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IZ3W/330: Rezension - "Wir leben hier und wir bleiben hier!"


iz3w - informationszentrum 3. Welt - Ausgabe 341 - März/April 2014

Neva Löw: "Wir leben hier und wir bleiben hier"

Sans Papiers in Frankreich

Rezension von Helge Schwiertz



Im Frühjahr 2012 ist eine neue Ära migrantischer Kämpfe angebrochen. Um gegen ihre Entrechtung zu protestieren, haben sich Geflüchtete unter anderem in Deutschland, Österreich, Schweden und nicht zuletzt Frankreich organisiert. Dort hat der Kampf um Rechte mit Platz- und Kirchenbesetzungen, Protestmärschen und Streiks eine lange Tradition. Diese greift Neva Löw in ihrem Buch »Wir leben hier und wir bleiben hier!« auf.

Löw untersucht zwei Bewegungen von illegalisierten MigrantInnen: Zum einen die »Sans Papiers Bewegung von Saint Bernard« von 1996, zum anderen die neuere »Streikbewegung der Sans Papiers« aus den Jahren 2008 bis 2010. Dabei geht sie der Frage nach, »welche Kampfformen Sans Papiers anwenden können und welche ihnen in einem spezifischen Migrationsregime nahegelegt werden«.

Neben Begriffen der Staats- und Ideologietheorie von Althusser und Poulantzas greift Löw auf das Konzept des Migrationsregimes zurück: »Mittels der Annahme, dass Migrationsregime die Verstetigung von Verhältnissen und das Ergebnis von Kämpfen sind, stehen die Widerstandsformen der Migrant_innen im Zentrum meiner Darstellungen«. Dies gelingt Löw insbesondere in ihrer Analyse des französischen Migrationsregimes. Hier zeichnet sie anschaulich den Wandel der Kräfteverhältnisse in Frankreich nach, in dem sich Verschiebungen im »Block an der Macht«, die Transformation der Staatsapparate und neue Formen von sozialen Kämpfen wechselseitig bedingen. Interessant ist die veränderte Haltung französischer Gewerkschaften gegenüber migrantischen ArbeiterInnen und die Vereinnahmung von deren Protesten durch sozialdemokratisch geprägte Organisationen, die erst Mitte der 1990er Jahre aufgebrochen werden konnte.

Die anschließende Analyse der Kämpfe von Sans Papiers in Frankreich fokussiert Strategien und Taktiken, die Bündnisarbeit und die »Ideologie« der Bewegung. Die Untersuchung der »Bewegung von Saint Bernard« stützt sich auf Studien von Thierry Blin, Madjiguène Cissé und Barbara Laubenthal. Löw erarbeitet entsprechend ihrer theoretischen Konzepte aber eine spezifische Perspektive. Diese ermöglicht einen spannenden Überblick der Kämpfe von Sans Papiers im Kontext des damaligen Migrationsregimes. Hier erkennt man viele Widersprüche und Aktionsformen, die auch in den aktuellen Kämpfen von Geflüchteten eine Bedeutung haben.

Die größte Stärke des Buches ist die Analyse der neueren Streikbewegung der Sans Papiers, zu der noch keine umfassendere deutschsprachige Publikation erschienen ist. Während sich die »Bewegung von Saint Bernard« vor allem auf einen humanitären Diskurs bezogen hat, stehen die ab 2006 zunehmenden Streiks der Sans Papiers im Kontext von Arbeitskämpfen. Hier wäre es erfreulich gewesen, wenn den Perspektiven der streikenden Sans Papiers mehr Platz eingeräumt worden wäre; die Studie fokussiert vor allem die gewerkschaftliche Organisierung des Streiks. Auf die stärker selbstorganisierten Sans-Papiers-Kollektive - die unter anderem auch ein Gewerkschaftsgebäude besetzt haben - wird weniger eingegangen.

»Wir leben hier und wir bleiben hier!« liefert einen wichtigen Beitrag zur kritischen Migrationsregimeforschung und ist für alle interessant, die sich bei den aktuellen Flüchtlingsprotesten mit engagieren.


Neva Löw: "Wir leben hier und wir bleiben hier"
Die Sans Papiers im Kampf um ihre Rechte
Westfälisches Dampfboot, Münster 2013
159 Seiten, 19,80 Euro.

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Inhaltsverzeichnis iz3w Nr. 341 - März/April 2014

Asyl &Politik
Road to Nowhere

Die vor Lampedusa unter Aufsicht der EU ertrunkenen Bootsflüchtlinge führen es vor Augen: Heutige Asylpolitik ist de facto eine proaktive Asylverhinderungspolitik. Es geht um die Abwehr und Abschreckung von Asylsuchenden, ungeachtet der konkreten Gründe ihrer Flucht. Unzählige Beispiele zeugen von Rassismus gegenüber Geflüchteten - weltweit. Dabei ist das Recht auf Asyl eines der fundamentalen Menschenrechte, die nach 1945 im Rahmen der UN näher bestimmt wurden. Doch nicht nur in Europa wird Flüchtlingen durch Gesetzesänderungen und Verwaltungsvorschriften systematisch die Möglichkeit genommen, Asyl in Anspruch zu nehmen.

Unser Themenschwerpunkt will diese Entwicklung genauer in den Blick nehmen. Die Geflüchteten werden dabei nicht auf einen Opferstatus reduziert. Die kämpferischen Bewegungen der Refugees zeigen, dass Geflüchtete sich als handelnde Subjekte verstehen.

Der Themenschwerpunkt entstand in enger Zusammenarbeit der Redaktionen von Hinterland und iz3w, die ansonsten unabhängig voneinander arbeiten, jedoch die Empörung über die europäische Asylpolitik teilen.


BEITRÄGE IM THEMENSCHWERPUNKT:

Asyl. Editorial zum Themenschwerpunkt

Mehr als nur humanitär.
Das Recht auf Asyl ist der Kern von Recht und Rechtssicherheit.
von Micha Brumlik

Kontinuierliche Verweigerung.
Die Geschichte des Asyls während des Nationalsozialismus.
von Andreas Marquet

Koste es, was es wolle.
Das europäische Grenzregime dient der Abwehr von Flüchtlingen.
von Bernd Kasparek

Aufnahme statt Geheimhaltung.
Die Asylrechtspraxis bedeutet für verfolgte Homosexuelle Unsicherheit.
von Klaus Jetz

»Gesetze sind veränderbar«
Interview mit Günter Burkhardt über die Arbeit von Pro Asyl

Freie Radikale.
Das Konzept »Non-Citizens« führte zu Kontroversen.
von Christian Jakob

Scheitern auf höherem Niveau.
Lehren aus dem Protest der Refugees in Österreich.
von Ilker Ataç und Monika Mokre

Böse Bosse.
Wie mit dem Schleppereivorwurf Refugees kriminalisiert werden.
von Katharina Menschick

Bewegungen am Bosporus.
Die Türkei wird zur EU-Außengrenze aufgerüstet.
von Brigitte Suter

Australien macht Druck.
In Indonesien verschlechtern sich die Bedingungen für Asylsuchende und Flüchtlinge.
von Antje Missbach

»Der Flüchtlingspass nützt hier nichts«
Kolumbianische Flüchtlinge in Ecuador.
von Sebastian Muy


WEITERE THEMEN IM HEFT:

Neues aus dem Ministerium. Hefteditorial


Politik und Ökonomie:

Afrika: Frankreich interveniert, die EU folgt.
Europäische Battle Groups in der Zentralafrikanischen Republik.
von Bernhard Schmid

Westsahara: Von was träumt die Jugend?
Schlaglichter auf das sahrauische Flüchtlingslager Smara.
von Annette Mokler

Südafrika I: Gleichberechtigt nach dem Gesetz.
Der Kampf um Anerkennung wird auf dem Körper von Frauen ausgetragen.
von Rita Schäfer

Südafrika II: Nichts Neues unter der Sonne.
Südafrika setzt bei seiner Energiepolitik auf Kohle- und Atomkraft.
von Sören Scholvin

Bhutan: Kein Königsweg zur Aussöhnung.
In Bhutan herrscht alles andere als ein »Bruttonationalglück«.
von E.C. Wolf

Erster Weltkrieg: »Es gibt nichts Schlimmeres«
Im Ersten Weltkrieg wurden Millionen Kolonialsoldaten eingesetzt (Teil 2).
von Karl Rössel


KULTUR UND DEBATTE:

Debatte: Polemik statt Debatte.
Die Flugschrift »Vorsicht, die Helfer kommen« diskreditiert die Arbeit von NGOs in Palästina.
von René Wildangel
Auf der Homepage des IZ3W ist hier der Link zur Flugschrift der ADW Saar

Film: Weil es sagbar ist.
»Something Necessary« klagt das Schweigen in Kenia an.
von Martina Backes

Rezensionen

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Quelle:
iz3w Nr. 341 - März/April 2014
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. März 2014