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MARXISTISCHE BLÄTTER/486: Revolutionen in Nordafrika - Zusammenhänge, Perspektiven


Marxistische Blätter Heft 3-11

Revolutionen in Nordafrika - Zusammenhänge, Perspektiven

Von Georg Polikeit


Seit Anfang dieses Jahres ist das Wort "Revolution" auch in den bürgerlichen Medien wieder in Gebrauch gekommen, zumeist sogar mit positivem Unterton. Kann man das als ein Symptom für einen neuen Trend in der heutigen Weltentwicklung ansehen?

Noch im November 2010 hätte niemand vorhersagen wollen, dass das Frühjahr 2011 durch eine Welle von Revolten in den nordafrikanischen und arabischen Staaten gekennzeichnet sein wird, die die etablierte kapitalistische Weltordnung erschüttern.

Vorbei also die Zeit, da uns das Weltsystem des globalisierten Kapitalismus als das beste aller Zeiten und als das "Ende der Geschichte" präsentiert werden konnte. Revolutionen gehören offenkundig wieder und immer noch zur gesellschaftlichen Realität von heute. Die Realität des globalisierten Kapitalismus, die Widersprüche einer vom Imperialismus beherrschten Welt führen auch heute noch zu elementar aufbrechenden revolutionären Situationen.

Und vorbei auch die Zeit, da man uns mit dem Verweis auf den Fehlschlag der sozialistischen Revolutionen im 20. Jahrhundert erzählen konnte, Fortschritte in der gesellschaftlichen Entwicklung seien künftig nur noch schrittweise, auf dem evolutionären Weg von Reformen zu erreichen. Der sozialdemokratische Reformismus hat nirgendwo in der Welt zu den versprochenen Zielen geführt. Aber Revolutionen sind auch heute noch machbar - offensichtlich auch erfolgreich machbar. Das können uns die Entwicklungen in Nordafrika wieder neu ins Bewusstsein rufen.

Hervorzuheben ist der außergewöhnliche Mut, die Standhaftigkeit und Ausdauer, mit denen Millionen Menschen in Tunesien und Ägypten tage- und wochenlang immer wieder auf die Straße gingen, auf besetzten Plätzen ausharrten, sich durch Drohungen und brutale Repression nicht einschüchtern ließen. Besonders hervorzuheben ist dabei die Rolle junger Menschen und ganz besonders die Rolle der Frauen. Von der Courage und der Ausdauer dieser Araberinnen und Araber könnten wir in Europa durchaus noch etwas lernen.

Das gilt auch dann, wenn gegenwärtig noch nicht genau abzusehen ist, was aus den aufgebrochenen Revolten und revolutionären Situationen letzten Endes werden wird. Das heißt, ob daraus tatsächlich Revolutionen im Sinne einer tiefgehenden Umgestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse, hervorgehen werden.


Dreifache Manipulation

Dennoch muss natürlich sofort festgehalten werden, daß die Darstellung in den bürgerlichen Medien manipulativ ist.

Sie zeichneten fast alle das Bild einer plötzlich aufgetretenen Welle von arabischen Volkserhebungen gegen dort regierende despotische und korrupte Regimes. Und das einzige, was diese Menschen dort wollen, scheint die Einführung einer "Demokratie" nach europäischem oder US-amerikanischem Vorbild zu sein.

Das ist gleich eine dreifache Irreführung. Erstens stimmt es nicht, dass es eine relativ gleichartige Welle von Aufständen in den nordafrikanischen Staaten gab. Natürlich gibt es ähnliche Erscheinungsformen und gleichartige Ursachen für die Proteste, von Jemen und Bahrain bis Marokko und Algerien. Die Erfolge in Tunesien und Ägypten haben in der ganzen Region stimulierend gewirkt. Sie halfen, Angst und Resignation zu überwinden.

Dennoch sind die wirtschaftlichen und sozialen Situationen wie auch die jeweiligen innenpolitischen Kräfteverhältnisse, die Ziele und Anliegen der jeweils handelnden Kräfte sehr unterschiedlich. Dementsprechend weisen auch Ausmaß, Ablauf und bisherige Ergebnisse dieser Bewegungen große Unterschiede auf. Sie einfach alle über einen Kamm zu scheren, dient nicht der Aufklärung.

Zweitens werden mit dem Bild von gleichgearteten "Demokratie-Bewegungen" die ökonomisch-sozialen Hintergründe und die weltpolitischen Zusammenhänge dieses Aufbegehrens ausgeblendet. Es wird so getan, als ob die autoritären Regimes, die gestürzt wurden oder mindestens ins Wanken gerieten, eine regionale Besonderheit der arabischen Welt seien. Vielleicht gar das Ergebnis ethnischer Veranlagung oder religiöser Orientierung, einer angeblichen "orientalischen Mentalität" - eine Darstellung mit deutlich rassistischen Untertönen. Das dient der Vertuschung der Frage, wie diese arabischen Despoten denn tatsächlich an die Macht kamen und welche exzellenten Beziehungen sie noch bis vor kurzem mit den Zentren der kapitalistischen Welt unterhielten.

Drittens wird im Unterbewusstsein der europäischen Adressaten die Vorstellung geschürt, dass wir in der "westlichen Welt" unter geradezu idealen demokratischen Verhältnissen leben und unsere Art von Demokratie zum Modell und Exportartikel für die übrige Welt werden muss. Dabei wissen wir doch - darüber diskutieren ja nicht nur Linke, das ist auch Thema bürgerlicher Talkshows - wie es in Wahrheit um diese "westliche" Demokratie und ihre offensichtlichen Mängel steht: die gravierende Kluft zwischen Volksmeinung und Handeln der Regierenden, wachsende Politikverdrossenheit, zunehmende Nichtwählerzahlen, anwachsender Rechtsextremismus als Mittel zur Desorientierung der Unzufriedenen, zunehmende Einschränkungen demokratischer Rechte und Freiheiten, Angriffe auf das Demonstrations- und Streikrecht, Ausbau der Bürgerüberwachung durch Geheimdienste, Exzesse staatlicher und privater Datenerfassung, in vielen EU-Staaten ein erkennbare Trend zu zunehmend autoritäreren Formen der Machtausübung.


Krise des Aufzwingens neoliberaler Programme

In Wahrheit haben die nordafrikanischen Volksbewegungen ihre Wurzeln nicht allein im Mangel an demokratischer Freiheit. Ihre eigentliche Kernursache ist, dass für Millionen Menschen die täglichen Lebensverhältnisse immer unerträglicher geworden sind.

Auf der einen Seite eine kleine Schicht von einheimischen Geschäftemachern und Politikern, die sich in enger Symbiose mit dem Auslandskapital die Naturreichtümer und die Früchte der einheimischen Arbeit unter den Nagel reißen und immer größere Vermögen auf ihren Privatkonten im Ausland anhäuften. Auf der anderen Seite zunehmende Arbeitslosigkeit, steigende Lebensmittelpreise und Lebenshaltungskosten, wachsende Armut, Pauperisierung immer größer werdender Teile der Bevölkerung, keine Jobs und fehlende Zukunftschancen für die große Masse der jungen Menschen.

Dass dieser Widerspruch großen Teilen der Bevölkerung und vor allem der Jugend bewusst wurde und diese sich mit diesem Zustand nicht mehr länger abfinden wollten, war der entscheidende Antrieb für die Entwicklung und auch für die anhaltende Hartnäckigkeit und Ausdauer dieser Bewegungen.

Aber die sozialen Probleme Nordafrikas sind natürlich nicht allein hausgemacht. Sie haben ihre Quelle in der neokolonialen Art und Weise, mit der diese Länder in den letzten Jahrzehnten in die kapitalistische Weltwirtschaft "integriert" worden sind. Es sind die Folgen des neokolonialen Ausbeutungssystems, dem diese Länder unterworfen wurden, die die Menschen in die Aktionen trieben.

Ich halte es deshalb, was die Ursachen und Hintergründe der Revolten in Nordafrika angeht, mit dem Generalsekretär der Kommunistischen Partei Südafrikas, Blade Nzimande. Er hat in einer Betrachtung zu den Vorgänge in Tunesien und Ägypten schon sehr früh darauf hingewiesen, dass diese Entwicklungen nicht getrennt werden können von den globalen Krisenerscheinungen des Kapitalismus. Er nannte das Aufbegehren der Massen einen "Ausdruck der sich vertiefenden Krise des Kapitalismus und seiner derzeitigen neoliberalen Ideologie". Es handle sich um eine "Krise des Aufzwingens neoliberaler Ideen und Programme unter Mitwirkung der heimischen Eliten", sagte er, denn gerade Ägypten und Tunesien waren zuvor immer als Beispiele des Erfolgs neoliberaler Wirtschaftsrezepte gefeiert worden(1).


Warum gab es die despotischen Regimes?

Die meisten nordafrikanischen Länder haben erst in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts ihre nationale Unabhängigkeit erreicht. Das war das Ergebnis eines oft jahrzehntelangen antikolonialen Befreiungskampfes. Sie gehörten danach zur großen Gruppe der "Blockfreien", deren Politik in der damaligen weltpolitischen Situation objektiv antiimperialistischen Charakter hatte. Das verband sich im Inneren dieser Staaten mit Prozessen der Nationalisierung wichtiger einheimischer Wirtschaftssektoren und mit einer starken staatlichen Förderung sozialer Infrastrukturen und dem Aufbau eines nationalen Bildungswesens. Einige Staaten proklamierten eine nationaldemokratische, manche sogar eine sozialistische Entwicklungsperspektive. Die Revolution von 1952 in Ägypten unter Gamal Abdel Nasser war dafür ein starker Anstoß und Beschleuniger.

Doch ab den 70er Jahren gelang es den imperialistischen Hauptmächten dann zunehmend wieder, über den Ausbau ökonomischer Abhängigkeiten und durch intensive ideologische Einflussnahme diese Entwicklungen abzubremsen und schließlich umzukehren. Durch den Zerfall der Sowjetunion und der anderen sozialistischen Staaten Europas wurde dies stark beschleunigt.

Statt einer unabhängigen ökonomischen Entwicklung entsprechend den nationalen Interessen wurden die Staaten Nordafrikas wieder in die imperialistische Weltordnung und in die kapitalistische Weltwirtschaft "eingegliedert". Sie wurden den "Ratschlägen" und vielfach dem nackten neoliberalen Diktat der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds unterworfen. Diese zwangen sie zur Öffnung ihrer Märkte" und zur neoliberalen "Strukturanpassung", was mit umfassenden Privatisierungen verbunden war. So gerieten diese Länder in die Rolle einer von den Zentren des Imperialismus abhängigen Peripherie als bloße Rohstofflieferanten und Billiglohnländer, als "verlängerte Werkbank" für die Zulieferer- und Montagefilialen der großen europäischen und amerikanischen transnationalen Konzerne.

Und genau dies war auch die Entstehungsgeschichte der reaktionären despotischen Regimes. Diese Regimes wurden gebraucht, um anstelle der früheren nationalen Befreiungsperspektive die Unterwerfung unter imperialistische Rohstoff- und Profit- sowie globalstrategische Stützpunktinteressen durchzusetzen. Diesen Interessen dienten die reaktionären Regimes als Statthalter, wofür sie von den imperialistischen Großmächten jahrzehntelang gern auch mit Geld und Waffen unterstützt wurden.


"Facebook-Revolutionen"?

Bemerkenswert ist, dass die Volkserhebungen nicht zuerst in den ärmsten Ländern Afrikas aufbrachen, sondern in den ökonomisch etwas weiter entwickelten nordafrikanischen Staaten. Gerade durch die etwas stärkere ökonomische Entwicklung war dort eine größere Schicht von jungen Menschen mit guter Ausbildung entstanden, die unter den Bedingungen der abhängigen neokolonialen Entwicklung in ihrer Heimat keine Arbeitsplätze und keine lebenswerte Zukunft fanden. Diese Schicht verfügte auch über entsprechende Kenntnisse der Internetnutzung. Damit spielte sie bei der Auslösung der Massenproteste eine initiierende Rolle.

Aber es ist dennoch falsch, von "Facebook-Revolutionen" zu reden. Denn allein wären diese jungen Leute auch mit allen Kenntnissen der modernen Handy- und Internetnutzung nicht in der Lage gewesen, sich durchzusetzen. Erst die Verbindung ihrer "Initialzündung" mit der generellen Unzufriedenheit der Arbeiterklasse und der übrigen unteren Bevölkerungsschichten, die teilweise schon in den Jahren zuvor in großen Streiks und anderen Aktionen ihren Ausdruck gefunden hatte, brachte die tagelang anhaltenden Massendemonstrationen von Millionen zustande, die schließlich den Sturz der Regimes in Tunesien und Ägypten erzwangen.


Der Fall Libyen

Einen ganz anderen Verlauf nahmen die Ereignisse in Libyen.

Ich schließe nicht aus, dass es auch in Libyen anfänglich ähnliche Ausgangspunkte für Unzufriedenheit und Proteste wie in den Nach­barstaaten gab. Und es stimmt, dass das Gaddafi-Regime darauf mit brutaler Gewalt reagierte.

Aber im Unterschied zu Tunesien und Ägypten wurde daraus kein das ganze Land umfassender Massenaufstand. Es gab keine Millionenaufmärsche von Protestierenden in der Hauptstadt Tripolis und auch nicht in Bengasi, wo sich später der "Nationale Übergangsrat" als selbstenannte Führungsgruppe der Aufständischen präsentierte.

Stattdessen entstand aus lokal begrenzten Unruhen sehr schnell ein bewaffneter Kampf zwischen Gruppen von Aufständischen und der Gaddafi-Armee um die Beherrschung einzelner Städte und Regionen, vor allem der ostlibyschen Ölregion - ein deutlich in regionalen Abgrenzungen verlaufender Bürgerkrieg. Dabei spielten alte Stammes- und Clan-Strukturen offenbar, wie auch in westlichen Medien zu lesen war, eine maßgebliche Rolle(2).

Der so entstandene Bürgerkrieg wies somit ganz ähnliche Merkmale und einen ganz ähnlichen Verlauf auf, wie er auch in anderen afrikanischen Staaten südlich der Sahara in den letzten Jahren schon häufiger zu verzeichnen gewesen war, zuletzt beispielsweise in Nigeria oder Côte d'Ivoire.

Und es ist wohl auch kein Zufall, dass die "Aufständischen" im Osten Libyens, der Cyrenaika, unter der Fahne der früheren Monarchie von König Idris, dem einstigen Oberhaupt des islamischen Senussi-Ordens, ins Gefecht zogen. Dieser war 1951 von der britischen Kolonialmacht als pro-britischer Statthalter zum libyschen König gemacht worden, als das Land in die formelle Unabhängigkeit entlassen werden musste. Er war 1969 von der Gruppe der Offiziere um Gaddafi gestürzt worden(3). Es lässt sich nicht behaupten, dass die Wiederverwendung dieser Fahne eine tiefe Verankerung von demokratischen Überzeugungen und Traditionen in den Reihen der "Rebellen" erkennen lassen würde.


Dialog nicht erwünscht

Einen deutlichen Unterschied gab es von Anfang an auch in der Haltung der westlichen Regierungen. Die Demonstranten in Tunesien und Ägypten waren während der Höhepunkte der Auseinandersetzung von den westlichen Metropolen immer wieder zu friedlichem Verhalten und zum "Dialog" mit den jeweils herrschenden Machthabern angehalten worden. Im Fall Libyen war von einer westlichen Aufforderung zum "Dialog" mit dem bestehenden Regime nichts zu hören. Ganz im Gegenteil: Washington, Brüssel, Paris, London und Berlin ermunterten von Anfang an offen zum Sturz Gaddafis mit bewaffneter Gewalt und erklärten dies auch zu ihrem eigenen Ziel.

Deshalb hatten Initiativen wie die des venezuelanischen Staatspräsidenten Chávez, der eine aus Vertretern mehrerer Staaten gebildete Vermittlungsmission nach Libyen schicken wollte, um eine rasche Beendigung der Kämpfe und eine friedliche Regelung der Probleme zu erreichen, keine Chance - ebenso wenig wie der gleichgeartete Vermittlungsversuch der Afrikanischen Union(4).

Man kann das Gaddafi-Regime gewiss schon seit einigen Jahren nicht mehr als ein "Leuchtfeuer des Fortschritts" oder eine Bastion des Antiimperialismus ansehen. Die Verfolgung von Kritikern, die Gleichschaltung der Menschen in einem System ideologischer Indoktrinierung mit penetrantem Personenkult sind nur die Begleiterscheinungen einer "Wende", die deutlich macht, dass die Jahre seines Engagements für einen "arabischen Sozialismus" und einen antiimperialistischen Kurs in der Weltpolitik seit langem vorbei sind. 1999 hatte er seinen Frieden mit Washington gemacht. Parallel dazu schwenkte er zunehmend auf einen Kurs der Öffnung Libyens für ausländische, insbesondere europäische und später auch US-amerikanische Konzerne ein, was mit der Privatisierung libyscher Staatsunternehmen verbunden war. Ab 2004 ließ er sich von der EU zum Büttel für die "Festung Europas" beim Einfangen afrikanischer Flüchtlinge schon auf libyschem Territorium machen(5).

Aber mindestens in gleicher Weise sind Sympathien auch für seine Gegner nicht angebracht. Das Konglomerat von ostlibyschen Stammensführern, die die Öleinnahmen jahrelang mit Gaddafi teilten, aber im Februar 2011 plötzlich erklärten, dass dieser nun nicht länger ihr "Bruder" sei, weil sie diese Einkünfte jetzt allein für sich haben wollten, das Konglomerat von Islamisten, Monarchisten, eingeflogenen Emigranten aus den USA und Großbritannien und von übergelaufenen Offizieren und ehemaligen Ministern Gaddafis, die sich nun im Eilverfahren zu ehrbaren "Demokraten" geläutert haben, kann man als Vertretung libyschen Volksinteressen und als Vorkämpfer für Demokratie doch nur dann ausgeben, wenn man gar nicht erst hinschaut, welche Kräfte und Konzepte da an die Macht gehievt werden sollen.

Es ist nachgewiesen, dass amerikanische und britische Geheimdienste schon in Bengasi aktiv waren und Drähte zogen, bevor der Aufstand begonnen hatte(6). Entscheidende Figuren des "Nationalen Übergangsrates", so der selbsternannte Regierungschef Dschibril und der Wirtschafts- und Ölminister Tarhuni(7), haben jahrelang in den USA gelebt, studiert und als neoliberale Wirtschaftsprofessoren agiert, bevor sie nach Libyen zurückkamen. Auch der militärische Chef der "Rebellenarmee", Khalifa Hifter, ein ehemaliger Oberst der Gaddafi-Armee, der Ende der 80er Jahre in die USA ging, lebte 20 Jahre lang in Langley, dem Sitz der CIA in Virginia und soll erst am 14. März von dort zurückgekommen sein(8). Die aus dem Gaddafi-Apparat übergelaufenen Funktionäre waren in den letzten Jahren aktiv mit der Entwicklung der "neuen Beziehungen" Libyens zu den USA und der EU und an der Privatisierung libyscher Staatsbetriebe beschäftigt. Das wollen sie jetzt im neuen Rahmen nahtlos fortsetzen.

Sicher wäre bei diesen Leuten nur eines: Wenn sie tatsächlich die Oberhand bekämen, wären sie völlig abhängige und Willensvollstrecker der imperialistischen Hauptmächte. Libyen würde unter ihrer Herrchaft zum Eldorado westlicher Konzerne und zu einem entscheidenden Stützpunkt der NATO in Nordafrika. Mit den echten Interessen des libyschen Volkes hat dies nichts zu tun.


Imperialistische Gegenreaktion auf Tunesien und Ägypten

Damit sind wir bei der westlichen Militärintervention in Libyen, mit der seit dem 19. März unter dem Vorwand einer "humanitären" Verpflichtung zum "Schutz der Zivilbevölkerung" versucht wird, den Aufständischen den Weg von Bengasi nach Tripolis frei zu bomben.

So wenig wie beim Irak-Krieg und in Afghanistan geht es dabei um "humanitäre Ziele". Es handelt sich um eine völkerrechtswidrige Militärintervention, um ein vom Völkerrecht verbotenes einseitiges militärisches Eingreifen ausländischer Mächte in einen innerstaatlichen Konflikt mit dem Ziel eines von außen beförderten Regimewechsels.

Ein "Regime change" war allerdings in der UNO-Resolution 1973 nicht als Ziel formuliert worden - weil diese Resolution dann im Sicherheitsrat vermutlich nicht beschlossen worden wäre. Nichtsdestotrotz ist genau dies das Ziel. Obama, Cameron und Sarkozy, aber auch Merkel und Westerwelle haben es offen formuliert. Die UNO wird dabei als Feigenblatt missbraucht - wobei bedauerlich ist, dass Russland und China, aber auch Brasilien und Südafrika ihr zustimmten bzw. ihr nicht per Veto den Weg versperrten.

Die ganze Absurdität der Behauptung, dass es um humanitäre Ziele und Demokratie gehe, wird an den regionalen Unterstützern sichtbar, die die NATO für dieses Unternehmen gewonnen hat. Es sind die reaktionärsten feudalabsolutistischen Machthaber der ganzen Region, die autoritär-despotisch regierenden Könige von Saudi-Arabien und Katar, die Ölscheichs der Golf-Emirate, die in ihren eigenen Ländern von demokratischen Staatsformen und Respektierung der Menschenrechte meilenweit entfernt sind, die in Bahrain demokratische Proteste mit Hilfe von einmarschierenden saudischen Truppen niederschlugen, ohne daß sich der Westen darüber aufgeregt hätte, die aber nun in Libyen plötzlich bei der Einführung von Demokratie helfen sollen.

Was die USA und die EU in Libyen tatsächlich im Visier haben, liegt auf der Hand. Wie im Irak und in Afghanistan steckt hinter dem Gerede von "Humanität", Demokratie und Menschenrechten die westliche Interessengemeinschaft an Öl, Macht und Profit.

Nach Expertenangaben lagern noch etwa 45 Milliarden Barrel Rohöl unter dem libyschen Sand. Bei einem aktuellen Barrel-Preis von 120 $ lässt sich ausrechnen, dass die Vorräte nach heutigem Stand mehr als 5 Billionen Dollar wert sind. Da könnten für amerikanischen und europäischen Ölkonzern noch jahrzehntelang Milliarden Gewinne sprudeln - wenn diese Konzerne direkten Zugriff auf das Öl bekommen, wie das im Irak nach der Intervention der Fall war.

Mehr noch als das Öl fällt für die Planer der Globalstrategie der USA und der EU aber die geostrategische Bedeutung Libyens ins Gewicht. Ein Brückenkopf in Nordafrika ist für die NATO-Staaten gerade heute von größter geopolitischer Bedeutung, nachdem der bisherige wichtigste Stützpfeiler der US-Nahostpolitik neben Israel, nämlich das Ägypten Mubaraks, weggefallen ist. Und welche Kräfteverhältnisse sich zukünftig in Tunesien, Ägypten und möglicherweise noch in anderen Staaten der Region herausbilden werden, ist völlig unsicher. Da ist ein Regime in Libyen, das den westlichen imperialen Bestrebungen in Nordafrika, im Mittelmeerraum und im Nahen Osten Schützenhilfe leistet, von zentraler Bedeutung.

Die Militärintervention in Libyen muss deshalb als eine imperialistische Gegenreaktion auf die revolutionären Erhebungen in Tunesien und Ägypten begriffen werden.

Allerdings steckt diese Operation derzeit in einer Sackgasse. Die sogenannten "Rebellen" waren selbst mit massiver westlicher Luftunterstützung nicht in der Lage, den Westteil Libyens zu erobern. Nun sollen westliche Verbindungsoffiziere und Militärberater in Bengasi - wie einst in Vietnam - sowie Waffenlieferungen aus Katar und der Einsatz US-amerikanischer unbemannter Kampfdrohnen wie in Pakistan Abhilfe schaffen.

Aber es ist absehbar, was Experten vorhergesagt haben: ein militärischer Sieg über Gaddafis Armee ist ohne direkten Einsatz von NATO-Bodentruppen kaum zu erreichen. Deshalb mehrten sich in jüngster Zeit propagandistische Kriegsberichterstattung und Stimmen, die den direkten Einsatz von westlichen Bodentruppen vorbereiten sollen. Natürlich wieder unter dem falschen Etikett eines "militärischen Schutzes" für "humanitäre Hilfslieferungen".

Doch die offene Intervention mit NATO-Bodentruppen hat ihre Schwierigkeiten. Sie würde eigentlich ein neues Mandat der UNO erfordern, was schwierig oder kaum mehr zu erreichen wäre - oder man müsste sich, wie seinerzeit im Irak, zu einer Intervention ohne UNO-Tarnung entschließen. So oder so würde dies aber antiimperialistische Grundstimmungen in der arabischen und afrikanischen, aber auch in der asiatischen und lateinamerikanischen Welt beträchtlich verstärken. Außerdem wäre ein libysches "Rebellen"-Regime in Tripolis, das nur auf den Bajonetten der NATO installiert werden konnte, auch in Libyen selbst ein schwieriges Unternehmen und international wenig vorzeigbar.

Die einzige wirklich humanitäre Lösung in dieser Situation ist und bleibt die sofortige Einstellung aller Kampfhandlungen auf beiden Seiten, einschließlich der Einstellung der NATO-Intervention in allen ihren Formen, sowie die unverzügliche Aufnahme von Verhandlungen über eine friedliche Regelung der Streitfragen gemäß dem Vermittlungsvorschlag der Afrikanischen Union. Dies würde auch Verhandlungen über die Einführung demokratischer Reformen in Libyen einschließen, wie es in dem von Gaddafi akzeptierten Vermittlungskonzept der Afrikanischen Union vorgesehen ist.


Kampf um echte Veränderungen noch lange nicht zu Ende

Noch einige Bemerkungen zur generellen Entwicklung und ihren Perspektiven vor allem in Tunesien und Ägypten.

Es wurde schon gesagt, dass die Frage, wohin die Entwicklung im nordafrikanisch-arabischen Raum letztlich führen wird, noch völlig offen ist.

Hamma Hammami, der Generalsekretär der aus der Illegalität aufgetauchten Kommunistischen Arbeiterpartei Tunesiens, brachte es auf die Formel: Die Diktatoren sind beseitigt, aber noch nicht die Diktaturen(9).

Inzwischen wurden in Tunesien und Ägypten eine Reihe von Funktionären der alten Regimes von ihren Posten entfernt, teilweise auch inhaftiert. Ob Mubarak der Prozess gemacht wird, steht zur Diskussion. Die bisher regierenden Staatsparteien wurden aufgelöst. Bisher verbotene politische Bewegungen und Parteien konnten ihre Legalität und Betätigungsfreiheit erkämpfen. In beiden Ländern sollen im Juli bzw. im Herbst Wahlen stattfinden, mit denen die "Übergangsregimes" abgelöst werden.

Aber es sind starke Kräfte am Werk, um die Veränderungen in möglichst engen Grenzen zu halten. In Ägypten gibt die Machtstellung der Armee Anlass zu Besorgnis. Die Kommandohöhen der politischen Macht werden sowohl in Tunesien wie in Ägypten noch weithin von Leuten aus dem alten Regime und aus den bourgeoisen Oberschichten beherrscht, die mit den gestürzten Regimes kooperiert und an ihm partizipiert haben.

Die Regierungen der imperialistischen Hauptmächte setzen alle Hebel in Bewegung, um auf den Gang der Dinge Einfluss zu nehmen. Das geht von Finanzzusagen und "Hilfsangeboten" aller Art über Reden von einer "neuen Partnerschaft" bis zur Entwicklung eines vielfältigen Netzes von persönlichen Kontakten und zur verstärkten Tätigkeit von Stiftungen wie der Konrad-Adenauer- und der Friedrich-Ebert-Stiftung.

Man kann also mit Sicherheit sagen: der Kampf um die Verwirklichung der Anliegen der Volksmassen ist auch in Tunesien und Ägypten noch lange nicht zu Ende. Der Hauptteil der dafür notwendigen Auseinandersetzungen steht noch bevor.

Auffallend ist, dass Kernfragen der künftigen Wirtschaftsentwicklung, aber auch Fragen wie die künftige Haltung zu Israel und zur Nahostpolitik der USA bisher noch kaum in der Debatte zu stehen scheinen. Die Linkskräfte einschließlich kommunistischer und sozialistischer Parteien sind infolge der jahrelangen Verfolgung schwach und müssen sich erst neu organisieren. Ähnliches gilt für die Gewerkschaften, die sich zum Teil erst aus der Einbindung in die bisherigen Regimes lösen müssen.


Soziale Fortschritte verlangen ökonomische Umorientierung

Eine Kernfrage für den weiteren Gang der Dinge ist die Verbindung des Kampfes um politische Demokratie mit dem Kampf um soziale Demokratie und und reale soziale Fortschritte für die Menschen. Unausweichlich wird dabei auch das künftige Verhältnis zum Auslandskapital zur Debatte stehen. Sollen die nordafrikanischen Länder weiter in der Rolle von bloßen Rohstofflieferanten und Anbietern billiger Arbeitskräfte bleiben? Oder kommt es zu einer Umorientierung weg von der Orientierung auf Rohstoffexporte und Zulieferindustrien, hin zu einer eigenständigen, von den nationalen Interessen bestimmten Wirtschaftspolitik?

Selbst wenn angesichts der derzeitigen realen Kräfteverhältnisse in der unmittelbar nächsten Phase nur bürgerlich-demokratische Regimes mit mehr politischer Freiheit für Gewerkschaften und Linkskräfte entstehen, wäre dies ein nicht zu unterschätzender Fortschritt und eine wertvolle Errungenschaft für die weitere Entwicklung.

Doch die neokoloniale Ausbeutung durch die transnationalen Konzerne wird durch die Einführung bürgerlich-demokratischer Formen des innenpolitischen Lebens nicht beseitigt. Die Folgen dieser neokolonialen "Integration" in die Weltwirtschaft sind mit "Demokratie" nach westlichem Muster, ohne tiefgehende soziale Veränderungen nicht zu bewältigen. Das heißt: nicht ohne Veränderungen in den Eigentumsverhältnissen an den Naturressourcen und an dem produzierten Ertrag der menschlichen Arbeit.

Deshalb werden gerade dann, wenn Gewerkschaften, Linkskräfte, Kommunisten und Sozialisten sich jetzt eine größere politische Bewegungsfreiheit erkämpfen können, die Fragen nach der ökonomischen Orientierung und damit die Fragen nach einem anderen Verhältnis zu den imperialistischen Hauptstaaten immer wieder auf die Tagesordnung kommen.

Harte Kämpfe stehen also noch bevor. Das wird kein Spaziergang. Möglich ist aber sehr wohl, dass sich aus diesen Prozessen ein qualitativer Sprung in der Entwicklung der regionalen und internationalen Kräfteverhältnisse ergibt.


Georg Polikeit, Wuppertal, Journalist



ANMERKUNGEN

(1) Blade Nzimande, "Tunisia and Egypt: The deepening crisis of US imperialism and neo-liberalism", Umsebenzi Online, 16. Februar 2011,
www.sacp.org.za/main.php?include=pubs/umsebenzi/2011/vol10-04.html

(2) "Revolte gegen Gaddafi - Libyens Araberstämme drohen mit Ölförderstopp", v. Ulrike Putz, Beirut, Spiegel-Online, 22. Februar 2011 - Siehe auch das Internetporal "Jeune Afrique", 24.2.2011: "Les affiliations tribales jouent un rôle important, comme réseaux sociaux pouvant servir à l'avancement dans les carrières, la mobilité sociale et les mariages... Kaddafi avait réussi à créer un équilibre entre les tribus et les clans, mais ce système connaissait déjà un effritement. Aujourd'hui cette structure de pouvoir est en train de s'effondre. Certaines tribus le lâchent", affirme Delphine Perrin, spécialiste de l'Afrique du Nord à l'Institut universitaire européen de Florence (Italie). De fait, récemment, plusieurs chefs de tribus, dont ceux de Werfalla (la plus grande de Libye), ont soutenu l'opposition." ("Die Stammeszugehörigkeiten spielen eine wichtige Rolle als soziales Netz, das dem Vorankommen in den Karrieren, der sozialen Mobilität und der Verheiratung nützlich sein kann...Gaddafi war es gelungen, ein Gleichgewicht zwischen den Stämmen und Clans zu schaffen, aber dieses System war bereits am Zerbröseln. Heute ist diese Machtstruktur dabei sich aufzulösen. Manche Stämme verlassen ihn", bestätigt Delphine Perrin, Spezialistin für Nordafrika am Europäischen Universitären Institut von Florenz/Italien. In der Tat haben neuerdings mehrere Stammeschefs, darunter die der Werfalla - des größten in Libyen - die Opposition unterstützt".)

(3) Biografisches unter http://de.wikipedia.org/wiki/Idris_%28Libyen%29

(4) Le Monde, 3.3.2011, "Kadhafi aurait accepté la médiation proposée par Chavez" - sowie: Afrikanische Union, Konsultativtagung über die Situation in Libyen, Addis Abbeba, 25. März 2011, Kommuniqué,
http://au.int/fr/dp/ps/sites/default/files/Communique%20_-_Libye___final__fr_0.pdf,
und Pressekommuniqué v. 10. April 2011 über die Gespräche in Tripolis,
http://au.int/fr/dp/ps/sites/default/files/Communique%20Libye%20_fr_%2010.4_0.pdf
- Siehe auch UZ - unsere zeit, Essen, 1.4.2011, Seite 10: "Afrikanischer Friedensplan für Libyen"

(5) siehe u.a. Wikipedia, Stichwort "Muammar al-Gaddafi": "Im Jahr 1999 bekannte sich Gaddafi zur Schuld Libyens an dem Anschlag auf Pan-American-Flug 103 von 1988 über der schottischen Stadt Lockerbie; er lieferte die Attentäter aus und ließ den Hinterbliebenen der Opfer eine hohe Entschädigung zahlen... Gaddafis Verhältnis zum Westen hat sich seitdem stark verbessert. Im März 2004 besuchte ihn Tony Blair und durchbrach damit die lange Isolation Libyens. Im Oktober folgte Gerhard Schröder als erster deutscher Kanzler... Libyens Beziehungen insbesondere zu italienischen Wirtschaftsunternehmen und Politikern wie auch die zunehmende Flüchtlingsproblematik führten zu Konflikten innerhalb der EU und erschwerten eine koordinierte Reaktion der EU, die Gaddafi längere Zeit als Stabilitätsgaranten in der Region anerkannt hatte".

(6) Spiegel-Online, 31.3.2011, "Kampf gegen Gaddafi - Obama schickte CIA an die Libyen-Front" -
www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,754172,00.html

(7) Wikipedia englisch "Mahmoud Jibril, http://en.wikipedia.org/wiki/Mahmoud_Jibril
sowie Wikipedia deutsch, "Ali Tarhouni", http://de.wikipedia.org/wiki/Ali_Tarhouni

(8) McClatchy online, 26. März 2011, "Libyan rebel leader spent much of past 20 years in suburban Virginia",
http://www.mcclatchydc.com/2011/03/26/111109/new-rebel-leader-spent-much-of.html

(9) Online-Seite der Partei der Arbeit Belgiens (PTB), 22. Februar 2011,
www.ptb.be/nieuws/artikel/hamma-hammami-on-a-vaincu-le-dictateur-pas-encore-la-dictature.html
- deutsche Übersetzung UZ-unsere zeit, Essen, 11. März 2011, Seite 2


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Quelle:
Marxistische Blätter, Heft 3-11, 49. Jahrgang, S. 28-35
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veröffentlicht im Schattenblick zum 28. Juli 2011