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MARXISTISCHE BLÄTTER/405: Über die Notwendigkeit emanzipatorischer Kunst


Marxistische Blätter Heft 4-09

Über die Notwendigkeit emanzipatorischer Kunst
Oder: Das Beispiel eines Rosa-Luxemburg-Denkmals 2009

Von Heike Friauf


Ein auffälliges Kunstereignis des Jahres 2009, völlig unerfaßt von den herrschenden Medienüberdrehtheiten in Sachen Kunst, ist die Enthüllung einer Skulptur anläßlich des 90. Jahrestags der Ermordung von Rosa Luxemburg. Auffällig in mehrfacher Hinsicht: Zum einen, weil die Aufstellung dieser lebensgroßen Figur der Revolutionärin zum zweiten Mal möglich wurde. Zweitens, weil bedeutsame, auch linksparteiinterne Kontroversen der Aufstellung der Skulptur vorausgingen. Drittens und vor allem durch die Arbeit des Künstlers Rolf Biebl, der sich der besonderen Herausforderung von Thema, gesellschaftlichem Auftrag und abendländischer Denkmalstradition stellte. Zu dieser Tradition gehört beispielsweise das "Revolutionsdenkmal" für Luxemburg und Liebknecht, von Mies van der Rohe, im Auftrag der KPD geschaffen, 1926 eingeweiht, von den Faschisten 1935 zerstört und später nie wieder aufgebaut.

Frigga Haug, marxistische Soziologin und Feministin, mit Leben und Werk Luxemburgs bestens vertraut, sieht die Schwierigkeit im Umgang mit Rosa Luxemburg in ihrer vielfältigen Figur "als Polin, als Jüdin, als Frau, als Intellektuelle, als Marxistin. [...] Dies nicht zu bearbeiten und nicht für eine hochpolitische Angelegenheit zu halten, würde alle Versuche, sich wirklich an Luxemburg zu erinnern, ihr ein Denkmal zu setzen, vergeblich machen", schreibt Haug (2000, 222). "Nach meinem Dafürhalten schließen alle Überlegungen und Vergegenwärtigungen über das Luxemburgbild im Alltagsverstand eine irgendwie realistische Annäherung an ihre Erscheinung übersetzt in Denkmalform aus." Das Mißtrauen der feministischen Wissenschaftlerin gegenüber der öffentlichen Aneignung einer intellektuellen Frau ist mehr als berechtigt, doch ihre Argumentation verläuft außerkünstlerisch. Die Ablehnung oder, vorsichtiger formuliert, die Scheu gegenüber einer künstlerischen Lösung, die nicht auf vertrautem schriftlichen Wege daherkommt, ist, nebenbei bemerkt, symptomatisch für schreibende Intellektuelle. "Wäre ich Bildhauer", so Haug weiter, "würde ich den Stier bei den Hörnern packen und umgekehrt ansetzen, beim Volksvorurteil. Ich würde die Täter abbilden, die Auftraggeber in Staat, Partei, Wirtschaft, das Volk, soweit es in dumpfen Vorurteilen solche Taten wie die Erschlagung der Rosa Luxemburg ermöglicht - immer wieder." Ungeachtet der Möglichkeit, dass dies ein lehrreiches Objekt sein könnte, man stelle sich einen Spottbrunnen auf einem zentralen Marktplatz vor, bleibt doch die Frage, wie eine nicht nur inhaltlich begründete, sondern künstlerische Lösung aussieht.

Rosa Luxemburg selbst erscheint in diesem Punkt deutlich zukunftsfreudiger, wie Frigga Haug selbst zitiert. Sie sah bei aller Brutalität der sich fortentwickelnden kapitalistischen Gesellschaft, "welche kolossalen Produktivkräfte im Schoße unserer Gesellschaft schlummern und welcher Aufschwung der Fortschritt und die Kultur nehmen werden, wenn sie einmal die Fesseln des kapitalistischen Interesses losgeworden sind."

Für eine Skulptur manifestieren sich die Fesseln des kapitalistischen Interesses im Kunstmarkt. In dessen zynischen Mühlen ist die Frage nach der Qualität eines Kunstwerks zu sekundärer Bedeutung abgesunken, wenn sie überhaupt noch eine Bedeutung hat. Es kann nicht genug betont werden, dass spätestens seit den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts gerade linke Intellektuelle an der Abwertung, wenn nicht gar Zerschlagung des Kunstbegriffs mitgewirkt haben, was sich in vollkommener Relativierung aller Qualitätsvorstellungen bis hin zum irrationalen "Jeder-ist-ein-Künstler-Postulat" Beuys'scher Prägung zeigt. Die Abstrakte Kunst, die direkt nach dem 2. Weltkrieg von den USA auf den europäischen Markt gedrückt wurde, erhielt den Stempel "modern", während doch in Europa bereits seit etwa 1900 entscheidende Schritte zur Abstraktion gemacht wurden (Kandinsky, R. Delaunay, im Kubismus, im Futurismus, im Jugendstil usw.). Als im Zuge des Kalten Krieges in Westdeutschland Nazikunst und Sozialistischer Realismus in einen Totalitarismus-Topf geworfen wurden, war es mit der vielbeschworenen "Freiheit der Kunst" endgültig vorbei; die mehrheitlich weiterhin realistisch arbeitenden Künstler wurden in der Öffentlichkeit kaum noch zur Kenntnis genommen, wenn doch, konnte ihnen passieren, dass sie als "reaktionär" verunglimpft wurden. (Welche Propagandamaschine unter dem Etikett "Freiheit der Kunst" in Gang ist, ist gerade dieser Tage genauestens zu studieren anhand der Aussagen und Veröffentlichungen zur Ausstellung "60 Jahre BRD-Kunst" im Berliner Martin-Gropius-Bau, doch jenes Thema erfordert gesonderte Betrachtung.)

Eine Verwertungsmaschinerie war seit der Nachkriegszeit in Gang gekommen, in der Galeristen, Sammler, Kunstvereinsleiter und Museumsdirektoren zusammenspielten, die einzelne Künstler in den Olymp hob oder fallen ließ, während die Mehrheit der künstlerisch Tätigen mit immer weniger Mitteln auskommen musste. Wer den bisherigen Qualitätskanon der "elitären" Museumshallen aufbrechen, also "modern" sein wollte, der setzte auf Abstrakte Kunst, Minimal Art, Konzeptkunst oder besser Concept-art, Pop Art, Performances, Videoinstallationen und dergleichen - Spielformen, die auf Interpretation und Vermarktung angewiesen sind, deshalb genau genommen auch ohne Künstler auskommen, wenn man den "Vermarktungskünstler" einmal beiseite läßt, der sich in der Regel im Galeristen, Feuilletonisten oder Ausstellungsmacher personifiziert. Dass er damit die Markt- und Machtinteressen von Kunsthändlern oder Sammlern wie Peter Ludwig, um ein besonders spektakuläres Beispiel zu nennen, bediente, kam kaum einem "progressiven" Kunstfreund in den Sinn. Kunstkritiker spielten das Spiel mit und verzichteten in Lobeshymnen oder Verrissen zusehends auf die eigentlich notwendigen Fragen nach Material und Technik, nach der Beziehung zwischen Thema und Ausführung, nach Kunsttheorie und -geschichte.

Selbstverständlich geht es hier nicht um Ablehnung oder Befürwortung bestimmter Kunstrichtungen. Auch, wie in der linken Diskussion gern vorgeschlagen, nicht um die vorgetragene gesellschaftspolitische Absicht hinter einem Werk. Zu unterscheiden ist zwischen Kunst und Nicht-Kunst. Anders formuliert: Die Form des Kunstwerks ist nicht beliebig, sondern entscheidend; es ist "primär zu fragen, ob die Form uns über das nivellierte, angepaßte Alltagssehen hinausführt, zum Nachdenken hinführt" (Hans Heinz Holz, UZ vom 29.8.2008). Reflektiert die Form die Wirklichkeit oder gibt sie sie vielleicht bloß wieder? - Als hätten wir nicht Jahrhunderte spannendster Kunstentwicklung vor Augen, passiert Zerstörerisches. Auf dem Weg zur Perfektionierung des Warencharakters von Kunst spielen nun Akteure wie Andy Warhol und seine Wegbereiter und -begleiter sowie ihre vermarktungsfähigen Produkte eine führende Rolle. Die Figur des Kritikers allerdings auch. Der Kritiker erst schmiert die Verwertungsmaschine, indem er die zur Kunstpräsentation zwingend erforderlichen und dafür vorfabrizierten Interpretationsmuster übernimmt, auch selbst solche produziert und vor allem mitentscheidet, wer Erwähnung findet und wer nicht. Das gilt heute mehr denn je. Lukács konstatierte 1939, und es ist weiterhin mitzubedenken, "dass der ideologische Widerstand der Kritiker und Literarwissenschaftler unserer Zeit - auch bei bestem Wissen und Glauben - gegenüber den Wünschen der allgemeinen Politik ihrer Klasse im allgemeinen sehr schwankend und schwach ausfallen muss".

West-Linke befeuerten noch die aus vorgeblicher Demokratisierung der Kunst konsequent folgende "Entmündigung der Künstler" (so nannte der Kunsttheoretiker und Bildhauer Jürgen Weber seine Untersuchung der Geschichte und Funktionsweise der bürgerlichen Kunsteinrichtungen). Bis heute fordern und fördern sie "engagierte Kunst". Sicherheitshalber sei notiert, dass engagierte, für den politischen Kampf geschaffene Kunst höchst achtenswerte Ergebnisse zeitigen kann. Es gibt nun mal "Zeiten und Verhältnisse", hält Hans Heinz Holz fest (1997,49), "in denen die sozialen und politischen Auseinandersetzungen in der Gesellschaft so akut sind, dass auch die bewußtseinserweiternde Funktion der Kunst sich nur dort zeitgemäß äußert, wo sie unmittelbar gesellschaftlich relevante Verhaltensweisen provoziert. Dann sprechen wir im engeren Sinne von 'engagierter Kunst', deren Geschichtlichkeit sich darin bewährt, dass sie politisches Bewußtsein aktiviert."

Kunst hat jedoch per se eine "antimanipulative Tendenz" (Holz), wodurch sie zur Selbstreflexion des Menschen beiträgt und das Potential besitzt, herrschende Gesellschaftsverhältnisse zu untergraben. Sie muss sich nicht extra "engagieren". Die Politisierung der Kunst, die mit der Krise des Spätkapitalismus voranschreitet, ist sowieso nicht mehr rückgängig zu machen. Man könnte stundenlang zeitgenössische Kunstprodukte auf ihre politische Correctness hin untersuchen, doch was für eine unsinnige Zeitverschwendung wäre das. Schlimmer noch: Man würde den Nachfrage-Angebots-Charakter des Kunstwerks, also seine Bedeutung als Ware, hier als Ware auf dem linken Diskurs-Markt, verstärken. Eine Ausstellung "Künstler für den Frieden" ist hoch zu achten. Aber: Wenn hinter dem gesellschaftlichen Thema das einzelne Kunstwerk zurücktreten muss, ja wenn sogar ein schreckliches Werk ausgestellt werden kann, solange nur sein Anliegen stimmt, dann liegt ein Mißverständnis vor. Es ist höchste Zeit, sich über dieses und andere Mißverständnisse, den Umgang der Linken mit Kunst betreffend, Klarheit zu verschaffen.

Picasso musste nicht aufgefordert werden, Guernica zu malen. Es "gehört die Humanität", so Lukács, "d. h. das leidenschaftliche Studium der menschlichen Beschaffenheit des Menschen, zum Wesen jeder Literatur, jeder Kunst; im engen Zusammenhang hiermit ist jede gute Kunst, jede gute Literatur auch insofern humanistisch, als sie nicht nur den Menschen, das wirkliche Wesen seiner menschlichen Beschaffenheit leidenschaftlich studiert, sondern zugleich auch die menschliche Integrität des Menschen leidenschaftlich gegen alle sie angreifenden, entwürdigenden, verzerrenden Tendenzen verteidigt."

Von dieser Prämisse aus muss die Arbeit eines Künstlers in unserer Zeit betrachtet werden. Nimmt man sie als Trennmesser, fallen die meisten kunstgewerblichen Bastelarbeiten in Galerien, Museen und Messehallen einfach weg und es wird verblüffend und angenehm ruhig um die zeitgenössische Kunst.

Die mehrjährige Kontroverse um das Denkmal für Rosa Luxemburg ist symptomatisch für das angedeutete Problem von Linken mit der Kunst. Bereits 1999 wurde ein erster Guß von Biebls Rosa-Luxemburg-Statue aufgestellt, und zwar im Ensemble mit Reliefs der Berliner Bildhauerin Ingeborg Hunzinger vor dem Karl-Liebknecht-Haus in Berlin, dem früheren Sitz der KPD und jetzigen Haupthaus der Partei Die.Linke am Rosa-Luxemburg-Platz. Dieses Ensemble war von kunstsinnigen Parteimitgliedern, koordiniert vom Antieiszeitkomitee, in Auftrag gegeben und durch Spenden finanziert worden. Doch kurz nach der Aufstellung wurde es verschoben an einen "kaum mehr öffentlich zu nennenden Platz" (KD Haas in Ossietzky 25, 2008). Es war maßgebenden Parteimitgliedern mehr als ein Dorn im Auge, hatte im Vorfeld heftige, auch kunstpolitische Diskussionen ausgelöst, auf deren Höhe- bzw. Tiefpunkt der nachmalige Kultursenator Berlins, Thomas Flierl, damaliger kulturpolitischer Sprecher der PDS-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus, den Denkmalsentwurf von Hunzinger und Biebl als Beispiel eines "vormodernen Kunstbegriffs" brandmarkte und seine Partei warnte, sie verschwinde "kulturell im Pleistozän" , wenn sie sich für die geplante realistische Darstellungsweise entscheide.

Womöglich würden einzelne Teilnehmer die Diskussion heute anders führen, die Folgen bleiben jedoch, denn an Stelle von menschlicher Figur und figürlichem Relief erhielt der Luxemburg-Platz 2006, nach einer aufwendigen Ausschreibung, ein "Denkzeichen" genanntes Denkmal des Künstlers Hans Haacke. Haacke ist bundesweit bekannt durch sein erdgefülltes Beet im Reichstag. (Es erübrigt sich hier, auf die Interpretationsbedürftigkeit des konzeptuellen Begriffs "Denkzeichen" einzugehen.) Die Arbeit besteht in mehreren in das Trottoir eingelassenen Schriftbalken mit Zitaten Rosa Luxemburgs, über die man im wahrsten Sinne des Wortes hinweggehen kann - bei Entstehungskosten von laut Pressemitteilungen 410.O00 Euro. Die metallenen Textschnipsel sind beliebig über den Platz verstreut und geben weniger als undeutlich die revolutionäre antikapitalistische Grundhaltung Luxemburgs wider. Als im Zuge von Bauarbeiten Ende 2008 das Pflaster aufgerissen werden musste, klopften die Bauarbeiter anschließend die vom Aufriß betroffenen Textplatten nach Lust und Laune wieder in den Boden, so dass Sinnzusammenhänge zerrissen wurden - selten werden so deutlich Beliebigkeit und sogar Austauschbarkeit zeitgenössischer Kunst vorgeführt.

In einer denkwürdigen Verbindung aus dem Engagement einzelner Künstler, darunter Biebl selbst, der Tageszeitung junge Welt, die ihren Sitz am Rosa-Luxemburg-Platz hat, und vieler privater Spender wurde ein Zweitguß der bronzenen Rosa Luxemburg möglich, der im Januar 2009 von der jungen Welt auf dem Platz vor ihren Büroräumen öffentlich aufgestellt wurde, pikanterweise direkt gegenüber dem Karl-Liebknecht-Haus.

Der 1951 in Klingenthal im Vogtland geborene und an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee ausgebildete Bildhauer und Maler Rolf Biebl steht in der Tradition des interpretierenden Realismus. Das mögen manche angesichts der für ihn typischen, den Menschen verdreht, verzerrt, entgrenzt abbildenden Skulpturen und Bilder kaum glauben. Es ist tatsächlich ein weiter, kunsthistorisch aber eben doch konsequenter Weg vom "Barberinischen Faun", dem sinnlich hingegossenen Bilderbuchjüngling der griechischen Antike (um 220 v. u. Z., Glyptothek München), bis zu Biebls "Galionsfigur", einem zivilisationsversehrten jungen Mann, der ausgemergelt den Sprung ins 21. Jahrhundert versuchen muss (1998, Jugendfreizeiteinrichtung Berlin-Karow).

Biebls eigenwillige Kunstsprache fällt auf und erregt Anstoß, seine großformatigen, oft grellfarbenen Gemälde erinnern bei oberflächlicher Betrachtung an Pop Art und Kinoplakate, bei genauerer Betrachtung rühren die Portraits an, beeindruckt die konsequente Auseinandersetzung mit der Verletzlichkeit des Menschen. Es wäre einfach für ihn, sich der neoliberalen Medienwelt einzupassen, er müßte nur - Hauptmerkmal heutiger Kunstproduktion - "ironisch" agieren. Doch mit Ernst, Staunen und dem unendlichen Mitgefühl des künstlerisch Tätigen widmet er sich dem Menschen und seinem Maß.

Dabei verschließt sich Biebl keineswegs dem öffentlichen Kunstbetrieb. Andernfalls würde er binnen kurzem verarmen, könnte auch kein Material zur weiteren Arbeit erwerben. Derzeit arbeitet er an einem Auftrag der Ernst-Freiberger-Stiftung, für deren Denkmalzeile am Berliner Spreeufer er bereits ein Portrait Mies van der Rohes anfertigte. Solche Aufträge können zu merkwürdigen Anpassungsprozessen führen. Der neue Auftrag wurde anläßlich des Jahrestages des Falls der Berliner Mauer erteilt. Biebl hat sich für eine lebensgroße nackte männliche Figur entschieden, ein klassisches Motiv, doch diese Figur drängt sich, kaum ist's zu glauben, durch eine Mauer. Das männliche Geschlechtsteil war den Auftraggebern, nebenbei bemerkt, bisher zu deutlich ausgearbeitet - wir bewegen uns hier in der Stadt des Pergamon-Museums und einer beeindruckenden Antikensammlung - und sollte entfernt oder zumindest unterdrückt werden, da es vom Thema ablenken könne. Der Bildhauer wird eine Lösung finden, doch zurück zur Kunst.

Wie kommt es, das die lebensgroße Skulptur Rosa Luxemburgs exemplarisch ein humanistisches Menschenbild zum Ausdruck bringt, das im postmodernen Kunstbetrieb fast unmöglich geworden ist? Der Künstlerkollege Thomas J. Richter hat sie gar als "Gräte im Hals des kapitalistischen Kulturbetriebs" bezeichnet. Die bronzene "Gräte" weist mit Längungen und Drehungen Biebls Formsprache auf. Doch zugleich weist sie in ihrem Beharren auf dem realistischen und singulären Menschenbild über den Künstler hinaus, läßt ihn als Schöpfer und gleichzeitig als Teilnehmer an einem größeren kunsthistorischen Prozeß erscheinen.

"Zu den Gewandfalten gesellen sich Fehlstellen des Bronzegusses als Metaphern für Verletzungen, für die tödliche Gewalt, die Rosa angetan wurde. Um die Füße bricht ein wahres Faltengewitter los, wie es Biebl an spätgotischen Skulpturen studieren konnte. Es suggeriert ebenso ein mutiges 'Vorwärts!' im geschichtlichen Sturmwind, wie es den Schritt zu fesseln scheint", beschreibt der Kunsthistoriker Prof. Peter H. Feist. Auffallend auch die überlangen Arme, der linke in der Schrittbewegung leicht nach vorn genommen, die Hand zur Faust geballt, der andere nach unten gerichtet. Die Brüste sind nicht weiblich ausgeformt, sondern von einem irritierend mehrgliedrigen Panzer geschützt, der gleichzeitig für Schutzbedürftigkeit wie für Durchsetzungsfähigkeit steht. Rosa Luxemburg begegnet uns, ohne jeden Denkmalssockel, auf Augenhöhe.

Die Figur unterscheidet sich eklatant von anderen Werken Biebls: Sie führt den Bildhauer aus der beinahe pathologischen Morbidität vieler seiner Plastiken zu einem hochsensiblen Ausdruck menschlicher Gedanken- und Tatkraft. Vielleicht begegnen wir hier einem Grundphänomen der Kunstgeschichte. Der Künstler erhält einen gesellschaftlichen Auftrag und macht aus seiner Individualhaltung heraus einen bemerkenswerten Sprung zu einer erweiterten Formensprache. Das Thema, die unbezweifelbare Bedeutung und Größe Rosa Luxemburgs und ihr besonderes Schicksal, fordert offensichtlich die Erweiterung der eigenen Sensibilität und Ausdrucksmöglichkeiten. Rosa Luxemburg eignet sich weder für simpel abbildende Heldenverehrung noch für den coolen postmodernen Distanzblick. Unvermeidlich und vielleicht auch ohne sich selbst vollständig darüber Rechenschaft ablegen zu können, zeigt Biebl "die Wahrheit über innere Widersprüche" (P. H. Feist).

Die Figur mag das ästhetische Empfinden mancher Luxemburg-Verehrer stören, denen eine rein naturalistische oder womöglich schönende Abbildung lieber gewesen wäre. Ihre Bedeutung als künstlerisch und politisch hervorstechendes Denkmal steht außer Frage. Dennoch hat sie in ihrem Rückgriff auf die traditionelle figürliche Darstellung keinerlei Aussicht, vom populären Kunstdiskurs wahrgenommen zu werden. Dort werden Waren verhandelt, gern auch "gesellschaftskritische. Das atemberaubende Tempo, in dem dieser Tage die plakativen Arbeiten eben noch hoch gehandelter deutscher Maler wie Neo Rauch oder Norbert Bisky von den noch plakativeren Arbeiten chinesischer Macher abgelöst werden, kann jeden, der sich die kosmopolitische Durchgestaltung von Produktion und Konsumtion noch nicht klargemacht hat, schwindeln machen. Der Markt gehorcht seiner inneren Logik, Kunst ist nur eine besonders bunt schillernde Ware, der ein besonders hoher Selbstvergewisserungskoeffizient zugewiesen wird.

Dem grassierenden Werterelativismus folgend, steigt der Einfluß verschiedenster religiöser Gruppen, seien es nun Buddhisten oder Baptisten. Parallel dazu gewinnt die Kunst einen quasireligiösen Charakter. Sie eignet sich als einerseits alle Menschen "irgendwie" berührendes, andererseits dem herrschenden Irrationalismus anheimgefallenes Gesellschaftsspiel für Sinnstiftungen verschiedenster Art. Dabei wird sie zu einem Massenphänomen neuer Prägung. Wer nicht zur Documenta nach Kassel pilgern kann, muss wenigstens bei der Berliner Impressionisten-Ausstellung Schlange gestanden haben. Es gibt damit unter neuem Vorzeichen die bekannte Predigt auf freiem Feld. Mit der dafür notwendigen Konsumentenhaltung wird auch das letzte eventuell noch vorhandene Widerstandspotential künstlerischer Werke ausgeschaltet.

Gleichzeitig werden Formen der Privataudienz immer elaborierter. Notfalls fliegt man im eigenen Heli zur Art Basel in Miami, was nicht ganz so exklusiv ist wie die Privatkapelle früherer Zeiten, sich aber im Zeitalter der massenhaften Hyperindividualisierung gut zur Distinktion von anderen Angehörigen der eigenen Herrschaftsklasse und zugleich zur Selbstvergewisserung als Herrschaftswesen eignet, Bewunderung durch die Massen eingeschlossen. Wenn es bei dem "Ich war dabei!"-Schrei egal ist, ob er sich auf das allerletzte Abschiedskonzert der Rolling Stones bezieht, auf das päpstliche Urbi-et-Orbi oder auf eine MoMa-Ausstellung, dann ist dieser Ausruf eben nicht Ausdruck des Individuums, das an einem Vergesellschaftungsprozeß teilgenommen hat, sondern Ausdruck der Entfremdung, vor der auch das Bedürfnis des Menschen nach Anregung und Schönheit nicht gefeit ist.

Thomas Metscher weist darauf hin, und es sei hier vorsorglich wiederholt, dass mit der Kategorie der Entfremdung nicht die schicksalhafte Ausweglosigkeit à la Nietzsche oder Adorno gemeint ist, sondern der Marx'sche Ansatz, nach dem gerade auf dem Gebiet der Kultur Widerstandspotential erwachsen könnte. Insofern ist der Begriff der Entfremdung, wie von Werner Seppmann und anderen wieder in die Diskussion geholt, für die weitere kulturpolitische Auseinandersetzung von zentraler Bedeutung. Die politische Arbeit setzt bei der menschlichen Sehnsucht nach Verbesserung der Verhältnisse an, bei, mit Leo Kofler gesprochen, "der Sehnsucht nach dem Nochnichtseienden". "Nicht nur bildende, sondern auch darstellende und musikalische Kunst dienen sowohl als Anstöße, um die im Erotischen des Alltags bereits angelegte Sehnsucht in Gang zu bringen, wie auch als Produzenten aktiver erotischer Betätigung. Sagt Marx, 'dass die Welt längst den Traum von der Sache besitzt, von der sie nur das Bewusstsein besitzen muss, um sie wirklich zu besitzen', so ist es vor allem der Alltag, in dem dieser Traum geträumt wird. Die Kunst ist die wichtigste Säule dieses Traumes." (Leo Kofler)

Wie bereits angedeutet, ist es die wunderbarste Aufgabe des Künstlers, den befreiten, den schönen Menschen zu zeigen - und nicht, stetig rückblickend und dadurch perpetuierend, die Fesseln. Diesen Kunstbegriff, der so alt wie gültig ist, muss die emanzipatorische Linke sich neu erarbeiten, andernfalls bleibt ihre Kulturdebatte in Detailfragen und - schlimmer noch - in Geschmacksgeplänkel stecken. Ihr Widerstand gegen die "postmoderne" Relativierung aller Werte und Begriffe war bisher zu schwach, die Liebe zur Kunst bleibt oft Behauptung, der Behauptung folgt zu selten Vertiefung. "Die Weigerung", mutmaßt der marxistisch geschulte Maler, Schriftsteller und Kunstkritiker John Berger, "ein vergleichendes Urteil über Kunst abzugeben, rührt letztlich daher, dass ein Glauben an den Sinn der Kunst fehlt." Welches Potential, auch Widerstandspotential, in der sich künstlerisch artikulierenden Schaffenskraft der Menschen steckt, muss im Grunde nicht erklärt werden, man sieht es in Werken von beispielsweise Hrdlicka, Schostakowitsch, Neruda, Weiss. Doch statt Kultur als konstituierend für die Menschheit zu begreifen und Künstler (gemeint sind tatsächlich künstlerisch Tätige, nicht Produzenten von Kunstwaren) konsequent zu fördern, wird dieser "Luxus" von politisch Aktiven im politischen Alltagsgeschäft rechts liegengelassen, woran auch einige Randveranstaltungen nichts ändern.

Damit unterliegen auch sozialistische Linke, ob sie sich das klarmachen oder nicht, dem herrschenden Bewußtsein, das sich durch ahistorische Relativierung aller Begriffe und vollkommene Auflösung des Wahrheitsbegriffs auszeichnet. Pseudokulturelle Erscheinungen wie der kunstverachtende Kunstmarkt oder kulturelle Massenveranstaltungen bis hin zum Fernsehprogramm unterfüttern den immer rasanter ablaufenden reaktionären Umbau der Gesellschaft und müssen analysiert werden. Doch auf der Ebene dieser Erscheinungen ist derzeit nicht viel zu bewirken. Es muss sich in der Linken offensichtlich noch die Erkenntnis durchsetzen, dass die Emanzipation des Menschen nur durchsetzbar ist, wenn er als Kulturwesen ernstgenommen wird. Woraus auch folgt, dass sie unser humanistisches Erbe bewahren muss. Welche andere gesellschaftliche Kraft könnte es sonst retten?

Betrachtet man aktuelle Arbeiten marxistischer Denkerinnen und Denker zu Ästhetik und Kunst, stellt man fest, wie selten sich jüngere zu Kulturfragen äußern - und wie selten außerhalb von Fachmedien. Wahrscheinlich ist bereits mehr von unserem Erbe untergegangen, als wir uns eingestehen. Dagegen stehen vereinzelte positive Signale (um einige subjektiv ausgewählte Beispiele zu nennen: die kulturtheoretischen Arbeiten, die die Tageszeitung junge Welt auf ihren Thema-Seiten veröffentlicht, so Hans G Helms ausführlich und wunderbar bebildert zu Diego Rivera, Hans Heinz Holz zu Fernand Löger, Werner Seppmann zur Documenta 12, Gerhard Wagner zu Paul Klee, die Kulturglossen von Reinhard Jellen, die kulturpolitische Diskussion, die 2008 in der UZ geführt wurde).

Das Terrain für humanistische Kunst ist bei genauerer Betrachtung unerwartet offen. Ein sozialistischer Künstler, eine sozialistische Künstlerin könnte Avantgarde-Funktion ausüben, indem er oder sie sich der herrschenden Kultur entgegensetzt und Kunstwerke für sinnenfrohe und ihrer Sinne mächtige Menschen schafft. Indem der Künstler den Menschen zum Maß nimmt, nicht die Vermarktungsmöglichkeiten des eigenen Werks. (Davon leben könnte er allerdings bisher nicht.) Da der Avantgarde-Begriff wie viele andere Begriffe bis zur Unkenntlichkeit relativiert und zusätzlich als Marketingmittel vernutzt wurde, liegt nahe, auf ihn zu verzichten und statt dessen das Konkret-Humane der Kunst zu betonen. Ich möchte jedoch vorschlagen, für die Kunst neben der "Erarbeitung eines kritischen Begriffs der gegenwärtigen Gesellschaft" (Metscher, Topos 30, 116) auch den Blick auf die zukünftige Gesellschaft und damit eine auf sie weisende Avantgarde zu fordern. Der Grat zwischen vorwärtsgewandter humanistischer Kunst und rückwärtsgewandter Besinnung auf überlieferte Kunstformen und damit verbundenen künstlerischen Rückschritten ist sehr schmal und zudem für Laien schwer zu bestimmen. Es ist ungemein schwierig, Anforderungen an einen sozialistischen Künstler zu formulieren. (Metscher erinnert in diesem Zusammenhang für die Literatur an die "Fünf Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit", die Brecht 1935 formulierte.) Die Diskussion kann auch nicht ohne Bezug zum Sozialistischen Realismus, zu seinen Aussagen und zu deren Diffamierungen, geführt werden, was die Sache zusätzlich erschwert. Aus diesem Dilemma führt immer wieder nur die genaue Betrachtung und die Vertiefung der Kenntnisse, wobei die Unterstützung der Künstler nicht vergessen werden darf. Ihre Arbeit ist Teil des Kampfs gegen Entfremdung und Barbarisierung.

Kunst ist per se emanzipatorisch. "Das meint nicht", so Metscher (Topos 29, 101), "dass ein Künstler 'Marxist' sein muss, um heute bedeutende Kunst zu machen, es meint allein, dass er wesentliche Kenntnisse über die gegenwärtige Gesellschaft besitzen muss - wie er zugleich über einen normativen Horizont verfügen muss, ein Ethos, das die Erkenntnis barbarischer Zustände erst ermöglicht." Biebls Bronze ist ein Hoffnungsschimmer im Jahr 2009, ein humanistisches Signal voller Ausdruckskraft, Freude und Provokation.

(Heike Friauf, Berlin, ist Lektorin und Publizistin.)


Literatur

John Berger, "Das Sichtbare und das Verborgene. Essays", München u. Wien 1990/Frankfurt am Main 1999 (orig. The Sense of Sight. Writings by John Berger, hg. von Lloyd Spencer, New York 1985)

Peter H. Feist, "Verehrung ohne Verklärung", in: ein denkmal für rosa. Beilage der jungen Welt, 29./30.11.2008, S. 2

Frigga Haug, "Ein Denkmal für Rosa Luxemburg", in: Utopie kreativ, Heft 113, März 2000), S. 213-222

Hans Heinz Holz, "Vom Kunstwerk zur Ware. Studien zur Funktion des ästhetischen Gegenstands im Spätkapitalismus, Neuwied u. Berlin 1972

Hans Heinz Holz, "Der Zerfall der Bedeutungen. Zur Funktion des ästhetischen Gegenstands im Spätkapitalismus" (= Philosophische Theorie der bildenden Künste, Band III), Bielefeld 1997

Leo Kofler, "Der Alltag zwischen Eros und Entfremdung. Perspektiven zu einer Wissenschaft vom Alltag", Bochum 1982 (Neuabdruck im Sammelband "Eros und Politik. Wider die Entfremdung des Menschen". Mit Bildern und Graphiken von Thomas J. Richter, hg. von Heike Friauf, Bonn 2008, S. 117-156)

Georg Lukács, "Schriftsteller und Kritiker" (1939), in: ders., Probleme des Realismus. Berlin 1955, S. 271-284

Georg Lukács, "Einführung in die ästhetischen Schriften von Marx und Engels" (1945), in: ders., Beiträge zur Geschichte der Ästhetik, Berlin 1954, S. 191-216

Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke, Bd. 1, Berlin 1987, S. 283

Thomas Metscher, "Imperialismus und Moderne. Zu den Bedingungen gegenwärtiger Kunstproduktion in Europa", Teil 1 in: Topos, Heft 29, Neapel 2008, S. 55-102; Teil 2 in: Topos, Heft 30, Neapel 2008, S. 79-117

Werner Seppmann, "Die Aktualität der Entfremdungstheorie", in: Marxistische Blätter, Heft 1/2004, S. 98-102

Jürgen Weber, "Entmündigung der Künstler. Geschichte und Funktionsweise der bürgerlichen Kunsteinrichtungen", Bonn 1979 (3. Aufl. 1987)


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Quelle:
Marxistische Blätter, Heft 4-09, 47. Jahrgang, S. 17-24
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veröffentlicht im Schattenblick zum 14. August 2009