Schattenblick → INFOPOOL → MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE


LICHTBLICK/211: Die Befreiung des Thomas Galli


der lichtblick - Gefangenenmagazin der JVA Berlin-Tegel
Heft Nr. 367 - 2/2016

Die Befreiung des Thomas Galli

Interview mit Doktor Thomas Galli von der lichtblick-Redaktion


Prolog

Zuerst kamen die Zeitungsausschnitte, dann die Fernsehauftritte und es wurde klar: Da ist jemand der eine radikal andere Ansicht in aller Öffentlichkeit vertritt, der sich für sein Thema in den Gegenwind stellt. Wobei das Thema seit jeher kaum andere als starke Positionen zulässt. Strafvollzug. Und nicht irgend jemand spricht sich dazu kontrovers aus, sondern ein Anstaltsleiter in Amt und Würden. Er sagt, dass das, was er und seine Vorgesetzten da tun, schlecht ist. Das der Knast abgeschafft gehört. Eine überholte Institution, die Menschen schlechter macht, nicht besser und dass die Gesellschaft dadurch eher gefährlicher wird statt sicherer.

Na bitte, endlich sagt's mal einer, dem man zuhört. Aber warum? Was bewegt einen Mann aus der Mitte des deutschen Strafvollzugs dazu zum Abtrünnigen zu werden? Er hat ein Buch geschrieben. Soll das etwa als Grund reichen, sich derart ins Abseits zu stellen? Buchverkäufe? Ein Bestseller wird es auch mit Auftritten im Frühstücksfernsehen nicht, dazu ist das Thema zu speziell. Also muss mehr dahinter stecken. Wir sind neugierig.

Das Buch ist jedenfalls erstmal Pflichtlektüre. Ich schreibe eine Besprechung dazu (setze ich an diesen Artikel). In der Zwischenzeit nehmen wir Kontakt auf, versuchen eine Lesung in der Anstalt zu vermitteln, auf jeden Fall aber ein Interview bei uns. Das mit dem Interview klappt, die Lesung fällt aus, das Management will die Presse dabei haben, die Anstaltsleitung hier will das nicht. An dieser Stelle einen Vorwurf an die Leitung der JVA Tegel. Mimimi.

Die Lesung ist jedoch zweitrangig, denn der Mann selbst wird bei uns im Büro sitzen. Mit Abstand der spannendste Gesprächspartner, seitdem ich hier arbeite. Jemand mit dem man sich gedanklich befassen muss, da er wohl weder Paragraphen herunterbeten, noch politische Allgemeinplätze zerreden wird. Ausgenommen sei in diesem Kontext der ehemalige Justizminister Schöneburg, der kurz vor Galli hier war und ein glänzendes Stück Konversation geliefert hat (lesen Sie dazu den folgenden Artikel in der Printausgabe).

Jetzt befasse ich mich jedoch mit Galli. Alles, was ich in den letzten Wochen von ihm gehört, gesehen und gelesen habe, sorgt dafür, dass ich mich auch nach Feierabend dabei erwische den halben Tatort Münster zu verpassen, weil ich darüber nachdenke, was ich fragen möchte und ob es nicht schwer wird, mit jemandem ein journalistisch geprägtes Gespräch zu führen, wenn man viele ähnliche Ansichten vertritt. Wie vermeiden wir es einander abwechselnd zu bestätigen und hinterher so schlau zu sein wie vorher? Will ich dem Leser alles noch einmal vorkauen, indem ich Fragen stelle, auf die ich die Antwort schon kenne? Und wer will eigentlich wissen, was ich denke? Egal, da müssen sie jetzt durch. Ich will jedenfalls wissen wer Thomas Galli ist, ob er das ist, was sich einem aufdrängt. Ein angepasster Rebell auf dem Weg, mit dem Kopf durch die Wand. Einer der nie den Schritt machen konnte, sich etwas über seine Arbeit vorzulügen und die zahlreichen und mehrheitsfähigen Rechtfertigungen des Systems für sich anzunehmen. Oder verpasse ich den verhärmten Racheengel, einen der von anderen ausgebootet wurde auf seiner Karriereleiter, wenn ich zu sehr davon ausgehe, dass sich die ausgestrahlte Wahrhaftigkeit bestätigt?

Im Fernsehen zeigen sie Ausschnitte von Knackis, die den Knast vor der Kamera als für sich wirksam und läuternd loben, wenn Galli sein Statement gemacht hat. Schlangen, denke ich. Bin ich voreingenommen? Auf jeden Fall. Ich bin ja hier, im Knast und ich erlebe seit sieben Jahren das, was Galli so ähnlich 15 Jahre lang unterschrieben und organisiert hat. Und wenn er schon zugibt, das ist alles Augenwischerei, wie könnte ich das anders sehen? (MS)


Dr. Galli: Ich habe 15 Jahre Erfahrung im Vollzug, davon 13 Jahre in Bayern, 6 in Amberg und 7 Straubing, dann war ich zwei Jahre der Anstaltsleiter in Zeithain und zeitgleich 7 Monate in Torgau.


lichtblick: Waren sie oder sind sie Anstaltsleiter?

Galli: Jetzt bin ich im Elternurlaub. Wie es danach weitergeht kann ich ehrlicherweise selbst noch nicht genau sagen.


lichtblick: In den letzten Wochen ist viel passiert, nicht wahr? Die mediale Aufmerksamkeit war die ihre. Haben Sie damit gerechnet, dass es so kommt oder ist die Sache zum Selbstläufer geworden?

Galli: Ich habe damit gerechnet, dass jemand darauf aufmerksam wird, wenn ich "Die Schwere der Schuld" veröffentliche. Aber wie es genau wird, in der Form, in der Verschiedenes dargestellt wurde, wusste ich im Vorfeld nicht. Da lässt es sich schwer drauf einstellen. Ich war mir erst nicht sicher ob ich den Schritt gehe, aber mit dem Bild-Interview war es eigentlich entschieden. Es ist aber nicht so, dass ich blind da hereingerannt wäre. Man hat mir vor der Veröffentlichung sogar zu verstehen gegeben, dass in diesem Hause eine bestimmte Arbeitsweise herrscht und ich mir dessen bewusst sein sollte, dass sie ihr Geld mit reduzierten oder auf's prägnanteste verknappten Inhalten verdienen.


lichtblick: Und dann kam das Fernsehen...

Galli: Ja, zum Beispiel Stern TV. Da wurde ich schon ein bisschen vorgeführt. Mit dem was der Minister gesagt hat, war ja zu rechnen, das ist halt das was er sagen muss, seine politische Position, doch als dann der junge Mann aufstand...


lichtblick: ...ein ehemaliger Inhaftierter, der das mit der Haftstrafe alles ganz toll für seinen Lebensweg fand...

Galli: ...Ja, richtig. Da wurde mir dann doch anders, weil ab da die Marschrichtung der Sendung klar war. Zumal das ein ganz sympathischer Mensch war, ich hab mich danach an der Bar mit ihm unterhalten und er hat mir im Nachgang auch recht gegeben. Das wollte nur keiner hören, er wusste das, denn er macht des Öfteren solche Fernsehauftritte. Für diesen hätte man ihm dann wohl 250 Euro gegeben.

(allgemeines Gelächter)


lichtblick: Ach ja, das Fernsehen. Wie sind sonst die Rückmeldungen, was kriegen sie in letzter Zeit zu hören, gibt es schon Drohungen?

Galli: Nein, nichts in der Art. Selbstverständlich sind verschiedene Stimmen zu vernehmen, aber auch überraschend viel positives Feedback, gerade von Seiten, von denen ich es nicht vermutet hätte und auch aus dem Justizapparat selbst.


lichtblick: Vielleicht ist das für einige eine Entlastung, wenn einer das ausspricht, was sie sich selbst nicht zu sagen trauen. Was war eigentlich ihre Motivation für die Justiz zu arbeiten?

Galli: Ich wollte damals, schlicht gesagt, einen
krisensicheren Job.


lichtblick: Woher kommt der starke Wandel, gab es eine Art Katharsis? Haben sie als Familienvater eventuell sogar Furcht vor den Leuten, die sie da entlassen?

Galli: Das nicht, aber im Laufe meiner Tätigkeit kamen mir immer mehr Zweifel an der Sinnhaftigkeit von Freiheitsstrafen, insbesondere im kurzstrafigen Bereich. In Zeithain liegt die maximale Straflänge bei fünf Jahren. Der geführte "Wegsperrvollzug" ist besonders Kontraproduktiv, da gerade Kurzstrafer mehr Ansprache brauchen. Besorgniserregend ist hier, wenn man beobachten kann, wie soziale Beziehungen zusammenbrechen, das sind junge Männer, wie sie, mit Familie und Kindern und ohne die Möglichkeit einen normalen Umgang zu pflegen.


lichtblick: Welchen Schluss haben Sie gezogen?

Galli: Die Freiheitsstrafe hat keinen Sinn und diese Leute müssten sofort entlassen werden. Zumal uns der Vollzug 4 Milliarden Euro im Jahr kostet. Die Politik ist gefordert mehr Aufklärungsarbeit zu leisten und den Vollzug sinnvoller zu gestalten. Damit, Menschen einfach weg zu sperren, ist nichts Positives zu erreichen. Es war mit Sicherheit ein jahrelanger Prozess, gedanklich dort anzukommen, wo ich jetzt bin, aber ich habe seit jeher eine kritische Haltung zu dem gehabt, was im Gefängnis mit Menschen passiert. Die Erkenntnis, dass mit Gefangenen unmenschlich umgegangen wird, ist über Jahre hinweg in mir gereift, war aber schon immer ein Teil meiner Position. Die habe ich auch während meiner aktiven Zeit versucht einzubringen und Kompromisse zu finden.


lichtblick: Sind sie auf offene Ohren gestoßen?

Galli: Selten. Das sächsische Ministerium kann man jedoch durchaus als aufgeschlossener bezeichnen als das in Bayern.


lichtblick: Konnten sie dort gewisse Erfolge verbuchen?

Galli: Es ist klar, dass ich weiterhin im Rahmen dessen agieren musste, was der geschlossene Strafvollzug derzeit hergibt. Eine Sonderstation mit zwanzig Therapieplätzen und einer Kunsttherapeutin konnten wir einrichten. Das Ganze hängt mit der hohen Rate der Suchterkrankungen durch Crystal Meth in dem Bundesland zusammen und ist auf Dauer ausgelegt.


lichtblick: Dr. Galli, haben sie mit der Justiz gebrochen? Werden sie dorthin zurückkehren können?

Galli: Sagen wir es so: Ich kann mich nur noch schwer damit identifizieren, ein Anstaltsleiter zu sein. Um weiterhin Aufgaben für die Justiz übernehmen zu können, müssten sehr tiefgreifende Veränderungen im Strafvollzug stattfinden.


lichtblick: Sind Alternativen nicht ihre Sache oder warum haben sie diese Ausführungen zum Strafvollzug in ihrem ansonsten sehr gut verfassten Buch ausgespart?

Galli: Das war meine Entscheidung, meine Lektorin hat mich sogar dazu angehalten, doch ein eingehenderes Fazit zu verfassen und diesbezüglich mehr zu äußern, doch mir wäre das zu sehr ins Fachliche gedriftet. Zwar nehme ich zwischendurch in den Kapiteln immer wieder fachliche Erläuterungen vor, aber einen alternativen Entwurf wollte ich in diesem Buch nicht vorlegen, denn der Schwerpunkt liegt auf dem Themenkomplex "Schuld". Ein folgendes Buch mit eher fachlichem Schwerpunkt ist in Arbeit.


lichtblick: Was macht man denn nun mit Straffälligen, wenn man sie nicht Einsperrt?

Galli: Es gibt Alternativen wie Hausarrest, Fußfesseln, Platzverbote oder gemeinnützige Arbeit, was alles Dinge sind, mit denen auch eine Stigmatisierung weitgehend vermieden werden kann. Man kann Straftäter vor die Wahl stellen, beispielsweise drei Jahre Haft oder zwei Tage pro Woche gemeinnützige Tätigkeit über einen Zeitraum von zehn Jahren. Für schwere Fälle können Alternativen entwickelt werden, die zumindest nicht das eingesperrt sein in kleinen Zellen beinhalten, wie die Inseln, die ich erwähnte. Das meint eher eine Form von Gated Community als eine tatsächliche Insel. Jedenfalls eine Form der Unterbringung, die kein zusätzliches Leid zufügt. Man muss weg von dem fehlenden objektiven Abstand gegenüber Vertretern der Menschenrechte von Inhaftierten. Es sollten doch eher die Pro-Knast-Vertreter die Sinnhaftigkeit und den Nutzen erklären und zwar jenseits von Polemik, wie sie ein ehemaliger sächsischer Justizminister zum Besten gab, der einfach sagte: "Das Strafen hat seit Jahrhunderten Tradition", der also mit der Macht des Faktischen argumentierte.


lichtblick: Könnten sich nicht die Fälle der Selbstjustiz häufen, wenn die Leute das Empfinden haben sie werden vom Staat zu nachsichtig vertreten? Würden Menschen nicht zunehmend Gerichtsbarkeiten außerhalb des Gesetzes schaffen, wie es sie teilweise schon gibt?

Galli: Der Vergeltungsgedanke sollte, auch wenn er in der Gesellschaft tief verwurzelt ist, gründlich hinterfragt werden. Hier muss politische Aufklärung stattfinden sowie öffentliche Transparenz.


lichtblick: Was halten sie von therapeutischer Behandlung und dem derzeitigen Einsatz von Psychologie im Strafvollzug, wie zum Beispiel durch Gutachten?

Galli: Für jeden kann eine Therapie Sinn machen, wenn er an alten Strukturen leidet. Das bezieht sich nicht nur auf den Strafvollzug. Wegkommen muss man endlich von der Illusion, die Gefährlichkeit von Menschen auch nur annähernd präzise prognostizieren zu können. Die Gefährlichkeitsgutachten, wie sie derzeit in der Justiz eingesetzt werden, haben nachgewiesenermaßen die Trefferquote eines Münzwurfs. Der Staat muss ganz klar von diesen Alibi-Gutachten abrücken, sonst kann ihn keiner mehr ernst nehmen.


lichtblick: Können sie uns schon etwas dazu sagen, wann ihr weiter in das Thema gehende Buch erscheint?

Galli: Es werden zwei Bücher sein. Eines wird, wie bereits erwähnt, eher das Fachliche vertiefen, das andere Buch ist eher im Stil von "Die Schwere der Schuld" gehalten und dreht sich thematisch um den Aspekt der "Gefahr". Angedacht ist die Fertigstellung gegen Ende des Jahres für eines und das andere wird zu Beginn des kommenden Jahres erscheinen.


lichtblick: Wir würden uns sehr freuen, wenn sie diesbezüglich mit uns in Kontakt bleiben.

Galli: Gerne.

*

Quelle:
der lichtblick, 48. Jahrgang, Heft Nr. 367, 2/2016, Seite 4-6
Unzensiertes Gefangenenmagazin der JVA Berlin-Tegel
Herausgeber: Redaktionsgemeinschaft der lichtblick
(Insassen der Justizvollzugsanstalt Berlin-Tegel)
Seidelstraße 39, 13507 Berlin
Telefon/Fax: 030/90 147-23 29
E-Mail: gefangenenzeitung-lichtblick@jva-tegel.de
Internet: www.lichtblick-zeitung.de
 
"der lichtblick" erscheint vier- bis sechsmal im Jahr.
Der Bezug ist kostenfrei. "der lichtblick" ist auf Unterstützung
durch Spenden angewiesen.


veröffentlicht im Schattenblick zum 26. August 2016

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang