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LICHTBLICK/222: Recht auf Vergessen


der lichtblick - Gefangenenzeitung der JVA Berlin-Tegel
Heft Nr. 372 - 3/2017

Recht auf Vergessen
Wie wäre ein Leben für Gefangene ohne Stigmatisierung im Internet?

Sollte ein verurteilter Straftäter, der seine Haftstrafe verbüßt oder verbüßt hat, ein Recht auf Schutz seiner Privatsphäre haben?


Ein Mörder wird aus der Haft entlassen und will seinen Namen aus alten, online verfügbaren Berichten streichen lassen.

Er kämpft schon lange darum, in diesem Jahr wird nun das Bundesverfassungsgericht hoffentlich ein Grundsatzurteil fällen. Können Straftäter verlangen, dass ihr kompletter Name, nach einigen Jahren, in digitalen Presse-Archiven anonymisiert wird?

In der damaligen Berichterstattung stand der vollständige Name des Straftäters und die Texte sind noch heute problemlos auffindbar. Oft reicht ein einziges Schlagwort bei Wikipedia und der Kriminalfall wird dabei komplett aufgerollt.

Nach § 184 StVollzG ist die vollständige Berichtigung, Löschung und auch die Sperrung von den gespeicherten Daten spätestens zwei Jahre nach der Entlassung des Gefangenen umzusetzen.

Wenn man sich allerdings den Rattenschwanz der aufgeführten Ausnahmen durchliest, ist man auf keinen Fall schlauer, denn es ist höchst unübersichtlich. Auch der § 35 des Bundesdatenschutzgesetzes bezieht sich auf die Berichtigung, Löschung und Sperrung von Daten. "Personenbezogene Daten sind zu berichtigen, wenn ..." Es wäre an der Zeit, Dinge grundsätzlich zu ändern, wenn das nur nicht so schwierig wäre. Was für einen Verstorbenen gilt, könnte auch für einen Inhaftierten anwendbar sein, denn die Liste möglicher Online-Aktivitäten ist lang. War er in sozialen Netzwerken wie Facebook, Snapshot oder Instergram. Die entsprechenden Anmeldedaten und Passwörter sind nicht immer verfügbar, um eine Löschung zu veranlassen. Die höchstrichterlichen Urteile zum digitalen Erbe fehlen noch. Den Zugang zu einem vorhandenen Konto gewährt Facebook aber nicht. In der Theorie ist die Lösung einfach. Alles löschen und gut ist. Jeder, der sich schon einmal beschäftigt hat, weiß das die Praxis weit komplexer ist. Es geht aber nicht nur um die vollständige behördliche Löschung von Daten, sondern in erster Linie um die mediale Verarbeitung.

Wie lange darf oder muss ein Artikel eines ehemaligen Straftäters im Netz verbleiben und besteht hierbei ein öffentliches Interesse?

So urteilte der Bundesgerichtshof dann auch Ende 2012, dass es ein "anerkennenswertes Interesse der gesamten Öffentlichkeit" gibt und das zeitgeschichtliche Ereignisse auch anhand unveränderter Medienberichte zu recherchieren sind.

Wenn alle verfügbaren "identifizierenden Darstellungen" in Online-Archiven gelöscht werden müssten, dann werde "Geschichte getilgt" und ein Straftäter "vollständig immunisiert". Der BGH argumentierte weiter "es genüge auch nicht, die Dokumentation auf Privatarchive zu beschränken". Da der Straftäter in den Berichten nicht stigmatisiert werde, dürfe das Magazin seine damaligen Artikel auch heute noch unverändert online bereithalten.

Es gilt hier die Rechte der Meinungsfreiheit und des Datenschutzes gegeneinander abzuwägen. In Karlsruhe läuft ein Verfahren unter dem Schlagwort "Recht auf Vergessen". Bisher hat man damit vor allem ein Urteil des Europäischen Gerichtshof (EuGH) vom Mai 2014 assoziiert. Diese Entscheidung bezog sich allerdings nur auf Suchmaschinen. Bürger können seitdem beantragen, dass Google unliebsame Treffer nicht mehr in die Trefferliste zum eigenen Namen aufnimmt. Seitdem gab es allein aus Deutschland Anträge, rund 323.000 Webseiten entsprechend zu sperren. In 52 Prozent der Fälle gab Google dem Antrag statt.

Beim Bundesverfassungsgericht geht es aber nicht um Links der Suchmaschinen, sondern um die Korrektur der eigentlichen Quelle, also der Online-Archive der Medien. Mit Interesse betrachten die Verfassungsrichter dabei die Dissertation von Martin Diesterhöft über das "Recht auf medialen Neubeginn".

Diesterhöft hält das BGH-Urteil für falsch. Nach einem gewissen Zeitablauf sollen die von einem Medienbericht Belasteten einen "Änderungsanspruch" haben und eine Anonymisierung ihres Namens verlangen können. Auch wenn der Medienbericht ursprünglich rechtmäßig war, müssten Autor und Verleger den Artikel "im Blick behalten" so Diesterhöft und spätestens auf eine Abmahnung reagieren.

Diesterhöft will aber auch die damit verbundene "Abschreckungswirkung" für Autoren und Medien minimieren. Die erste Abmahnung eines Mediums soll kostenlos sein. Außerdem kann er sich technisch anspruchsvolle Lösungen vorstellen, bei denen Journalisten, die gezielt nach einem Ereignis (und nicht nach der Person) suchen, aber den unveränderten Orginal-Artikel lesen können. Ob die Richter dieser Lösung folgen, ist aber noch völlig offen. Grundsätzlich sollte ein Mensch das Recht haben, dass sein Name nach einigen Jahren in digitalen Pressearchiven anonymisiert wird.

Hier muss das Informationsrecht der Öffentlichkeit hinter das Recht des Einzelnen auf Schutz seiner Privatphäre zurücktreten. Gerade unter dem Aspekt der Wiedereingliederung muss dem Gefangenen die Möglichkeit gegeben werden sein Leben weiterzuleben ohne die Gefahr von sozialer Ausgrenzung aufgrund vergangener Geschehnisse.

Trotz Anonymisierung des Namens verliert ein Fall und der dazugehörige Gerichtsprozess nicht an Interesse, denn es geht letztendlich doch um den Kriminalfall an sich.

Die Umstände und der Sachverhalt des Falls sind das zeitgeschichtlich Entscheidende, nicht die Person. Wenn der BGH auf das Problem der vollständigen Immunisierung des Straftäters abstellt so ist das genau der Aspekt der Resozialisierung, der über das öffentliche Interesse hinausgeht. Der Blickwinkel der praktischen Übereinstimmung sollte auch Maßstab für die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts sein.

Es gibt bereits Fälle, die sich nicht explizit auf ehemalige Straftäter beziehen, sondern auf Verbraucher und auf Suchmaschinen, aber das sollte im Kern auch Grundlage für die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts sein, denn dem öffentlichen Interesse an der Person wurde die öffentliche Gerichtsverhandlung Genüge getan und dem öffentlichen Interesse an dem Fall an sich kann auch ohne Nennung des Namens entsprochen werden.

Das es in dieser Sache wohl keine Grundsatzentscheidung des BVerfG geben wird, sondern es der obergerichtlichen Rechtssprechung überlassen wird, bei jedem Betroffenen eine Einzelfallentscheidung zu fällen, unterstellen wir einfach mal.

Wer im Netz auf Spurensuche geht, wird erhellende Erkenntnisse oder eine Fülle von erschreckender Details finden. Es geht dort ungeniert zu und man kann sich toller Klischees bedienen. Wenn denn die Entlassung des Gefangenen bevorsteht und er vor dem Tor steht, setzt sich der Albtraum, mit dem Ranking des Bösen im Netz, fort.

Wir denken jedoch, dass jeder nach einigen Jahren das Recht auf Anonymisierung hat, dass das private Interesse das öffentliche Interesse überwiegt.

N. K.

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Quelle:
der lichtblick, 49. Jahrgang, Heft Nr. 372 - 3/2017, Seite 37
Unzensierte Gefangenenzeitung der JVA Berlin-Tegel
Herausgeber: Redaktionsgemeinschaft der lichtblick
(Insassen der Justizvollzugsanstalt Berlin-Tegel)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. Januar 2018

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