Schattenblick → INFOPOOL → MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE


IMI/1088: Streit um die nördlichen Passagen - Im Arktischen Ozean drohen neue Konflikte


IMI - Informationsstelle Militarisierung e.V.
IMI-Analyse 2023/14 vom 20. März 2023

Streit um die nördlichen Passagen
Arktischen Ozean drohen neue Konflikte

von Ben Müller


Verglichen mit anderen Regionen gab es in der Arktis bis vor kurzem noch sehr viel Kooperation zwischen westlichen Staaten und Russland. Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine wurden allerdings viele Verbindungen gekappt und die Zusammenarbeit auf das Minimum reduziert. Und für die Zukunft deutet sich an, dass der Arktische Ozean ein weiterer Austragungsort für Feindseligkeiten, Provokationen und gegenseitiges Kräftemessen werden könnte.

Umstrittene Schifffahrtswege

Die Klimaerwärmung ist in der Arktis deutlich stärker sichtbar als in anderen Teilen der Welt. Ein Indikator dafür ist das Meereis, das stark geschrumpft ist im Vergleich zur durchschnittlichen Ausdehnung vor dem Jahr 2000. Besonders im Sommer ist nur noch eine kleine Fläche um den Nordpol vereist, aber auch im Winter ist das sich bildende Eis dünner und unbeständiger als früher. Das eröffnet wiederum Optionen für die internationale Schifffahrt, die auf dem Weg zwischen Europa und Ostasien durch eine eisfreie Arktis viele Seemeilen einsparen kann. Der Status der Wasserwege, die zu einer Nordost- oder Nordwestpassage führen können, ist allerdings international umstritten und gilt als Zankapfel für Auseinandersetzungen in der Arktis. Kanada hat 1985 nach dem UN-Seerechtsübereinkommen (SRÜ) gerade Basislinien [1] um seine arktischen Inseln gezogen. Dadurch wurden alle Wasserwege zwischen diesen Inseln zu inneren Gewässern, für die andere Staaten per se kein Durchfahrtsrecht haben. Kanada kontrolliert damit die Durchfahrt durch die Nordwestpassage. Auch Russland hat in der Arktis gerade Basislinien gezogen und mehrere Meerengen zu inneren Gewässern ohne Durchfahrtsrecht erklärt. Außerdem beruft sich Russland auf Artikel 234 des SRÜ, der in eisbedeckten Meeren Einschränkungen für den Schiffsverkehr erlaubt. Russland kontrolliert damit die Schifffahrt im Abschnitt der Nordostpassage zwischen der Karasee und der Beringstraße, der als "Nördliche Seeroute" (NSR) bezeichnet wird. Die USA erkennen die Ansprüche von Kanada und Russland nicht an. Sie betrachten die arktischen Passagen als internationale Schifffahrtsrouten, die ohne Einschränkungen befahren werden dürfen. Besonders gegenüber Russland sind die USA hier zum Konflikt bereit. Die Arktis-Strategie des Pentagons von 2019 kündigt dafür auch FONOPs [2] an, um die nicht akzeptierten Ansprüche mit Macht und Militärpräsenz herauszufordern [3]. Bisher ist es dazu nicht gekommen, was auch an Warnungen aus den eigenen Reihen gelegen haben mag. Demnach fehlten den USA starke Eisbrecher, um FONOPs in der Arktis abzusichern. Neue Eisbrecher für die US-Küstenwache sind zwar bereits beauftragt, der Baubeginn verzögert sich allerdings, so dass mit dem ersten Schiff wahrscheinlich nicht vor 2027 zu rechnen ist [4].

Militärische Präsenz durch NATO-Staaten

Nach dem Wechsel im Weißen Haus 2021 sah es so aus, als würden die USA das Interesse an der Arktis verlieren, um sich stärker auf eine Konfrontation mit China zu konzentrieren. Der deutsche Thinktank Stiftung Wissenschaft und Politik trat daher mit dem Vorschlag an die Öffentlichkeit, die Bundeswehr könne Aufgaben im Nordatlantik und in der Arktis übernehmen, um die USA militärisch zu entlasten. Dabei ging es weniger um FONOPs als eher um Aufklärungseinsätze mit Seefernaufklärern und U-Booten in Zusammenarbeit mit Norwegen [5]. Die Bundesregierung wollte diesem Vorschlag allerdings nicht folgen. Stattdessen hat Großbritannien sich bereit erklärt, seine Militärpräsenz im Hohen Norden auszuweiten. Ein britisches Strategiepapier, das während des norwegischen Großmanövers Cold Response veröffentlicht wurde, spricht sich für eine ungehinderte Durchfahrt durch die arktischen Passagen aus und will "bösartige und destabilisierende Verhaltensweisen" herausfordern, womit wahrscheinlich russische und chinesische Aktivitäten in der Arktis gemeint sind [6]. Britische Schiffe und Flugzeuge sind in der Arktis bereits aktiv. Die Atom-U-Boote benutzen dabei auch einen norwegischen Industriehafen bei Tromsø [7]. Im Oktober 2022 fuhr die britische Fregatte "HMS Northumberland" zusammen mit einer norwegischen Fregatte und einem britischen Versorgungstanker vor die Halbinsel Kola, den Stationierungsort der russischen Nordflotte [8]. Und ein britisches Aufklärungsflugzeug wird von Russland beschuldigt, am 15.8.2022 den russischen Luftraum über der Barentssee verletzt zu haben [9]. Derartige Aktionen können sehr leicht eskalieren und unvorhergesehene Reaktionen auslösen. Im Juni 2021 hatte zum Beispiel der britische Zerstörer "HMS Defender" heftige russische Gegenmaßnahmen provoziert, als er im Schwarzen Meer durch die Territorialgewässer der Halbinsel Krim gefahren war. Die NATO als Militärbündnis sieht ihre Verpflichtung traditionell im Nordatlantik, um die GIUK-Lücke zwischen Grönland, Island und Großbritannien zu kontrollieren und im Fall eines russischen Angriffs in Norwegen ihre Nordflanke zu verstärken. Für die Arktis hat die NATO bisher keine Strategie. Allerdings hat Generalsekretär Stoltenberg bei einem Besuch im Norden Kanadas angekündigt, die Präsenz der Allianz auch im Hohen Norden zu steigern [10].

Einschränkungen für die Nördliche Seeroute

Russland hat 2022 eine neue Marine-Doktrin verkündet. Darin werden die russischen Gewässer im Arktischen Becken explizit zu den "lebenswichtigen Gebieten" für die nationalen Interessen gezählt. Außerdem beklagt der Text, die USA und ihre Verbündeten würden die Vorherrschaft auf den Weltmeeren anstreben und der Entfaltung russischer Innen- und Außenpolitik Widerstand entgegenbringen. Dabei verfolgten sie auch das Ziel, die russische Kontrolle über die NSR zu schwächen, ausländische Marinepräsenz in der Arktis aufzubauen und die internationale Rechtsordnung für die Schifffahrt in Meeresräumen und Meerengen gemäß ihren geopolitischen Zielen zu ändern [11]. Als Konsequenz hat Russland ein Gesetz verabschiedet, das ausländischen Kriegsschiffen die Einfahrt in die NSR deutlich erschwert. Zukünftig darf nur ein einzelnes ausländisches Kriegsschiff die NSR befahren, und die Fahrt muss 90 Tage vorher auf diplomatischem Weg angekündigt werden. Fremde U-Boote müssen auftauchen und ihre Flagge zeigen. Ausgenommen sind nur Schiffe, die einen Hafen oder Marinestützpunkt anlaufen [12]. Mit diesem Gesetz verschafft sich Russland eine Legitimation, um gegen FONOPs vorzugehen. Bereits im Juni hatte Russland angekündigt, die Arktis-Häfen in Dikson und Tiksi umzubauen, um dort während der schiffbaren Jahreszeit Kriegsschiffe zu stationieren. Der Kommandant der Nordflotte, Alexander Moissejew, begründete die Maßnahme mit zunehmenden NATO-Übungen in der Region [13].

Die USA in der Arktis

Die USA haben ihr Engagement in der Arktis keineswegs aufgegeben. Die Biden-Administration hat 2022 eine neue nationale Arktis-Strategie veröffentlicht, deren Inhalt stark unter dem Eindruck des russischen Angriffskriegs in der Ukraine steht. Eine Zusammenarbeit mit Russland auf Regierungsebene sei dadurch "praktisch unmöglich" [14]. Stattdessen müsse die nationale Sicherheit in der Arktis gegen Russland und China verteidigt werden, wozu auch eine stärkere Militärpräsenz mit Abschreckungsmaßnahmen und gemeinsamen NATO-Übungen notwendig sei. Außerdem kritisiert das Papier die aus Sicht der USA unberechtigten Ansprüche Russlands zur Schifffahrt auf der NSR.Auch der US-Militärhaushalt für das Jahr 2023 enthält einige arktis-spezifische Maßnahmen. Neben einer "arctic pay" genannten Zulage für Militärpersonal, das unter Kaltwetterbedingungen in Alaska eingesetzt wird, sind auch 167,2 Mio $ für den dritten der beauftragten Eisbrecher ("polar security cutter") sowie 150 Mio $ für einen zusätzlich zu beschaffenden Eisbrecher vorgesehen. Desweiteren verlangt das Papier einen Bericht über die Durchführbarkeit eines Transits durch die NSR und regelmäßiger Transits durch die Nordwestpassage [15]. Ob es sich dabei um FONOPs handeln soll, wird nicht erläutert.

Fazit

Auch wenn Staaten wie die USA oder Großbritannien eigentlich gar kein eigenes Interesse an einer Schifffahrt durch die arktischen Passagen haben, nutzen sie das Thema gerne, um ihren Streit mit Russland auszutragen. Dabei führen sie allerdings nicht etwa Verhandlungen, um zu einer gemeinsamen Rechtsauffassung über den Streitgegenstand zu gelangen. Stattdessen setzen sie auf militärische Stärke, um ihre eigene Ansicht, die sie auch als "regelbasierte Ordnung" bezeichnen, durchzusetzen. Andererseits hält auch Russland an seiner Version der Rechtslage fest und betrachtet Aktivitäten von NATO-Staaten in der Arktis als Bedrohung, gegen die es sein eigenes Militär ausbauen und trainieren muss. In dieser Situation können bereits kleine Missverständnisse oder Unfälle zu großen Konflikten und Auseinandersetzungen eskalieren.


Anmerkungen

[1] Die "Basislinien" markieren die Grenze zwischen den inneren Gewässern und dem Küstenmeer. Sie können entweder direkt dem Uferverlauf folgen oder als gerade Basislinien Buchten, Flussmündungen oder vorgelagerte Inseln einschließen.

[2] Als FONOPs ("freedom of navigation" Operationen) werden willkürliche Fahrten von Kriegsschiffen durch national reklamierte Seegebiete bezeichnet, die auf den Charakter dieser Seegebiete als international und damit frei befahrbar hinweisen sollen. FONOPs werden dementsprechend von den reklamierenden Staaten als Provokation oder Grenzverletzung, von den durchführenden Marinen dagegen als legitim angesehen.

[3] Department of Defense Arctic Strategy, media.defense.gov, Juni 2019.

[4] Malte Humpert: New US Icebreaker Delayed Until 2027, Russia Orders 6th and 7th Nuclear Icebreaker, highnorthnews.com, 9.2.2023.

[5] Michael Paul, Göran Swistek: Deutschland im arktisch-nordatlantischen Raum, swp-berlin.org, 29.11.2021.

[6] The UK's Defence Contribution in the High North, gov.uk, März 2022.

[7] Astri Edvardsen: First British Nuclear Submarine Docking in Tromsø, highnorthnews.com, 29.4.2022.

[8] Thomas Nilsen: NATO frigates shadowed outside Russia's Arctic submarine bases, thebarentsobserver.com, 25.10.2022.

[9] Thomas Nilsen: Russia accuses British spy plane of violating airspace north of Kola Peninsula, thebarentsobserver.com, 16.8.2022.

[10] Jens Stoltenberg: In the face of Russian aggression, NATO is beefing up Arctic security, theglobeandmail.com, 24.8.2022.

[11] Морская доктрина Российской Федерации, actual.pravo.gov.ru, 31.7.2022.

[12] СФ обязал иностранные военные суда за 90 дней уведомлять Россию о проходе по Севморпути, tass.ru, 30.11.2022.

[13] Порты Тикси и Диксон реконструируют, там будут базироваться военные корабли, ru.arctic.ru, 01.6.2022

[14] National Strategy for the Arctic Region, whitehouse.gov, Oktober 2022.

[15] H.R.7776 - James M. Inhofe National Defense Authorization Act for Fiscal Year 2023, congress.gov.


Der Artikel kann im PDF-Format heruntergeladen werden unter:
https://www.imi-online.de/download/IMI-Analyse2023-14-Arktis.pdf

Außerdem ist der Artikel in der aktuellen Ausgabe des "AUSDRUCK - Das IMI-Magazin" von März 2023 zum Schwerpunkt "Zeitenwende" zu finden.
Link zum Inhaltsverzeichnis:
https://www.imi-online.de/2023/03/14/ausdruck-maerz-2023-zeitenwende/

Die gesamte Ausgabe kann unter dem folgen Link heruntergeladen werden:
https://www.imi-online.de/download/Ausdruck-Maerz2023-web.pdf

*

Quelle:
IMI-Analyse 2023/14 vom 20. März 2023
Streit um die nördlichen Passagen
Arktischen Ozean drohen neue Konflikte
https://www.imi-online.de/2023/03/20/streit-um-die-noerdlichen-passagen/
Herausgeber: Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V.
Hechinger Str. 203, 72072 Tübingen
Tel.: 07071/49154, Fax: 07071/49159
E-Mail: imi@imi-online.de
Internet: www.imi-online.de

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick am 4. April 2023

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang