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LICHTBLICK/188: Ersatzfreiheitsstrafe - Sinn oder Unsinn, Recht oder Unrecht?


der lichtblick - Gefangenenmagazin der JVA Berlin-Tegel
Heft Nr. 349 - 4/2011

Ersatzfreiheitsstrafe
- Sinn oder Unsinn,
Recht oder Unrecht?

Ein Redaktionsmitglied



Straftaten, Ordnungswidrigkeiten oder nur Zivilrechtliche Ansprüche? Eine Auseinandersetzung über die Pönalisierung besonders des Schwarzfahrens und anderer Delikte, sowie das Aufzeigen möglicher Alternativen unter Berücksichtigung der eventuellen Auswirkungen auf den Einzelnen, die Gesellschaft und die Justiz.

In fast jeder Justizvollzugsanstalt Deutschlands sind Gefangene interniert, die nicht zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wurden.

"Wie das? Sofort entlassen!", so müsste jeder rechtschaffende Bürger - erst recht aber jeder Richter oder Staatsanwalt - lautstark fordern. Mitnichten geschieht dies - diese Absurdität der sogenannten Ersatzfreiheitsstrafer soll auf den folgenden Seiten dargestellt werden.

Für minderschwere Straftaten hat der Gesetzgeber die Geldstrafe als Pönalisierung vorgesehen. Das scheint Sinn zu machen und gerecht zu sein. Nicht jeder soll - so der Grundgedanke des Gesetzgebers - gerade bei minderschweren Vergehen sofort hinter Schloss und Riegel.

Eine besondere Beachtung finden dabei die Geldstrafen, welche beim so genannten "Schwarzfahren" verhangen werden. Welche Menschen benutzen aus welchen Motiven Öffentliche Verkehrsmittel ohne dafür zu zahlen, und warum? Was bewirkt eine vom Gericht ausgesprochene Geldstrafe und führt sie dazu, dass künftig die Strafe als Warnung dient? Was wäre, wenn diese Vergehen entweder als Ordnungswidrigkeit oder gar nur zivilrechtlich geahndet werden würden? Gibt es Alternativen?

Historische Betrachtung von Ordnungswidrigkeiten und Straftaten

Historische Vorläufer der Ordnungswidrigkeiten sind die Übertretungstatbestände. Sie bezeichneten Zuwiderhandlungen gegen behördliche Anordnungen. Die Exekutive verfügte bei Ungehorsam gegenüber ihren Anordnungen über keinerlei Ahndungsmöglichkeiten, denn gemäß § 182 Abs. 2 Paulskirchenverfassung stand "der Polizei keine Strafgerichtsbarkeit zu". Daher war dem Reichsstrafgesetzbuch von 1871 eine Unterscheidung zwischen kriminellem Unrecht und bloßem Verwaltungsungehorsam nicht zu entnehmen. Nachdem die Zahl der Übertretungstatbestände nach der Schaffung der sogenannten Leistungsverwaltung auf unüberschaubare 40.000 Tatbestände angewachsen war und damit das Gesamtgefüge des Strafrechts veränderte, wurden die Übertretungstatbestände nach und nach teils zu Ordnungswidrigkeiten herabgestuft und teils zu Vergehen heraufgestuft.

Beispielsweise wurden durch das EGOWiG (Einführungsgesetz zum Gesetz für Ordnungswidrigkeiten) von 1968 die Verkehrsübertretungen in Ordnungswidrigkeiten umgewandelt. Die Unterscheidung zwischen Straftaten und Ordnungswidrigkeiten war notwendig geworden, um das Strafrecht in seiner Funktion aufrecht zu erhalten. Sie war ebenfalls von dem historischen Bedürfnis geprägt, von einem totalitären System abzukehren und eine strikte Gewaltenteilung herbeizuführen.

Gegenüber dem Strafgesetzbuch stellt das Ordnungswidrigkeitenrecht ein milderes Mittel dar, da durch die Auferlegung einer Geldbuße lediglich ein Eingriff in das Grundrecht auf allgemeine Handlungsfreiheit vorgenommen wird und mithin eine bußgeldbewehrte Sanktion milder ist als ein Eingriff in das Freiheitsgrundrecht.

Ordnungsrechtliche Vorschriften setzen, anders als zivil- oder verwaltungsrechtliche Alternativen, nicht zwingend voraus, dass der ordnungswidrig Handelnde seine Identität derart offenbart, dass ein Rückgriff auf seine Person ohne Weiteres möglich ist. Beispielsweise wird bei Verhaltensweisen, welche durch die bußgeldbewehrte Verhaltensvorschrift verboten werden, nicht zwingend der Täter offenbart. Der ordnungswidrig Handelnde kann aber zum Beispiel durch die Verfolgung von Spuren möglicherweise ermittelt werden.

Angesichts des kodifizierten Ordnungswidrigkeitenrechts stellt sich die Frage, ob sich Ordnungswidrigkeiten von Straftaten anhand des verwirklichten Handlungsunwertes und/oder des Erfolgswerts der Tat unterscheiden, d.h., ob der erlangte "Nutzen" der Tat im Verhältnis zum Unrecht und der Bestrafung, sowie des Schadens steht. Anders ausgerückt: Pflückt jemand in einem Park Blumen, so ist dies streng genommen Diebstahl. Der Handlungsunwert ist hier aber so gering, dass es nur in wenigen Fällen wirklich zu einer Strafverfolgung kommt. Die Abgrenzung von Straf- und Ordnungswidrigkeitenrecht stellt in der Strafrechtswissenschaft ein viel diskutiertes Problem dar. So gibt es unterschiedliche Theorien zum Straf- und Ordnungswidrigkeitenrecht. Die Aliudtheorie ist der Auffassung, dass Ordnungswidrigkeiten nur aus dem Nichtbefolgen behördlicher Anweisungen entstehen können, also der Handelnde lediglich gegen ordnende Bestimmungen der Verwaltungsbehörde verstößt.

Bei der Einheitsmethode wird hingegen an dem Standpunkt festgehalten, dass die Ordnungswidrigkeit ein wesensgleiches Minus zur Straftat sei und sich nur durch einen geringeren Unrechtsgehalt von ihr unterscheidet.

Jedenfalls steht fest, dass Schwarzfahren einen geringen Handlungsunwert und einen fragwürdigen Handlungswert darstellt.

Der Bundesgerichtshof orientiert seine Rechtsprechung an der Aliudtheorie und urteilt, dass das Wesen der Ordnungswidrigkeit im bloßen Verwaltungsunrecht bestehe. Der bloße Ungehorsam mache noch keine Straftat aus. Fraglich ist demnach, ob es sich um ein "Ungehorsam" handelt, wenn das Beförderungsentgeld nicht bezahlt wird, oder ob es Betrug ist, da sich derjenige, der das Beförderungsentgeld nicht bezahlt hat und vortäuscht, er hätte es bezahlt, sich einen Vermögensvorteil verschafft.

Tatsächlich werden die Verkehrsbetriebe durch den Steuerzahler subventioniert. Genau dieser Steuerzahler aber zahlt dreifach. Zum einen zahlt er den defizitären Öffentlichen Nahverkehr, der unter anderem auch durch die Fahrgelderschleichung entsteht, er zahlt die Gerichte und die Verwaltung, die sich mit den erwischten Schwarzfahren beschäftigen müssen und er zahlt am Ende die Kosten der Vollstreckung der vom Gericht verhängten Strafe, wegen der Leistungserschleichung. Was bedeutet dies im Einzelnen?

Schwerpunkt: Schwarzfahrer

Tragen die Verkehrsbetriebe eine Mitschuld, in dem sie durch nicht vorhandene Kontrollsysteme oder Personaleinsparungen überhaupt erst ein Schwarzfahren ermöglichen? Würde jeder Fahrgast gar nicht das Öffentliche Verkehrsmittel betreten können, ohne dass er einen gültigen Fahrschein erworben hat, wäre ein Schwarzfahren erst gar nicht möglich. Insofern impliziert diese Tatsache nicht nur hier die Indikation durch zivilrechtliche Ahndung.

Einen wesentlich bedeutenderen Ansatz allerdings stellt eine betriebswirtschaftliche Überlegung dar: Was kostet es die Bevölkerung - den Steuerzahler - wenn Schwarzfahrer strafrechtlich sanktioniert werden? Was für Menschen fahren überhaupt schwarz - genauer: wie viele, zu einer Geldstrafe verurteilten Schwarzfahrer sind Harz IV Empfänger?

dazu: die Justiz

Zu diesem Thema hatten wir sowohl Michael Kanert, Pressesprecher der Justiz, als auch Martin Steltner, Pressesprecher der Staatsanwaltschaft, eingeladen. Zunächst wurden die Termine verschoben, dann wurde uns mitgeteilt, dass sich die beiden Pressesprecher über den Termin verständigen wollten, da der Tenor zum Interview sicherlich gleich sein würde und somit nicht zwingend beide kommen müssten.

Am Ende kam keiner.

dazu: die Berliner Verkehrsbetriebe

Wer allerdings sofort zusagte und auch unmittelbar Zeit für uns fand, war Petra Reetz, Pressesprecherin der Berliner Verkehrsbetriebe.

Leider konnte Petra Reetz uns keine eindeutigen Zahlen nennen, aus welcher Einkommensschicht Schwarzfahrer am häufigsten kommen, da auch die Berliner Verkehrsbetriebe - aus datenschutzrechtlichen Gründen - keine Informationen über die zur Anzeige gebrachten Täter bekommen. Es wäre aber recht wahrscheinlich, so Petra Reetz, dass Schwarzfahrer eher den unteren Einkommensschichten beziehungsweise den Sozialhilfeempfängern zugerechnet werden können.

Werden diese Schwarzfahrer zu einer Geldstrafe verurteilt, so steht schon bei der Verhängung der Strafe nahezu fest, dass die Geldstrafe von den Betroffenen nicht gezahlt werden kann. Vielmehr werden durch diese Art der Bestrafung weitere Kosten produziert.

Zwar ist Straftatenbekämpfung und die Vollstreckung von Strafen niemals wirtschaftlich, aber auch unter dieser Prämisse ist ein wirtschaftliches Denken durchaus notwendig und hilfreich.

Macht Arbeit frei? Ja!

Als sinnvoll für die Gesellschaft und den Einzelnen haben sich Arbeit-statt-Strafe-Maßnahmen erwiesen. Diese "Schwitzen-statt-sitzen"-Programme ermöglichen es dem zu einer Geldstrafe Verurteilten, seine Geldstrafe abzuarbeiten. Die ideelle und fiskalische Bedeutung von Arbeit-statt-Strafe ist gewachsen und beachtlich: In Berlin erledigt etwa ein Fünftel der zu einer Geldstrafe Verurteilten seine Strafe durch Arbeit - dies sind immerhin ca. 7.000 Personen!

Dabei bieten diese Maßnahmen vielfältige Vorteile für den Einzelnen, wie Experten betonen; und auch finanziell rechnen sich diese Maßnahmen für die Allgemeinheit: Knapp 20 Millionen Euro haben Arbeit-statt-Strafe-Maßnahmen in Berlin im Jahr 2009 eingespart (Berechnung des Berliner Vollzugsbeirats).

Jedoch fallen auch hier wieder die Randständigsten und Schwächsten durch und raus: Auch wenn die zu leistenden gemeinnützigen Arbeiten nicht selten einfache sind, erfordern sie zumindest einen beständigen (Arbeits-)Willen, eine beständige physische und psychische Gesundheit sowie ein Minimum an (Arbeits-)Tugenden. Dies fehlt oft und regelmäßig - anstatt diese Menschen jedoch zu fördern, fallen sie ins Loch:

Ersatzfreiheitsstrafe

Wurden vor einigen Jahren die meisten Ersatzfreiheitsstrafer im Offenen Vollzug untergebracht (fast 90 %), sitzen heute mehr als die Hälfte im geschlossenen Vollzug. Etwa 3 - 9 Monate verbringen sie dort - meist ohne Arbeit und kaum betreut. Die schädlichen Folgen des Freiheitsentzuges überwiegen ganz eindeutig: kein Ersatzfreiheitsstrafer kommt besser - mit besseren Chancen - aus dem Gefängnis, als er hereinging. Somit konstatieren Experten, dass Ersatzfreiheitsstrafe eine durch und durch unsinnige Verfahrensweise sei, die zudem gesetzlich - moralisch ohnehin! - fragwürdig erscheine.

Was könnte Sinn machen?

Noch sinnvoller, als Verurteilte ihre Strafe abarbeiten zu lassen, wäre es jedoch, es gar nicht erst zu einer Verurteilung - beziehungsweise zu einem Delikt! - kommen zu lassen.

Fruchtbar scheint hier die Überlegung zu sein, die öffentlichen Verkehrsmittel für Schüler und Sozialhilfeempfänger gänzlich kostenlos zur Verfügung zu stellen. Es wäre beispielsweise denkbar, dass Menschen, die unter einer gewissen Einkommensgrenze liegen, ein Anrecht auf Ausstellung einer Freikarte oder - per se - das Anrecht haben, öffentliche Verkehrsmittel kostenlos zu nutzen.

Petra Reetz (BVG) dazu:

"Es gibt in Berlin keine Studenten, die Schwarzfahren, weil das Beförderungsentgeld für die Öffentlichen Verkehrsbetriebe in den von den Studenten zu entrichtenden Semestergebühren enthalten ist."

Genau so könnte es auch mit der Auszahlung von Beihilfen funktionieren: Familien, die eine gewisse Einkommensgrenze unterschreiten, erhalten staatliche Soziale Hilfen. In diese Hilfen könnte das Beförderungsentgeld für die Verkehrsbetriebe automatisch einberechnet und einbezogen werden.

"Obschon nur ein Bruchteil derer die Schwarzfahren zur Anzeige gelangt, ist die Zahl erheblich", so Petra Reetz. "Mir ist zwar bewusst, dass die Vollstreckung der Strafe den Steuerzahler noch einmal Geld kostet, doch für mein Unternehmen ergeben sich ganz andere Probleme. Die BVG und die S-Bahn AG befördern jährlich Millionen von Fahrgästen, wovon etwa 5 % schwarzfahren. Von diesen Schwarzfahrern wird nur ein Bruchteil tatsächlich erfasst und von denen landet dann wiederum nur ein kleiner Teil vor Gericht. Die Kontrollen sind aber wichtig, auch zum Schutz derer, die ordentlich ihr Beförderungsentgeld bezahlen."

Den Vorschlag, das Beförderungsentgeld für sozial schwache Mitbürger von deren staatlichen Beihilfen automatisch zu zahlen und den Verkehrsbetrieben überweisen zu lassen, steht Petra Reetz positiv gegenüber:

"Ich vermute dadurch einen ähnlichen Effekt wie wir bei den Studenten haben. Erhält jeder sozial schwache Mitbürger automatisch ein Freifahrtticket, fallen diese Schwarzfahrer in der Verfolgung weg. Diejenigen, die dann noch schwarzfahren, könnten sich das Ticket leisten und fahren aus irgendwelchen Gründen mit Öffentlichen Verkehrsmitteln schwarz, jedenfalls aber nicht deshalb, weil sie sich es nicht leisten können. Diese Verkehrssünder sind aber dann auch in der Lage, ein eventuelles erhöhtes Beförderungsentgeld - ganz sicher aber die vom Gericht verhängte Geldstrafe - zu zahlen. Diese Lösung entlastet jeden. Die Justiz hätte weniger Fälle zu bearbeiten, also weniger Verwaltungsaufwand. Die Verkehrsbetriebe hätten weniger Verwaltungsaufwand, aber mehr Einnahmen und die Vollstreckungsbehörde könnte erhebliche Haftkosten sparen."

Betriebswirtschaftlich könnte eine interne Verrechnung zwischen den Leistungsträgern (Arbeits- / Sozialämtern) und den Verkehrsbetrieben erfolgen. Leider fehlen uns genaue Zahlen - aber überschlägig gibt nachfolgende Berechnung einen Überblick über's Einsparpotential:

Bei geschätzten 20.000 Schwarzfahrern im Monat beläuft sich die Ersparnis und Mehreinnahme für die Verkehrsbetriebe auf circa 2.100.000,00 € pro Monat. Mithin also ein Betrag in Höhe von 25.200.000,00 € im Jahr. Belastet nur jeder 100ste Fall des Schwarzfahrens die Justiz, so würde dies immerhin eine Ersparnis von 1.200.000,00 € im Monat ausmachen (200 Schwarzfahrer x 6.000,00 € Kosten). In einem Jahr würde dies eine Summe von insgesamt 14.400.000,00 € ergeben.

Fazit

Die Entkriminalisierung von Bagatelldelikten stellt nicht nur einen Beitrag zum Rechtsfrieden und der gefühlten Gerechtigkeit dar, sondern entlastet jeden Beteiligten: bürgerliche Freiheiten werden erhalten und finanzielle Mittel eingespart.

Die Möglichkeit eine verhängte Geldstrafe durch Arbeit abzuleisten, ist ein guter Ansatz; jedoch ist in noch stärkerem Maße sozialpädagogisches Engagement notwendig, um alle zu erreichen. Dies wird zwar mehr Geld kosten - aber viel weniger, als Haftkosten betragen und vor allen Dingen: diesen Menschen wird geholfen - und sie werden nicht im Gefängnis "verschlimm-bessert".

Würden die Geldstrafen im Falle des Schwarzfahrens in Ordnungswidrigkeiten umgewandelt, könnte im Zweifel nur Erzwingungshaft von einem Gericht angeordnet werden - für einen Regelverstoß bis höchstens sechs Wochen, für mehrere bis zu höchstens drei Monaten.

Die steigende Zahl von Ersatzfreiheitsstrafern könnte - da etwa 30 - 50% der Berliner Ersatzfreiheitsstrafer wegen Schwarzfahrens einsitzen - dadurch reduziert werden, wenn dem Vorschlag gefolgt werden würde, einkommensschwachen Personenkreisen automatisch eine Fahrkarte auszustellen.

Klar ist, dass Ersatzfreiheitsstrafe - besonders beim Schwarzfahren - zusammenfassend als Murks zu bezeichnen ist und dringend geändert werden muss. Der lichtblick unterstützt deshalb die Petition des Berliner Vollzugsbeirats vollumfänglich und bittet insbesondere Institutionen, die beim Bundestag vorliegende Petition mit der Nr. 4-17-07-450-026654 zu unterstützen.

*

Interview

mit Dr. Olaf Heischel, Vorsitzender des Berliner Vollzugsbeirats, der unlängst beim Deutschen Bundestag eine Petition eingereicht hat, die dafür plädiert, dass Menschen, die zu einer Geldstrafe verurteilt wurden, auch dann keine Freiheitsstrafe verbüßen müssen, wenn Sie die Geldstrafe nicht zahlen (können).

"Rechtlich ist es ein Skandal!", erzürnt Dr. Heischel sich. "Es fängt damit an, dass die sogenannten Ersatzfreiheitsstrafer von einem Gericht - im Namen des Volkes - ausschließlich zu einer Geldstrafe verurteilt wurden; und nicht zu einer Freiheitsstrafe. Es geht damit weiter, dass kurze Freiheitsstrafen grundsätzlich zu vermeiden sind, weil bekannter und anerkannter Weise diese mehr Schaden anrichten, als Nutzen haben können. Und nicht zuletzt ist es meines Erachtens auch so, dass bei Bagatelldelikten wie Schwarzfahren und Ladendiebstahl eine Strafbarkeit - zumindest aber ihre strafrechtliche Verfolgung - nicht anzunehmen ist, beziehungsweise nicht durchgeführt werden sollte."

"Sondern?", frage ich Dr. Heischel provokant: "Kann sich also zukünftig ein jeder in den Geschäften seiner Wahl frei bedienen - und ohne zu bezahlen die Bahn nutzen?"

Dr. Heischel winkt ab und erläutert, dass dies natürlich keine Einladung zum Klauen darstelle - aber ebenso, wie jeder Autobesitzer sein Auto abschließen müsse, um es vor Diebstahl zu sichern - und täte er es nicht, dann käme "natürlich" auch keine Versicherung für den Schaden auf -, müsse dies auch jeder Ladenbesitzer tun; und auch die Bahn müsse Vorkehrungen gegen das Schwarzfahren treffen - sonst könne sie eben nicht schreien, dass sie betrogen wurde.

Kritisch erkundige ich mich: "Ist also die Ersatzfreiheitsstrafe eine durch und durch gesetzwidrige und unsinnige Maßnahme?"

"Es ist verständlich, dass man ein Druckmittel haben möchte, um die Geldstrafe "besser" eintreiben zu können. Aber die Schweden machen es vor: Auch dort werden in Relation etwa ebenso viele Geldstrafen verhangen, wie in Deutschland - aber nur ein Bruchteil endet als Ersatzfreiheitsstrafer, weil dort ein Richter überprüft, ob denn tatsächlich der Verurteilte nicht zahlen will.", führt Dr. Heischel aus.

"Genau hier ist meines Erachtens sozialpädagogisches Engagement in weitaus stärkerem Maße als bisher zu leisten: Es trifft doch vor allen Dingen die Ärmsten und Schwächsten - wer es sich leisten kann, wird die Geldstrafe zahlen, bevor er in den Knast muss; und wer geistig und körperlich dazu in der Lage ist, wird Arbeit-statt-Strafe-Angebote nutzen, bevor er in den Knast geht - es sind die, die beides nicht können und dann im Gefängnis landen, wo die Probleme dieser Menschen nicht kleiner werden - ganz im Gegenteil.", erläutere ich.

Dr. Heischel nickt zustimmend. "Wenn es überhaupt einen positiven Aspekt gibt, dann nur den, dass so mancher Junkie in Haft ärztlich gut betreut wird. Nun ist es aber nicht Aufgabe der Justiz / des Gefängnisses, Gesundheitsfürsorge zu leisten - erst recht nicht als Strafe!"

"Die, idealtypisch dramatisierte, Realität eines Berliner Ersatzfreiheitsstrafers sieht also dann so aus, dass er - oder sie - auf einem Bahnhof ohne Fahrkarte angetroffen wurde - nicht wenige BTMler nutzen Bahnhöfe - und in der Folge gegen ihn oder sie als schuldangemessene Strafe eine Geldstrafe verhangen wurde -"

"Und schon hier ist das Procedere rechtlich hanebüchen.", wirft Dr. Heischel ein: "Die Geldstrafenhöhe soll sich an den wirtschaftlichen Verhältnissen des Betroffenen orientieren - einem Nackten, einem Menschen, der am Existenzminimum lebt, kann man aber nicht in die Tasche greifen."

"Diese Menschen leben aber nicht nur am Existenzminimum, sondern haben häufig vielfältige Probleme, sind "sozial randständig" - deshalb können sie Alternativangebote wie Ratenzahlungen oder Arbeit-statt-Strafe nicht nutzen.", fasse ich zusammen.

"Richtig!", Dr. Heischel nickt zustimmend: "Für Menschen, die keinen Briefkasten oder gar keinen Wohnsitz haben, die ihre Post nicht wenigstens ab und zu zur Kenntnis nehmen, oder die auf unangenehme Inhalte mit Verdrängung reagieren, ist es nicht zu schaffen. So lange sich die Betroffenen nicht in amtlicher Verwahrung oder Betreuung befinden, fallen sie untendurch; sprich: in Haft.

Und hier wird es - dieser unselige und unredliche Umgang mit Ersatzfreiheitsstrafern - nicht besser: Für Haftanstalten sind Ersatzfreiheitsstrafer belastender, als reguläre Strafgefangene, weil sie wegen auffallend noch viel häufiger physischer und psychischer Erkrankungen sowie wegen der relativen Kürze ihrer Haftzeiten oft nicht in Arbeit gebracht werden können und extremer ärztlicher, wie auch sozialarbeiterischer Zuwendung bedürfen; die de facto in den Anstalten aber nicht geleistet wird!"

"Also: Alles Unsinn?", frage ich.

"Ja!", bestätigt Dr. Heischel. "Menschlich und finanziell - denn: dass, um den bedeutsamsten Fall zu erwähnen, das zivilrechtliche Interesse der Berliner Verkehrsbetriebe an € 6,30 bei drei Mal nicht gezahltem Beförderungsentgelt von der Allgemeinheit mit etwa 30 Haftplatztagen zu je ca. € 100,-, insgesamt also € 3.000,- (hinzu kommen Kosten der Strafverfolgung, Verurteilung und Vollstreckung mit teilweise sicher noch einmal bis zu € 3.000,- pro Fall) zu bezahlen ist, erscheint erklärungs- und rechtfertigungsbedürftig."

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Quelle:
der lichtblick, 44. Jahrgang, Heft Nr. 349, 4/2011, S. 6-9
Unzensiertes Gefangenenmagazin der JVA Berlin-Tegel
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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. Januar 2012