den kapitalistischen Staat um Gerechtigkeit zu bitten? Dies wohl kaum.

Also? Sie packen die BRD in aller Öffentlichkeit bei ihrem Anspruch, als ordentlicher Nicht-Unrechtsstaat Recht und Gesetz und insbesondere die Menschenrechte zu respektieren. Staatliches Unrecht zu sühnen würde dazugehören. Außerdem nutzen sie den Jahrestag, daran zu erinnern, was die Herrschenden gern verdrängen wollen: Dass das Grundgesetz von seinem Fundament her antifaschistisch ist, ja, in Teilen sogar antikapitalistisch, und dass es gerade nicht ein bestimmtes Wirtschaftssystem vorschreibt. Dass selbst der antiquierte Grundgesetz-Artikel 33 den Staatsbediensteten in keinem Fall ihr Menschenrecht auf Berufsfreiheit und auf eine eigene Meinung nehmen kann.

Vier Jahrzehnte nach Verkündung des "Radikalenerlasses" sind die meisten Betroffenen und ihre Mitstreiter freilich längst im Pensionsalter oder gar bereits gestorben. Es gab nur eine einzige "gerichtsfeste" Rehabilitation und nur eine Handvoll Entschädigungen für die rund 11.000 Lehrer und Hochschullehrerinnen, Briefträger und Lokführer, nicht zu vergessen Richter, Ärzte und Ingenieure etc.

Die Mehrheit der Berufsverbote-Verfahren ging irgendwann mit einer (Wieder-)Einstellung letztlich gut aus; in Zahlen: für rund 80 Prozent. Nicht weniger, aber auch nicht mehr. Bleiben 20 Prozent, die sich beruflich umorientierten, irgendwie durchschlugen oder verschollen sind.

Und die Täter und ihre willigen Amtshelfer in Verwaltung und Justiz? Keiner von ihnen wurde jemals zur Verantwortung gezogen.

Es wird nicht besser dadurch, dass einige Mitstreiter jener Zeit später selbst als "Täter" Prominenz erlangten, allen voran die Menschenrechtskrieger Schröder (SPD) und Fischer (Grüne) im Verein mit dem früheren RAF-Anwalt Schily, aus dessen Feder die berüchtigten "Sicherheitsgesetze" stammen. Vorbei die Zeiten, wo der Juso Schröder sich öffentlich Sorgen machte um die Glaubwürdigkeit seiner SPD.

Allgemein ist festzustellen: Immer wenn es galt, staatlichen Übergriffen ein rechtsstaatliches Mäntelchen umzuhängen, kamen die alten Erlasse, Gesetze und restriktiven Urteile aus der Zeit des "Radikalenerlasses" wieder zum Einsatz.

So musste in den 90ern das unrühmliche erste Grundsatzurteil des Bundesverfassungsgerichts von 1975 herhalten, um den "Säuberungen" nach dem Anschluss der DDR einen seriösen Anstrich zu verleihen. Im Banne der allgegenwärtigen Stasi-Paranoia ließ sich breiter Widerstand eher nicht entwickeln gegen diese "nachholende Kommunistenverfolgung" (wie es Nina Hager in der UZ treffend auf den Begriff bringt)(7).

Auch nach den Anschlägen auf das World Trade Center 2001 war der "Extremistenerlass" zur Hand. Vereinzelt wurden "unzuverlässige" Lehrkräfte in NRW und Sachsen abgestraft, die bei der staatlich verordneten Betroffenheit so nicht hatten mittun wollen. Den Friedensaktivisten und ehemaligen Berufsverbotsbetroffenen Bernhard Nolz traf es dabei zum zweiten Mal(8). Zur gleichen Zeit beorderte die Polizei in Hamburg nicht weniger als 140 arabische Studenten ins Revier. Die Uni-Verwaltung hatte kooperativerweise die Daten von 33.000 ausländischen Kommilitonen an CIA und FBI herausgegeben. Der Überwachungsstaat blähte sich zu bedrohlicher Fettleibigkeit auf.

Im Vergleich dazu wirkt die oft stümperhafte Schnüffelei der 70er Jahre nachgerade harmlos, als gekaufte Subjekte auf Veranstaltungen mitschrieben und bienenfleißig Flugblätter sammelten. Erst recht angesichts heutiger Großprojekte der Herrschenden wie Online-Durchsuchung, Staatstrojaner oder Vorratsdatenspeicherung. Anti-Nazi-Blockierer in Dresden haben einen Vorgeschmack davon erhalten, was alles zur Niederhaltung von Massenprotesten bereitgehalten wird.

Immerhin: Auch die damalige Bilanz kann sich sehen lassen. Qua "Regelanfrage" beim V-Schutz wurden allein zwischen 1971 und 1992 nicht weniger als rund 3,5 Millionen Bewerber "durchleuchtet" und stattliche 35.000 Dossiers erstellt. Diese hält man bescheidener Weise noch heute streng unter Verschluss.

Ironischer Zufall: In diesem Januar jährte sich auch die Öffnung der Archive des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR zum 20. Mal, von der Öffentlichkeit wohltuend wenig beachtet. Mit Stolz verweist die Behörde darauf, dass Anträgen auf Einsicht in die Aktensammlung der DDR-Staatsschützer zumeist recht schnell stattgegeben wurde. Dafür wurden weder Kosten noch Zeit gespart.

In der alten BRD jedoch pochen die Überwachungsopfer in der Regel vergeblich auf das mittlerweile juristisch verbriefte "Recht auf Informationelle Selbstbestimmung". Vielleicht scheut die Behörde nur den Arbeitsaufwand? Man stelle sich vor, wie viele Stellen hier hätten geschaffen werden können, um Aufarbeitung jener Massenbespitzelung zu ermöglichen! Schließlich war doch fast eine ganze Generation junger Akademiker - aber nicht nur sie unter Generalverdacht gestellt worden.

Also: Akteneinsicht für Westdeutsche is nich (mit ganz wenigen Ausnahmen). Noch gibt es Entschuldigungen oder Entschädigungen in nennenswertem Ausmaß.

Unabhängig davon steht fest: Der Widerstand gegen die Berufsverbote war eine der ausdauerndsten Massenbewegungen seit Kriegsende. Und er war alles in allem erfolgreich. Mehr als fünfzehn Jahre harter Auseinandersetzungen brachten schließlich die Berufsverbotepraxis zu Fall. (Bayern folgte 1991 als letztes Bundesland, zumindest offiziell. Die CSU-Regierung dort besteht jedoch nach wie vor auf einer Gesinnungsüberprüfung per Fragebogen, siehe unten.)

Jedoch in welchem Schulbuch, welchem Material zur politischen Bildung finden wir etwas darüber? Wo wurden Zeitzeugen zur Talkshow eingeladen, wie wir dies mit den selbst ernannten Kronzeugen der 68er oder den Helden der RAF-Razzien erlebt haben?

Noch im vorletzten Jahr stellte der 2011 verstorbene Horst Bethge, langjähriger Sprecher der "Initiative gegen die Berufsverbote", fest: Im öffentlichen Diskurs wurde "alles getan, um den Mantel des Verschweigens und Vergessens über die Berufsverbote zu breiten".(9) Dass die herrschenden Meinungsproduzenten keine große Lust hatten, an diese Widerstandserfahrungen zu erinnern, ist nachzuvollziehen. In manchen Rückblicken bürgerlicher Medien findet sich durchaus auch ein Touch von Schlussstrich-Mentalität. Wozu auch nachtragend sein? Haben nicht auch einige der damals Verdächtigten es zu etwas gebracht oder sogar die Karriereleiter erklommen bis hinauf ins Herz der Institutionen? Ende gut, alles gut?

2004 unversehens der Rückfall: Baden-Württemberg (später auch Hessen) verweigerte einem aktiven Antifaschisten die Einstellung, dem Realschullehrer Michael Csaszkóczy. Ein Versuchsballon? Wie reaktionsschnell doch die Solidaritätsbewegung zur Stelle war, allen voran die vorsorglich auf Stand-by geschaltete Hamburger "Initiative gegen die Berufsverbote"! Auf Veranstaltungen und Demos in Heidelberg und Karlsruhe, Heppenheim und Wiesbaden sprach man wieder von den Berufsverboten. Zeitzeugen wie Silvia Gingold und Klaus Lipps waren plötzlich gefragte Redner.

Worum ging es vor 40 Jahren eigentlich genau?

Oft wird vergessen, dass eigentlich alles anfing mit dem Vorwurf der "kommunistischen Indoktrination". Das war geschickt, denn natürlich wollten Eltern ihre wehrlosen Kinder nicht roten Agitatoren aussetzen. Die saßen einstweilen bis zu 40 in einer Klasse, vor der Nase eine überalterte Lehrerschaft und veraltete Schulbücher.

Damit wollten die jungen Akademiker Schluss machen. Die Proteste von den Unis griffen über. Die Rebellion gegen reaktionäre Inhalte und Strukturen allerorten wurde zum Massenphänomen. Die Strafe folgte auf dem Fuße, wie Zwangsversetzungen oder andere Disziplinierungen kritischer Pädagogen.

Dabei stützte man sich auf ein vordemokratisches Beamtenrecht, das europaweit ein Unikum darstellt. Inzwischen wurde es zwar modernisiert, nicht jedoch abgeschafft.

So hatte ein junger Lehrer in Hamburg-Bergedorf u. a. einen Schülerzeitungsartikel über Sexualaufklärung mit unterzeichnet. Ende 1970 wurde der Lehramtsanwärter Bernhard Laux nicht eingestellt, wegen Zusammenarbeit mit DKP-Mitgliedern. Die Fälle häuften sich; mindestens 150 (registrierte!) Berufsverbotsfälle kommen allein in Hamburg zusammen.

Mit dem Schlachtruf "Kommunistische Indoktrination" versuchten in konzertierter Aktion Schulbehörden, Kultusministerien und allen voran die Konzernpresse das Heft wieder in die Hand zu bekommen, koste es, was es wolle.

Für sie ging es ja ums Eingemachte: Hochschulen und Schulen hatten und haben strategische Bedeutung bei der Ideologieproduktion. Die Staatsdoktrin Antikommunismus alias Totalitarismus-Doktrin kann Marxisten nicht dulden. Überhaupt wirken zu viele Kriegsdienstverweigerer und Antifaschisten oder andere systemkritische Köpfe nur störend bei der systemkonformen Konditionierung des Nachwuchses. (Heute setzt man da mehr auf Leistungs- und Stoffdruck sowie auf freiwillige Anpassung aus Angst vor Arbeitslosigkeit, flankiert von attraktiven Angeboten der Bundeswehr - doch das ist ein Kapitel für sich.)

In der Justiz, die später eine Schlüsselrolle spielte bei den Berufsverbotsprozessen, sah es nicht besser aus: In großen Scharen waren bekanntlich seit den 50ern ehemalige Nazis wieder in den Staatsapparat eingerückt. Einer davon war der frühere NS-Staatsanwalt Geiger(10). Er durfte sich im Bundesverfassungsgericht als Hüter der "wehrhaften Demokratie" profilieren.

Aber hatte nicht die Regierung Brandt 1969 "mehr Demokratie zu wagen" und eine "Öffnung" zu den sozialistischen Ländern versprochen? Nur ein Jahr nach feierlichem Empfang des Nobelpreises stand der SPD-Bundeskanzler am 28. Januar 1972 in Hamburg Pate, als der schändliche Ministerpräsidentenerlass aus der Taufe gehoben wurde. Wieder einmal hatte sich die SPD als Büttel hergegeben. Brandts und anderer spätere Reue ("mein größter Irrtum") konnte dies nicht ungeschehen machen. Auch nicht, dass schließlich die eigenen Parteimitglieder in den verfassungswidrigen Strudel gerieten.

Mit dem sogenannten "Radikalenerlass" sollte die Berufsverbote-Praxis gegen DKP-Mitglieder und fortschrittliche Kräfte insgesamt vereinheitlicht und legitimiert werden. Damit war das Parteienprivileg ausgehebelt und die DKP de facto nur noch halblegal. (Wenn es nach dem Kommunistenfresser Strauß und der CSU gegangen wäre, wäre sie gar nicht erst wieder zugelassen worden; wie auch heute Vertreter dieser Partei erneut mit Verbotsdrohungen, diesmal gegen "Die Linke", hantieren.) Reisen in "Ostblockländer" wie die DDR oder in die Sowjetunion waren von da an ein Berufsverbotsgrund neben anderen.

Was für eine Schizophrenie - nach außen Entspannung, nach innen Unterdrückung der Opposition! Nein: Es drohte der bewährte Erzfeind Kommunismus attraktiv zu werden als reale Alternative. Die Welt erlebte einen bis dahin nicht gekannten Aufschwung revolutionärer Bewegungen rund um den Globus.

Auch in Westdeutschland befanden sich nicht nur junge Menschen im Aufbruch; begleitet von heftigen Streikwellen in den Betrieben. Die DKP und die 1968 neu gegründete SDAJ machten von sich reden wie auch seit 1971 der Marxistische Studentenbund Spartakus. Die Herrschenden im Verbund mit dem Großkapital waren nicht gewillt, der "roten Unterwanderung" tatenlos zuzusehen. Sie bereiteten sich darauf vor, die angesichts der Verschärfung der Krise zunehmenden Klassenauseinandersetzungen rigoros abzuwürgen.

Durchaus nicht ungelegen kamen den Herrschenden dabei die Anschläge der ebenfalls zu dieser Zeit (1970) gebildeten "Roten Armee-Fraktion" (RAF).

Der "Kampf gegen die Terroristen" erwies sich schon damals als propagandistisches Geschenk.

Der sozialdemokratische Ministerpräsident von NRW, Heinz Kühn, beschwor die Schreckensvision einer Schule mit "Ulrike Meinhof als Lehrerin, Andreas Baader als Polizist" einzusteigen. (Leider mochten auch die Verfasser des ansonsten ausgesprochen fairen Beitrags in der "Tagesschau" am 28.1. (produziert vom WDR) auf dieses demagogische Zitat als Einstieg nicht verzichten.)

Auch Silvia Gingold bekam 1977 ungebetenen Besuch vom Staatsschutz. Anonymen Hinweisen zufolge sei die Terroristin Juliane Plambeck bei ihr untergeschlüpft. Silvia Gingold konterte mit einem Nachbarschaftsbrief: "Eine solche Hexenjagd charakterisiert eine Atmosphäre in unserem Land, die es ermöglicht, dass unter dem Vorwand der Terroristenbekämpfung und -verfolgung demokratisch engagierten und unbescholtenen Bürgern ... die Polizei auf den Hals gehetzt wird."(11) Die Entlassung dieser jungen Lehrerin hatte besondere Empörung ausgelöst, da ihre Familie von den Nazis verfolgt bzw. ermordet worden war. Grund genug offenbar für intensive Bespitzelung: Seit ihrem 17. Lebensjahr hatte der V-Schutz Tochter Silvia im Visier.

Welche "Vergehen" in ihrem wie in tausenden anderer Fälle registriert wurden, ist hinlänglich bekannt. Manchmal war besonders Absurdes darunter: zum Beispiel eine Hochzeitsanzeige in der UZ (Zeitung der DKP), die der Braut (Jungdemokratin) eine Vorladung zum Verhör einbrachte.

Im Kern ging es um die Frage der Organisierung und um die Nähe zu den Kommunisten (nicht zuletzt zu den Kommunisten in den sozialistischen Ländern!): Mitgliedschaft in der DKP, im MSB Spartakus, im Sozialdemokratischen Hochschulbund (SHB), in der DFG-VK, der VVN/BdA sowie in Friedensinitiativen oder christlichen Solidaritätsgruppen, im KBW - allem, was sich als links verstand. Auch Mitglieder von FDP und SPD traf es. Allein in Nürnberg kam es zu mindestens fünf Berufsverbotsverfahren gegen junge Sozialdemokraten, da sie auf der Bündnisliste des MSB Spartakus "Für gewerkschaftliche Orientierung" kandidiert hatten. Wer sich dann Seit' an Seit' mit Kommunisten in Berufsverbote-Initiativen engagierte, lief Gefahr, ebenfalls in den Überprüfungsmühlen zu landen. Und wieder die Schizophrenie der SPD: SHB-Mitglieder saßen bei der Anhörung im Schulamt unter Umständen den eigenen Genossen gegenüber.

Sie alle, diese bunte Truppe aufrechter Demokraten, boten angeblich "nicht die Gewähr, jederzeit für die freiheitliche demokratische Grundordnung einzutreten", so die Standardformel, die Franz Josef Degenhardt in seinem Lied "Belehrung nach Punkten" treffend karikiert hat(12). Der im letzten Jahr verstorbene Liedermacher übrigens war selbst betroffen. Wie andere fortschrittliche Künstler, darunter Dietrich Kittner, Hannes Wader und Dieter Süverkrüp, wurde er jahrelang von Hörfunk und Fernsehen ignoriert und boykottiert. Nicht alle Künstler vermochten dem massiven, nicht nur ihre künstlerische Existenz bedrohenden Druck standzuhalten und verließen die DKP.

Den BewerberInnen für den öffentlichen Dienst blieb wenigstens der Klageweg, meist mit der Unterstützung ihrer Gewerkschaft. Es soll aber nicht verschwiegen werden, dass es seit 1973 in der Gewerkschaft wieder einmal "Unvereinbarkeitsbeschlüsse" gab. Ursprünglich zur Abwehr von NPD-Mitgliedern gedacht, wurden sie nunmehr angewandt gegen "Linksextremisten". Mitglieder maoistischer Gruppierungen erhielten in der Regel keinen Rechtsschutz. Interessanterweise nahm die GEW-Autorin Helga Ballauf den 40. Jahrestag zum Anlass, die Rolle der damaligen GEW-Spitze "als verlängerter Arm des Staates" zu kritisieren und eine innergewerkschaftliche Aufarbeitung zu fordern.(13)

Unabhängig von alledem ist nicht zu bestreiten, dass ohne die finanzielle und juristische Solidarität auch der Gewerkschaften die Prozesse kaum durchzustehen gewesen wären, zumal diese sich in kafkaesker Manier dahinschleppten, im Extremfall bis zu 22 Jahren. (Der eigens gegründete Heinrich-Heine-Fonds konnte wenigstens in ganz akuten finanziellen Notfällen einspringen.)

Rechtsanwälte und Soli-Komitees arbeiteten nicht selten an den Grenzen der Belastbarkeit, ganz zu schweigen von den Betroffenen und ihren Familien selbst (vgl. Hans-Peter de Lorent)(14). Einige haben sich ihr Leben lang davon nicht erholt wie z. B. der früh gestorbene Postbeamte Hans Peter, der nicht nur gefeuert, sondern dem obendrein die Pension aberkannt wurde, trotz aller Proteste.

Trotz anfänglicher juristischer Misserfolge gewann die Bewegung überall im Land an Breite, bis hin zu den DGB-Gewerkschaften, die ihren Kurs mehr oder weniger stillschweigend änderten. Berufsverbote-Komitees organisierten Veranstaltungen, Demos, Protestresolutionen und Petitionen. Es galt nicht zuletzt, das Angst-Klima aus Einschüchterung und Duckmäusertum zu durchbrechen.

Ganze Schulgemeinden - Kollegien, Elternschaft, Schülerschaft - solidarisierten sich. Das Thema beherrschte zeitweilig die Lokalzeitungen (vgl. Friedrich Konrads Autobiografie)(15). An den Unis, auf Kongressen, bei internationalen Meetings - auch von Seiten einiger Großbetriebe hagelte es Proteste.

Mitglieder der bürgerlichen Parteien machten ihren Parteiführungen Druck. Mehr und mehr Menschen schlossen sich an, die sich vorher nie viel um Politik geschert hatten. Sie sahen die Demokratie selbst in Gefahr.

Was 1978 wie Zweckoptimismus geklungen hatte, wurde zur unübersehbaren Realität: Die Berufsverbote-Bewegung entfaltete sich "zur mächtigsten demokratischen Bewegung in der Geschichte der Bundesrepublik", wie von Hans-Joachim Kahl erhofft.(16)

Und dies zeitigte auch anderweitig (mit einem neudeutschen Wort ausgedrückt) synergetische Wirkung: Die Politisierungswelle strahlte aus auf weitere Massenproteste, die sich gegenseitig beflügelten. Denken wir nur an die sich ausbreitende Anti-AKW-Bewegung oder an den Kampf gegen die Stationierung der Mittelstreckenraketen. 400.000 demonstrierten 1982 im Bonner Hofgarten ...

Trotz alledem mussten mehr als fünfzehn Jahre vergehen, bevor ein Bundesland nach dem anderen Einstellungen anbot (zumeist nur auf Angestelltenbasis); als erstes 1985 das Saarland mit Oskar Lafontaine an der Spitze. Andere SPD-Länder folgten, wie z. B. die neu gewählte SPD-Grüne-Koalition in Hessen.

Den Ausschlag gaben möglicherweise die Proteste aus dem Ausland bis hinein in die ILO und die UNO. "Le Berufsverbot" drohte sich zum diplomatischen Dauerärgernis auszuwachsen. Auf KSZE-Konferenzen war es nun zur Abwechslung die Bundesregierung, die sich rechtfertigen musste. Hatte sie sich dort nicht verpflichtet zur "Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten, insbesondere der Gedanken- und Gewissensfreiheit, der Religionsfreiheit und der Freiheit der Überzeugung"?(17)

Den juristischen Schlusspunkt setzte 1995 das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zugunsten von Dorothea Vogt, das die Berufsverbote-Praxis als Verstoß gegen die Europäische Menschenrechtscharta wertete. Die Lehrerin erstritt mit Gerhard Schröder(!) als Rechtsbeistand an der Seite ihre Rehabilitierung sowie eine finanzielle Wiedergutmachung. Von dem Urteil danach konnten noch einige Postler profitieren; anschließend jedoch klappten die Richter die Entschädigungskasse zu: Weitere Klagen wie die des Philosophen Wolf Dieter Gudopp von Behm ließen sie nicht mehr zu.

Es fällt auf, dass trotz dieses europaweit registrierten Urteils der Staat BRD keinen Grund sah, den Ministerpräsidentenerlass und seine Ausführungsbestimmungen in aller Form außer Kraft zu setzen. (Eine Ausnahme stellen das Saarland und - seit Januar - der Stadtstaat Bremen dar.) Wiederholtes Nachhaken seitens der Bundestagsfraktion der "Linken" wurde geflissentlich übergangen. Der (parteilose) Völkerrechtler Norman Paech (ehem. MdB) hatte vergeblich das Gedächtnis der SPD aufzufrischen versucht. Diese hatte nämlich ausgerechnet 1990 - am Vorabend der Massenentlassungen gegen SED-Mitglieder etc.! - hoch und heilig versprochen, die mit dem Kalten Krieg verbundenen Straf- und Disziplinarverfahren zu einem befriedigenden Abschluss zu bringen.(18)

Diese Ignoranz nährt den Verdacht, dass man die Karte Berufsverbot vorsorglich in der Hinterhand halten möchte (ähnlich wie das KPD-Verbot).

Darauf deutet auch ein Fall von versuchtem Ausbildungsverbot im Sommer letzten Jahres in Nürnberg (Bayern) hin sowie möglicherweise ein Fall in München (Bayern) von Anfang Februar.(19)

Eine ähnliche Haltung legten auch CDU/CSU, FDP wie auch SPD in der halbstündigen Bundestagsdebatte zu der neuesten Anfrage der "Linke"-Fraktion zu Aufarbeitung und Rehabilitierung etc. am 9. Februar diesen Jahres an den Tag.

Nur die "Linke" selbst und die "Grünen" votierten für Aufarbeitung und Wiedergutmachung. Den Vogel schoss Helmut Brandt (!) von der CDU ab: "Pläne zur Systemüberwindung" seien nach wie vor "mit dem Verhältnis eines Beamten zum Staat nicht vereinbar". Denn: "Die Morde der Zwickauer Zelle zeigen doch gerade, dass auch aus heutiger Sicht die Forderung nach einer wehrhaften Demokratie aktueller denn je ist."(20) Zu solch argumentativen Höhenflügen führt offenbar die hermetische Beschäftigung mit der "Extremismustheorie".

Demnach wären dann auch die flächendeckende Handy-Speicherung der Antinazi-Demonstranten in Dresden wie auch das Berufsverbot gegen den Heidelberger Antifaschisten Michael Csaszkóczy 2004 geradezu zwingend geboten!

Nun gehört dieser "Extremist" Michael zu den Initiatoren des "Aufrufs der Betroffenen"; er ist der Jüngste unter ihnen. In seiner Schule jedoch schon nicht mehr: Die neue Generation, Kinder der "Kohl-Ära", haben auch bundesweit endgültig den Generationenwechsel eingeleitet. Kann sein, dass manchen von ihnen zu "Berufsverbot" erst einmal die Sperrung eines Radfahrprofis einfällt und zu "Freiheit" und "Revolution" vor allem "Mauerfall" und "Wiedervereinigung".

Das muss aber nicht so bleiben. Die Berufsverbote-Bewegung der 70er ist ein hervorragendes Beispiel dafür, dass die Rechnung der Herrschenden bei aller medialen Gehirnwäsche beileibe nicht immer aufgeht. Dass Solidarität siegen kann.

Am 14. Juni tagt in Berlin die diesjährige Ministerpräsidentenkonferenz. Es liegt nahe, dass die Initiatoren des "Aufrufs" dabei nicht fehlen wollen. Kaum eine bessere Gelegenheit ließe sich denken, die damalige Fehlentscheidung in aller Form zu revidieren und wiedergutzumachen. Als Gedächtnisstütze wollen sie der Kanzlerin eine möglichst lange Unterschriftenliste überreichen, vor den Augen der Berliner und der (Welt-)Öffentlichkeit. Ob die Kanzlerin sich wohl traut, sie persönlich entgegenzunehmen?


Eva Petermann, Hof (Saale), Lehrerin


Fußnoten

(1) Georg Fülberth: Staatliche Feindproduktion. In: jw Nr. 24, 28/29.1.2012, S. 10/11

(2) Rubelseheine im Lehrerzimmer, in: Süddeutsche Zeitung vom 28./29.1.2012, Nr. 23, S. 5

(3) "Aufruf zum 40. Jahrestag" www.gegen-berufsverbote.de

(4) Pressemitteilung der GEW anlässlich des 40. Jahrestages des "Radikalenerlasses" vom 28.1.2012

(5) Heribert Prantl: Hilfe, der Verfassongsschutz! a.a.O. S. 4

(6) Pressemitteilung des GEW-Bundesvorstands vom 28. Januar 2002

(7) Nina Hager: Kommunistenverfolgung in Europa, UZ vom 20.1. und 27.1.2012

(8) Pädagoginnen und Pädagogen für den Frieden: Der Fall des Lehrers Bernhard Nolz, Februar 2001; LIT-Verlag, Münster

(9) Horst Bethge: Zum 38. Jahrestag - Die Bundesrepublik ein Unrechtsstaat? 2009;
www.berufsverbote.de/docs/hh-bethge.html

(10) Joachim Kahl u.a. Hg.: Etty, Peter und Silvia Gingold - Porträt einer Familie: Köln 1978, S. 38

(11) Ders. a.a.O. S. 91

(12) Franz Josef Degenhardt: Belehrung nach Punkten: in: Mit aufrechtem Gang, Polydor 1975; siehe auch: Befragung eines Kriegsdienstverweigerers (1972!) in: Mutter Mathilde, Polydor 1973

(13) Helga Ballauf: "Bis heute eine offene Flanke", in: "G & W", Zeitung der Bildungsgewerkschaft GEW, Nr. 2/2012. S. 34/35

(14) Hans-Peter de Lorent: Die Hexenjagd. Dortmund 1980

(15) Friedrich Konrad: Der Fall F. Konrad. Altdorf 2011, Eigenverlag

(16) Joachim Kahl u.a., a.a.O., S. 92

(17) Faktisch legten die kapitalistischen Teilnehmerstaaten einschließlich der Bundesregierung von Helmut Schmidt (SPD) den sog. Korb 3 der gemeinsam unterzeichneten KSZE-Schlussakte bekanntlich von vornherein nur so aus, als gehe es nur um die Menschenrechte, insbesondere um die "Dissidenten" in der DDR und der Sowjetunion etc.

(18) vgl. Pressemitteilung vom 28.1.2007; vgl. auch die Anfrage der "Linken"-Fraktion im niedersächsischen Landtag, UZ vom 20.1.2012

(19) jW vom 1.2.2012, S. 1

(20) Drucksache des Deutschen Bundestages 17/8502; 17/83 76

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Quelle:
Marxistische Blätter, Heft 2-12, 50. Jahrgang, S. 23-30
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veröffentlicht im Schattenblick zum 26. Mai 2012