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LICHTBLICK/201: Lockerungen - Die Grauzone im Vollzugs-(labor)


der lichtblick - Gefangenenmagazin der JVA Berlin-Tegel
Heft Nr. 354 - 1/2013

Lockerungen
Die Grauzone im Vollzugs-(labor): Versagung statt Versuch

von Vito Lestingi



Allseits unbestritten ist der Rechtsanspruch von jedem Inhaftierten auf Resozialisierung nach §2 StVollzG.

Hierbei stellt sich die Frage: "Wie geht Resozialisierung ohne Lockerungen?"

Die Aufgabe, einen Inhaftierten auf ein straffreies Leben in Freiheit ohne Gewährung von temporärer Freiheit in Form von Ausführungen, Ausgängen, Urlaub oder Verlegung in den Offenen Vollzug vorzubereiten, kommt der Produktion eines Retortenbabys unter Laborbedingungen gleich. Nur das Labore in der Regel klinisch und hygienisch sauber sind.

Darüber hinaus werden Versuche nach exakt definierten und eindeutigen Kriterien durchgeführt, an die sich jeder der am Versuch Beteiligten peinlichst genau zu halten hat.

In Vollzugsangelegenheiten sind die 'Laborbedingungen' jedoch gewollt so schwammig ausgelegt, dass man jederzeit, je nach gewünschtem Ergebnis, die Laborbedingungen anders interpretiert.

Exemplarisch dafür ist die Heranziehung des Argumentes von Flucht- und Missbrauchsgefahr zur Nichtgewährung von Lockerungen und dergleichen ohne jeglichen konkreten Anhaltspunkt geschweige denn Beweis.

In ganz wenigen Fällen hat sich die 'Aufsicht' (BVerfG) dieser Studie dazu durchgerungen, den Beteiligten durch Konkretisierung und Einschränkung der Interpretationsmöglichkeiten, einen Dämpfer für ihr Willkürverhalten aufzuerlegen. Doch auch hier gibt es viel Spielraum.

Betrachtet man das Grundgesetz, so steht über diesem ohne jede Interpretationsmöglichkeit nur ein Leitsatz: "Alles zum Wohle des Menschen."

Diese Prämisse verpflichtet alle Entscheidungsträger, die noch unbestimmten Rechtsbegriffe sowie Kann- und Sollbestimmungen verfassungsgerecht dem Sinn und Zweck nach inhaltlich auszufüllen und zu definieren.

Die gängige Praxis zeigt leider mit schöner Regelmäßigkeit das genaue Gegenteil und verwischt durch Aufspaltung der Verantwortung, Verteilung der Ermessensspielräume, Anonymisierung und Verschiebung von zu treffenden Entscheidungen einen für den Inhaftierten nachvollziehbaren klaren und gangbaren Weg.

Das praktizierte System, nennen wir es mal Versuchsanordnung, zielt offensichtlich darauf ab, das gesetzlich Gewollte ins Gegenteil zu verkehren.

Das beginnt bereits beim ausgewählten Personal. Selbst, wenn die Qualifizierung gegeben ist, werden diese Mitarbeiter durch stetige Überlastung in kürzester Zeit verschlissen. Wo Kontinuität das Hauptanliegen sein sollte, wird das Personal ständig gewechselt oder die Stellen erst gar nicht besetzt. Das führt bei der Belegschaft zu hohen Ausfallquoten durch Erkrankung, die die Situation zusätzlich noch verschärfen.

Auf Seiten der Probanden zeichnen sich dadurch oftmals Ergebnisse ab, die zu Unfähigkeit bei der Bewältigung alltäglicher Aufgaben und Entfremdung von der Gesellschaft bis hin zu vollständiger Lebensuntüchtigkeit führen.

Da der Proband bei jedem Personalwechsel wieder bei Null anfängt, steigt seine Resignation ständig.

Die erforderliche Kontinuität kann man nur mit Mitarbeitern erreichen, die über einen längeren Zeitraum mit einem Inhaftierten arbeiten. Denn nur so haben sie die Chance, diesen besser kennen und einschätzen zu können, um die nach außen orientierten Möglichkeiten ohne das schlechte Gefühl übermäßiger Unsicherheit (aus)zunutzen.

Ein Mitarbeiter, der seine Aufgabe verantwortungsvoll wahrnimmt, wird jederzeit die getroffene Entscheidung, selbst wenn es die Falsche war, gegenüber allen Beteiligten vertreten können. Und das ist allemal besser, als sich hinter Floskeln wie 'mangelnde Frustrationstoleranz' oder 'mangelnde Vereinbarungsfähigkeit' zu verstecken.

Ich habe Mitarbeiter der JVA-Tegel mit 30-jähriger Berufserfahrung eine Frage gestellt: "Was würden Sie an dem bestehenden System ändern, um es zu verbessern?"

Die Antwort traf aus meiner Sicht direkt ins Schwarze: Als erstes mindestens zwei Gruppenleiter pro Station, wovon einer mindestens 5 Jahre Berufserfahrung haben sollte, um Situationen wie zuvor beschrieben zu vermeiden. Als zweites mit dem Inhaftierten klare und erreichbare Ziele vereinbaren bzw. erarbeiten, denn Motivation führt zu weniger Frustration und Resignation. Und drittens: Anwendung des Gesetzes und Gewährung von Lockerungen; Versagung wirklich nur dann, wenn konkrete, benennbare Gefahren bestehen. Schließlich als viertes natürlich Stärkung der Mitarbeiter durch die Leitung.

In der nächsten Ausgabe werden wir uns ausführlich dem Thema Lockerungen widmen - als Gesprächs- und Interviewpartner konnten wir u.a. gewinnen: Oberstaatsanwalt Ralph Knispel, Justizsenator Thomas Heilmann, Justizminister Dr. Volkmar Schöneburg, den Bundestagsabgeordneten Wolfgang Nskovi, die Rechtspolitiker Sven Rissmann und Erol Özkaraca, den Wissenschaftler Prof. Heinz Cornel und beste Experten in eigener Sache: Knackis.

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Quelle:
der lichtblick, 46. Jahrgang, Heft Nr. 354, 1/2013, Seite 25
Unzensiertes Gefangenenmagazin der JVA Berlin-Tegel
Herausgeber: Insassen der Justizvollzugsanstalt Berlin-Tegel
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Juni 2013