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LICHTBLICK/220: Rückfall, Risikofaktoren, Behandlungsbedarf


der lichtblick - Gefangenenmagazin der JVA Berlin-Tegel
Heft Nr. 371 - 2/2017

Rückfall, Risikofaktoren, Behandlungsbedarf. Wie ist das in Einklang zu bringen, geht das überhaupt?


Es ist ein generelles Problem der Strafjustiz, dass viele Personen nach ihrer Sanktionierung wieder rückfällig werden und erneut Straftaten begehen. Hat hier der Behandlungsvollzug versagt?


Menschen, die sich mit dem Strafvollzug befassen, wissen natürlich, dass die Rückfallquoten nach der Entlassung aus freiheitsentziehenden Strafen, besonders hoch sind. Die meisten Insassen sind dabei nicht fähig, ihre Ziele (Geld, Anerkennung, Autonomie) auf sozial adäquate Weise zu erreichen. Ein ungünstiges familiäres Umfeld und fehlende soziale Unterstützung sind wichtige Faktoren für dieses Versagen.

Wir haben mit einigen Mitgefangenen gesprochen und deren Aussagen bezüglich Rückfall, Behandlungsbedarf oder sonstigen Vorbereitungen, sind niederschmetternd. Auffällig ist auf jeden Fall aber, dass von Seiten der Justiz zu wenig für die Integration in die Gesellschaft getan wird. Wir wollen hier nicht nocheinmal auf die "merkwürdige Entlassungsvorbereitung" eingehen, die ja fast gar nicht stattfindet. Wir meinen aber, es gibt auch eine Verantwortungsübernahme der Anstalt (selbstverständlich auch von den Insassen), dass delinquentes Verhalten vorbeugend bekämpft wird und somit die Legalprognose verbessert werden kann.

Mit der kriminellen Rückfälligkeit, die in gewissem Ausmaß durchaus prognostizierbar ist, beschäftigen sich ganze Heerscharen von Psychologen und Forensikern. Da wundert es uns auch nicht, wenn der moralische Kompass schon mal verrutscht. Unserer Meinung nach stehen nämlich der Rückfall und der Behandlungsbedarf in engem Zusammenhang. Es reichen auch nicht die Teilnahmen an ein paar Gruppen oder eine notdürftige (erzwungene) Straftataufarbeitung, die als ultimative Demütigung durchaus geeignet ist, um den Insassen auf die Zeitschiene zu schieben.

Die Mehrheit der von uns Befragten äußerte sich dazu und speziell zur Straftatauseinandersetzung. Die Tür geht auf. Es wird ein Fragebogen ausgehändigt mit den lapidaren Worten: "So, das haben Sie nun davon." Da fragt sich doch der Gefangene nach dem tieferen Sinn. Müsste nicht ein Diskurs mit dem Inhaftierten stattfinden? Wann ist eine Straftataufarbeitung ausreichend und wie verhält es sich mit dem Tatleugner? Die vorgegebene Straftataufarbeitung ist eine Vollzugsfalle und führt nur zu angepasstem Verhalten der Gefangenen. In einer Arbeitsdefinition für Behandelnde und Inhaftierte ist zu lesen: Straftatauseinandersetzung ist ein Behandlungsprozess, in dem Sie sich Erkenntnisse über Ursachen und Auswirkungen ihrer Straftat(en) aktiv erarbeiten, um künftig keine mehr zu begehen. So einfach geht das?

Oder aber das Delikt des Inhaftierten ist dermaßen komplex, dass sich kein Gruppenleiter an den Fall heran wagt. Sicher gibt es auch andere Beispiele, aber die vollzugliche Weiterentwicklung ist hierbei vielfach überhaupt nicht zu erkennen und der Gefangene wird einfach nur geparkt.

Anders ausgedrückt: Keine Behandlung als Folge negativer Sozialisationsbedingungen? Das kann es doch nun nicht sein!

Die Glaubwürdigkeit der Justiz bleibt dabei auf der Strecke (falls es die je gegeben hat). Wie sollen sich die Inhaftierten beweisen, wie können sie die Risikofaktoren minimieren? Die Justizanstalten sind das Epizentrum der vollzuglichen Kreativität. Hier soll das umgesetzt werden, was von höherer Ebene vorgegeben wird. Die meisten Inhaftierten merken längst, dass der Vollzug nicht mit tiefschürfenden Erkenntnissen aufwartet. Was bleibt dem Insassen dann noch? Stillstand ist für die Gefangenen aber auf keinen Fall eine Option. Doch wenn der Inhaftierte keine weitere zielführende Behandlung, keine Alltagskompetenz oder sinnvolle Lebensziele nachweisen kann, dann wird auch die sogenannte Prognosesicherheit fehlen und er wird dem möglichen Rückfall ein Stück näher kommen. Die Inhaftierten sind im besonderen Maße fremdbestimmt und haben wenig Spielraum. Sie wünschen sich klare Ziele und Denkanstösse.

Die Bediensteten lassen sich ungern festlegen, damit sie hinterher nicht angreifbar sind. Ist ein alter Hut, sagt sich der erfahrene Knacki und "draußen" gibt es mittlerweile www.frag-mutti.de, aber hier "drinnen" ticken die Uhren anders und Risikofaktoren und Rückfallprognosen sind nun mal entscheidend für den Werdegang eines Inhaftierten.

Das Thema Straftataufarbeitung beschäftigt die Gefangenen während der kompletten Haft. Egal wie die Inhaftierten es betrachten, ob sie es unsinnig finden, ob es ihnen aufgezwungen wurde, sie müssen sich damit auseinandersetzen. Sogar der Tatleugner wird irgendeine Form der Behandlung erfahren. Es fängt doch schon mit der Einweisungsabteilung (EWA) an. Der EWA-Termin rollt auf einen zu und die unternommenen Anstregungen dieses Gremiums werden mit Ungeduld, Hoffnungen, Ängsten und Unsicherheiten begleitet. Entsprechen sie den eigenen Überlegungen? Welche Vorstellungen hat die EWA? Kann man dort überhaupt ehrlich sein? Für jeden Gefangenen wird hier die erste Prognose zusammengezimmert und begleitet den Inhaftierten für die nächsten Jahre. Sie hat eine ziemlich hohe Wertigkeit, von der der Gefangene sich nicht befreien kann. D. h., der Druck wird permanent aufrecht erhalten, in Erwartung von baldigen Lockerungen.

Wie sieht es aber mit der Unterstützung bei der fragwürdigen Tataufarbeitung aus? Nur wenige Gefangene erhalten längerfristige Hilfe. Die PTB (Psychotherapeutische Beratungs- und Behandlungsstelle) ist hoffnungslos überlastet und regelmäßige Gruppenleitergespräche finden auch nicht statt, so dass die erforderlichen Erkenntnisse dann ausbleiben. Der Hilfebedarf für eine intensive Bearbeitung ist und bleibt Wunschdenken.

"Der Gefangene hat sich dem Vollzugsziel noch nicht ausreichend angenähert" ist die Standardfloskel, die viele Insassen aus ihrem Vollzugsplan kennen, aber wird er konkret und begründet auf Möglichkeiten hingewiesen? Bei Entscheidungen über vorzeitige Entlassungen oder Lockerungen spielen Bemühungen um die Veränderungen des bisherigen Lebens auch eine wichtige Rolle. Die Haft bringt starke Einschränkungen der sozialen Bindungen und den Verlust von Arbeit und Wohnung mit sich.

Dazu kommen dann noch Schulden in nicht überblickbarer Größenordnung, die in die nächste Krise führen. Wie soll der Gefangene die Situation bis zum Haftende korrigieren, wenn nicht frühzeitig damit begonnen wird?

Fragen die Gruppenleiter genau nach der Schuldensituation oder wird dem Gefangenen einfach nur eine weitere Pfändung präsentiert, so dass es zu spät ist für eine ordentliche Ratenzahlungsvereinbarung. Unsere Gespräche ergaben auch hier erhebliche Defizite, was die Aufarbeitung angeht. Ob die Lebensvorstellungen nach der Entlassung umgesetzt werden, bleibt dahingestellt, aber die entsprechende Weichenstellung sollte schon vorhanden sein (z.B. das Job-Center auf dem Anstaltsgelände).

Aus Statistiken geht hervor, dass bei stabilen familiären Bindungen deutlich häufiger eine straffreie Perspektive gegeben ist. Einen großen Stellenwert haben Konfliktanhäufungen und Krisen (plötzlich eingetretene Ereignisse, Krankheit, Scheidung). Der erwachsene Mensch ist durch seine Herkunftsfamilie mitbestimmt und möchte ohne Einschränkungen nach seiner Entlassung wieder am sozialen Leben teilnehmen. Fatalerweise vernachlässigen viele Insassen auf dem Weg zu ihren Vollzugszielen ihren größten Aktivposten: Sich selbst. Das Drehbuch für einen guten Haftverlauf schreibt aber immernoch jeder Insasse selbst. Wie die Zauberformel dafür aussieht ist uns allen nicht bekannt.

Thema: Rückfall. Aktuelle Daten zur Legalbewährung und zur Rückfallanalyse waren oder sind nicht so leicht zu erhalten, dabei ist doch der Strafvollzug auf Sicherheit bedacht. Präzise und aktualisierte Rückfalldaten sind auch wichtig für die Arbeitszufriedenheit im Vollzug, damit jeder ein Ergebnis seiner Arbeit ablesen kann und kein gefährliches Halbwissen herumgeistert. Durch Zufall sind wir dann im Forum Strafvollzug Ausgabe 02/2017 fündig geworden, der etwas Licht ins Dunkel brachte.

Zuerst stellt sich natürlich die Frage: "Was beeinflusst die Rückfalldaten von Strafentlassenen? Die wichtigsten Einflussfaktoren sind sicherlich die Dauer der Strafe, die Abhängigkeit vom Delikt, die Abhängigkeit vom Alter und die Abhängigkeit von der strafrechtlichen Vorbelastung. Das bei kürzerer Haftdauer der Rückfall deutlich höher ausfällt liegt mit Sicherheit an die geringe Einwirkung auf die Behandlung und die fehlende Entlassungsvorbereitung. Die Abhängigkeit vom Delikt ergibt sich aus dem Strafrahmen z.B. bei Totschlag oder Mord, weil es oft um Konflikttaten bzw. situationsbedingte Straftaten handelt, die deshalb schon eine geringe Rückfallwahrscheinlichkeit haben. Das gleiche gilt mit fortschreitendem Alter. Die Wahrscheinlichkeit straffällig zu werden nimmt generell mit zunehmenden Alter ab. Anders ausgedrückt: Die höchste Rückfallquote haben hierbei die 21-24jährigen Entlassenen. Ebenso hat die strafrechtliche Vorgeschichte Einfluss auf die Rückfälligkeit. Täter, die noch keine Eintragung aufweisen, haben eine geringe Rückfallquote.

Auch Entlassene mit Strafrestaussetzung schneiden bei der Rückfälligkeit deutlich besser ab als Vollverbüßer. Somit ergeben Bewährungsentscheidungen durchaus einen Sinn und beweisen Weitblick.

Durch die Lupe betrachtet ist das neue Berliner Strafvollzugsgesetz weder vielversprechend noch nachhaltig, wenn die Vollzugspläne nicht individuell umgesetzt werden. Die Gefangenen spüren, ob der Rechtsstaat die Regulierungsschrauben anzieht und in die Vollzugstrickkiste greift. Dementsprechend sollte jeder Inhaftierte darauf achten, dass die Vollzugsplanfortschreibung im zeitlich festgelegten Turnus stattfindet und das die erörterten Gesprächspunkte festgeschrieben werden. Anderenfalls kann keine zielführende Behandlung garantiert werden und nichts ist mehr im Einklang. Negative Beispiele finden sich dafür in jeder Teilanstalt zur genüge.

N. K.

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Quelle:
der lichtblick, 49. Jahrgang, Heft Nr. 371 - 2/2017, Seite 38-39
Unzensiertes Gefangenenmagazin der JVA Berlin-Tegel
Herausgeber: Redaktionsgemeinschaft der lichtblick
(Insassen der Justizvollzugsanstalt Berlin-Tegel)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 25. August 2017

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