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IZ3W/374: Editorial zum Dossier von Ausgabe 360 - Dazwischenfunken


iz3w - informationszentrum 3. Welt - Ausgabe 360 - Mai/Juni 2017

Dazwischenfunken


Als dem wissenschaftlich interessierten Priester Landell de Moura 1894 in Sao Paulo erstmals die Übertragung menschlicher Sprache per Radiowellen gelang, blieb diese Erfahrung für die avisierten HörerInnen zunächst folgenlos. Die Kirche vernichtete die »Höllenmaschine« und verbannte de Moura. Seit Beginn seiner Geschichte war der Hörfunk also umkämpft.

Nicht lange, nachdem sich zu Beginn der 1920er Jahre Amateure auf der ganzen Welt in »Radio-Clubs« am experimentellen Empfang und Senden beteiligen, formuliert Bertold Brecht seine Radiotheorie: Er spricht von den »zwei Gesichtern« des Radios und proklamiert einen partizipativen Rundfunk. Auch die futuristische Avangarde feiert und mystifiziert die Radiowellen.

Spätestens, als die Nazipropaganda per »Volksempfänger« in Deutschland die Massen aufpeitschte, ist jedoch der ambivalente Charakter des Mediums Radio deutlich geworden. Ob Faschisten oder SozialistInnen, Gewerkschaften oder PrivatunternehmerInnen, es dauerte nur wenige Jahre, bis nahezu alle politischen Lager das Radio zur Verbreitung ihrer Ideologien nutzen. Befreiungsbewegungen von Kuba bis Vietnam, Bergarbeiter in Bolivien oder Indigéna-Organisationen in Surinam, sie alle bauten Sender. Und sie alle gaben so jenem Teil der Bevölkerung eine Stimme, der oft keinen Zugang zu Zeitungen hatte und bei öffentlichen Debatten nicht gehört wurde.

1948 gewährte die internationale Staatengemeinschaft die Garantie, »Informationen und Ideen mit allen Verständigungsmitteln ohne Rücksicht auf Grenzen zu suchen, zu empfangen und zu verbreiten«. Doch auch heute ist das Recht auf freie Kommunikation - und damit auch das Radiomachen - keine Selbstverständlichkeit: Verfolgung, Mord und Folter von MedienaktivistInnen schränken die Meinungs- und Pressefreiheit massiv ein. Und noch immer haben Radioschaffende vielerorts damit zu kämpfen, dass die legale Vergabe von Frequenzen nur für diejenigen vorgesehen ist, die dafür kräftig zahlen: private Medienmogule.

Weltweit ist das Radio das Medium, das die meisten Menschen erreicht. In Europa verliert der Hörfunk zwar an Zuhörerschaft, aber gerade in Ländern des Südens sind Radiostationen ein sehr wichtiges Mittel der Kommunikation. Eine südafrikanische Universität entwickelte jüngst ein Spracherkennungsprogramm für Acholi und zwei weitere Lokalsprachen in Uganda. Mit deren Hilfe können nun Menschen selbst von entlegenen Dörfern aus über den Äther bei öffentlich geführten Debatten mitreden. Die Empfangsgeräte sind zugleich Sender, die das Radio ganz im Sinne Brechts als partizipatives Medium auch für jene öffnet, die keine schriftlichen Eingaben machen und keine Protestschreiben verschicken können.

Ein Community Radio ist freilich nicht schon per se emanzipatorisch, und nicht jeder Freie Sender hat antirassistische und antisexistische Sprachregelungen in den Statuten stehen. Wann also ist die Aneignung von Kommunikation ein emanzipatorischer Akt? In unserem Dossier fragen wir außerdem: Welche Relevanz hat das Radiomachen heute für die Wahrnehmung des Rechtes auf freie Kommunikation? Sind Freie Radios und Piratensender ein Auslaufmodell, oder sind sie eine Avantgarde? Eine vorläufige Antwort ist in dem »Brief aus der Zukunft von 2020« des Lateinamerikanischen Verbandes für Rundfunkbildung nachzulesen. Dieser berichtet, wie die Community-Medien von morgen funktionieren: Mitbestimmung bei der Nutzung von Radiowellen # Einsatz Freier Software # vernetzte Kooperation auf partizipativen Kommunikationsplattformen.


die redaktion

Das Dossier wurde gefördert von ENGAGEMENT GLOBAL im Auftrag des BMZ und aus Mitteln des Kirchlichen Entwicklungsdienstes durch Brot für die Welt - Evangelischer Entwicklungsdienst.

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Inhaltsverzeichnis iz3w Nr. 360 - Mai/Juni 2017

Aktivismus in Freien Radios
Dazwischenfunken

Weltweit ist das Radio das Medium, das die meisten Menschen erreicht. In Europa verliert der Hörfunk zwar an Zuhörerschaft, aber gerade in Ländern des Globalen Südens sind Radiostationen ein sehr wichtiges Mittel der politischen Kommunikation. Gerade Freie Radios tragen zur Vielfalt von Stimmen und Meinungen bei, indem sie jenen Bevölkerungsgruppen eine Stimme geben, die keinen Zugang zu Zeitungen oder Internet haben und die bei öffentlichen Debatten nicht gehört werden.

In unserem Themenschwerpunkt fragen wir unter anderem: Welche Rolle spielen Radios in Konfliktregionen? Welche Bedeutung haben Community Radios im Amazonasgebiet? Wie können Geflüchtete das Radio für sich nutzen? Sind Freie Radios und Piratensender ein Auslaufmodell - oder im Gegenteil Avantgarde?

Der südnordfunk - die monatliche Radio-Magazinsendung des iz3w - ergänzt das Dossier mit Podcasts rund um das Thema Freie Radios weltweit.


INHALTSÜBERSICHT

Hunger ist keine Naturkatastrophe
Hefteditorial

Dossier: Freie Radios

Freie Radios
Editorial zum Dossier

»Es geht ums Ganze, den Weltgeist!«
Interview mit Geert Lovink über die Zukunft des Radioaktivismus

»Wir brauchen eine Dekolonisierung der Technologie«
Interview mit der Medienaktivistin Maka Munoz

Es begann mit einer mp3-Datei
Der internationalistische Radiodienst Onda
von Wolf-Dieter Vogel

»Weder mächtig noch Machos«
Interview mit Vicky Quevedo über das feministische Radio Tierra

»Schlag gegen die Gegenöffentlichkeit«
In Argentinien kämpfen alternative Medien gegen ihre Abschaffung
von Meike Bischoff

»Weder legal, noch illegal, einfach nur geil«
Vom Radiomachen im Amazonas
von Nils Brock, Rita Muñoz und Guilherme Figueiredo

The Great Firewall
Der Trend zu digitaler Kontrolle
von Arne Hintz

»Nichts als die Wirklichkeit« - Langfassung
Interview mit Jean-Marie Etter über Radios in Konfliktregionen

Auf drei Männer kommt eine Frau
Genderungleichgewichte in Freien Radios
von Bianca Miglioretto

»Es geht nicht nur um den Akt des Sprechens«
Was das Radiomachen für Geflüchtete bedeutet
von Johanna Wintermantel

»Mühsam und großartig zugleich« - Langfassung
Studiogespräch mit Aktiven von Radio Dreyeckland


POLITIK UND ÖKONOMIE

Iran: Ein legendärer Schah-Besuch
Der 2. Juni 1967 als Kristallisationspunkt internationaler Politik
von Harald Möller

Weltwirtschaft: Aufbruch ohne Erfolg
Warum ist die Neue Internationale Weltwirtschaftsordnung gescheitert?
von Jürgen Dinkel

Kolumbien: »Ich esse keine Blumen!«
Projekte solidarischer Landwirtschaft in der Stadtregion Bogotá
von Birgit Hoinle


KULTUR UND DEBATTE

Film I: Mutiger als gut ist?
Die Berlinale zeigte starke Frauenportraits aus dem Kongo
von Isabel Rodde

Film II: Überlebende, nicht Opfer
Auf der Berlinale wurden drei Filme zum Thema
Vergangenheitsaufarbeitung ausgezeichnet

Geschichtspolitik: Kontinentaler Perspektivwechsel
Die Ausstellung »Die Dritte Welt im Zweiten Weltkrieg« wird in Kapstadt gezeigt
von Christa Aretz

Grenzregime: Handlungsmacht versus Struktur
Der »lange Sommer der Migration« und seine kontroversen Interpretationen
von David Niebauer und Till Schmidt

Literatur: »Kubas Hähne krähen um Mitternacht«
... ist nicht der stärkste Roman von Tierno Monénembo
von Ute Evers


Rezensionen

Sabine Hess et al. (Hg.):
Der lange Sommer der Migration. Grenzregime III

Imraan Coovadia:
Vermessenes Land

Stephan Lessenich:
Neben uns die Sintflut. Die Externalisierungsgesellschaft und ihr Preis

Reinhard Kleist:
Castro


Das Dossier "Freie Radios" wurde gefördert von Engagement Global mit finanzieller Unterstützung des BMZ. Herzlichen Dank.

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Quelle:
iz3w Nr. 360 - Mai/Juni 2017
Copyright: bei der Redaktion und den AutorInnen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 10. August 2017

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