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MARXISTISCHE BLÄTTER/455: Sparpakete und deutscher Sonderweg


Marxistische Blätter Heft 4-10

Sparpakete und deutscher Sonderweg

Von Otto Meyer


Ob Theo Waigel, Hans Eichel, Peer Steinbrück oder heute Wolfgang Schäuble - seit Jahrzehnten verordnen deutsche Bundesfinanzminister mit immer drängenderen Appellen allen Ministerien sowie den Ländern und Gemeinden angeblich unumgängliche Sparauflagen, um die Schulden in den staatlichen Haushalten zu minimieren. Bei ihrem Ausscheiden hatten sie jedoch jeweils mehrere hundert Milliarden mehr Schulden zu verantworten als beim Antritt vorgefunden. Immer waren irgendwelche besonderen Ereignisse dazwischen gekommen, sodass zur Abwehr einer "Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts" zusätzliche Kredite aufgenommen werden mussten, auch über die in den Maastrichtkriterien festgelegten Verschuldungsgrenzen hinaus. Der propagierte Schuldenabbau führte jedes Mal zu einem wesentlich höheren Gesamtschuldenstand. Die Einsparauflagen für die meisten Bundesressorts wie für die Haushalte der Länder und Gemeinden wurden allerdings durchgesetzt und blieben bestehen, mit beträchtlichem Zerstörungspotential für die staatlichen Transferleistungen vor allem im Sozial-, Kultur- und Bildungsbereich. Die Ausgaben für "Sicherheit" und "Verteidigung" wurden nicht angetastet, eher ausgeweitet.

Ähnlich wird es wohl auch bei dem jüngsten Sparpaket der schwarz-gelben Bundesregierung ablaufen, das diesmal einen Gesamtsparbetrag von mehr als 80 Milliarden Euro bis 2014 erbringen soll. Wird es von Bundestag und Bundesrat verabschiedet, müssen auch die Länder sowie die Städte und Gemeinden ihre Aufgabenfelder weiter zusammenstreichen. Auf allen Ebenen unseres schon arg gerupften Gemeinwesens soll es noch einmal massive Kürzungen geben, mit empfindlichen Auswirkungen vor allem für jene, die auf Sozialleistungen angewiesen sind, besonders für Eltern mit Kindern. Auch sollen die Löhne und Gehälter im Öffentlichen Dienst sowie der Personalbestand insgesamt weiter abgesenkt werden. Dabei sind von den dort vor zwanzig Jahren gut 5 Millionen Beschäftigten z. Zt. nur noch ungefähr 2,5 Millionen übrig geblieben, weitere hunderttausend Stellen müssten in den nächsten Jahren halbiert werden oder gänzlich wegfallen.

Soziale Demontage und massiver Personalabbau haben eine dem Kapital höchst erwünschte Folge: Der Rückbau staatlicher Dienste treibt die Privatisierung voran, erschließt ihm neue Profitquellen, neue lukrative Anlagemöglichkeiten.

Warum das alles? Wer von unseren Politikern hat ein Interesse daran, dass bald alles noch Soziale an den staatlichen Aktivitäten demontiert wird und am Ende tatsächlich wohl nur noch der Überwachungs-, Ordnungs- und Sicherheitsstaat übrig bleibt? Wer derart die Verantwortlichen in den Regierungsämtern befragen will, stößt auf Empörung: Sie alle und jeder einzelne Minister oder Oberbürgermeister weisen jegliche "Schuld" weit von sich. Staatsumbau, gar mit der Tendenz für einen schleichenden Staatsstreich durch Sozial- und Demokratiezerstörung, sei nie ihre Absicht gewesen. Doch die aufgelaufenen Schulden des Staates aus vielen Jahrzehnten Zwängen nun mal zu radikalen Maßnahmen. Die Kanzlerin redet im Stil von Margaret Thatcher: zum Sparen gebe es "keine vernünftige Alternative". Aber wenn Regierende - und angeblich wir alle - "keine Alternative" mehr haben, also keine andere Möglichkeit, keine Wahl, warum lässt man uns dann überhaupt noch wählen? "Demokratie" als "Herrschaft des Volkes" ist doch dann unmöglich geworden, das Grundgesetz mit seiner Bestimmung der BRD als "demokratischer und sozialer Bundesstaat" in Art. 21 wäre außer Kraft gesetzt.

Wer hat solches verlangt, wessen Diktat muss unabdingbar befolgt werden? Uns wird gesagt, "die Schulden" des Staates zwängen dazu. Sind Schulden und ihre Eintreiber anonyme Diktatoren aus dem Weltraum, steht hinter ihnen vielleicht eine Art schrecklicher Deus absconditus? Woher kommen Schulden? Schulden muss jemand machen, der Ausgaben hat, wofür die eigenen Einnahmen nicht ausreichen. Dann braucht er jemanden, der genügend Geld übrig hat, um ihm für eine gewisse Zeit die fehlende Summe zu leihen, mit Rückzahlungsverpflichtung. Bei größeren Summen, und wenn man einander nicht kennen oder vertrauen kann, muss man als "Schuldner" dem "Gläubiger" einen Schuldschein - juristisch abgesichert - übergeben. Der fremde Gläubiger verlangt nicht nur die terminierte Rückzahlung, sondern auch einen jährlichen Aufschlag in Form von Zinszahlungen.

Der Staat BRD als rechtliche Vertretung der hiesigen Bevölkerung von 80 Mio. Menschen hatte Ende 2008 auf allen Ebenen 1.655 Mrd. Euro Schulden. Sie waren in Jahrzehnten kumulativ aufgenommen worden, weil die Verpflichtungen des Staates, den gesellschaftlichen Zusammenhalt in dieser kapitalistisch oft antagonistisch agierenden Volkswirtschaft einigermaßen zu gewährleisten oder als Reparaturbetrieb bei Wirtschaftseinbrüchen auszuhelfen, immer größer geworden sind.

Auf der anderen Seite aber sind die Einnahmen des Staates aus Steuern und Sozialabgaben auf Drängen der Kapitalbesitzer kontinuierlich zurückgefahren worden. So hatte der Staat BRD auf der Einnahmenseite in 2008 mehr als 2 Prozent weniger vom BIP für die staatlichen Kassen verlangt als noch im Jahr 2000, was einen Verzicht auf 50 Mrd. Euro jährlich bedeutete. Schon in den beiden Jahrzehnten davor sollten die angeblich "zu hohen Lohnnebenkosten und die Steuern" auf Unternehmensgewinne für die Industrie in Deutschland sowie die "zu hohen Lohnforderungen der Gewerkschaften" der Grund dafür sein, dass die Konjunktur nicht ganz so laufen wollte, wie die Kapitalkräfte sich das wünschten. Die deutschen Unternehmer sind mit ihren Klagen recht erfolgreich gewesen, im Club der größeren Industrienationen in Europa sind sie nicht nur - wie inzwischen allgemein bekannt - beim Lohn-Dumping am schnellsten vorangekommen; sie konnten sich auch mit Hilfe der Regierenden bei den Steuer- und Sozialkosten erhebliche Vorteile gegenüber ihren EU-Konkurrenten verschaffen. Ein Blick auf die Steuer- und Abgabenquoten vom Bruttoinlandsprodukt nach OECD-Angaben mag dies schon für 2001 verdeutlichen: D = 36,4%, GB = 37,4%, I = 41,8%, F = 45,4%, Dk = 49%, S = 53%. Die Schröderschen Agenda-2010-Gesetze haben für die Kapitalseite weitere Kosteneinsparungen geschaffen; die schwarz-gelben 2020-Agenda-II-Gesetze werden diesen Weg fortsetzen - sofern man sie lässt.

Bis Mai 2010 war die staatliche Schuldenlast - auch infolge der globalen Finanz und Wirtschaftskrise mit den gewaltigen "Bankenrettungsschirmen" - auf 1.900 Mrd. Euro ausgeweitet worden, wofür der Bund, die Länder und Kommunen Schuldscheine in Form von Bundesschatzbriefen, Bundesobligationen etc. ausgeben mussten. Allein für Zinsen der Altschulden waren in 2010 rund 250 Mrd. Euro auf die Konten der Geldbesitzer zu überweisen. Die Neuemittierungen stellten aber bisher überhaupt kein Problem dar, die Geldbesitzer als "Gläubiger" hierzulande und weltweit standen gewissermaßen Schlange, um an deutsche Schuldscheine zu kommen. Diese gelten national wie international immer noch als sehr sicher, Deutschland muss dafür z. Zt. weniger Zinsen zahlen als die meisten anderen Staaten.

Wer hat solche unvorstellbaren Summen zu verleihen? Aktuelle und präzise Angaben liegen nicht vor, weil bei Kapitalbesitz das Bankgeheimnis natürlich streng gewahrt werden muss. Schätzungen besagen, dass ca. 50% der staatlichen Schuldscheine im Besitz vermögender deutscher Privatleute - verwaltet bei Banken und Versicherungsgesellschaften im Inland - sich befinden, die andere Hälfte bei Finanzinstituten im Ausland. Die dortigen Kontoinhaber sind aber ebenfalls zum großen Teil reiche Deutsche, die aus Gründen der Steuerersparnis oder -umgehung ihre Depots lieber von Schweizer oder Liechtensteiner Instituten verwalten lassen. Diese Reichen als "Gläubiger" des " Schuldners" deutscher Staat haben ihre Vermögen infolge der im Kapitalsystem verlangten Gewinne bei allen Unternehmungen im Produktions- und Handelsbereich, vorrangig durch die Mehrwertaneignung aus der "Ware Arbeitskraft", erzielt. Allerdings sind als Grundlage hierfür ererbte Besitztümer äußerst hilfreich. Nicht zuletzt konnten sie ihre Reichtümer auch durch größere Steuervergünstigungen und Nachlässe bei den Sozialabgaben vermehren; nicht unerheblich hat ihnen beim Geldanhäufen auf diese Weise Vater Staat geholfen, wie wir gesehen haben. All die erlassenen Steuern und Sozialabgaben füllten die Konten der Vermögenden, die anschließend gern bereit waren, den klamm gemachten Staatskassen dasjenige zu leihen, war sie gerade durch Steuerrückzahlungen bekommen hatten, gegen sicheren Zins und Zinseszins. So kann man sich letzten Endes als potenter "Staats-Gläubiger" oder "Rentier der Staatskasse" z. T. sogar den mühsamen Umweg über die immer mit Risiken verbundene Kapitalbildung in der Produktion ersparen.

Ein Ergebnis wäre hier schon festzuhalten: Die dummen Sprüche der Politiker und ihrer Vor- oder Nachplapperer in den Herrschaftsmedien, "wir alle" lebten heute "auf Kosten unserer Kinder", sind nichts als Volksverdummung. "Unsere" Staatsschuldscheine sind Guthaben in den Händen reicher, überwiegend deutscher Mitbürgerinnen und Mitbürger. Und wenn alles so bleibt und ihr milliarden- und billionenschweres Kapitalvermögen - staatlich geschützt und ohne Vermögenssteuern und fast ohne Erbschaftssteuern - weiter wuchern darf, wären all diese Reichtümer die lukrativen Erbteile "unserer" Millionärs- und Milliardärskinder. Deren "Zukunft" wäre - zumindest geldlich gesehen - mehr als gesichert. Die Frage könnte da doch nur sein, wie lange die weit über 90 Prozent der wenig oder gar kein Kapital Besitzenden eine solche Unordnung sich gefallen lassen.

Die Welt der vermögenden Geldbesitzer müsste eigentlich in Ordnung sein, Sorgen brauchten sie sich nicht zu machen, auch nicht um ihren Nachwuchs; unsere Regierenden beschützen sie und vermehren ihren Geldbesitz. Trotzdem sind viele beunruhigt, z. Zt. besonders darüber, wohin die immer noch nicht beendete globale Weltwirtschaftskrise ausschlagen mag und ob die gesellschaftliche Befriedung zumindest in den Zentrumsländern gesichert bleiben kann. Empfindsame Superreiche wie Bill Gates und einige seiner Freunde in den USA wollen vermehrt mit Stiftungen und großzügigen Spenden die Öffentlichkeit besänftigen, die über zunehmendes Protestpotenzial erschrocken ist. Gates und andere prominente US-Reiche haben sogar ihre Regierung ermuntert, die im Sternenbanner-Land immerhin noch geltenden Vermögens- und Erbschaftssteuern zu erhöhen. Ob das reichen wird, all die Leute ruhigzustellen, die ihre Arbeit verloren haben oder aus ihren Häusern rausgeworfen worden sind, wenn sie die Abzahlungsraten nicht mehr aufbringen konnten? Die Unterschicht der Schwarzen und Latinos konnte man bisher einigermaßen mit Drogenkonsum und millionenfachen Gefängnisstrafen unter Kontrolle halten. Was aber passiert, wenn die Leistungsträger aus der sogenannten Mittelschicht die gesellschaftlichen Befriedungsstrategien aus TV, Hollywood und kreditbasierten Konsumwelten in Frage stellen?

Die Fähigkeit der Regierungen, einer ihrer wichtigsten Aufgaben nachzukommen, nämlich den gesellschaftlichen Zusammenhalt einigermaßen zu sichern - und sei es mit Polizei und vermehrter Überwachung -, scheint zu schwinden, auch in der BRD. Inzwischen warnen selbst einige "organische Intellektuelle" (Antonio Gramsci) aus dem Sozialwissenschaftsbereich vor dem weiteren Verfall des gesellschaftlichen Zusammenhalts. In einer jüngst veröffentlichten Studie des "Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung" (DIW) war auf Basis des "Sozioökonomischen Panels" festgestellt worden: "Arm und Reich driften in Deutschland immer weiter auseinander." Ihre Studie zeige "deutlich, dass nicht nur die Anzahl Ärmerer und Reicherer immer weiter wächst - seit zehn Jahren werden ärmere Haushalte auch immer ärmer." Das sei eine "besorgniserregende Entwicklung, weil dieser Trend die Mittelschicht verunsichere". Sie mahnen: "Eine starke Mittelschicht ist aber wichtig für den Erhalt der gesellschaftlichen Stabilität." Mit einer Zwischenüberschrift wird die Gefahr noch einmal spezifiziert: "Steigende Einkommenspolarisierung bedroht die gesellschaftliche Stabilität." Festgestellt wird: "Mittlere Schichten begründen ihren Status nicht auf Vermögen, sondern auf Einkommen ... Eine Entwicklung wie die hier beobachtete kann unter Umständen Verunsicherung in diesen Schichten auslösen." Problematisch sei dies besonders dann, wenn andere Bevölkerungsgruppen für den drohenden Statusverlust verantwortlich gemacht werden. Und auch in anderen Bereichen drohten mit dem Verschwinden der Mittelschicht Probleme, etwa bei der Stadtentwicklung: "Mit einer steigenden Anzahl von Ärmeren wächst auch die Entstehung von Armenvierteln."

Wir alle wissen, wohin Abstiegsängste von Mittelschichten - früher nannte man sie das "Kleinbürgertum" - in großen Krisenzeiten in Europa und vor allem in Deutschland schon einmal geführt haben: in Faschismus und Krieg, in totale Diktatur mit Volksausrottungsstrategien und Vernichtungsfeldzügen, kurz: in die kontinentale Katastrophe. Erinnern sich hieran auch "unsere Reichen"? Es sieht kaum danach aus, oder sie nehmen eine faschistische Konterrevolution kaltlächelnd in Kauf. Ohne Skrupel drängen sie darauf, dass weiterhin der Staat dafür sorgen soll, von unten nach oben umzuverteilen. Das neueste "Sparpaket" - sollte es wie geplant durchgezogen werden - wäre dafür ein weiterer Beweis. Sind also "unsere" herrschenden Kapitalfraktionen blind? Was treibt sie letztendlich zum immer größeren Kapitalanhäufen, zur beschleunigten Akkumulation, auch unter Inkaufnahme massiver Gesellschaftszerstörung, von Krieg und Vernichtung, wodurch u. U. selbst ihre eigene Zukunft gefährdet wird?

Bei Marx kann man lernen, dass Akkumulation, soll sie denn für einen bestimmten Zeitraum erfolgreich sein, in der Konsequenz immer Produktionsausweitung für die gesamte Volkswirtschaft bedeuten muss. Das gilt im globalen Rahmen sogar für die gesamte Weltwirtschaft. Dass aber damit notwendigerweise systembedingte Begrenzungen auftauchen, weil die Warenmenge im Kapitalismus nicht auf genug bezahlbare Nachfrage treffen kann, ist evident. Ist doch die Massenkaufkraft in letzter Konsequenz um den von den Kapitalisten angeeigneten Mehrwert verringert. Auch wenn diese immanente Konsumschwäche durch den vom Akkumulationszwang erzwungenen Aufbau neuer Produktionskapazitäten mit Nachfrage nach neuen Maschinen, Rohstoffen und damit zunächst sogar zusätzlichen Arbeiterlöhnen eine Zeitlang kompensiert werden kann, muss unweigerlich im nächsten Zyklus die Überproduktionskrise eintreten. Krisen sind immer Ergebnis sowohl einer vorhergehenden Überakkumulation mit tendenziell sinkender Profitrate wie einer Konsumschwäche mangels ausreichender Kaufkraft.

Das Gesetz vom "tendenziellen Fall der Profitrate" lässt sich nicht ignorieren, bestenfalls in seiner Wirkung eine Zeitlang hinausschieben durch Stärkung gegenläufiger Tendenzen wie den verstärkten Export von Kapital und Waren mit Methoden des Neo-Kolonialismus, heute " Globalisierung" genannt. Ein weiteres, eifrig angewandtes Mittel ist die Verlängerung der Arbeitszeit und die Intensivierung der Arbeit ohne Lohnausgleich. Aber die derart ausgeweitete Produktion vermehrt noch einmal die auf zahlungsfähige Nachfrage angewiesene Warenmenge, zumal die neuen Maschinen mit erhöhter Produktivität arbeiten. Die Realisierung des Mehrwerts und damit des Profits wird immer schwieriger, weil die Konsumfähigkeit mangels Kaufkraft insgesamt minimiert wurde. Marx sagt: "Der letzte Grund aller wirklichen Krisen bleibt immer die Armut und Konsumtionsbeschränkung der Massen gegenüber dem Trieb der kapitalistischen Produktion, die Produktivkräfte so zu entwickeln, als ob nur die absolute Konsumtion der Gesellschaft ihre Grenze bilde" (MEW 23, S. 501). Die Einschaltung der Banken und der Zentralbanken sowie der Staatshaushalte mit Kreditschöpfungen auf allen Ebenen ist ein weiterer Versuch, diese Grenze hinauszuschieben und dem Gesetz des tendenziellen Falles der Profitrate zu entgehen, was auf Dauer unmöglich ist. Der bisherige Verlauf der aktuellen globalen Krise, angefangen mit dem "Platzen der Finanzblasen" und den Bankenzusammenbrüchen sowie Firmen-Insolvenzen auch in der sogenannten "Realwirtschaft" bis hin zur drohenden Zahlungsunfähigkeit ganzer Staaten, hat das wieder bestätigt.

Marx hat darauf hingewiesen, dass im Kern des Kapitalsystems solch unbedingtes Zwangsgesetz zur Kapitalanhäufung, zum "Akkumulieren" besteht: "Akkumuliert! Akkumuliert! Das ist Moses und die Propheten." (MEW 23, S. 621) Also herrscht hier in der Tat das Gesetz eines Gottes, aber nicht eines Gottes, der wie bei Mose in ein befreites Leben und "in ein Land" führen soll, "wo Milch und Honig fließt", sondern das Gesetz eines verborgenen, schrecklichen und unheimlichen Gottes, der nach den Regeln eines kruden Sozialdarwinismus nur die Krieger und Gewinner leben lässt; und den man nicht kennen kann. Ein von Menschen geschaffener und durch ihr Dienen am Leben gehaltener Gott, der mit Tod und Vernichtung regiert. Ein gnadenloser Deus absconditus, von dem der neoliberale Kirchenvater Friedrich A. Hayek umschreibend geredet hat, als er Unterwerfung empfahl unter "die unpersönlichen Kräfte des Marktes" aus einem "religiösen Gefühl der Demut". Und nur wer darin erfolgreich handelt, kann die Konkurrenten aus dem Feld schlagen und erhält die Chance, durch Aufkauf und Übernahme der Schwächeren zu wachsen und gestärkt zu überleben - bis zur nächsten noch größeren Krise.

Dieses Programm wird im Kapitalsystem nicht nur von einzelnen Unternehmen betrieben, auch die Staaten und Regierungen werden vom Kapitalsystem in die Pflicht genommen. Sie haben die Rahmenbedingungen für Standortvorteile zu optimieren. In der aktuellen Großkrise der Weltwirtschaft lassen sich - grob gesagt - zwei unterschiedliche Strategien der Regierenden ausmachen, wie durch wirtschaftspolitisches Staatshandeln die schon eingetretenen Auswirkungen der Krise minimiert werden sollen und ihrer noch drohenden Zuspitzung entgegen zu wirken sei: Auf der einen Seite sollen weiter keynesianische Methoden der Kreditausweitung des Staates betrieben werden, unbeirrt in den USA und Japan. Andererseits gibt es die verstärkte Hinwendung zur Austeritätspolitik der Deutschen, die ihren Sparkurs der gesamten EU oktroyieren wollen. Großbritannien handelt bevorzugt nach dem US-amerikanischen Muster, Frankreich wehrt sich gegen zu rigide Vorgaben aus Deutschland.

Bisher lief es auf ein Hin- und Herlavieren hinaus. Am abrupten Beginn der Krise haben fast alle Staaten ihre Kreditschöpfungsmaschinen angeworfen, um sowohl "Bankenschirme" aufzuspannen als auch mit Konjunkturprogrammen den Produktionssektor in Gang zu halten, bis hin zur "Abwrackprämie" auch in der BRD - also doch hierzulande ein wenig Keynesianismus mit höherer Schuldenaufnahme auch zur Ankurbelung des Produktionssektors. Aber solche Flutung des Finanzsektor und in Ansätzen der sogenannten "Realwirtschaft" wird bald infolge Austrocknung ins Stocken geraten, die Förderprogramme sollen nicht verlängert werden. Alle hoffen darauf, dass der initiierte Mini-Aufschwung bald selbsttragend in Schwung kommt - was kaum gelingen kann, sofern nicht vermehrt Nachfrage aus anderen Staaten hinzutritt, wo weiterhin mit Kreditausweitung die Volkswirtschaften angeregt werden. Die auch hierzulande zur Ankurbelung der Wirtschaftstätigkeit aufgenommenen Staatsschulden werden bleiben und wachsen mit Zins und Zinseszins.

Strukturell ähnlich vergeblich muss am Ende das ungebremste und immer größere Schuldenmachen ausgehen, weil aus der schleichenden bald eine veritable Inflation resultieren könnte. Lassen die Geldvermögensbesitzer sich das gefallen? Ganz abgesehen von den vielen Millionen inzwischen privat versicherten Rentnerinnen und Rentnern, deren Kaufkrafteinbußen in Altersarmut münden müssen.

Dennoch wäre für die Gegenwart ein nochmaliger Keynesianismus mit sozialer, ökologischer und arbeitnehmerfreundlicher Ausrichtung sympathischer als der deutsche Sonderweg rigider Austeritätspolitik. Staatliche Schuldenausweitung böte zumindest die Chance, ein dringend nötiges Umsteuern in der Wirtschaftspolitik einzuleiten: weg von Öl und Atomkraft, ein anderes Verkehrssystem mit ausgebautem öffentlichem Angebot und Reduzierung des motorisierten Individualverkehrs; Ausbau staatlicher und gemeinwirtschaftlicher Bildungs- und Kultureinrichtungen, etc., etc. Der keynesianische Weg über Staatskredite zeigt ja tendenziell, wie kaputt gesparte Massenkaufkraft substituiert werden kann und wie vor allem der " Sozial-Lohn" sich ausweiten ließe; oder wie selbst Lohnerhöhungen und Arbeitszeitverkürzungen bei vollem Lohnausgleich möglich wären, und vieles mehr.

Wenn heute bei uns fast alle, die man als links-reformistisch oder links-liberal einschätzen kann, für keynesianische Programme mit weiterer, höherer Staatsverschuldung eintreten, sollten sie die in der Vergangenheit gemachten negativen Erfahrungen mit bedenken. Warum ist es nirgendwo möglich gewesen, die Rückführung der Staatsschulden in der Aufschwungphase durchzusetzen, wie eigentlich in Keynes' Programm vorgesehen? Keine Regierung hat es jemals geschafft, die Profiteure von Krisen und Aufschwüngen zur Kasse zu bitten. Stets hat man sich durch die Androhung neuer Konjunktureinbrüche erpressen lassen.

Ohne Umwälzung der Kapital- und Herrschaftsstrukturen wird da wenig zu machen sein. Doch dazu werden Akteure gebraucht, die sich ihrer Sache sicher sind und wissen, was sie wollen. Ohne zur Gegenwehr entschlossene, durchsetzungsfähige Mehrheiten kann das nicht gelingen. Wie es in Bert Brechts "Leben des Galilei" heißt: "Es setzen sich nur so viele Wahrheiten durch, als wir durchsetzen. Der Sieg der Vernunft kann nur der Sieg der Vernünftigen sein." Bleibt es dagegen dabei, dass bei uns zu wenig Aufklärung und Aktivierung der Arbeiterklasse für systemüberwindende Reformen von Seiten der Gewerkschaften geschieht, wird zumindest in unserem Land nur der harte und direkte Sparweg der Austeritätspolitik gefahren werden. Noch einmal soll wie vor 80 Jahren unter den Reichskanzlern Müller und Brüning der Weg des "eisernen Sparens" gegangen werden. Wohin das geführt hat, müsste auch in den Vorständen von IG Metall und ver.di und selbst im regierungskonformen DGB bekannt sein. Was werden sie dagegen tun?

Die Kapitalkräfte der BRD scheinen z. Zt. die Strategie zu verfolgen, für ihren harten Konsolidierungskurs mit Sparauflagen bei Löhnen und Sozialausgaben noch einmal die bewährte Hilfe der Sozialdemokratie in Anspruch zu nehmen, möglichst in einer großen Koalition. Notfalls muss man auch die "Partei Die Linke" mit einbeziehen - allerdings erst, wenn diese ihre Ansprüche auf das Niveau der SPD heruntergemendelt hat. Die großen Medienkonzerne trommeln dafür; ihre Eigner haben erkannt, dass die gelbe Anfängertruppe um Westerwelle nichts bringt außer einem verkorksten Programm zur Einführung einer Mini-Kopfpauschale im Gesundheitswesen oder mickrige Steuernachlässe für ein paar Hoteliers - und selbst das wurde noch schlampig kommuniziert. Die SPD dagegen hat eine lange Tradition als "Arzt am Krankenbett des Kapitalismus". Sie wird so lange gebraucht, wie es ihr gelingt, die Gewerkschaften systemintegrativ einzubinden. Andernfalls hätten Schröder oder Merkel im Verein mit Müntefering und Steinmeier nicht so lange agieren können. Die Merkel-Truppe hat dann den Fehler begangen, sich mit der neoliberal bis zur Dummheit gefärbten FDP einzulassen. Das musste schiefgehen. Unmut kommt auf, weil dadurch zu viel über den eigentlichen Sinn des Kapitalsystems der Profitmaximierung auf Kosten und zum Schaden der Allgemeinheit verraten wird. Wenn gestandene Gewerkschafter das wirklich merken würden, könnten sie richtig sauer werden - was die Unternehmer nicht gebrauchen können. Sie fahren besser, wenn die Arbeitervertreter sich weiterhin ungebrochen in die Techniken des Standortkorporatismus und Co-Managements einbinden lassen.

Bisher scheint solch Ruhigstellen - trotz massiver Sozial- und Lohneinbrüche in der Krise - ganz gut gelungen zu sein; nicht zuletzt durch Ablenkungsmanöver und den Aufbau von Ersatzbuhmännern wie "die Bankster" mit ihrer "unersättlichen Gier nach dicken Boni". Schon die geschickte Differenzierung zwischen "Finanzwirtschaft" und "Realwirtschaft" muss als Irreführung erkannt werden, weil angeblich nur erstere verantwortlich sein soll für die Schwierigkeiten in der braven, noch so richtig arbeitenden, eben "realen" Produktion. Von "Überakkumulation" mit dem "tendenziellen Fall der Profitrate" oder der dem Kapitalsystem immanenten "Konsumbeschränkung der Massen" scheinen deutsche Gewerkschaftsführer nichts gehört zu haben - oder sie haben es wieder vergessen. Warum will man denn nicht sehen, dass beispielsweise die deutschen "Lohnzurückhaltungen" zwar eine Zeitlang die eigenen Arbeitsplätze teilweise "retten" konnten, aber nur um den Preis, dass der eigene Lohn- und Sozialkonsum einbrach, und dass dafür ausländische Kollegen mit Massenarbeitslosigkeit und drohender Armut zahlen müssen? Von effektiver Solidarisierung mit den von deutschen Dumpinglöhnen in Arbeitslosigkeit und Verarmung getriebenen Kollegen in Griechenland, Portugal oder Spanien sieht und hört man wenig.

Auch dass die "Finanzwirtschaft" und die "produzierende Wirtschaft" - wie ebenfalls die "Konsumwirtschaft" integrierte Bereiche sind, deren Zusammenwirken in rechtlicher und administrativer Rahmensetzung durch gesamtkapitalistisch agierende Regierungen sicherzustellen ist, bleibt ausgeblendet. Stattdessen wird lieber wieder einmal der beliebte Weg beschritten, auf einige Bösewichte - diesmal auf die "Finanzhaie" - einzudreschen und vorwiegend deren auswärtige Zentren in der "Wallstreet" oder an der "Londoner Börse" zu skandalisieren. Noch sind wir hierzulande nicht so weit, dass wieder vom guten deutschen "schaffenden Kapital" und dem bösen "raffenden Kapital" schwadroniert wird, aber die gefährliche Personalisierung bestimmter ausgewählter Übeltäter ist schlimm genug, auch ohne direkte Anleihe beim antisemitischen Ticket.

Es ist bezeichnend und ärgerlich, dass bei den zu größerer Publizität gelangten "Firmenrettungen" wie bei Opel, Karstadt oder der Dresdner Bank jeweils mit großem Applaus die erzwungenen "Zugeständnisse" der Belegschaften bei Löhnen, Urlaubszeiten oder verlängerten Arbeitszeiten in den Vordergrund gerückt und mit Lob bedacht werden, auch von den Gewerkschaftsspitzen. Wer weiterhin darauf setzt, dass man durch Kungelei mit dem Kapital - wie jahrelang in den "Bündnissen für Arbeit" - mehr erreichen könne als durch Streik, sollte vielleicht noch einmal beim klugen Bert Brecht in die Schule gehen, z. B. mit dessen Gedicht "Die Hoffenden":
"Worauf wartet ihr? Dass die Tauben mit sich reden lassen?/Und dass die Unersättlichen/Euch etwas abgeben? Die Wölfe werden euch nähren statt euch zu verschlingen!/Aus Freundlichkeit/werden die Tiger euch einladen/Ihnen die Zähne zu ziehen!/ Darauf wartet ihr!"


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Quelle:
Marxistische Blätter, Heft 4-10, 48. Jahrgang, S. 5-11
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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. Oktober 2010