Schattenblick →INFOPOOL →MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE

LICHTBLICK/152: VollzugsVisionen - Freiheitsentzug darf keine Rache sein


der lichtblick - Gefangenenmagazin der JVA Berlin-Tegel
Heft Nr. 338 - 1/2009

VollzugsVisionen
Freiheitsentzug darf keine Rache sein


VollzugsVisionen - welch schönes, welch anspruchsvolles Wort. Worum geht es? Es geht um nicht mehr oder weniger als die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft des schwierigen Themas "Vollzug von Strafe". Vollzug von Freiheitsstrafe in dem Rechtsstaat Bundesrepublik Deutschland. *

Mit der neuen, sich über viele Ausgaben hinziehenden Serie wollen wir den Versuch wagen, einen Ausblick, eine Vision zu erzeugen, wie humaner Strafvollzug in der Zukunft aussehen könnte, aussehen muss!

Wir werden uns tief in die Vergangenheit begeben und eine Rückschau halten, wie frühere Straf- und Sanktionssysteme funktionierten und welche Auswirkungen diese auf Opfer und Täter hatten. Wir werden versuchen zu ergründen, ob archaische Strafsysteme für die Menschen doch befriedigender, doch gerechter sind.

Wir werden uns mit dem Thema Moral, Ethik und Gerechtigkeit im philosophischen, aber auch juristischen Kontext beschäftigen. Werden versuchen zu beschreiben, welche ethisch-moralischen Fragen beim Thema Strafen entstehen können.

Wir werden bei der Hinwendung zur Gegenwart versuchen alles auf den Tisch zu legen, was den heutigen Strafvollzug in unserem Land ausmacht. Ist dies ein Rechtsstaat?

Wir werden aufzeigen, dass Knast krank macht!

Wir werden über die neuesten Erkenntnisse der Hirnforschung und der daraus entstehenden Probleme berichten. Über tagtägliche Entwürdigung im Kleinen und den Verstoß gegen die Menschenwürde im Großen. Über Sexualentzug und Gesundheitsentzug.

Werden einen Vergleich anstellen über den Strafvollzug hier und den Möglichkeiten des Strafvollzugs im Ausland.

Wir werden die karikierenden Worte "Behandlungsvollzug" und "Resozialisierung" bewerten und aufzeigen, was es bedeuten kann, wenn man "entsozialisiert" und "verwahrt" wird. Beweisen, dass der ausschließliche Freiheitsentzug keine Rache sein soll - nach dem Anspruch der Gründungsväter des Grundgesetzes keine Rache mehr sein darf.

Denn sehr griffig hat es jüngst Robert Leicht in der Zeitung "Die Zeit" Nr. 49 v. 27.11.08 formuliert: "Ein Recht auf Rache gibt es nicht - Man müsste ein Herz aus Stein haben, wenn man dafür kein Mitgefühl hätte: Die Hinterbliebenen der Mordopfer der RAF können es nicht ertragen, dass nun auch Christian Klar nach 26 Jahren der Haft wieder auf freien Fuß kommt. Ihnen und den seinerzeit in Mogadischu befreiten Geiseln, die nun protestieren, gehört gewiss alle geziemende Empathie - kein Verständnis verdienen allerdings jene Politiker und Publizisten, die mit den Gefühlen der Opfer Schindluder treiben, anstatt aufzuklären. In der Tat: Es bleibt eine unaufhebbare Asymmetrie zwischen Opfer und Täter; zumal nach einem Mord. Das aber haben wir so gewollt, als wir im Lauf der Zivilisation zweierlei getan haben: Wir haben zuerst den Racheanspruch des Opfers 'enteignet' und am Ende das Vergeltungsstrafrecht - samt Todesstrafe - abgeschafft.
Die Opfer der RAF sind tot, der Täter lebt weiter. Und er soll nach dem eindeutigen Zeugnis des Bundesverfassungsgerichts noch den Rest einer Lebensperspektive in Freihüit haben - als Ausdruck einer Menschenwürde, die nicht einmal ein Verbrecher aus eigener Kraft vernichten kann."

So ist es!

Wir möchten Christian Klar nicht in Schutz nehmen, denn viele Menschen werfen ihm vor, dass er sich nie zu seinen einzelnen Taten bekannt hat und die Opfer und Angehörigen immer noch grausam im Unklaren lässt über die persönlichen Verantwortlichkeiten. Das ist für die Hinterbliebenen, aber auch für alle "neutralen" Interessierten so unerträglich und macht gerade den Umgang mit dem Menschen Christian Klar so schwer.
Aber das sollte allen draußen, und auch drinnen eben nicht das Recht geben, ungerecht zu werden und Rache üben zu wollen. "Ein Recht auf Rache gibt es nicht" - und wir geben sogar zu bedenken, dass, wer Rache üben will oder sogar übt, sich selbst nur wieder in eine Opferrolle drängen lässt, denn Rache ist eine Opferhaltung.

Nun gestehen wir natürlich jedem "freien" Menschen draußen zu, eben doch den Wunsch nach Rache zu verspüren. Das ist verständlich und menschlich nachvollziehbar. Es gibt wissenschaftliche Untersuchungen, die belegen, dass bei der Ausübung von Rache die gleichen Hirnareale angesprochen werden wie beim Sex. Sogar das Gefühl der Befriedigung soll hinterher ähnlich sein. Nun, tja, da uns Sex ja doch ein recht starker Trieb zu sein scheint - irgendwie zumindest, wollen wir auch jedem anständigen Menschen draußen Rachegefühle zubilligen.

Wir Knackis hier in Tegel sitzen fast alle zu Recht ein (wir tippen auf 98%, Fehlurteile kommen hin und wieder vor), doch fast niemand sitzt zu Recht im Knast Tegel. Fast alle haben mehr oder weniger die Strafe verdient (wobei ja niemand das bekommt, was er verdient - Shakespeare). Viele jedenfalls fühlen sich zu Recht bestraft und glauben auch, dass die Höhe der Strafe angemessen ist. Der Großteil von uns hat eben in der Vergangenheit wirklich Scheiße gebaut und muss dafür jetzt die persönliche Verantwortung übernehmen. Einige können mittlerweile sagen, dass ihnen Vieles - wenn auch nicht alles - leidtut, und das ist aufrichtig gemeint und keine leere Floskel...

Das Problem liegt darin, dass hier in Tegel nichts passiert, um die Leute zu wirklich besseren Menschen zu machen, Im Gegenteil, hier werden Monster gezüchtet, die teilweise noch gefährlicher entlassen werden, als sie hereingekommen sind. Das ist für die Gesellschaft draußen ein echtes Problem, auch wenn diese sich dessen womöglich gar nicht bewusst ist. Das Schlimme daran ist, dass das nicht aus Unwissenheit geschieht, sondern dies die systematische Politik der Justizverwaltung und der JVA Tegel ist. Darüber wollen wir in der Gegenwartsbetrachtung der Serie VollzugsVisionen schreiben. Damit man auch Spaß an der Sache hat, werden wir auch über viele witzige Sachen oder absurde Anekdoten berichten, denn eins ist sicher: Tegel ist Wahnsinn mit Methode!
Wir werden über die Unzulänglichkeiten des Konzeptes Zellengefängnis berichten und über den tagtäglichen Unsinn. Eben so, dass man dabei auch mal lachen kann - so wie wir hier drinnen auch, weil einem alles obskur vorkommt oder einfach lächerlich. Wir erhoffen uns, dass einem das eine oder andere Mal das Lachen im Halse stecken bleibt. Denn es gibt auch sehr Trauriges.
Von all dem erhoffen wir uns mehr Mitgefühl zu wecken und klar zu machen, dass trotz aller Defizite der hiesigen Inhaftierten, trotz aller zum Teil abscheulichster Verbrechen, die von einigen von uns begangen wurden, hier drinnen immer noch Menschen sitzen und diese es vielleicht verdient haben, auch als solche mit Würde behandelt zu werden, zumindest, wenn man uns bessern will. Und zumindest wenn wir unsere gesellschaftliche Moral und Ethik ernst meinen und wir uns tatsächlich in der christlich-abendländischen vielleicht humanistischen Tradition des "alten Europas" sehen.
In diesem Sinne hoffen wir auf mehr Menschlichkeit. Diese Serie soll unterhalten, zum Nachdenken anregen, aber manchmal auch bedrücken, denn manches wird schwere Kost.
Professor Dr. Helmut Koch von der Uni Münster schrieb in seinem Grußwort an uns: "Ich lese die Zeitung, muss ich gestehen, nicht nur in düsteren Stimmungen wegen des schwer erträglichen Themas Strafvollzug, sondern auch mit Spaß. Es ist gut, dass - wie in der Kunst - der oft schwere Inhalt eingefangen ist in einer gefälligen, oft witzigen und geistreichen Form." Nun, da uns das in der Vergangenheit ab und an gelang, erhoffen wir das auch für die Serie. Wir wollen Knast öffentlich machen, verständlich und begreifbar. Wir wollen, dass man versteht, was er meint, wenn der ehemalige Richter H. Ostermeyer sagt: "Der Strafvollzug ist ein Verbrechen an der Menschlichkeit. Spätere Geschlechter werden die Zellen der Anstalten mit demselben Entsetzen betrachten, wie wir mittelalterliche Verliese und Folterkammern. Wer das weiß und nichts dagegen tut, macht sich mitschuldig."

Wir wollen also alle Leser erreichen, Empathie für uns Strafgefangene wecken, wir wollen, dass man erkennt, dass trotz aller Abscheulichkeiten hier zum Teil sehr nette Menschen leben, die lachen, weinen und trauern. Wir wollen polarisieren, aufregen und anregen. Anregen zum Nachdenken und zum Vorausdenken. Zum Denken an die Zukunft, zum Vorausdenken einer Vision.

Wir werden eine Zukunftsvision entwerfen, so wie Knast vielleicht einmal sein wird, denn wir geben die Hoffnung nicht auf. Wir werden Unerhörtes denken und niederschreiben, konstruktive Vorschläge unterbreiten und zur Diskussion stellen. Auch unter Berücksichtigung leerer Kassen und mangelnden Willens zur Veränderung. Denn wir planen eine Serie über VollzugsVisionen - nicht eine Utopie.

Wir planen, allen Beteiligten und scheinbar Unbeteiligten, hier drinnen und dort draußen, straffälligen Menschen, vollziehenden Beamten, unbescholtenen Bürgern und populistischen Politikern ihre soziale Verantwortung aufzuzeigen. Die soziale Verantwortung, für das was geschieht, aber auch für das, was einmal geschehen wird. Rede sich niemand 'raus! Denn es gilt noch immer der treffende Satz von Erich Kästner: "An allem Unfug, der passiert, sind nicht etwa nur die schuld, die ihn tun, sondern auch die, die ihn nicht verhindern!"


*


Quelle:
der lichtblick, 41. Jahrgang, Heft Nr. 338, 1/2009, Seite 6-7
Unzensiertes Gefangenenmagazin der JVA Berlin-Tegel
Herausgeber: Insassen der Justizvollzugsanstalt Berlin-Tegel
Redaktionsgemeinschaft der lichtblick
Seidelstraße 39, 13507 Berlin
Telefon/Fax: 030/90 147-23 29
E-Mail: der-lichtblick@gmx.net
Internet: www.lichtblick-zeitung.de

"der lichtblick" erscheint sechsmal im Jahr.
Der Bezug ist kostenfrei. Spenden zu Gunsten
des Gefangenenmagazins "der lichtblick" sind als
gemeinnützig anerkannt und steuerlich absetzbar.


veröffentlicht im Schattenblick zum 12. Mai 2009