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LICHTBLICK/200: Un-frei und furcht-bar


der lichtblick - Gefangenenmagazin der JVA Berlin-Tegel
Heft Nr. 354 - 1/2013

Un-frei und furcht-bar

Ein Essay



Allein in Deutschland wird heute etwa 70.000 Menschen die Freiheit entzogen - durch unsere "freiheitliche demokratische Grundordnung". Und vielen nicht nur heute - manchen über Jahrzehnte. Ein furcht-bares Leben - es ist zum Fürchten und bar jeden Lebens.


"Freiheit - was ist das?" Auf diese Frage wird eine bayerische Bürgerstochter eine ganz andere Antwort geben, als ein amerikanisches Hollywoodsternchen, ein iranischer Imam oder ein chinesischer Landarbeiter. Allen Antworten gemein sein werden oft vage Aussagen über innere und äußere, über negative und positive Freiheit. Wir dagegen können unsere Freiheit genauestens definieren - wissenschaftlich genau -, bis auf die Nachkommastelle: Unsere Freiheit ist das TE, das 'Terminende'. Der Tag unserer Entlassung. Der Morgen, an dem wir aus der Un-Freiheit in die Freiheit entlassen werden und dann wieder zu denen gehören, die nur vage Aussagen zur ihrer Freiheit machen können. So lange aber - so lange wird uns die Freiheit entzogen; entzogen durch einen Staat, der sich der freiheitlich-demokratischen Grundordnung nicht nur verpflichtet fühlt, sondern der ihr diese Grundordnung verfassungsrechtlich schuldet. Eine Krux? Vielleicht - was aber ist zu tun mit Menschen, die sich an die Regeln der Grundordnung nicht nur nicht gehalten, sondern sie missachtet und gebrochen haben?

Wer ist wirklich frei - und wie frei kann der Einzelne in der Gesellschaft sein - ohne anzuecken, auszubrechen, zu stören ... wir waren wohl zu frei - frei uns zu nehmen, was uns nicht gehörte, frei zu verletzten, was von uns nicht beschädigt werden durfte. Waren wir wirklich zu frei? Wenn man uns damals die Frage nach unserer Freiheit gestellt hätte, hätte man sicher viel von und über Unfreiheit erfahren - über Nöte und Zwänge, Sackgassen und Irrwege, Verzweiflung und Leid. Denen also, deren innere Freiheit zumindest handicapiert war, wird nun die äußere Freiheit entzogen. Bis zum TE. Und so warten sie aufs TE; warten darauf wieder frei zu sein. Am Entlassungsmorgen die Sachen zu packen und mit dem geschnürten Bündel hinaus in die freie Welt zu ziehen. Als freie Menschen.

Freier Mensch? Oder als Mensch, der zwar in einer freiheitlichen demokratischen Grundordnung lebt, dessen Freiheit aber mindestens auch durch diese Grundordnung beschnitten wird: Beschnitten durch Regeln und Vorschriften, durch Gesetze und 'Normalitätsdefinitionen', denen der Einzelne folgen muss, will er nicht mindestens seine Mitgliedschaft gefährden und als Abweichler gelten. Und noch weniger frei durch eigene, innere Bedrängnisse, Bedürfnisse, Neigungen, Angewohnheiten und Schwächen. Könnte das, vice versa, aber nicht auch bedeuten - beziehungsweise die Möglichkeit bieten -, in äußerer Unfreiheit 'innerlich' frei zu sein. Zeugen davon nicht sogar die großen schöpferischen Leistungen in Unfreiheit lebender Künstler und Literaten? Beginnt vielleicht auch nicht erst mit der Entlassung, der Rückkehr in die Freiheit, die Unfreiheit - weil die Fremdbestimmtheit im Gefängnis nicht selten ein Laisser-faire ist, von dem ein werktätiger Familienvater nur träumen kann?

Aber auch wenn Freiheitserleben subjektiv ist - die äußere Unfreiheit im Gefängnis steht uns tagein-tagaus deutlich vor Augen und bindet nicht nur unsere Hände, sondern unser ganzes Leben: Unfrei sind wir bei allem, was wir tun; stets und ständig bevormundet und eingeschränkt. Und in dieser Unfreiheit sollen wir auf ein Leben in Freiheit vorbereitet werden? Spätestens hier zeigt sich die ganze Absurdität des modernen Freiheitsentzuges, der, fußend auf einem kontrollorientiertem Präventionsstrafrecht und -vollzug, allenfalls die vorübergehende Unschädlichmachung von Straftätern leisten kann - die Befreiung der Gesellschaft von dem Schädling -, auf lange Sicht aber die Freiheit der Gesellschaft beeinträchtigt.

Im Sinne der sogenannten absoluten Straftheorien ist die Strafe zweckfrei: Gestraft wird, weil ein Verbrechen begangen wurde - ohne Rücksicht auf die soziale Sinnhaftigkeit der Buße, also darauf, ob die Strafe dem Geschädigten oder der Gemeinschaft insgesamt nützt oder vielleicht sogar schadet. Man beruft sich auf das Kant'sche Talionsprinzip. Die ursprüngliche Form dieser Wiedervergeltung stellt das biblische "Auge um Auge ..." (2. Mose 21, 23) dar, bei dem zunächst noch der Geschädigte selbst Rache nehmen konnte - später folgte die Institutionalisierung der Strafe.

"Hüte Dich vor einer in die Ecke getrieben Maus - sie wird dich beißen", warnte mich meine Oma. Hütet Euch vor Gefangenen, denen ihr die Freiheit raubt, die ihr peinigt und ängstigt: Sie werden Euch beißen, sobald sie können.

Das Leben im Gefängnis ist ein stetiges Hoffen und Bangen - es ist eine unsichere Zeit, in der Angst und Furcht ständige Begleiter sind. Die Verhaftung - ein Schock, den man überwindet. Man lebt sich ein, arrangiert sich mit der Inhaftierung. Das Gewohnheitstier Mensch findet schnell sein Plätzchen; auch in dunkler, kalter Ecke. Es ist der Verlust an Sicherheit, Kontrolle und Autonomie, der die Kehle zuschnürt, das Herz packt und die Seele quetscht. Die Angst steht morgens mit einem auf: Wird mein Besuch heute stattfinden oder macht ein Anstaltsalarm ihn zunichte? Ist mein Sozialarbeiter gut drauf, wird er meine Lockerungen befürworten? Aus dem Telefonhörer tutet dumpfe Ungewissheit - hält meine Freundin zu mir? Den Einkaufsschein habe ich abgegeben, werde ich meine Waren erhalten? In meiner Zelle habe ich es mir wohnlich gemacht, wann wird man mich wieder verlegen? Einen Job habe ich - werde ich zum Berufsfreigang zugelassen? Der ersehnte Brief ist immer noch nicht da, hat sie mich verlassen? So schläft meine Angst mit mir ein - und verfolgt und bedrängt mich auch in meinen Träumen. Ich versuche, sie wegzubeißen - wurde mein Antrag auf einen Zahnarzttermin weitergeleitet und werden meine Zähne ordentlich gerichtet werden?

Es sind die kleinen und großen Unwägbarkeiten des Alltags und Lebens, denen die Insassen hilflos ausgeliefert sind. Im Gefängnis schrecken ob des allumfassenden Ausgeliefert-Seins und ob der eingeschränkten Handlungsmöglichkeiten schon Kleinigkeiten. Dabei ist zu unterscheiden zwischen der unbestimmten Angst und der objektbezogenen Furcht; gefürchtet wird sich im Gefängnis selten - Angst aber haben alle. Dabei wird das Mittel der Angst von der Organisation Gefängnis als probates Mittel zur Zielerreichung eingesetzt: Schon das Strafvollzugsgesetz verstärkt - gänzlich ungewollt - mit dem 'Sollen' und 'Können' das fortdauernde Hoffen und Bangen, das vom Personal nicht selten verstärkt wird. Wohlverhalten wird mittels Unverbindlichkeit und durch Weisungen erzeugt, die oberflächliches Funktionieren einfordern. Damit entsteht Angst beim Insassen zu versagen und dem Personal nicht mehr zu gefallen.

Was soll das Lamento: Der Insasse wisse doch, wann er entlassen werde; er kenne sein TE, das Entlassungsdatum. Wovor also Angst haben? Ja - aber nicht nur der Entzug der Freiheit, sondern auch die damit einhergehenden Schmerzen und die dem Gefängnis immanenten Deprivationen sind nicht dazu angetan, auch nur einen Tag länger im Knast verweilen zu wollen als unbedingt nötig. Deshalb ist das Streben nach Freiheit und die Angst vor dem (anhaltenden) Entzug nicht nur einsichtig, sondern aus gutem Grund ein Grund- und Naturrecht.

Die oft postulierte Angst vor Gewalt seitens Mitgefangener ist eine greifbare, aber seltene Furcht; einer Furcht kann man als handelndes Subjekt begegnen. Die Angst aber ist stets und ständig gegenwärtig - gar übermächtig, weil die Handlungsräume, die Individuen außerhalb des Gefängnisses zur Konfrontation mit und Überwindung von Angst zur Verfügung stehen, im Gefängnis überwiegend nicht gegeben sind. Einer Angst vor Arbeitsplatzverlust kann ich entgegenwirken, um meine kriselnde Beziehung kann ich kämpfen; mein Vermieter kann mich nicht aus meiner Wohnung werfen, auf Gedeih und Verderb bin ich nicht einzelnen Personen ausgeliefert, die allumfassend über mich bestimmen.

In der Literatur wird diese Lebenswelt als 'totale Institution' bezeichnet; dieser Begriff betont die tendenziell allumfassende Einvernahme des in einem Gefängnis inhaftierten Menschen. Zudem wird konstatiert, dass es ein 'Unterleben' gibt: Ein Überleben in der totalen Einrichtung befördere sekundäre Anpassungs- und Abwehrmechanismen zur Bewältigung der Haftdeprivationen, die als (besondere) Insassenkultur erfassbar erscheinen und eine Gegenkultur zu der des Personals bilden würden. Phänomene dieser Subkultur sollen besondere (anomische) Wertekanons, Verhaltenskodizes, Statushierarchien und Insassentypologien sein; Denk- und Handlungsschemata der Insassen sollen signifikant anders (und vor allen Dingen: delinquent!) sein als die der Normalbevölkerung. Festzustellen ist, dass alle in der Kustodialorganisation, die de jure und de facto Sozialisationsinstanz ist (im Gefängnis soll gebessert werden - zumindest aber verändert das Gefängnis), Gefangenen einer "Modifikation" unterworfen sind: Wie Menschen ihre Situation prägen, so prägen Situationen auch ihre Menschen. Besonders die oktroyierte Übermacht einer Situation - und ihr Einfluss auf Denken, Fühlen und Handeln - generiert spezifische Coping-Strategien, forciert bestimmte Anpassungsmechanismen.

Die Inhaftierung ist ein schwerwiegendes, negatives und traumatisierendes Lebensereignis, dass Menschen, also Straftäter, die ohnehin Defizite haben, beschädigt - und diverse Ängste hervorruft. Nicht nur die Institution Gefängnis kann wenig Interesse daran haben, Angst im Gefängnis zu minimieren, auch die Kriminalpolitik wird kein Fürsprecher einer angstbefreiten Anstalt sein: Das Gefängnis soll zum Fürchten sein, so propagandieren es tagtäglich die Massenmedien und Bürgersmund tut's kund: Der Knacki soll darben - so wird Rache gestillt und Sühne getan. Die, die Euch Angst bereiteten, sollen sich vor Eurer Rache fürchten ...

Der verängstigte Inhaftierte aber wird zum Fürchten sein: Ein Mensch, der über lange Zeit statt Hilfe Bestrafung erfahren hat, statt Fürsorge Versagung, statt Wärme Ablehnung - der wird kein soziales Leben "draußen" führen können - schlechterdings genau das hat ihn das Gefängnis verlernen lassen, gar seine schlechten Seiten gestärkt und ihn ganz fürchterlich geängstigt. Beißen wird er, sobald er kann.

Befreien wir uns also von den alten Fesseln aus Angst, Unwissenheit und Rache und reißen die Mauern der Unfreiheit nieder und ersetzen die Angst durch Freiheit.

Fürchten müsst Ihr nicht die, denen Ihr zur Freiheit verhelft.
Fürchten müsst Ihr Euch nur vor denen, die Ihr ängstigt.

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Quelle:
der lichtblick, 46. Jahrgang, Heft Nr. 354, 1/2013, Seite 6-7
Unzensiertes Gefangenenmagazin der JVA Berlin-Tegel
Herausgeber: Insassen der Justizvollzugsanstalt Berlin-Tegel
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veröffentlicht im Schattenblick zum 20. Juni 2013