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IZ3W/167: Ausgabe 311 - Editorial des Schwerpunktes - Macht und Alltag im Iran


iz3w - informationszentrum 3. Welt - Ausgabe 311 - März/April 2009

Editorial zum Themenschwerpunkt - Macht und Alltag im Iran


Vor 30 Jahren fand eine Revolution weltweit Beachtung, die zu einem tief greifenden Umsturz der Verhältnisse im Iran führte. Eine Massenbewegung beendete im Winter 1978/79 die autoritäre, prowestliche Herrschaft des verhassten Schahs. Schon bald übernahmen radikale schiitische Islamisten unter der Führung des Geistlichen Ruhollah Khomeini die Staatsmacht. Als er am 1. Februar 1979 aus seinem Pariser Exil in Teheran ankam, säumten Millionen Jubelnde seinen Weg ins Stadtzentrum.

Viele linke Intellektuelle und AktivistInnen im Iran, aber auch im Ausland, begrüßten die Islamische Revolution. Doch schon bald stellte sich Ernüchterung, wenig später auch blankes Entsetzen ein. Denn Khomeini und seine fanatischen Anhänger errichteten eine Islamische Republik, der innerhalb weniger Jahre 80.000 Oppositionelle zum Opfer fielen. Bis heute üben die Mullahs, unterstützt von Revolutionsgarden, Milizen und TugendwächterInnen, eine Schreckensherrschaft aus, die in sämtliche Lebensbereiche hineinreicht. Die Menschenrechtslage ist verheerend, selbst Jugendliche werden hingerichtet, Steinigungen sind verbreitet. Millionen IranerInnen ziehen es vor, im Exil zu leben.

Im Iran herrscht indes kein Mittelalter wie im Afghanistan der Taliban. Die Situation ist in vielerlei Hinsicht paradox. So bedient sich das Regime beispielsweise modernster Technologie, um seine rückwärts gewandten Moralvorstellungen unter die Bevölkerung zu bringen. In den U-Bahn-Stationen Teherans werden mit Bluetooth-Technik islamisch-revolutionäre Botschaften an die Fahrgäste gesandt. Die Wirtschaft ist leistungsfähig, es werden eine Million Autos pro Jahr hergestellt und Satelliten ins All geschossen. Zugleich herrscht in weiten Landesteilen Armut wie in einem Least Developed Country. Ein weiteres Paradoxon: Frauen sind in der Islamischen Republik politisch und rechtlich massiv benachteiligt, aber an den Universitäten studieren mehr Frauen als Männer.

Zwei Drittel der IranerInnen sind jünger als 30 Jahre, sie haben nie ein anderes Gesellschaftsmodell als das der Islamisten kennen gelernt. Trotzdem (oder gerade deswegen) hält sich der Rückhalt des Regimes bei weiten Teilen der Bevölkerung in deutlich sichtbaren Grenzen. Präsident Ahmedinedschad gilt nicht nur im Westen als Bösewicht, er ist auch im eigenen Land nicht beliebt. In Teheran oder Shiraz nennen ihn die Leute »Äffchen«, weil er einer entsprechenden Werbefigur für eine beliebte Chipsmarke ähnelt. Man kann es durchaus als Zeichen der innenpolitischen Schwäche werten, wenn das Regime außenpolitisch Hass gegen Israel und die USA schürt. Die vom Iran unterstützten Stellvertreterkriege von Hisbollah und Hamas und die antiimperialistische Rhetorik sollen gesellschaftlichen Zusammenhalt schmieden. Das gelingt allerdings nur bedingt.

Trotz des verbreiteten Unmuts gibt es im Iran keine starke organisierte Oppositionskraft. Wie auch? Oppositionelle Parteien haben im politisch-religiösen System der Mullah-Republik keine Chance. Zivilgesellschaftliche Zusammenschlüsse können nur unter äußerst repressiven Bedingungen agieren. Die Drohung des Regimes an alle »unislamischen Elemente«, im Gefängnis zu landen oder mindestens beruflich kalt gestellt zu werden, ist keine leere. Die Gesellschaft reagiert darauf notgedrungen mit einem Rückzug ins Private. Der hat es allerdings in sich: So suchen und finden viele IranerInnen im Internet jene Freiräume, die ihnen im wahren Leben versagt bleiben. Viele junge Menschen benutzen ihre Sexualität als »politisches Mittel«, da »Sexualität und Körper zum Kampfplatz geworden sind, auf dem das iranische Regime seine Macht ausübt«, so die Anthropologin Pardis Mahdavi.

Doch so unbeliebt die Mullahs und ihre Schergen sind, selbst die (exil-)iranischen Oppositionellen lehnen in ihrer weit überwiegenden Mehrheit einen militärisch erzwungenen »Regime Change« strikt ab. Die Nachbarländer Irak und Afghanistan dienen ihnen als warnendes Beispiel. Die iranische Menschenrechtlerin Shirin Ebadi formuliert es so: »Man kann Demokratie nicht mit Streubomben in die Köpfe der Menschen knallen.« Nicht nur sie befürchtet, dass ein Krieg des Westens gegen den Iran zur Solidarisierung vieler IranerInnen mit dem Regime führen würde.

Umso wichtiger ist es, dass der eines Tages hoffentlich mögliche »Regime Change von innen« von außen unterstützt wird. Politische Bewegungen und Minderheiten sind ja im Iran trotz aller Repression durchaus aktiv. Sie kämpfen vor allem auf der Alltagsebene für Bewusstseinsveränderungen, weil sie noch nicht in der Lage sind, die Machtfrage zu stellen. Ihnen gilt unsere Empathie und Solidarität, und ihnen widmet sich dieser Themenschwerpunkt. Wie sangen einst Ton Steine Scherben? »Wenn die Nacht am tiefsten, ist der Tag am nächsten«.

die redaktion


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Inhaltsverzeichnis iz3w Nr. 311 - März/April 2009


Wenn die Nacht am tiefsten... - Macht und Alltag im Iran

Iran steht derzeit wegen seines Atomprogramms im Mittelpunkt außenpolitischer Debatten. Unser Themenschwerpunkt fragt nach den Herrschaftsverhältnissen im Inneren. Wie mobilisiert das Regime der Mullahs Unterstützung in der Bevölkerung? Was unterscheidet den iranischen Islamismus von anderen Islamismen? Wie verfährt das Regime mit Minderheiten? Und wo gibt es welche Ansätze für Widerstand?

Trotz des verbreiteten Unmuts gibt es im Iran keine starke organisierte Oppositionskraft. Wie auch? Oppositionelle Parteien haben im politisch-religiösen System der Mullah-Republik keine Chance. Politische Bewegungen und Minderheiten sind jedoch trotz aller Repression aktiv. Sie kämpfen vor allem auf der Alltagsebene für Bewusstseinsveränderungen, weil sie noch nicht in der Lage sind, die Machtfrage zu stellen. Ihnen gilt unsere Empathie und Solidarität, und ihnen widmet sich dieser Themenschwerpunkt.


Heft - Editorial: Der Anfang vom Ende

Politik und Ökonomie

Israel - Palästina: Gelegenheit für die US-Regierung
von Ghassan Khatib

Wird Palästina gespalten bleiben?
von Yossir Alpher

Simbabwe: Eine akademische Sünde
Verheerende Zustände an den Universitäten
von Christopher Phiri

Entwicklungspolitik: Alte Freunde
Das Scheitern politischer Konditionalität in Togo
von Björn Gutheil

Nationalsozialismus: »Wir waren nicht mehr als Nummern«
Biografische Notizen von schwarzen Häftlingen im KZ Neuengamme von Rosa Fava


Schwerpunkt: Macht und Alltag im Iran

Editorial zum Themenschwerpunkt

Die Andersdenkenden
Zwischen Hoffnung und Resignation
ein Brief von Soussan Sarkhosh

Bastion der Freiheit
Die Studentenbewegung im Iran
von Ali Schirasi

Die andere Hälfte
Iranische Frauen und ihre Bewegung für Freiheit und Emanzipation
von Chahla Chafiq

Zwangsweise loyal
Iranische Jüdinnen und Juden als Spielball der Politik
von Thomas Schmidinger

Utopie versus Apokalypse
Selbstverständnis und Verfolgung der Bahai im Iran
von Wahied Wahdat-Hagh

Die Republik der Ayatollahs
Vom Auf- und Abstieg der politischen Theologie Khomeinis
von Jörn Schulz

»Die Revolutionsgarden sind das Machtzentrum«
Interview mit Ali Alfoneh über das System der Islamischen Republik Iran


Kultur und Debatte

Debatte: Fersengeld statt »satanische Verse«
Die Fatwa gegen Salman Rushdie hat bis heute Folgen
von Udo Wolter

Kunst: Jeder Blick verrät seinen Standort
Perspektiven auf Kunst aus Afrika
von Sebastian Stein

Rezensionen, Tagungen & Kurz belichtet


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Quelle:
iz3w Nr. 311, März/April 2009, S. 18
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. März 2009