Schattenblick →INFOPOOL →MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE

IZ3W/175: Buchbesprechungen - Zwei Lektüren zum ethnischen Paradigma


iz3w - informationszentrum 3. Welt - Ausgabe 312 - Mai/Juni 2009

Zwei Lektüren zum ethnischen Paradigma

Von Simón Ramirez Voltaire


Seit den 1980er Jahren sind indigene Vorstellungen immer weiter in das Zentrum des politischen Denkens in Lateinamerika gerückt. In Fragen der politischen Aushandlung, territorialer Kontrolle, Partizipation und Repräsentation sind indigene Organisationen vor allem im Andenraum heute nicht mehr weg zu denken.

Eines der interessantesten Bücher zu diesem Themenfeld ist der spanischsprachige Sammelband Etnicidad y poder en los países andinos, den Bielefelder Wissenschaftler gemeinsam mit der Andinen Universität Simón Bolívar in Ekuador zusammengestellt haben. Bereits der Titel (»Ethnizität und Macht in den Andenländern«) verweist auf einen kritischen Zugang. Mit einem auf Foucault zurückgehenden Machtbegriff behandeln die Texte Formen der Herrschaft und des sozialen Widerstandes, symbolische und politische Diskurse und Repräsentationen, soziale Praktiken und den »Einsatz« des Raumes. Eine weitere, die Autoren verbindende Annahme ist, dass für sie Ethnizität sozial konstruiert, historisch verortet, variabel und relational ist. Sie vertreten also einen nicht-essenzialistischen Ethnizitätsbegriff.

Eine Erkenntnis aus diesem Buch ist: Ethnizität kann nur in Verbindung mit und durch Macht existieren. Das »ethnische Paradigma«, so schreiben die Herausgeber in der Einleitung, habe die Bildung der Nationalstaaten des andinen Amerikas von Anfang an begleitet. Dies seien stets Prozesse der Ethnisierung und De-Ethnisierung gewesen, die sich in die soziale Ordnung einschrieben und immer Gegenstand politischer Aushandlung waren.

Das Buch ist in sechs Kapitel gegliedert. Kapitel I besteht aus drei Aufsätzen, die sich konzeptuell mit dem Ethnizitätsbegriff auseinandersetzen: als politische Ressource, in Verbindung mit Klasse und als »Ethnisierung von Politik«. Das zweite Kapitel beleuchtet die historische - leider nur ekuadorianische - Dimension von Gleichheit, Populärkultur, Hispanisierung der »öffentlichen Erinnerung« und Staat.

Kapitel III bietet Beiträge über Ethnizität und sozialen Protest in Bolivien, Kolumbien und Ekuador. In Kapitel IV beschäftigen sich vier Autoren mit den Erfahrungen indigener Bewegungen im Kampf um politische Inklusion und Partizipation. Diese beiden Kapitel haben große politische Aktualität. Sie stellen die Ethnisierung von Politik als Herausforderung der weißen und mestizischen Hegemonie heraus. Die Rolle der »ethnischen Selbstverwaltung« von Gemeinden wird dabei kritisch betrachtet, sie wird als Prinzip andinen Regierens im Neoliberalismus interpretiert. Im letzten Kapitel geht es um die Bedeutung religiöser Organisationen - an den Beispielen der Salesianer und der Heiligenverehrung - für indigene Bewegungen und Ethnizitätskonstruktionen in Ekuador.

Der Band bietet einen sehr guten Einblick in die Ethnizitätsdebatte und eine spannende kritisch-konstruktivistische Analyse indigener Bewegungen im Andenraum, die mit empirischen Informationen angereichert wird.

Ethnizität zu beforschen ist kompliziert. Denn es müssen auf Grundlage eines nicht-essenzialistischen Grundverständnis AkteurInnen beschrieben werden, die sich entweder selbst radikal essenzialistisch als 'Indigene' konstruieren oder die von anderen als solche konstruiert werden, etwa vom Staat. Das aus einem ganz anderen Forschungskontext entstandene Buch Achsen der Ungleichheit tritt auf seine eigene Weise aus diesem Dilemma heraus und ist eine gute Ergänzung zu dem Andenbuch. Seine Erkenntnisse zieht es aus den Themenfeldern Migration und Globalisierung, europäische Integration und Geschlechterforschung.

»Achsen der Ungleichheit« verschränkt den Ethnizitätsbegriff mit zwei weiteren Dimensionen von Differenz: Klasse und Geschlecht. Den Herausgeberinnen ist daran gelegen, mit dem Band die derzeitige »Öffnung von Horizonten« innerhalb der Sozialwissenschaften und die verstärkte Reflexion auf die »Sichtschatten« überkommener Gewissheiten gesellschaftlicher Wirklichkeit einzufangen. Die Nation ist für die Sozialwissenschaften dabei nicht mehr der zentrale Bezugsrahmen für soziale Ungleichheiten. Diese Relativierung von Ethnizität (sowie der anderen Dimensionen Klasse und Geschlecht) und das zueinander in Bezug setzen verhindert den essenzialisierenden Blick, kann aus dem Buch gefolgert werden.

Den Auftakt bildet der Artikel von zwei Herausgeberinnen über das Verhältnis von Klasse, Geschlecht und Ethnizität, in dem auch die Begriffe Ethnizität und »Rasse« voneinander abgegrenzt werden. Die folgenden 14 Aufsätze problematisieren vor unterschiedlichen theoretischen Hintergründen die Verwobenheit von Männlichkeit, Ethnizität und Klasse, die historische Perspektive der Herausbildung von Nation, Ethnizität, Klasse und Geschlecht. Andere Beiträge befassen sich mit räumlichen Exklusionsprozessen, mit Bevölkerungspolitik in China und Indien sowie mit ethnischen Differenzierungen und Geschlechterverhältnissen im Postfordismus.

Herausragend sind zwei Beiträge. Sabine Hark kritisiert sozialwissenschaftliche Praktiken, die mit ihren Kategorien und Klassifikationen soziale Wirklichkeit immer auch mitkonstruieren. Die »Wörter und Namen«, die die Soziologie für soziale Wirklichkeit finde, seien eingebunden in gesellschaftliche und politische Kämpfe um Sichtbarkeiten, also alles andere als neutral. Dies macht sie beispielhaft an »Überflüssige« genannten Menschen deutlich, die in Prekarität marginalisiert und stigmatisiert leben. Der soziologische Diskurs laufe Gefahr, durch solche Klassifikationen Ungleichheiten ungewollt zu befördern. Hark fordert deshalb konsequente soziologische Selbstreflexion, inwiefern sich Forschende innerhalb politisch umkämpfter Wahrnehmungsfelder befinden.

Thomas Schwinn erklärt die Ungleichheitsdimensionen Klasse, Ethnie und Geschlecht mit den Verteilungs- und Machtprozessen staatlicher, aber auch informeller Institutionen. Über sie seien die wichtigsten Machtressourcen wie Distinktionskompetenz, politische Macht und ökonomische Chancen gesteuert. Für Schwinn sind es einerseits zwar vor allem Institutionen, die Differenz sozial produzieren und über ihren Zugriff auf den Lebenslauf der Einzelnen Strukturen der Ungleichheit erzeugen. Andererseits seien gut funktionierende, formale und differenzierte Institutionen auch ein Weg, um Zuschreibungen und Diskrimminierungen zu entgehen - nur sie könnten Gleichheitswerte durchsetzen. So treffen sich Klassen-, ethnische und Geschlechterlage in jedem Individuum.

Christian Büschges/ Guillermo Bustos/ Olaf Kaltmeier (comp.):
Etnicidad y poder en los países andinos Corporación Editora Nacional, Quito 2007. 296 Seiten

Cornelia Klinger/ Gudrun-Axeli Knapp/Birgit Sauer:
Achsen der Ungleichheit. Zum Verhältnis von Klasse, Geschlecht und Ethnizität Campus, Frankfurt/ New York 2007. 290 Seiten, 29,90 Euro


*


Inhaltsverzeichnis iz3w Nr. 312 - Mai/Juni 2009


Treueschwüre für die Nazis - Kollaborateure in der Dritten Welt

Eine Artikelreihe von Karl Rössel (Rheinisches JournalistInenbüro Köln)

Die hiesige eurozentrische Geschichtsschreibung übersieht, dass der Zweite Weltkrieg auch in Ländern der Dritten Welt geführt wurde und dort Millionen Opfer forderte. Ebenso negiert wird die Tatsache, dass in einigen Dritte-Welt-Ländern Teile der Bevölkerung und hochrangige Politiker mit den Nazis kollaborierten: in Palästina der höchste religiöse und politische Repräsentant der AraberInnen (Hadj Amin el-Husseini), in Indien der zeitweilige Präsident des Indischen Nationalkongresses (Subhas Chandra Bose) und in Argentinien der Staatspräsident (Juan Domingo Perón). Obwohl deren Kollaboration mit den Achsenmächten bekannt und vielfach belegt ist, werden sie in den jeweiligen Ländern bis heute von vielen als "Helden" verehrt.

Die Beschäftigung mit diesem Aspekt der Geschichte ist um so dringlicher, da es eine wachsende Tendenz unter deutschen WissenschaftlerInnen und PublizistInnen gibt, die Kollaboration von Nazi-Sympathisanten aus anderen Kontinenten zu verharmlosen, zu verleugnen oder umzudeuten. Die allesamt von Karl Rössel verfassten Texte in diesem Themenschwerpunkt erinnern daher nicht nur an wenig bekannte historische Fakten, sondern fordern auch zur kritischen Auseinandersetzung mit dem Geschichtsrevisionismus auf.


Schwerpunkt: Kollaborateure in der dritten Welt

Politik und Ökonomie

Heft - Editorial: Solidarität ist Selbsthilfe

Kambodscha: Im Schatten der Geschichte
Warum Transitional Justice fast 30 Jahre auf sich warten ließ
von Wolfgang Form

Sri Lanka: Why?
Selbstverbrennungen als Mittel des Protests
von Lorenz Graitl

Abtreibungspolitik I: Wie im Vatikan
Lateinamerikas linke Regierungen und ihre Abtreibungspolitik
von Eva Bahl und Judith Götz

Abtreibungspolitik II: »Frauen werden pathologisiert«
Interview mit Sarah Diehl über Abtreibungspolitik und Selbstbestimmung

Außenpolitik: Politik mit Stellvertretern
Neuere außenpolitische Konzepte setzen auf Core States und Ankerländer
von Sören Scholvin

Weltwirtschaft: Shopping in Paris
Korruption und französische Interessen in Afrika
von Bernhard Schmid


Editorial zum Themenschwerpunkt

»Die Fahne hoch...!«
Die faschistische »Internationale« von Buenos Aires bis Shanghai

Bloß nicht dämonisieren!
Deutsche WissenschaftlerInnen verharmlosen arabische Kriegsverbrecher

Auf Seiten der Waffen-SS
Wie indische Kollaborateure zu Freiheitskämpfern umgedeutet werden

Peróns deutsche Freunde
Die Fluchthilfe der argentinischen Regierung für Naziverbrecher

Notwendige Unterscheidungen
Thesen wider den Geschichtsrevisionismus in Sachen Kollaboration


Kultur und Debatte

Film I: Im Schatten der großen Filme
Das afrikanische Filmfestival FESPACO feiert Jubiläum
von Marc-André Schmachtel und Theresa Enders

Film II: Menschen in Bewegung
Das freiburger film forum präsentiert 2009: Geschichten der Migration
von Ulrike Mattern

Literatur: Keine Rückkehr in den Süden
Nachruf auf den Schriftsteller Tajjib Salich
von Thomas Schmidinger

Rezensionen, Tagungen & Kurz belichtet


*


Quelle:
iz3w Nr. 312, Mai/Juni 2009
Copyright: bei der Redaktion und den AutorInnen
Herausgeberin: Aktion Dritte Welt e.V. - informationszentrum 3. welt
Postfach 5328, Kronenstr. 16a (Hinterhaus)
79020 Freiburg i. Br.
Tel. 0761/740 03, Fax 0761/70 98 66
E-Mail: info@iz3w.org
Internet: www.iz3w.org

iz3w erscheint sechs Mal im Jahr.
Das Jahresabonnement kostet im Inland 31,80 Euro,
für SchülerInnen, StudentInnen, Wehr- und
Zivildienstleistende 25,80 Euro,
Förderabonnement ab 52,00 Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 29. April 2009