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IZ3W/334: Hefteditorial von Ausgabe 342 - »Nicht über uns ohne uns!«


iz3w - informationszentrum 3. Welt - Ausgabe 342 - Mai/Juni 2014

Hefteditorial
»Nicht über uns ohne uns!«



Im Themenschwerpunkt der iz3w 331 über die »Restitution geraubter Gebeine« hatten wir über die historische Schädelsammlung der Freiburger Albert-Ludwigs-Universität berichtet. Dort lagerten bis vor kurzem auch Gebeine von Menschen aus der ehemaligen Kolonie »Deutsch-Südwestafrika«, dem heutigen Namibia. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts ließ sich die Universität zu Forschungszwecken mit solchen Schädeln aus den Kolonien beliefern. Manche der Toten waren möglicherweise Opfer des Völkermordes, in den die Unterdrückung des antikolonialen Widerstandes gemündet war. Andere Gebeine wurden durch Grabraub erworben - etwa durch den Freiburger Anthropologen Eugen Fischer. Mit dem »schönen Hottentottenmaterial« sollte die angebliche Überlegenheit der Deutschen 'wissenschaftlich' belegt werden.

Am 4. März gab die Universität Freiburg im Rahmen einer feierlichen Übergabezeremonie 14 Schädel an eine namibische Delegation unter der Leitung des Kulturministers Jerry Ekandjo zurück. Tags darauf reiste die Delegation zur Berliner Charité weiter, wo eine zweite Übergabe von Schädeln stattfand. Anschließend flog die Delegation zurück nach Namibia. Dort hatte die von der ehemaligen Befreiungsorganisation SWAPO gebildete Regierung einen Empfang vorbereitet, um den missbrauchten Gebeinen eine ehrenvolle Rückführung zu bereiten - auch kolonialgeschichtlich eine wichtige Geste.

Am Beginn der Delegationsreise stand die Rückgabezeremonie der Uni Freiburg. Rektor Hans-Jochen Schiewer sagte bei diesem Anlass: »Der unrechtmäßige Erwerb menschlicher Überreste gehört zu den dunklen Kapiteln in der Geschichte der europäischen Wissenschaft und auch unserer Universität.« Und er entschuldigte sich dafür: »Als Rektor dieser Universität bedauere ich zutiefst, was unter dem Deckmantel der Wissenschaft getan wurde.« Die Hochschule verweist auf ihre aufwändige Provenienzforschung, aufgrund derer die 14 Schädel ermittelt wurden, sowie auf ein dreijähriges Folge-Forschungsprojekt.

Am Ende der Reise stand ein Empfang der namibischen Delegation im Windhoeker Parlamentsgarten. Dort erinnerte Staatspräsident Hifikepunye Pohamba an den grausigen Kontext des deutschen Kolonialismus: an den »Völkermord der Deutschen im brutalen Kolonialkrieg« von 1903 bis 1908.

Die Reise der namibischen Delegation hätte ein Meilenstein in der Aufarbeitung der deutschen Kolonialgeschichte werden können, die Zeichen dafür standen nicht schlecht. Doch sie wurde zu einer verkorksten Mission. In Freiburg fand die Rückgabezeremonie in einem nichtöffentlichen »geschlossenen Rahmen« statt, wie das Projekt freiburg-postkolonial bedauerte. Der namibische Kulturminister Ekandjo sah sich in Freiburg (man muss leider sagen: wie gewohnt) keinem gleichrangigen deutschen Regierungsvertreter gegenüber. Dies ist eine protokollarische Missachtung internationaler Gepflogenheiten - als ob der Minister für einen Schwarzwaldurlaub angereist wäre!

In Berlin war die dortige Zeremonie mit noch schärferer Kritik konfrontiert. Der »Zentralrat der Afrikanischen Gemeinde« und das Bündnis »Völkermord verjährt nicht!« wandten sich energisch gegen den vorgesehenen Ausschluss betroffener afrikanischer Menschen und ihrer Vertretungen bei der Zeremonie. Erst nach Vorort-Protesten wurden alle Interessierten kurzfristig doch noch eingelassen.

Gründlich misslungen war auch die Ankunftsfeierlichkeit in Windhoek. Die meisten traditionellen Autoritäten der betroffenen Volksgruppen und VertreterInnen von Opferverbänden boykottierten das Ereignis. Sie mobilisierten zu einer Alternativfeier in Swakopmund, weil sie sich von der eilig angesetzten Rückholungsaktion der namibischen Regierung völlig überfahren sahen. Einer der Slogans in Swakopmund lautete daher: »Not about us without us!«

Alles in allem ist der Grund für die verkorksten Ereignisse in Freiburg, Berlin und Windhoek im Umgang Deutschlands mit dem von Präsident Pohamba angesprochenen »brutalen Kolonialkrieg« der Deutschen zu finden. Bis heute weigert sich die Bundesregierung, für den damit verbundenen Genozid angemessen Verantwortung zu übernehmen - also eine ausdrückliche Entschuldigung auszusprechen und konkrete Schritte zur symbolischen und materiellen Entschädigung anzubieten.


Solange die postkoloniale Erinnerungspolitik gegenüber Namibia von dieser Ignoranz bestimmt wird, ist es müßig, nach weiteren Gründen für das permanente Misslingen der damit verbundenen Einzelereignisse zu suchen. Noch so gründliche und gut gemeinte Forschungsprojekte in Deutschland zu den geraubten Schädeln aus Kolonien (von denen es noch weitere gibt) können dieses politische Missverhältnis nicht korrigieren.

Warum ist die Beziehung Deutschlands zur namibischen Kolonialgeschichte so ignorant? An einem geringen Ausmaß historischer Schuld kann es nicht liegen. Sind es wirklich nur die Euros, die eine postkoloniale Entschädigungspolitik kosten könnte? Oder handelt es sich um eine Schuldabwehr, wie sie auch bei anderen im Namen des deutschen Staates begangenen Verbrechen gegen die Menschheit wohlbekannt ist? Das fragt sich.

die redaktion

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Inhaltsverzeichnis iz3w Nr. 342 - Mai/Juni 2014

Protestbewegung in der Türkei
Befreiend

Protestbewegung in der Türkei
Befreiend

Die massenhaften Proteste während des Sommers 2013 in der Türkei offenbarten es: In erheblichen Teilen der Bevölkerung hat sich enormer Unmut über die konservativ-islamische AKP und die von ihr verursachte soziale, kulturelle und ökonomische Misere angestaut. Istanbul erlangte damals innerhalb weniger Tage weltweite Berühmtheit als "City of Resistance". Gezi war die Initialzündung, doch die daraus hervorgegangene Bewegung war landesweit, und sie erfasste erhebliche Teile der jungen Generation.

Die Proteste wurden von JournalistInnen und AktivistInnen als Zäsur eingeschätzt. Einerseits fand eine Bewusstseinsrevolution statt, bei der über politische Institutionen hinaus gegen verkrustete Strukturen aufbegehrt wurde. Andererseits ist die Gezi-Bewegung auf der realpolitischen Ebene vorerst gescheitert. Erdogan und die AKP sind weiter an der Regierung. Doch die daraus resultierenden schmerzhaften Niederlagen der Bewegung sind nur ein Teil der Geschichte, die in der Türkei derzeit gemacht wird. Unser Themenschwerpunkt fragt nach den Hintergründen der Proteste, ihrer historischen Bedeutung und der Zukunft dieser heterogenen Bewegung.


BEITRÄGE IM THEMENSCHWERPUNKT:

Editorial zum Themenschwerpunkt

Das Rad ist im Rollen.
Die Gezi-Bewegung hat die Türkei nachhaltig verändert
von Jan Keetman

Einen Tee für alle bitte.
Warum die Gezi-Protestbewegung überfällig war
von Gül Keetman

»Leiste Widerstand mit Hartnäckigkeit«.
Feministische Slogans prägten den Widerstand
von Tugçe Ellialti

»Das F-Wort wurde verflucht«.
Interview mit Inci Özkan Kerestecioglu über türkischen Feminismus und die Gezi-Proteste

»Hier bin ich, Darling«.
Die LGBT-Szene vertritt ihre Ziele als Teil der Protestbewegung
von Canset Icpinar

Vom Aufstand zur Palastrevolution.
Der Machtkampf zwischen AKP-Regierung und Gülen-Netzwerk
von Errol Babacan

»Ich entschuldige mich«.
Interview mit Levent Sensever und Gonca Sahin über den Genozid an den ArmenierInnen und die Gezi-Proteste

Und die Gewerkschaften?
Widerstand gegen Islamismus und Neoliberalismus
von Axel Gehring

»Jetzt diskutiere ich«.
Die Kulturschaffenden sind wichtiger Teil der Protestbewegung
von Sabine Küper-Busch


WEITERE THEMEN IM HEFT:

Editorial


Politik und Ökonomie:

Senegal: Einfach ist das nicht.
AktivistInnen kämpfen gegen die verbreitete Homophobie
von Martina Backes

Ghana I: »Halb arm, halb reich«.
Erfolgreich, aber die Armut besteht fort
von Maria Tekülve

Ghana II: Röhrenfernseher für Afrika.
Europas Elektroschrott wird oft illegal entsorgt
von Ines Zanella

Burkina Faso: »Landwirtschaft gilt als aussichtslose
Arbeit«.


Interview mit Inoussa Maiga über die Herausforderungen
kleinbäuerlicher Landwirtschaft

Südsudan: »Dahinter steht der Tribalismus«.
Ethnische Politik im Südsudan
von Ulrike Schultz

Honduras: Vom Putsch zur »grünen« Diktatur.
Indigene wehren sich gegen den Ausverkauf des Landes
von Kirstin Büttner und Daniela Dreißig

Hispaniola: Achtzig Jahre auf Durchreise.
Die Dominikanische Republik entzieht Staatsbürgerschaften
von Tobias Schwarz


KULTUR UND DEBATTE:

Debatte: Zusammenarbeit mit Gotteskriegern?
Replik auf René Wildangels Verteidigung der NGO-Arbeit in Palästina
von Remko Leemhuis

Islamdebatte: Die Schatten verscheuchen.
Boualem Sansal ruft zu einer neuen Debatte über Islam und Islamismus auf
von Matthias Küntzel

Nachruf: Wider den autoritären Populismus.
Mit Stuart Hall verliert die antirassistische Linke einen bedeutenden Intellektuellen
von Kolja Lindner

Rezensionen

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Quelle:
iz3w Nr. 342 - Mai/Juni 2014
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veröffentlicht im Schattenblick zum 8. Mai 2014