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LICHTBLICK/164: Der lange Weg vom Vollzug zur Vision


der lichtblick - Gefangenenmagazin der JVA Berlin-Tegel
Heft Nr. 342 - 1/2010

VollzugsVisionen

Der lange Weg vom Vollzug zur Vision


Die Gesellschaft im Allgemeinen und jeder Einzelne für sich, der draußen in Freiheit seinem Leben nachgeht und mit Haft und Gefängnis noch nie etwas zu tun hatte, ist überwiegend der Meinung, dass wir in Deutschland ein funktionierendes Rechtssystem haben und jeder, der sich etwas hat zuschulden kommen lassen, einen fairen Prozess nach rechtsstaatlichen Gesichtspunkten und anschließend auch eine angemessene Strafe bekommt.

Diese Überzeugung von fairen Prozessen und angemessenen Strafen mag sich in der Praxis wohl meist auch bewahrheiten. Sowohl unser Polizeiapparat, der die Täter dingfest macht, als auch die Richterschaft, die später für ein faires Urteil sorgen soll, funktionieren fast immer entsprechend der ihnen zugewiesenen Aufgaben.

Für die meisten enden damit alle weiteren Überlegungen, denn der Täter ist weggesperrt, der Gerechtigkeit ist genüge getan, die Gesellschaft ist vor weiteren Straftaten geschützt.

Was aber dann tatsächlich mit dem Verurteilten im Gefängnis passiert, wie er dort behandelt wird - oder auch nicht behandelt wird -, wie er dort zum Besseren motiviert wird und in welcher Verfassung, bzw. in welchem Zustand er anschließend wieder entlassen wird, dafür interessieren sich nur noch ganz wenige. Grundsätzlich ist er ja bestraft, soll büßen und seine Strafe absitzen.

Die Betroffenen, also die Verurteilten und dann Weggesperrten, nehmen ihr Urteil meist einsichtig und oft sogar reumütig an, geloben Besserung und machen sich von Haftbeginn an viele Gedanken darüber, was in ihrem Leben schief lief, warum es zu der Straftat kam und wie sie künftig, nach der Haft, ein Leben ohne Straftaten auf die Reihe bekommen. Doch dann passiert mit den Inhaftierten in unseren Haftanstalten etwas, das genau das Gegenteil von dem bewirkt, was die Gesellschaft anstrebte und das Gegenteil von dem, was der Inhaftierte sich selbst gelobte.

Alle diejenigen, die vor der Verurteilung mit dem Inhaftierten zu tun hatten, also der Polizeiapparat, die Richterschaft und die Gesellschaft draußen, bekommen von diesen sich im Gefängnis anbahnenden Missständen kaum etwas mit, weil - wer schaut schon hinter die Mauern? Wer schaut sich die Häftlinge an, die z. B. mit dem sprichwörtlich blauen Müllsack in der Hand in die Obdachlosigkeit entlassen werden.

Wir, die selbst von einer Haftstrafe betroffen sind, erleben hier innerhalb dieser Mauern am eigenen Leib, was in Deutschlands Gefängnissen passiert, oder eben auch nicht passiert. Deshalb haben wir uns die folgende Aufgabe gestellt:

Wir wollen den Sinn oder Unsinn von Gefängnissen, so, wie sie heute betrieben werden, dokumentieren, wollen aufzeigen, was an diesem Strafsystem gut, aber auch was total falsch ist. Wir haben uns diese Aufgabe gestellt, nicht, weil wir das Strafen abschaffen wollen, sondern weil wir die Haftzeit besser, effektiver genutzt wissen wollen. Wir werden aufzeigen, dass sowohl heutige Strafsysteme als auch Deutschlands Gefängnisstrukturen weder zeitgemäß sind, noch dem Sinn unseres Strafvollzugsgesetzes gerecht werden. Nahezu jeder Straftäter wird irgendwann in die Gesellschaft zurückkehren, und es liegt an ihr, zu beeinflussen, wie sie den Rückkehrer dann gerne hätte: wirklich verändert und dankbar für die Chance zum Neuanfang oder verbittert, sozialem Verhalten vollends entwöhnt und mit negativer Grundeinstellung gegenüber Staat und Gesellschaft.

Um das heutige System nachvollziehen zu können, mussten wir erst einen Ausflug in die Vergangenheit machen, weit zurück bis zu den Anfängen von Verbrechen und Strafen gehen. Drei Hefte haben wir damit schon gefüllt. Und auch jetzt blicken wir noch einmal zurück, bevor wir uns dem Thema Strafen in der Gegenwart und Zukunft widmen können. Im Rahmen dieser Serie werden wir in noch nicht festgelegter Reihenfolge noch folgend aufgeführte Themen bearbeiten:

- Welche Wirkung hatten die alten Strafsysteme
- Macht Knast krank
- Ethik und Moral des Strafens
- Hirnforschung zum Thema Kriminalität
- Der gegenwärtige Strafvollzug in Deutschland
- Ein Vergleich mit Vollzugsformen in anderen Ländern
- Wie kann ein besserer Strafvollzug in der Zukunft aussehen

Im Internet, unter www.lichtblick-zeitung.de, haben wir alle bisher erschienen Folgen bereits zu einer kleinen Broschüre zusammengefasst. Gerne nehmen wir auch Anregungen von unseren Lesern entgegen. Vielleicht erhalten wir sogar Leserbriefe oder Fremdbeiträge, Essays oder wissenschaftliche Aufsätze zu unserer Reihe "VollzugsVisionen", die dann sogar als begleitende Artikel zu unseren eigenen Beiträgen erscheinen können. Und auch kritische Meinungen sind uns willkommen.

Lasst uns das Thema "VollzugsVisionen" anpacken.
Schreibt uns!


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Quelle:
der lichtblick, 42. Jahrgang, Heft Nr. 342, 1/2010, Seite 7
Unzensiertes Gefangenenmagazin der JVA Berlin-Tegel
Herausgeber: Insassen der Justizvollzugsanstalt Berlin-Tegel
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veröffentlicht im Schattenblick zum 8. Juni 2010