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MARXISTISCHE BLÄTTER/464: Hiroshima und Nagasaki - notwendige Fragen


Marxistische Blätter Heft 5-10

Hiroshima und Nagasaki - notwendige Fragen nach dem 65. Jahrestag des ersten atomaren Massenmordes

Von Ernst Woit


Wenn sich wichtige historische Ereignisse jähren, bieten diese Jahrestage - als Gedenktage sinnvoll genutzt - eine hervorragende Möglichkeit, Lehren aus der Geschichte für die aktuelle und künftige Politik zu ziehen. Ebenso ist es natürlich möglich, die Geschichte zu verfälschen und nicht aus ihr zu lernen. Obwohl am diesjährigen Gedenken anlässlich des 65. Jahrestages der ersten Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki erstmalig auch der UN-Generalsekretär und mit dem US-Botschafter in Japan erstmalig auch ein Vertreter der USA teilnahmen, zwingt die gesamte Darstellung dieses 65. Jahrestages in den Medien der USA und der NATO-Staaten dazu, einige grundsätzliche Fragen dazu aufzuwerfen.


Historisch beispielloses Kriegsverbrechen

Das betrifft zuerst und vor allem die Bewertung des Einsatzes der ersten Atombomben auf die japanischen Städte Hiroshima und Nagasaki am 6. und 9. August 1945. Kein Präsident der USA hat das bisher als Kriegsverbrechen anerkannt. Auch Friedensnobelpreisträger Barack Obama hat sich dazu bis heute nicht bereit gefunden. Aber auch kein Repräsentant eines NATO-Staates. Dabei lassen die unwiderlegbaren Umstände und Charakteristika dieses Einsatzes keine andere Wertung zu.

Was hatte die Führung der USA bewogen, die Wirkung der neuen Waffe nicht - wie es die an ihrer Entwicklung beteiligten Wissenschaftler gefordert hatten - auf einer unbewohnten Insel zu demonstrieren, sondern die ersten zwei Atombomben ausgerechnet gegen zwei japanische Großstädte einzusetzen, in denen es zudem keine wichtigen militärischen Ziele gab? Nach General Leslie Groves, dem militärischen Leiter des "Manhattan-Projekts", in dem die USA die erste Atombombe entwickelten, sollten die Zielorte "nicht schon durch Luftangriffe beschädigt sein. Erwünscht war schließlich, als erstes Ziel einen Ort von solcher Größe zu wählen, dass die ganze Zerstörungszone sich innerhalb des Ortes befinden müsste und wir daher die Gewalt der Bombe genauer bestimmen könnten."(1) Das heißt: mehr als 400.000 japanische Zivilisten wurden getötet, um die Wirkung der neuen Waffe am lebenden Objekt zu testen! Die auf Hiroshima eingesetzte Kernspaltungsbombe hatte eine Sprengkraft von etwa 20.000 Tonnen Trinitrotoluol; sie tötete 80.000 Menschen sofort und 200.000 durch die erlittenen Schädigungen; in Nagasaki wurden 75.000 Menschen sofort getötet, Zehntausende starben durch die erlittenen Schädigungen. Insgesamt wurden durch diese zwei Bomben mehr als 400.000 Menschen getötet. Ein derartiges Massenvernichtungsmittel hatte es bisher nicht gegeben. Zum ersten Mal wurde darüber hinaus die zunächst überlebende Bevölkerung durch radioaktive Strahlung genetisch geschädigt, so dass bis heute nicht gesagt werden kann, wie viele Generationen der seitdem geborenen Japaner davon noch betroffen sein werden.


Atombombe brachte Japans Kapitulation?

Nahezu jede Erwähnung der atomaren Bombardierung Hiroshimas und Nagasakis anlässlich ihres 65. Jahrestages wurde in den großen Medien stereotyp mit der Aussage verbunden, dass Japan unmittelbar danach kapituliert habe. Das ist nicht neu. Seit vielen Jahren behaupten diejenigen, die die atomare Bombardierung dieser beiden japanischen Städte rechtfertigen, dass damit die Kapitulation Japans erzwungen und damit das Leben US-amerikanischer Soldaten geschont worden sei.

Dazu sei zunächst festgestellt, dass die bedingungslose Kapitulation Japans am 2. September 1945 erfolgte - also nicht unmittelbar nach der atomaren Bombardierung Hiroshimas und Nagasakis, sondern fast einen Monat später. Was aber geschah in dieser Zeit? In Erfüllung ihrer auf der Konferenz von Jalta übernommenen Verpflichtungen(2) erklärte die Sowjetunion Japan am 8. August 1945 den Krieg und einen Tag später begann die Sowjetarmee gemeinsam mit der Chinesischen Volksbefreiungsarmee eine machtvolle Offensive gegen die in China und Korea dislozierte Masse der japanischen Landstreitkräfte. Noch im gleichen Monat endete diese Offensive mit der völligen Zerschlagung der japanischen Streitkräfte in China, Nordkorea, Südsachalin und auf den Kurilen. Dabei verlor Japan rund 700.000 Soldaten und Offiziere, davon 83.737 Mann an Toten und 609.176 Mann an Gefangenen. An Kampftechnik verloren die japanischen Truppen u. a. 1.565 Geschütze, 600 Panzer, 861 Flugzeuge und 2.129 Kraftfahrzeuge. In keiner anderen Operation des zweiten Weltkrieges hatten die japanischen Streitkräfte in so kurzer Zeit so hohe Verluste an Menschen und Material erlitten.(3) Folgerichtig kapitulierte Japan angesichts dieser Resultate der sowjetischen und chinesischen Offensive am 2. September 1945 und nicht - wie die imperialistischen Medien immer wieder zu suggerieren versuchen - nach der atomaren Bombardierung Hiroshimas und Nagasakis.

Es ist wohl nicht zufällig, dass dieser erhebliche Anteil der Sowjetunion am militärischen Sieg über Japan gerade im Zusammenhang mit dem Einsatz der ersten beiden Atombomben gegen Hiroshima und Nagasaki immer wieder verschwiegen wird. Kann man so doch diesen atomaren Massenmord noch am ehesten damit rechtfertigen, dass man suggeriert, er sei notwendig gewesen, um das Leben US-amerikanischer Soldaten zu schonen und Japan zur Kapitulation zu zwingen. Erstaunlich ist allerdings, in wie vielen seriös aufgemachten Publikationen zur Geschichte des Zweiten Weltkrieges der Anteil der Sowjetunion am militärischen Sieg über Japan im Jahre 1945 einfach nicht vorkommt. So erwähnt das fast tausend Seiten starke Harenberg-Lexikon "Schlüsseldaten 20. Jahrhundert" weder die Kriegserklärung der Sowjetunion an Japan noch deren Anteil an der Zerschlagung der militärischen Hauptkräfte Japans im August 1945.(4) Udo Sautter, der im renomierten Arno Kröner-Verlag eine mehr als 600 Seiten starke "Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika" veröffentlicht hat, erwähnt immerhin, dass US-Präsident Roosevelt beim Gipfeltreffen der Anti-Hitler-Koalition in Jalta nachdrücklich "auf einer festen sowjetischen Zusage, am Kampf gegen Japan teilzunehmen", bestanden hatte.(5) Dass und wie die Sowjetunion diese in Jalta übernommene Verpflichtung erfüllt hat, erwähnt er nicht. Dafür formuliert dieser 'Historiker' nur den alle Fragen danach wegwischen sollenden Satz: "Das sowjetische Versprechen, bis spätestens 8. August 1945 Truppen gegen Japan einzusetzen, war durch die Existenz der Atombombe inzwischen entwertet."(6)


Warum haben die USA Hiroshima und Nagasaki atomar bombardiert?

Die wirklichen Gründe für dieses historisch beispiellose Kriegsverbrechen zu kennen, ist unverändert wichtig, denn bis heute scheiden sich an der Rechtfertigung oder Verurteilung des atomaren Massakers an der Zivilbevölkerung Hiroshimas und Nagasakis diejenigen, die einen Nuklearkrieg prinzipiell für möglich und sinnvoll halten von denen, die ein derartiges Verbrechen ebenso prinzipiell ablehnen.

Als US-Präsident Harry S. Truman am 22. Juli 1945 von Potsdam aus - mit Zustimmung Winston Churchills - den Einsatz der ersten Atombombe gegen Japan anwies, da ignorierte er nicht nur die Warnungen jener Wissenschaftler, die an der Entwicklung der Bombe beteiligt waren, sondern auch die Ablehnung dieses Einsatzes durch einen so hohen Militär wie General Dwigt D. Eisenhower. Dieser gehörte damals zur US-amerikanischen Delegation auf der Potsdamer Konferenz und er nannte Truman für seine Ablehnung zwei Gründe: "Erstens seien die Japaner zur Kapitulation bereit. Deshalb sei es nicht notwendig, dieses schreckliche Ding abzuwerfen. Zweitens könne ich den Gedanken nicht ertragen, dass unser Land das erste sein sollte, das eine solche Waffe einsetzte."(7) Warum aber hat US-Präsident Truman trotz dieser Bedenken des höchsten US-amerikanischen Militärs, General Eisenhower, diesen verbrecherischen Einsatzbefehl gegeben?

Tatsächlich zielte die atomare Bombardierung Hiroshimas und Nagasakis viel weniger darauf, Japan zur Kapitulation zu zwingen als viel mehr darauf, den Weltherrschaftsanspruch der USA für die Nachkriegszeit - besonders der Sowjetunion gegenüber - deutlich zu machen. Wie sich der maßgebend am Bau der ersten Atombombe beteiligte Physiker Leo Szilard erinnerte, hatte der damalige US-Außenminister James Francis Byrnes bereits Anfang Juni 1945 wörtlich erklärt: "Wir brauchen die Bombe weniger um Japan zu besiegen, als um in Europa ein leichteres Spiel mit Russland zu haben."(8) Es spricht also alles für die Richtigkeit der Einschätzung Patrick Blacketts, der wenige Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges zu dem Schluss kam, "das der Abwurf der Atombomben nicht so sehr der letzte Akt des zweiten Weltkrieges war als vielmehr eine der ersten größeren Operationen im Kalten diplomatischen Krieg gegen die Sowjetunion."(9)


Atomwaffen abschaffen!

Hauptanliegen der Gedenkveranstaltungen, die anlässlich des 65. Jahrestages des ersten Einsatzes von Atomwaffen in Japan stattfanden, war es, Wege zu bestimmen, wie man die heute vorhandenen Kernwaffen abschafft, bevor ihr Einsatz zum Untergang der Menschheit führt. UN-Generalsekretär Ban Ki Moon brachte das in Hiroshima mit den Worten auf den Begriff: Das einzige Mittel sicherzustellen, dass solche Waffen niemals eingesetzt werden, ist, sie alle abzuschaffen."(10)

Von einer atomwaffenfreien Welt ist die Menschheit 65 Jahre nach dem atomaren Massenmord von Hiroshima und Nagasaki unverändert weit entfernt. Wer an US-Präsident Obamas Versprechen, eine Welt ohne Atomwaffen zu verwirklichen geglaubt hat, sieht sich bitter enttäuscht. Denn tatsächlich hat Obama mit Robert M. Gates nicht nur den Pentagon-Chef George W. Bushs übernommen, sondern auch dessen den Ersteinsatz von Kernwaffen ausdrücklich einschließende Kriegführungsstrategie. Die USA haben vor nunmehr 65 Jahren als erstes und bisher einziges Land Kernwaffen eingesetzt. Während des Kalten Krieges hat das 'atomare Patt' zwischen den USA und der Sowjetunion maßgebend dazu beigetragen, einen erneuten Kriegseinsatz von Kernwaffen zu verhindern. Heute aber besteht die reale Gefahr, dass ein Präsident dieses mächtigsten imperialistischen Staates im Kampf um die mit dem weltweiten 'Krieg gegen den Terror' angestrebte 'Neuordnung der Welt' erneut den Befehl zum atomaren Massenmord gibt. Nichts ist deshalb heute wichtiger im Kampf um das Überleben der Menschheit als die Abschaffung aller Kernwaffen, bevor deren Einsatz die Menschheit abschaffen kann.

Den Weg zur Ächtung und Abschaffung dieser Massenvernichtungswaffen weist die Resolution der Internationalen Konferenz gegen Atom- und Wasserstoffbomben, die vom 2. bis 4. August 2010 in Hiroshima tagte und an der mehr als 300 Aktivisten aus 27 Ländern teilnahmen. In ihr heißt es: "Die Doktrin der 'nuklearen Abschreckung' ist ein wesentliches Hindernis bei der Verwirklichung einer atomwaffenfreien Welt. Wir fordern den Verzicht auf die Doktrin des atomaren Erstschlags. Weiterhin fordern wir ein Verbot des Einsatzes von Atomwaffen. Wir lehnen den Aufbau und die Modernisierung der nuklearen Arsenale ab. Raketenabwehrsysteme, die entwickelt wurden, um die Vorbereitung für den Erstschlag zu unterstützen, lehnen wir ebenfalls ab. Darüber hinaus fordern wir den Abzug von Atomwaffen aus ausländischen Land- und Seegebieten."(11)

Im Kampf um die Abschaffung aller Kernwaffen aber gewinnt die prinzipielle Auseinandersetzung mit jenen Argumenten eine kaum zu überschätzende aktuelle Bedeutung, die die atomare Bombardierung Hiroshimas und Nagasakis vor nunmehr 65 Jahren rechtfertigen sollten und sollen.


Ernst Woit, Prof. Dr., Dresden, Philosophiehistoriker, Friedensforscher


Anmerkungen:

(1) Nach: J. Newhouse: Krieg und Frieden im Atomzeitalter. München 1990,5.72.

(2) Auf der Konferenz von Jalta (4. - 11.2.1945) schlossen die Regierungschefs der Sowjetunion, der USA und Großbritanniens ein Abkommen über die Fragen des Fernen Ostens, in dem vereinbart wurde, "das zwei oder drei Monate nach der Kapitulation Deutschlands und Beendigung des Krieges in Europa die Sowjetunion in den Krieg gegen Japan auf der Seite der Alliierten ... eintreten soll." Nach: S. P. Sanakojew / B.I. Zybulewski (Hrsg.): Teheran - Jalta - Potsdam. Dokumentensammlung. Moskau 1978, S. 213.

(3) Vgl. u.a .: Geschichte des Zweiten Weltkrieges 1939-1945. Teil II, Berlin 1961, S. 270 f.; P.S. Sinelnikow: Die Zerschlagung der japanischen Armee im Fernen Osten. In: Die wichtigsten Operationen des Großen Vaterländischen Krieges 1941-1945. Berlin 1958, S. 664-682.

(4) Vgl. B. Harenberg (Hrsg.): Schlüsseldaten 20. Jahrhundert. Vierte verbesserte Aufl., Dortmund 1995.

(5) U. Sautter: Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika. Vierte, erweiterte Aufl., Stuttgart 1991, S. 425 f.

(6) Ebenda, S. 439.

(7) Nach J. Nexhouse, a.a.O., S.75 f.

(8) Nach R. Crawshay-Williams: Begegnungen mit Bertrand Russel, Zürich, 1974, S. 164.

(9) P. M. S. Blackett: Militärische und politische Folgen der Atomenergie, Berlin 1949, S. 173.

(10) Nach: junge welt, Berlin, 7./8.8.2010, S. 7.

(11) Nach: junge welt, Berlin, 6.8.2010, S. 3.


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Quelle:
Marxistische Blätter, Heft 5-10, 48. Jahrgang, S. 9-12
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veröffentlicht im Schattenblick zum 25. November 2010