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LICHTBLICK/189: Wählen im Strafvollzug


der lichtblick - Gefangenenmagazin der JVA Berlin-Tegel
Heft Nr. 350 - 1/2012

Wählen im Strafvollzug

Sind Gefangene Wähler 2. Klasse? Jede Stimme zählt!
So der Slogan unisono aller Parteien. Auch unsere?

Eine Situationsbetrachtung von Dieter Wurm



Was heute selbstverständlich ist, seine Herrschaft, seine Regierung selbst wählen zu dürfen, ist ein ungeheurer politischer Fortschritt; eine Demokratie bedarf gar dieser Wahl - soll die Macht vom Volke ausgehen, eine Volksherrschaft (= Demokratie) sein, muss das Volk - sofern es nicht selbst regiert - unter Berücksichtigung folgender Kriterien wählen können:

• Allgemeine Wahl (jeder Wahlberechtigte darf an Wahlen und Abstimmungen teilnehmen)
• Gleiche Wahl (jeder Wahlberechtigte hat gleich viele Stimmen)
• Freie Wahl (es darf kein Zwang ausgeübt werden)
• Geheime Wahl (um die freie Wahl zu sichern, ist eine geheime Abstimmung notwendig)

Diese Wahlen, die Demokratie, wurde unter vielen Opfern auf einen langen Weg durch die Geschichte erkämpft.

Wie geschieht das Wählen in einer totalen Institution wie im Strafvollzug, wo der Bürger zwar Wähler, aber nicht in Freiheit ist?

Die allgemeinen europäischen Grundsätze zur Behandlung von Gefangenen schreiben im Artikel 24.11 vor: "Die Vollzugsbehörden haben sicherzustellen, dass Gefangene an Wahlen, Volksentscheiden und anderen Aspekten des öffentlichen Lebens teilnehmen können, soweit ihre Berechtigung nach innerstaatlichem Recht nicht eingeschränkt ist."

Das Wählen in bundesdeutschen Justizvollzugsanstalten steht jedoch in der Kritik.
Moniert wird, dass Gefangene zur Ausübung ihres Wahlrechts auf die Briefwahl verwiesen werden, ohne dass dies gesetzlich vorgesehen wäre.

Das Wahlrecht aus Art. 38 GG gebietet unter anderem eine allgemeine und gleiche Wahl. Inhaftierten ist es, im Gegensatz zu anderen Stimmberechtigten, nicht möglich, am Wahltag ein Wahllokal aufzusuchen. Diese Ungleichbehandlung und der damit verbundene Eingriff in das verfassungsrechtlich garantierte Wahlrecht ist nicht legalisiert. Jeder Eingriff in die Grundrechte von Gefangenen bedarf einer gesetzlichen Grundlage. Die gibt es nicht!
Im Gegenteil: §73 StVollzG verpflichtet die Justizbehörden sogar ausdrücklich, die Gefangenen bei der Ausübung ihres Wahlrechts zu unterstützen.

Die Redaktion hat hierzu den Strafverteidiger Dr. Jan Oelbermann aus der Kanzlei Dr. Heischel & Dr. Oelbermann zu einem Interview eingeladen. Dr. Oelbermann hat seine Dissertation über das Thema "Wahlrecht und Strafe" verfasst und hat sich somit intensiv mit dem Thema auseinandergesetzt.

lichtblick: Zunächst vielen Dank für Ihr Kommen. Wie Ihnen bekannt ist, hat sich die Redaktion das Thema Wahlrecht für Gefangene vorgenommen und beleuchtet. Nicht nur berichtete der lichtblick anlässlich der Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus über dieses Thema, sondern aufmerksam geworden sind wir auch durch einen Leserbrief von Herrn Meyer-Falk. Dieser ficht die Rechtmäßigkeit einer Wahl an; zurecht?

Dr. Oelbermann: Tatsächlich ist die Wahl im Gefängnis problematisch. Die Insassen im geschlossenen Vollzug sind auf die Briefwahl angewiesen und haben nicht die Möglichkeit ein Wahllokal aufzusuchen. Meiner Meinung nach ficht Herr Meyer-Falk die Wahlen zu Recht an.

lichtblick: In Freiheit nutzen die Bürger auch die Briefwahl, warum soll das für Inhaftierte nachteilig sein?

Dr. Oelbermann: Die Wähler in der Freiheit haben aber die Wahl. Sie können selbst entscheiden ob sie per Briefwahl, per Urnengang oder überhaupt nicht wählen gehen. Der Inhaftierte kann zwar auch entscheiden, ob er per Briefwahl seine Stimme abgibt ober eben gar nicht wählt, aber schon darin ist die Problematik zu sehen. Bei der Wahl im Justizvollzug gibt es drei Kernprobleme. A: In der Wahlordnung steht, man solle bewegliche Wahlvorstände einrichten. Das geschieht nicht. B: Die Gefangenen sind auf Briefwahl angewiesen. Die Unterlagen dafür müssen Sie auf eigene Kosten beantragen. Müssen also 55 Cent für die Briefmarke zahlen, um wählen zu können. Und C: Man kann während man Inhaftiert ist, kaum geheim wählen, da die Anstalt mitbekommen wird, ob man wählt oder nicht. Auch dieser Umstand unterliegt jedoch dem Wahlgeheimnis.

lichtblick: In der ehemaligen DDR war es auch so, dass die Staatsmacht am Wahltag genau wusste wer wählen war und wer nicht. Schlimme Zeiten. Wie kann das unter den besonderen Bedingungen der Haft besser gemacht werden? Ein Wahllokal wäre doch die Lösung, oder?

Dr. Oelbermann: Tatsächlich spricht meiner Meinung nach nichts gegen ein temporäres Wahlbüro am Wahltag in den JVA-en. Das Wahlrecht regelt das Grundgesetz in Art. 38. Es ist als grundrechtsgleiches Recht mit einem Grundrecht gleichzusetzen. Ohne gerechte Wahlen kann keine Demokratie funktionieren. Die Grundrechte sind nicht eingeschränkt wenn jemand inhaftiert ist. Das aktive Wahlrecht aber verlieren die allerwenigsten und nur in ganz besonderen Fällen. Nicht nur der Angleichungsgrundsatz ist ein gewichtiges Argument um hier die Wahlen allgemein, unmittelbar, gleich, frei und geheim durchzuführen. So sieht es das Gesetz vor. Eine besondere Bedeutung kommt hier auch dem Grundsatz der gleichen Wahl zu. Der sagt zwar in erster Linie aus, dass jede Stimme bei der Wahl gleich viel wert sein soll. Aus dem Grundsatz folgt aber auch, dass der Akt der Stimmabgabe bei allen möglichst formal gleich zu erfolgen habe. Bei gefangenen Bürgern ist dieser jedoch sehr anders als bei in Freiheit Lebenden. Diese Unterschiede finden sich nicht im Gesetz. Wenn man das für Inhaftierte nicht will, dann müsste eben das Gesetz geändert werden. Anderenfalls muss sich daran gehalten werden, egal wie hoch der Aufwand ist. Zusammen mit der Berliner Strafverteidiger-Vereinigung haben wir dies bei der letzten Wahl hier in Berlin mit der Landeswahlleiterin auch besprochen, leider war es zeitlich nicht mehr machbar. Es spricht aber meiner Meinung nach nichts dagegen, die JVA Tegel bei der nächsten Wahl zum Abgeordnetenhaus zu einem eigenen Wahlkreis zu machen.

lichtblick: Wenn die JVA Tegel zu einem eigenen Wahlkreis wird, dann kann sie ja für ihren Wahlkreis eigene Kandidaten aufstellen. Wäre das möglich?

Dr. Oelbermann: Die Parteien stellen die Kandidaten auf. Die Gefangenen verlieren zudem automatisch das passive Wahlrecht - das Recht gewählt zu werden -, wenn sie zu einem Verbrechen mit einer Freiheitsstrafe von über einem Jahr verurteilt werden. Rechtlich verlieren sie mit der Verurteilung auch die Mitgliedschaft in der Partei. Dies sieht das Parteiengesetz so vor. Stimmig erscheint diese Norm aber nicht. Jedenfalls ist mir noch kein Fall bekannt, bei dem ein Inhaftierter gegen einen Parteiausschluss geklagt hat. Meist bekommen die Parteien die Verurteilung eines Parteimitglieds, ohne das er ein Funktionär ist, kaum mit.

lichtblick: Vielen Dank für das Interview.


Fazit

Das Wahlrecht ist ein außerordentlich hohes Gut der Demokratie und nicht ohne Grund in unserem Grundgesetz verankert. Der Angleichungsgrundsatz zwingt die Anstalten, das Leben in Haft so weit es geht an die normalen Lebensverhältnissen anzugleichen. Das sollte gerade beim Wahlrecht besonders beachtet werden.

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Quelle:
der lichtblick, 45. Jahrgang, Heft Nr. 350, 1/2012, Seite 48-49
Unzensiertes Gefangenenmagazin der JVA Berlin-Tegel
Herausgeber: Insassen der Justizvollzugsanstalt Berlin-Tegel
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veröffentlicht im Schattenblick zum 25. April 2012