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IMI/1078: Ukraine-Krieg - Argumente gegen ein Sondertribunal


IMI - Informationsstelle Militarisierung e.V.
IMI-Standpunkt 2023/005 vom 10. Februar 2023

Ukraine-Krieg: Argumente gegen ein Sondertribunal

von René Jokisch


Die CDU/CSU will die Bundesregierung mit dem Antrag "Konsequente Reaktion des Rechtsstaats auf den russischen Angriffskrieg ermöglichen - Sondertribunal einrichten" auffordern, ein internationales Sondergericht bzw. ein Sondertribunal als "funktionale Erweiterung des IStGH" zu errichten, damit dass russische Verbrechen der Aggression untersucht und strafrechtlich verfolgt werden kann. Wegen des russischen Vetorechts könne es sich nicht um ein Tribunal des UN-Sicherheitsrats handeln. Ein Sondertribunal könne aber an andere Vorbilder anknüpfen, etwa an die Internationalen Militärgerichtshöfe von Nürnberg und Tokio oder den Sondergerichtshof für Sierra Leone. Im Folgenden wird zunächst auf die Argumentation der Unionsfraktion eingegangen, gegen die anschließend diverse Kritikpunkte formuliert werden sollen, die teilweise auch in einer Sachverständigenanhörung im Bundestag am 6. Februar 2023 geäußert wurden.

Die Unionsargumentation

Es geht der Union, wie auch der Ukraine, explizit darum, die "russische Staats- und Militärspitze" für die "Kriegsführung ab dem 27. Februar 2014 und der erneuten Eskalation seit dem 24. Februar 2022" zur Verantwortung zu ziehen. "Es wäre fatal, wenn nur Soldaten der unteren und mittleren Hierarchieebene, kaum hingegen die oberste militärische und politische Führung, zur Rechenschaft gezogen werden könnten."

Der Straftatbestand des Verbrechens der Aggression könne nicht vom Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) verhandelt werden, da weder die Ukraine noch die Russische Föderation das Römische Statut und seine Änderungen im Zusammenhang mit dem Verbrechen der Aggression ratifiziert hätten. Gemäß Artikel 15 des Statuts könne der IStGH seine Gerichtsbarkeit über das Verbrechen der Aggression nicht ausüben, wenn das Verbrechen von Staatsangehörigen eines Staates (oder auf dem Territorium eines Staates) begangen wurde, der nicht Vertragspartei des Statuts ist. Nur über den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, in dem aber Russland als ständiges Mitglied über ein Vetorecht verfügt, könnte eine Befassung erreicht werden.

Diese Rechtslage (sic!) dürfe aber laut Union nicht dazu führen, dass die Verbrechen der Aggression, die von den führenden Politikern und militärischen Befehlshabern Russlands und seiner Verbündeten gegen die Ukraine begangen wurden und werden, ungesühnt blieben. Verzichte die Völkergemeinschaft schon auf einen ernsthaften Versuch, das Verbrechen der Aggression vor Gericht zu bringen, so könne dies in einer Welt, in der die Akzeptanz einer internationalen Ordnung immer stärker unter Druck gerate, letztlich die Gültigkeit des Straftatbestandes "Angriffskrieg" in Frage stellen.

Gegenargumente

Die Vorschläge für ein Sondertribunal sind abzulehnen, weil mit ihnen das Völkerrecht verletzt und die Fortentwicklung des Internationalen Strafgerichtshof beschädigt wird. Stattdessen ist eine Strafverfolgung der Kriegsverbrechen Russlands (und der Ukraine) durch den Internationalen Strafgerichtshof zu unterstützen, die ja bereits möglich ist. Für das Verbrechen der Aggression ist diese Strafverfolgung nicht möglich, und die "Lücke" ist kein Unfall der Staatenordnung, der mit rechtlichen Tricks umgangen werden kann, sondern Ausdruck der grundsätzlichen Entscheidungen der Mehrheit der Staaten, nicht zuletzt der USA.

Bei der Anhörung im Bundestag am 6. Februar 2023 wurden die vielfältigen Probleme des Vorschlags deutlich: Vor allem kann ein Beschluss der Generalversammlung kein internationales Sondertribunal einsetzen, mit dem in die Immunität von Putin und den höchsten Militärspitzen eingegriffen werden soll. Der entsprechende Beschluss über "coercive measures" obliegt ausschließlich dem Sicherheitsrat. Der Verweis auf die Einrichtung eines Sondergericht für Sierra Leone durch einen von der Generalversammlung mandatierten Vertrag führt in die Irre - denn dabei stimmte der betroffene Staat Sierra Leone der Aufhebung der Immunität seiner Repräsentanten zu.

Alle weiteren Vorschläge für ein angeblich "internationales" Gericht stellen ebenfalls keine geeignete Rechtsgrundlage und können kein unparteiisches und international anerkanntes Strafverfahren etablieren.

Der Verweis auf die Nürnberger Prozess ist völlig inakzeptabel: Der russische Angriffskrieg ist mit dem Verbrechen der Nazidiktatur nicht annähernd zu vergleichen. Offensichtlich interessengeleitet sind auch die Versuche eine Einmaligkeit des russischen Angriffskriegs zu konstruieren und jeden Vergleich mit den ungesühnten Angriffskriegen auch führender NATO-Staaten (Jugoslawien, Irak, Libyen...) zurückzuweisen.

Es bleibt offensichtlich, dass mit der Einrichtung eines Sondertribunals gegen Russland mit zweierlei Maß gemessen würde. Anstatt ein Sondergericht zu schaffen, sollte vielmehr der IStGH gestärkt werden, so dass in Zukunft Angriffskriege auch der Staaten geahndet werden könnten, die jetzt die Verfolgung gegen russische Verantwortliche von Angriffskriegen fordern. Die USA sind bekanntermaßen dem Römischen Statut nicht beigetreten und haben zusammen mit dem Vereinigten Königreich und Frankreich maßgeblich Einfluss ausgeübt, um die Änderungen des Statuts durch die Kampala-Vereinbarungen zu schwächen, mit denen hochrangige Verantwortliche des Verbrechens des Angriffskriegs völkerstrafrechtlich verantwortlich gemacht werden können. Bislang haben nur 44 von 193 Staaten der UN diese Änderungen ratifiziert, darunter nur 16 der 30 NATO-Staaten. Es gibt also nur eine sehr geringe internationale Unterstützung für die Stärkung des IStGH in dieser Frage. Diese müsste langfristig angestrebt und gestärkt werden, anstatt sie mit einem einseitigen Vorstoß zu beschädigen.

In der Generalversammlung wurde der russische Angriffskrieg zwar mit großer Mehrheit verurteilt, aber tatsächlich wird die konfrontative Linie des Westens im russischen Krieg mit der Ukraine international nicht breit unterstützt: Nur 30 Staaten haben sich für Waffenlieferungen an die Ukraine entschieden, nur 38 haben Sanktionen gegen Russland ergriffen und nur 48 Staaten haben mehr als eine deklatorische Verurteilung vorgenommen. Insofern waren sich die Sachverständigen in der Anhörung am 6. Februar 2023 einig, dass eine Anbindung des Gerichts an den Europarat oder die EU abzulehnen wäre, da die Einseitigkeit damit offenbar würde.

Die Vorschläge für Einsetzung eines Tribunals, einschließlich des Vorschlags der Außenministerin Baerbock für ein hybrides, auf nationaler, ukrainischer Rechtsbasis gegründetes Tribunal, haben keine geeignete Rechtsgrundlage und wären nicht unabhängig.

Letztlich bleibt es dabei, dass die Immunität der verantwortlichen russischen Staats- und Militärspitzen aufgrund der Grundsätze des Völkerrechts und der Vereinten Nationen nicht aufgehoben werden kann und selbst im Falle dessen eine effektive Verfolgung nicht durchzusetzen ist. Lediglich im Falle einer grundlegenden Änderung der russischen Innenpolitik wäre eine Auslieferung denkbar, dann bräuchte man aber auch kein Sondergericht, da ein entsprechende Zustimmung Russlands zur Aufhebung der Immunität erreicht werden könnte.

Die Idee eines Sondertribunals geht auf einen ukrainisch-britische Vorstoß Anfang März 2022 zurück. Er zielt in der Summe nicht auf die tatsächliche Umsetzung der Strafverfolgung, sondern darauf andere Staaten in der Frage der Positionierung unter Druck zu setzen. Dabei wird die Beschädigung des IStGH und der Perspektive einer Weiterentwicklung der internationalen Strafgerichtsbarkeit in Kauf genommen.

Der Ursprung der ukrainisch-britischen Initiative für das Sondertribunal Anfang März 2022 verdeutlicht den Kontext parallel zu den damals laufenden Verhandlungen für einen Waffenstillstand, die vom israelischen Premierminister Bennet mit Selenskyi und Putin geführt wurden. Denn tatsächlich bezog Großbritannien klar Position gegen Verhandlungen, weil es meinte, dass "man Putin weiter bekämpfen müsse" - die angedrohte Strafverfolgung Putins war dabei wohl ergänzend als ein non-starter für den gesuchten Weg einer friedlichen Lösung gedacht.

Tatsächlich wurde in der Anhörung darauf verwiesen, dass man mit der Strafverfolgung nicht zu schnell Schritte fixieren sollte, die man dann in möglichen Kompromissen im Rahmen von Friedensverhandlungen in der Zukunft wieder zurücknehmen müsste. Auch damit würden die Rechtsprinzipien weiter geschwächt.


Quellen:

- Konsequente Reaktion des Rechtsstaats auf den russischen Angriffskrieg ermöglichen - Sondertribunal einrichten, Antrag der Fraktion der CDU/CSU, Drucksache 20/4311, 08.11.2022
https://dserver.bundestag.de/btd/20/043/2004311.pdf

- Öffentliche Anhörung: Strafverfolgung und Beendigung von Straflosigkeit angesichts des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine, Berlin, 6.2.2023
https://www.bundestag.de/ausschuesse/a03_auswaertiges/Anhoerungen/932324-932324

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Quelle:
IMI-Standpunkt 2023/005 vom 10. Februar 2023
Ukraine-Krieg: Argumente gegen ein Sondertribunal
https://www.imi-online.de/2023/02/10/ukraine-krieg-argumente-gegen-ein-sondertribunal/
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veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick am 10. Februar 2023

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