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IZ3W/387: Editorial zum Themenschwerpunkt von Ausgabe 370 - Gefängnisse und Strafsysteme


iz3w - informationszentrum 3. Welt - Ausgabe 370 - Januar/Februar 2019

Gefängnisse und Strafsysteme

Editorial zum Themenschwerpunkt


In Deutschland leben etwa 63.000 Menschen hinter Gittern. Das entspricht der Bevölkerung einer mittelgroßen Stadt - deren Zusammensetzung allerdings einen außergewöhnlich hohen »Ausländeranteil« hat. Die NGO Prison Insider schätzt die globale Gefängnisbevölkerung auf 10.350.000 Menschen. Obwohl es so viele sind, spricht kaum jemand von ihnen. Die Gesellschaften sind erleichtert, dass man Probleme im Gefängnis scheinbar wegschließen kann.

Für die Inhaftierten ist ein Aufenthalt im Gefängnis eine existenzielle Frage. Doch auch auf die Menschen draußen übt es einen starken Einfluss aus. Der Philosoph Michel Foucault nannte das Gefängnis eine »Schule der Gesellschaft« und beschrieb es als latentes, ultimatives Disziplinierungsmittel. So ist, wie Foucault in »Wahnsinn und Gesellschaft« schreibt, »die sichtbare Festung der Ordnung« inzwischen auch ein »Schloß in unserem Bewußtsein« geworden.

Im kollektiven Bewusstsein spukt das Gefängnis in unterschiedlicher Form umher. Wir haben den Themenschwerpunkt nicht von ungefähr mit Filmstills aus dem umfangreichen Genre »Gefängnisfilm« bebildert. Es gibt Spielfilme wie »Papillon«, die in sozialkritischer Absicht die Tristesse und Gewalt hinter den Gefängnismauern einfangen. Die immer auch im Unterbewusstsein herumspukende Freiheitssehnsucht spiegelt sich im Motiv der Gefängnisrevolte (etwa bei »Terror in Block 11«). Höhepunkt des Genres ist der Gefängnisausbruch, aufwändig durchgeführt etwa in »Flucht aus Alcatraz« oder slapstickhaft dargestellt in »Down by Law«. So marginal radikale Gefängniskritik heute auch sein mag, der gelungene Ausbruch aus der totalen Institution des Gefängnisses wird vom Publikum goutiert.

Der Gefängnisfilm legt noch weitere Sehnsüchte im Publikum frei. Lady Gaga verlegt sich im Musikvideo zu »Telephone« ins Frauengefängnis, um zu zeigen, was für ein subversiver Feger sie ist. Der Knast wird zur reinen Projektionsfläche, dort wird wilder getanzt als im Club. Die Beschränktheit solcher kulturindustrieller Phantasmen einmal beiseitegelassen, lässt sich festhalten: Das Aufmischen der gesetzten Kategorien von Gut und Böse, Drinnen und Draußen, Verbrechen und Wohlanständigkeit ist stets verdienstvoll.

Beim Thema Knast stellt sich die Frage nach dem Sinn. Der Knast barbarisiert die Gesellschaft, weil er einen Tabubruch vollzieht: Er setzt mit der Bewegungsfreiheit von Menschen ein fundamentales Menschenrecht aus. Das Knastleben macht in der Regel die InsassInnen zu schlechteren Menschen mit schlechteren Perspektiven. Das kann eigentlich niemand wollen. Folglich stießen wir bei unserer Recherche in der Unibibliothek auf eine Flut gefängniskritischer Literatur - selbst bis in die Regale der Juristik hinein. Die Treffer kamen vor allem aus den 1970er und 80er Jahren. »Freiheit statt Strafe« (1986) war in der sozialen Arbeit sowie in den Sozialwissenschaften ein weit verbreitetes Anliegen - aus den oben genannten Gründen. Aber dann brach die Trefferquote ein. Sowohl Knastkritik wie auch das Knastleben allgemein verschwanden in den 1990er Jahren wieder in ihrer Schattenwelt.

»Die Debatte um die Abschaffung der Knäste ist tot«, sagte uns dazu nicht ohne Bedauern ein langjähriger Aktivist des »Knastfunk« von Radio Dreyeckland. Die Knastkritik habe in vielen europäischen Ländern immerhin die Justizvollzugsreformen mit bewirkt. Heute hätten Felder wie Resozialisierung, Entkriminalisierung und Prävention einen höheren Stellenwert. Im Gespräch mit einem gefängniskritischen Sozialarbeiter kommen noch andere Aspekte zur Sprache: »Man muss schon ganz schön viel Scheiße bauen, um heute in Deutschland einzufahren« oder »ein paar von denen will ich draußen nicht begegnen«.

Gewiss, Straftaten lösen sich mit der Humanisierung oder gar Abschaffung von Knästen nicht in Wohlgefallen auf. Wenn es um Gewalt gegen Menschen geht, bedarf es schon weitergehender Mittel als freundlicher Ermahnungen. Doch im Falle vieler anderer Straftaten ist eine Entkriminalisierung absolut sinnvoll, etwa bei Drogengebrauch oder bei Ersatzfreiheitsstrafen für Schwarzfahren. Und auch die großen Freiheitsziele müssen immer wieder neu diskutiert werden. In den Artikeln und Rezensionen dieses Themenschwerpunktes spuken sie weiter umher, ebenso wie auf einer neuen Webseite, auf die wir gestoßen sind: entknastung.org.

»Korruption, Gewalt, skrupellose Ausbeutung - Mexiko hat ein Strafsystem, das den gesellschaftlichen Verhältnissen im Land entspricht«, schreibt unser Autor Wolf-Dieter Vogel über Gefängnisse in Mexiko. Auch in anderen Länderartikeln bedingen kritikwürdige gesellschaftliche Verhältnisse, was als Verbrechen geahndet wird. Eine prominente Rolle spielen in vielen Artikeln die Armut oder die Diskriminierung von Schwarzen, die nicht nur im US-Gefängnissystem auf die Spitze getrieben wird. Außerdem dienen Knäste gerade in autoritären Regimen der Herrschaftssicherung. »Wehe den Dissidenten!« lautet die Botschaft etwa der saudischen Justiz.

Die Knäste dieser Welt sind Orte der Überbelegung, Verwahrlosung, Menschenrechtsverletzungen, Folter und der Zerstörung von Lebensperspektiven. Es bleibt wichtig, das hinter den dicken Mauern Verborgene sichtbar zu machen - und nach Befreiung zu sinnen. Nicht nur für die Gefangenen, sondern für die ganze Gesellschaft. Die nächste Gelegenheit dazu bietet sich bei den Knastkundgebungen an Silvester.

die redaktion

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Gefängnisse und Strafsysteme
Weggesperrt

Weltweit leben schätzungsweise über zehn Millionen Menschen hinter Gittern. Doch kaum jemand spricht von ihnen. Die Gesellschaften sind erleichtert, dass man Probleme im Gefängnis scheinbar wegschließen kann. Der Knast barbarisiert die Gesellschaft, weil er einen Tabubruch vollzieht: Er setzt mit der Bewegungsfreiheit ein fundamentales Menschenrecht aus. Das Knastleben macht in der Regel die InsassInnen zu schlechteren Menschen mit schlechteren Perspektiven.

Die Gefängnisse dieser Welt sind Orte der Überbelegung, Verwahrlosung, Menschenrechtsverletzungen, Folter und der Zerstörung von Lebensperspektiven. Es bleibt wichtig, das hinter den dicken Mauern Verborgene sichtbar zu machen - und nach Befreiung zu sinnen. Nicht nur für die Gefangenen, sondern für die ganze Gesellschaft. Deshalb fragen wir: Warum sitzen vor allem Ärmere in den Knästen? Wie steht es um die Menschenrechte der Gefangenen? Welche Alternativen gibt es zum klassischen Justizvollzug?

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Inhaltsübersicht

Hefteditorial: Wir haben einen Wunsch


Schwerpunkt: Gefängnisse und Strafsysteme

Editorial zum Themenschwerpunkt:

Vom Ein- und Wegsperren
Warum die ganze Gesellschaft entknastet werden muss
von Katrin Dietrich

Strenger als die Sharia
Wie das Strafsystem in Saudi-Arabien die Erbmonarchie erhält
von Jörn Schulz

»Immer wieder aufstehen«
Interview mit Lutz Taufer über Gefängnisse in Brasilien und in der BRD

»Hier befehle ich«
In mexikanischen Knästen regiert die organisierte Kriminalität
von Wolf-Dieter Vogel

»Gefängnis ist wie eine Todesstrafe«
Der Friedensprozess in Kolumbien lässt die Knäste außen vor
von Ani Dießelmann

Streiken hinter Gittern
Gefangene in den USA bauen erfolgreich eine Bewegung auf
von Toussaint Losier

Für die radikale Entknastung
Abolitionismus und transformative Gerechtigkeit in den USA
von Melanie Brazzell

Gefangen im Sexismus
Eine Männergruppe rüttelt an den Verhältnissen im Knast
von Kathi King

»Unschuldig ihrer Freiheit beraubt«
Interview mit dem Hilfsverein zum Abschiebeknast Büren


Politik und Ökonomie

Brasilien: Ein politisches Monster erschaffen
Warum konnte Jair Bolsonaro die Wahl gewinnen?
von Fabian Kern

Religionskritik: Gottes Wille geschieht
Die neue Macht der Evangelikalen in Lateinamerika
von René Thannhäuser

Vietnam: Krieg ohne Ende
Die vietnamesische Erinnerungspolitik lässt Lücken
von Christopher Wimmer

Militarimus: Militärisches Disneyland
In Jordanien sind Kriegsvorbereitungen ein lukratives Geschäft
von Benjamin Schütze

Migration: Geflüchtet oder migriert?
Die Kategorisierungen der EU-Migrationspolitik sind haltlos
von Délia Evelyne Nicoué


Kultur und Debatte

Feminismus: »Das Befreiungsprojekt dauert an«
Interview mit Amina Mama über Feminismus in Afrika
Langfassung nur im Netz

Literatur: Aus dem Archiv gegraben
Das Werk der Schriftstellerin Zora Neale Hurston
von Kathi King

Postkolonialismus Tiefes Bedauern, flacher Effekt
Der postkoloniale Diskurs in den Niederlanden ist ausbaufähig
von Tobias Müller


Rezensionen

Rachel Kushner: The Mars Room

Maurizio Torchio: Das angehaltene Leben
Aus dem Italienischen von Anette Kopetzki

Doğan Akhanlı: Verhaftung in Granada
Treibt die Türkei in die Diktatur?

Rehzi Malzahn (Hg.): Strafe und Gefängnis
Theorie, Kritik, Alternativen. Eine Einführung.

Kate Evans: Rosa
Die Graphic Novel über Rosa Luxemburg

»One Year in Germany«
Film von Christian Weinert und Ferdinand Carrière

Heidrun Aigner, Sarah Kumnig (Hg.): Stadt für Alle
Analysen und Aneignungen

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Quelle:
iz3w Nr. 370 - Januar/Februar 2019
Copyright: bei der Redaktion und den AutorInnen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. Januar 2019

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