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MARXISTISCHE BLÄTTER/429: Neo-Kolonialmilitarismus und brutal-kapitalistische Krisenbewältigung


Marxistische Blätter Heft 1-10

Neo-Kolonialmilitarismus und brutal-kapitalistische Krisenbewältigung
Eine zeitgemäße Reminiszenz.

Von Hans-Peter Brenner


Es ist fast genau 100 Jahre her: der innerimperialistische Wettkampf der Groß- und Kolonialmächte trieb bereits deutlich erkennbar auf eine große militärische Auseinandersetzung zu. Die Marokko-Krise von 1905/1906 - ausgelöst durch einen heftigen Konkurrenzkampf zwischen den deutschen Konzernen Krupp und Mannesmann auf der einen sowie dem französischen Schneider-Creusot Konzern auf der anderen Seite - brachte Frankreich und das Wilhelminische Deutschland an den Rand eines neues Krieges. Es ging um in Marokko vermutete und vorhandene große Eisenerzlager. Ein Waffengang konnte nur mit Mühe verhindert werden. Und im Mai 1911, als der deutsche Imperialismus mit seinem bewaffneten "Sprung nach Agadir" auf die Besetzung der marokkanischen Hauptstadt Fez durch französische Truppen militärisch reagierte - heizte sich die Kriegsatmosphäre noch weiter auf.

Der Kapitalismus hatte - so schrieb Karl Liebknecht damals in seiner berühmten Studie "Militarismus und Antimilitarismus" - nicht nur zu einer neuen Rolle der Armeen geführt. Die traditionellen Aufgaben des Militärs seien zwar bestehen geblieben - die Bestimmung "zum Angriff nach außen oder zum Schutz gegen eine Gefährdung von außen."

Auch sei die Wahrscheinlichkeit, dass es in absehbarer Zeit in Europa zu einem Krieg kommen werde, tendenziell gesunken - hier irrte Liebknecht sich fürchterlich - dafür seien "jedoch neue, höchst gefährliche Reibungsflächen entstanden infolge der von den sogenannten Kulturstaaten verfolgten kommerziellen und politischen Expansionsbestrebungen, die uns auch die orientalische Frage und den Panislamismus in erster Linie beschert haben, infolge der Weltpolitik, der Kolonialpolitik im besonderen, die ... ungezählte Konfliktmöglichkeiten in sich birgt und die gleich zwei andere Formen des Militarismus immer energischer in den Vordergrund drängt: den Marinemilitarismus und den Kolonialmilitarismus."(1)


Der alt-neue kapitalistische Kolonialmilitarismus

100 Jahre später: Deutsches Heer und Luftwaffe befinden sich wie zu Beginn des 20. Jahrhunderts im neokolonialen Kampfeinsatz auf dem Balkan; in Afghanistan. Deutsche Flottenverbände kreuzen im Mittelmeer, im "Persischen Golf", vor den Küsten Somalias und im Indischen Ozean auf "Patrouillenfahrten". Und ausgerechnet im 65. Jahr der Befreiung vom deutschen Faschismus beginnt eine absurde öffentliche Debatte "Wann dürfen Deutsche töten?" (SPIEGEL Vom 30.11.09)

Die Legende, dass deutsche Soldaten nur zum "Brunnenbauen" und als "Entwicklungshelfer" im Einsatz seien, hat sich spätestens seit dem Massaker in Kundus in Nichts aufgelöst. Es geht "wie zu Kaisers Zeiten" um Marktanteile, Rohstoffe, Transport- und Versorgungswege im Dienste des Kapitals. Dabei wurden und werden auch imperialistische militärische Allianzen gegen die aufmüpfigen kleineren Staaten gebildet. Nicht anders als zu Liebknechts Tagen.

Es wurde, wie K. Liebknecht bereits feststellte, dadurch aber auch eine Gegenreaktion geschürt. Diese reicht von ganz Links bis Ultra-Rechts; sie umfasst alle politischen und religiösen Spektren in den umkämpften Staaten. Der "Panislamismus", so lautete der alte Begriff bei Liebknecht - oder der moderne "islamische Fundamentalismus" sind eine fast natürliche Reaktion, die gar nicht in erster Linie religiös motiviert sein muss, sondern sich aus dem Willen zur nationalen Unabhängigkeit speist.

Kundus, Abu Ghraib - Namen die für besondere Exzesse des neokolonialen Kapitalismus-Imperialismus stehen, bestätigen die von Liebknecht angeprangerte besondere Brutalität dieser Art von Kriegen. "Die Kolonialarmee, die sich vielfach aus dem Abhub der europäischen Bevölkerung zusammensetzt, ist das bestialischste, abscheulichste aller Werkzeuge unserer kapitalistischen Staaten. Es gibt kaum ein Verbrechen, das der Kolonialmilitarismus und der in ihm geradezu gezüchtete Tropenkoller nicht gezeitigt hätte." Sie seien "die Früchte, an denen man das Wesen der Kolonialpolitik erkennt, jener Kolonialpolitik, die unter der Vorspiegelung, Christentum und Zivilisation zu verbreiten oder die nationale Ehre zu wahren, zum Profit der kapitalistischen Kolonialinteressen mit frommem Augenaufschlag wuchert und betrügt, Wehrloser raubt und plündert, Christentum und Zivilisation höhnt und schändet."(2)

Dass selbst abgebrühte Berufssoldaten aus solchen Auseinandersetzungen als Psychiatrie-Fälle aus den Auslandseinsätzen zurückkehren und sich in Bundeswehrkrankenhäusern von den selbst verursachten oder auch nur beobachteten Gräueln wieder psychisch stabilisieren lassen müssen, spricht für die Aktualität der von Liebknecht angeprangerten Verrohung der Militärs. Der "lange Schatten des Krieges" ("DIE WELT" vom 08.01.10, S. 3) verfolgt die Soldaten noch lange. Der ärztliche Leiter der psychiatrischen Abteilung des Bundeswehrkrankenhauses in Berlin, Oberfeldarzt Peter Zimmermann, fordert dringend eine Aufstockung der derzeitig 100 zur Verfügung stehenden Betten ab Mitte dieses Jahres. "Händeringend" wurden ausgebildete Psychiater gesucht, weil im Augenblick nur 20 von 40 Stellen besetzt werden können. Der Anstieg der "Posttraumatischen Belastungsstörungen" (PTBS) bei im Ausland eingesetzten Soldaten sei mit den bisherigen Kräften nicht zu bewältigen.


Der lang ersehnte und herbei gebombte Tabu-Bruch

Erleben wir also nicht 100 Jahre nach Karl Liebknecht eine ähnliche Konstellation mit zunehmender Militarisierung und Brutalisierung bei der Durchsetzung machtpolitischer und vor allem wirtschaftlicher Globalinteressen?

Es war und ist kein Zufall, dass die schändliche Rede des neuen Friedensnobelpreisträgers B. Obama in hiesigen konservativen Kreisen nicht nur als eine persönliche politische Umkehr des neuen US-Präsidenten lauthals bejubelt wurde. Ein Friedensnobelpreisträger, der eine Kriegsbrandstifter-Rede ("Die erste, große ergreifende Rede eines Universalisten" - "DIE WELT" am 11.12.09) beim Empfang dieser Auszeichnung hielt ("Die Mittel des Krieges spielen eine Rolle in der Erhaltung des Friedens."), war das gefundene Fressen für all diejenigen, die anlässlich des 20. Jahrestags des "Mauerfalls" gar nicht laut genug für eine Fortsetzung der konterrevolutionären "Wende" von 1989 die Trommeln rührten. Obama habe "mit Wucht ... das große Friedensgesäusel am großen Friedensort" gebrochen. Er habe endlich Schluss gemacht mit einem "naiven, aber unverantwortlichen Pazifismus" und singe nicht mehr die "großen Lieder der Friedenssehnsucht" aus den 60er- und 70er-Jahren. "Obama hat - bis in die Wortwahl hinein nicht weit von seinem Amtsvorgänger George W. Bush entfernt - ein Plädoyer für die Mission der freien Welt gehalten." ("DIE WELT" vom 11.12.)

Das war und ist es, was seit Jahren von den ideologischen Wegbereitern eines weltweit agierenden deutschen Imperialismus den Massen als Opiat verabreicht werden soll. Ein moderner "Leader", der aufräumt mit dem nur mühsam hingenommenen "pazifistischen Gesäusel", das nach 1945 in der BRD offenbar allzu viele Anhänger gefunden hatte. Dies ist auch der Kern der absurden Debatte um die "Verantwortlichkeit" für den Einsatzbefehl in Kundus und der im bürokratischen Sumpf hin- und hergeschobenen Vollzugsmeldungen. Es geht um den heiß herbeigesehnten "Bruch mit einem Tabu."

Ein Staat der fähig ist, Militärangelegenheiten kritisch aufzuklären, sei zwar ein "ziemlich guter Staat" verkündete Springers intellektuelles "Flaggschiff". Aber eigentlich müsse man jetzt über "weitaus Wichtigeres reden. Nämlich darüber, dass Gesellschaft und Politik wohl den Mut haben sollten, sich damit zu konfrontieren, dass Deutschland in Afghanistan in einen regionalen Krieg verwickelt ist. Aus dem Nationalsozialismus und der Tatsache, dass die deutsche Wehrmacht (nicht jeder Soldat) damals vielfach Verbrechen begangen hat, zog man in der Bundesrepublik eine im Grunde pazifistische Konsequenz: Nie wieder Krieg! ...

Das geht nun nicht mehr. Wir können nicht mehr so tun, als sei die Bundeswehr in Afghanistan eine freundliche Polizei- und Helfertruppe. Wenn sie bleibt, muss sie die Perspektive des Krieges ins Auge fassen. Täte sie das, wäre das wohl der größte mentale Wandel im Selbstverständnis dieser Republik seit ihrem Bestehen." ("DIE WELT" vom 17.12.09)


Zum Zusammenhang von neokolonialistischer Außen- und sozialreaktionärer Innenpolitik

In der anfangs skizzierten Situation zu Beginn des 20. Jahrhunderts schrieb Rosa Luxemburg eine heftige Polemik gegen die Politik der SPD-Führung, die nur sehr zögerlich auf die zugespitzte Kriegssituation reagiert hatte und sich lieber um die Vorbereitung der anstehenden Reichstagswahlen kümmern wollte. Rosa Luxemburg kritisierte ein nach längerem Zögern vom SPD-Parteivorstand endlich doch noch herausgegebenes Flugblatt zur Marokko-Krise, weil es "den Zusammenhang der Weltpolitik mit der kapitalistischen Entwicklung" nicht ausreichend beleuchtete.(3) Das kleinkarierte Starren auf die bevorstehende Reichstagswahl und die Hervorhebung rein innenpolitischer Themen hindere die Sozialdemokratie nicht nur daran, den internationalistischen Verpflichtungen im gemeinsamen antimilitaristischen Kampf von deutscher und internationaler Arbeiterbewegung gerecht zu werden, es verkenne auch den engen Zusammenhang zwischen internationalen und nationalen politischen Aspekten, denen die Sozialdemokratie ein einheitliches politisches Konzept mit sozialistischer Perspektive entgegensetzen müsse.

Scheinbar unaufhaltsam trieb die Welt auf den Horror des Ersten Weltkrieges zu. Doch es war kein anonymes "Schicksal", das diesen Prozess rätselhaft oder irrational vorantrieb. Der Imperialismus als Gesamtsystem und seine jeweiligen nationalen Imperialismen waren und sind keineswegs "blind" gegenüber dieser Gefahr. Sie taumel(t)en nicht einfach nur unter der Führung "unfähiger" oder "verantwortungsloser" Politiker oder Monarchen auf das mörderische Völkerschlachten zu, in dem Generationen junger Männer besonders aus Frankreich und Deutschland auf den Schlachtfeldern zwischen Somme und Marne und in den Schützengräben um Verdun verbluten mussten.

Auch heute wird das "Versagen der Politik" (Süddeutsche Zeitung vom 31.12.09) bemüht, wenn es z. B. um die publizistische Nachbereitung des gescheiterten Klima-Gipfels in Kopenhagen geht.


"Versagt(e)" die Politik?

"Versagt" wirklich "die" Politik, wenn Kriegsvorbereitungen und Kriegshandlungen in Afghanistan oder anderswo nicht eingestellt und sinnlose Debatten um einen unverbindlichen "Akkord von Kopenhagen" geführt werden, der sich in Sachen Klimapolitik mit vagen Absichtserklärungen begnügt? Absolut nicht.

Die Entwicklung der kapitalistisch geprägten Produktivkräfte in Kombination mit der Herausbildung des besonders aggressiv um Weltmarktanteile kämpfenden deutschen Monopolkapitalismus/Imperialismus hatte am Ende des 19. Jahrhunderts zu einer neuen Qualität der Militärtechnik und der militärischen Strategie geführt. Erstmals gab es Massenvernichtungswaffen im modernen Sinne. Erstmals erwartete man einen Weltkrieg, der nicht nur Europa betreffen würde, sondern an dem sich auch die außereuropäischen Staaten aktiv beteiligen würden. Erstmals würde sich auch ein Krieg nicht mehr "nur" zwischen bewaffneten Armeen abspielen - fernab von den besiedelten Regionen und Städten, auf ländlichen Schlachtfeldern.

Das alles wussten die Militärs und Politstrategen längst lange vor dem Kriegsausbruch im August 1914. Bereits 1887 hatte Friedrich Engels vor der neuen Dimension kapitalistischer Kriege gewarnt. Er prognostizierte einen Weltkrieg, und zwar einen "Weltkrieg von einer bisher nie geahnten Ausdehnung und Heftigkeit" und sagte voraus: "Acht bis zehn Millionen Soldaten werden sich untereinander abwürgen und dabei ganz Europa so kahl fressen, wie noch nie ein Heuschreckenschwarm."(4)

Diese Prognose des kommenden Weltkrieges war erschreckend genau. Auf 8.550.500 summierten sich allein die Toten der 10 hauptbeteiligten Staaten, darunter 1.808.500 Deutsche und 1,7 Millionen Russen. Engels nahm den Ersten Weltkrieg auch in seinen politischen Konsequenzen vorweg: "Die Verwüstungen des Dreißigjährigen Krieges zusammengedrängt in drei bis vier Jahre und über den ganzen Kontinent verbreitet. Hungersnot, Seuchen, allgemeine [...] Verwilderung der Heere wie der Volksmassen; rettungslose Verwirrung [...] in Handel, Industrie und Kredit, endend im allgemeinen Bankrott; Zusammenbruch der alten Staaten [...] derart, dass die Kronen zu Dutzenden über das Straßenpflaster rollen und niemand sich findet, der sie aufhebt; absolute Unmöglichkeit, vorherzusehen, wie das alles enden und wer als Sieger aus dem Kampf hervorgehen wird nur ein Resultat absolut sicher: die allgemeine Erschöpfung und die Herstellung der Bedingungen des schließlichen Siegs der Arbeiterklasse."(5)

Die Oktoberrevolution in Russland (1917) und die Novemberrevolution in Deutschland (1918) schienen - zumindest die erstere - Engels Prognosen glänzend zu bestätigen. Was er nicht wusste und nicht wissen konnte, war, dass nach dem Völker mordenden 1. Weltkrieg ein noch gewaltigerer Krieg den Kontinent Europa umpflügen sollte und dann knapp 50 Jahre später eine gewaltige Implosion das Ende des im Gefolge des 2. Weltkrieges entstanden bi-polaren Weltsystems bringen würde.


Vom kurzen Jahrhundert der (Konter)-Revolutionen zum "globalen Nebel"?

So begann das 20. Jahrhundert der großen Kriege und Revolutionen aber auch Konterrevolutionen. Es endete in den hochentwickelten kapitalistischen Gesellschaften, wie der britische Historiker Erik Hobsbawm schrieb, in einem klaren Unterschied zum 19. Jahrhundert. Jenes war eine Epoche "des sicheren, aber nicht-revolutionären Fortschritts", in welcher sowohl in der Natur wie in der Politik "Sprünge nicht gestattet" waren. Man war davon ausgegangen, dass geologische Veränderungen und die Evolution allen Lebens auf dieser Erde ohne Katastrophen und mit nur winzigen Inkrementen vonstatten gegangen seien. Sogar das in ferner Zukunft zu erwartende Ende des Universums würde graduell vor sich gehen, ausgelöst durch die unmerkliche, aber unausweichliche Transformation von Energie zu Hitze, entsprechend dem Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik ("Wärmetod des Kosmos").(6)

Das "Kurze 20. Jahrhundert" habe dagegen mit Problemen (wissenschaftlicher und weltanschaulich-politischer Art) geendet, für die niemand eine Lösung nicht nur nicht besaß, sondern noch nicht einmal vorgab, diese zu kennen oder gar zu besitzen. Das Einzige was beim Übergang ins 21. Jahrhundert von den Menschheitsproblemen im Bewusstsein der Menschen dominiere, sei ein "globaler Nebel" und die eigentlich triviale Gewissheit, dass ein Zeitalter zu Ende gegangen war. Sehr viel mehr wussten sie nicht.

"Zum erstenmal seit zwei Jahrhunderten besaß die Welt in den neunziger Jahren kein internationales System und keine Struktur ... Wo war denn am Ende des zweiten Jahrtausends tatsächlich noch eine internationale Macht, alt oder neu? Der einzige Staat, der noch als Großmacht im 1914er Sinne des Wortes gelten konnte, waren die USA. Doch was das in der Praxis bedeutete, war alles andere als klar. Russland war auf die Größe reduziert worden, die es Mitte des 17. Jahrhunderts gehabt hatte. Noch nie seit Peter dem Großen war dieses Land derart unbedeutend gewesen."(7)

Die "Paradoxie" des vergangenen 20. Jahrhunderts sei - so Hobsbawm - letzten Endes gewesen, dass die "riesige Technologiemaschinerie ... und die Wirtschaft, die durch sie ermöglicht wurde, zunehmend von einem relativ kleinen Personenkreis abhängig wurde, für den die gigantischen Konsequenzen seiner Arbeit sekundär und häufig sogar trivial waren."(8)

Es schien, als sei zu Beginn des 21 Jahrhunderts jegliche sich auf einen sozialistischen gesellschaftlichen Gegenentwurf beziehende Alternative im Chaos des Untergangs des realen Sozialismus ebenfalls mit untergegangen.


Undurchdringlicher "Globaler Nebel"?

Doch der so eindrucksvolle Schein trog. Es gab einige wenige Stimmen, die weiter blickten als auf die siegestrunkenen "Mauerspechte" am Brandenburger Tor. Hobsbawm zitiert in diesem Zusammenhang ausgerechnet einen der großen Antikommunisten des vergangenen Jahrhunderts, den sowjetisch-russischen Schriftsteller Alexander Solschenizyn, der in einem Interview mit der "New York Times" am 28.11.1993 den bevorstehenden Jahrhundert- und Jahrtausendwechsel so bilanzierte: "Auch wenn das irdische Ideal des Sozialismus-Kommunismus zusammengebrochen ist, sind die Probleme geblieben, die zu lösen, er angetreten war: die schamlose Ausnutzung des sozialen Vorteils und die zügellose Macht des Geldes, die häufig den Gang der Dinge bestimmen. Und falls die globale Lektion des 20. Jahrhunderts nicht wie eine heilsame Impfung wird, könnte sich der mächtige rote Wirbelwind erneut zusammenbrauen."(9)

In der neuformierten imperialistischen BRD ragte die Stimme der keinesfalls pro-sozialistischen Herausgeberin der Wochenzeitschrift "DIE ZEIT", Marion von Dönhoff, aus der großen Schar der Jubelchöre heraus, die das Ende der DDR gar nicht lange genug und laut genug beschreien und bejubeln konnten. In einer bemerkenswerten Rede aus Anlass der Verleihung des Erich-Kästner-Preises rief die ehemals ostpreußische Gräfin 1996 dazu auf "Zivilisiert den Kapitalismus."

Denn: "Freiheit ohne Selbstbeschränkung, entfesselte Freiheit also, endet auf wirtschaftlichem Gebiet zwangsläufig in einem Catch-as-catch-can und schließlich in dem Ruf nach einem 'starken Mann', der alles wieder richten soll. Im Osten, wo man dies - am deutlichsten in Russland - beobachten kann, hat man gesehen, dass es keinen Sinn macht, im Kopfsprung aus einer gelenkten Wirtschaft in die freie Marktwirtschaft zu springen und aus einer autoritären Gesellschaft in eine permissive society.

... nicht nur im Osten, auch im Westen sehen wir die Folgen einer Lebensweise, die nur auf den Eigennutz gestellt ist, ohne Verantwortung für das Ganze. Eine Entfesselung aller Begierden ist unvermeidlich: Nie zuvor hat es so viel Korruption bis in die höchsten Kreise gegeben, überall in Europa werden Minister wegen Korruption aus den Kabinetten entlassen, in Italien wurde ein Ministerpräsident zu acht plus fünf Jahren verurteilt ...Erst vor vierzehn Tagen wurden der Vorstandsvorsitzende von Thyssen und fünf Personen aus der obersten Etage des Konzerns wegen Korruptionsverdachts verhaftet und nur gegen Kaution wieder freigesetzt. ... Das normale Rechtsempfinden, das Gefühl für das, was man tut und nicht tut, ist durch das Fehlen ethischer Grundsätze und moralischer Barrieren so verkümmert, dass man sich fragen muss: Kann eine Gesellschaft unter solchen Umständen überhaupt leben?"(10)


Wer regiert die Welt? Erfüllte Prognosen des "Kommunistischen Manifests"

Und jetzt am Beginn des 2. Jahrzehntes des 21. Jahrhunderts: hat sich der "Nebel" gelichtet von dem vor 15 Jahren Hobsbawm sprach? Hat sich die "Paradoxie" der Macht- und Problemkonstellationen in eine logischere und vernünftigere Richtung entwickelt? Kommt das normale (bürgerliche) Rechtsempfinden zu seinem Recht, sind "ethische Grundsätze und moralische Barrieren" (von Dönhoff) gegen Korruption und Willkür wieder aufgerichtet worden? Ist die Welt friedlicher und gerechter geworden? Nichts von alledem ist in Sicht. Das Gegenteil ist der Fall.

Die mit so viel Hoffnungen erwartete UNO-Klimakonferenz in Kopenhagen endete in einem wohlinszenierten zynischen Desaster, angestiftet durch die imperialistischen Großmächte. Der Welthungergipfel der UNO - nur wenige Wochen vorher - schrieb erneut die (planmäßige) Prolongierung von hundertmillionenfachem Tod durch Unterernährung und Lebensmittelverteuerung fest. "Sehenden Auges", so würde ein gutgemeinter hochmoralisch und entrüstet formulierter neuer Kommentar der verstorbenen Gräfin wahrscheinlich formulieren - "taumelt die Welt dem eigenen Verderben entgegen."

Wir sind Zeugen und zugleich Betroffene eines ökologischen Desasters, das sich aber mittlerweile zu einer Existenzbedrohung für die gesamte Gattung Mensch weiterentwickelt hat: Wir leben inmitten einer Massenverelendung und Verweigerung simpelster Subsistenzmittel für Hunderte von Millionen Menschen.

Jean Ziegler, der engagierte sozialistische langjährige Sonderberichterstatter der UNO-Menschenrechtskommission für das Recht auf Nahrung, hat in vielen Büchern, Artikeln und Interviews im Verlaufe des ersten Jahrzehnts dieses Jahrhunderts die Verursacher und die strukturellen Ursachen für den Hungertod so vieler verarmter Menschen in der sog. "3. Welt" angeprangert.

Ziegler beließ es nicht bei wohlfeilen Appellen an die Mildherzigkeit der reichen Staaten und enthielt sich dabei keineswegs einer klaren Adressierung von Verantwortlichkeiten und strukturellen Auslösefaktoren. "Die kapitalistische Produktionsweise breitet sich über die ganze Erde aus, ohne auf ihrem Weg noch auf nennenswerte Gegenkräfte zu stoßen. Das Gesetz der Verhältnismäßigkeit von Produktions- und Distributionskosten setzt sich überall durch ... jedes Gut, jede Dienstleistung wird dort produziert, wo die Kosten am geringsten sind. So wird der ganze Planet zu einem gigantischen Marktplatz, auf dem Völker, Klassen und Länder miteinander in Konkurrenz treten."

Dies schrieb Ziegler bereits 2002 in einem stark beachteten Buch über die "neuen Herrscher der Welt und ihre globalen Widersacher."(11)

Er zitierte darin den französischen Essayisten Philippe Zafirian, der vom "Satellitenblick auf den Globus" spricht, "den die Bosse der Großunternehmen" und die sogenannte "Globalisierung" begründet hätten. Aus deren Warte sei die ganze Welt zu einer Einheit geworden. "Der große Traum vom All-Einen, der die platonischen Philosophen umgetrieben hat, ist endlich verwirklicht. Das All-Eine ist das Hoheitsgebiet des zeitgenössischen Kapitalismus."(12)

Dieses Klage- und Loblied zugleich auf die sog. "Globalisierung", die alles zu einem "globalen Dorf" mache, dieser "Satellitenblick der Kapitalisten," so entgegnet und widerspricht Ziegler, sei aber trügerisch. Er verweist darauf, dass der Terminus "Globalisierung" (Englisch: globalisation) ein "Anglizismus (ist), der in den Sechzigerjahren von dem kanadischen Medientheoretiker Marshall McLuhan und dem amerikanischen Experten für 'Probleme des Kommunismus' an der Universität Columbia, Zbigniew Brzewinski, lanciert wurde." McLuhan war auch der Erfinder des Begriffs "globales Dorf".

Diese Einheit der Welt in einer allumfassenden "Globalisierung" existiert aber gar nicht - so Ziegler. In Wirklichkeit seien heute immer mehr Weltregionen im Zerfall begriffen. "Die Globalisierung oder mondialisation ist ... weit davon entfernt, einer wahrhaft globalisierten wirtschaftlichen Entwicklung zu entsprechen. Vielmehr führt sie zur streng lokalisierten Entwicklung von Geschäftsvierteln, wo die große Unternehmen, Banken, Versicherungen, Vermarktungs- und Vertriebsdienstleister und Finanzmärkte angesiedelt sind." Es sei nur ein "gerippeartiges Netz, das einige große Agglomerationen miteinander verbindet, zwischen denen 'die Wüste wächst'. ... Die Realität der globalisierten Welt besteht in einer Kette von Inseln des Wohlstands und des Reichtums, die aus einem Meer des Völkerelends herausragen."(13)

Die bange Frage eines Kommentars in der "Süddeutschen Zeitung" vom 12.12.09, "Wer regiert die Welt?", lässt sich also einfach beantworten (s. Jean Ziegler). Man muss nicht so tun, als sei dies ein undurchdringliches Geheimnis.

Marxisten wissen ohnehin seit der scharfsinnigen Analyse des "Kommunistischen Manifestes", dass das, was man in den letzten Jahren etwas beschönigend mit dem oberflächlichen Terminus "Globalisierung" bezeichnete, ein Grundzug des Kapitalismus seit seiner frühesten Jugendzeit ist. Seine Macht "kosmopolitisch" (Karl Marx/Friedrich Engels) bis in alle letzten Winkel des Globus hineinzutragen und alles Ständische, Lokal-Bornierte und Hinterwäldlerische, alles was ihm im Wege steht, zu "verdampfen" - koste es, was es wolle - das macht sein wahres Wesen aus.

Am Beginn des 2. Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts erfüllen sich die Prognosen des "Kommunistischen Manifestes" mehr und mehr. Bürgerliche, sich als "kritisch" einstufende Kommentatoren schrecken zurück vor der unheilvollen Kombination von Macht, Ökonomie, Ignoranz und Brutalität. Sie stellen immer häufiger bange Fragen nach dem "Monster Finanzmarkt", der unbedingt "zivilisiert" werden müsse: Sie beklagen zum einen seinen "asozialen Zug" und seine "völlige Unempfindlichkeit, Bindungslosigkeit und Abstraktion von allen sozialen und individuellen Besonderheiten".

Das beunruhige, aber sei kein "Charakterfehler" sondern unvermeidlich,ja sogar ein "konstruktives Prinzip" und notwendig für die Entwicklung seiner "unvergleichliche(n) Produktivität, Innovationskraft und historische (n) Durchsetzungskraft." Deshalb müsse es um die "Umstellung auf den sozialverträglichen Kapitalismus" gehen, auch auf eine "klimagerechte Zivilisation", damit "soziales und individuelles Wohl der wirkliche Sinn des Marktwirtschaftens werden".(14)

Was ruft mehr Erstaunen hervor? Die Deutlichkeit in der Typisierung wesentlicher Seiten des Kapitalismus oder die gleichzeitige Ignoranz gegenüber der Notwendigkeit dieses System aus der Geschichte zu verabschieden? Der Wolf soll die Schafe nicht fressen, sondern ihr Wachhund sein?!

Psychiater und Psychotherapeuten würden diagnostizieren: Ein klarer Fall von Schizophrenie und zwar "chronisch und undifferenziert" gemäß Ziffer F 20.5 aus "ICD 10", dem "Internationalen Klassifikationssystem psychischer Störungen".


Hans-Peter Brenner, Dr., Bonn, Dipl. Psychologe, MB-Mitherausgeber


Anmerkungen:

(1) K. Liebknecht: Militarismus und Antimilitarismus unter besonderer Berücksichtigung der internationalen Jugendbewegung, in: Reden und Aufsätze in zwei Bänden, Frankfurt 1971, Bd. 1, S. 75

(2) K. Liebknecht, a. a. O., S. 79

(3) R. Luxemburg: Unser Marokko-Flugblatt. In Ausgewählte politische Schriften in drei Bänden, Band 2, S. 177

(4) F. Engels: Über die Gewalttheorie, Verlag Neuer Weg, 1946, S. 47

(5) F. Engels: ebenda

(6) Eric Hobsbawm: Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts. Frankfurt 1995, S. 677

(7) Hobsbawm: a. a. O., S. 688

(8) Hobsbawm: a. a. O., S. 686

(9) A. Solschenizyn, in: New York Times, 28. November 1993. Zit. n. E. Hobsbawm: a. a. O., S. 688

(10) http://www.zeit.de/1996/36/rede.txt.19960830.xml

(11) Jean Ziegler: Die neuen Herrscher der Welt und ihre globalen Widersacher, München 2002, S. 29

(12) Philippe Zafirian: L'Emergence d'un Peuple-Monde, Paris 1999, S. 3. Zit. N. Ziegler. A. a. O., S. 28

(13) Ziegler: a. a. O., S. 31

(14) A. Zielcke: Wer regiert die Welt? in Süddeutsche Zeitung vom 12.12.09. S. 4


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Quelle:
Marxistische Blätter, Heft 1-10, 48. Jahrgang, S. 23-30
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veröffentlicht im Schattenblick zum 19. März 2010