IMI - Informationsstelle Militarisierung e.V.
IMI-Studie 2022/8 vom 8. Dezember 2022
Keine Einzelfälle!
Wie der Staat mit rechten Soldat*innen und ihren Netzwerken umgeht
von Martin Kirsch, Luca Heyer und Alexander Kleiß
Die Broschüre Keine Einzelfälle! - Wie der Staat mit rechten Soldat*innen und ihren Netzwerken umgeht kann per Mail an imi@imi-online.de gegen Portokosten und eine Schutzgebühr von 2 Euro bestellt werden oder hier kostenlos als PDF heruntergeladen werden [1].
Editorial der Broschüre
von Alexander Kleiß und Martin Kirsch
Ende Oktober 2022 besucht Verteidigungsministerin Christine Lambrecht das
kleine Städtchen Calw im Nordschwarzwald. Dort ist das Kommando
Spezialkräfte (KSK) der Bundeswehr stationiert. Waren die Besuche von
Politiker*innen und Generälen in Calw in den letzten Jahren eher durch
Skandale, Problemvermessungen, und die Verkündung von Reformvorhaben
geprägt, schlägt die aktuelle Verteidigungsministerin bei ihrem
Antrittsbesuch einen anderen Ton an: "Ich kann den Frauen und Männern beim
KSK mein vollstes Vertrauen aussprechen."
Fünfeinhalb Jahre nach dem Auffliegen von Franco Albrecht und seinen
Terrorplänen, vier Jahre nach den ersten Berichten über das
Hannibal-Netzwerk und knapp zweieinhalb Jahre nachdem die Zerschlagung des Kommando
Spezialkräfte aufgrund gehäufter rechte Vorfälle diskutiert wurde, zieht
die Verteidigungsministerin damit einen Schlussstrich.
Keine zwei Monate später, im Dezember 2022 fliegt erneut ein rechtes
Netzwerk aus dem Reichsbürger-Milieu auf, das einen Staatsstreich plante.
Beteiligt: unter anderem aktive und ehemalige KSK-Soldaten.
Doch das KSK wird, wie die gesamte Bundeswehr, für die von Kanzler Olaf
Scholz Ende Februar 2022 ausgerufene Zeitenwende gebraucht. Skandale um
rechte Soldat*innen und Fragen nach nötigen Reformen, gar einer
grundlegenden Demokratisierung der Bundeswehr, kommen da äußerst ungelegen.
Deshalb steht das alte Narrativ der Einzelfälle wieder im Zentrum der
politischen Kommunikation.
Das Online-Wörterbuch Wiktionary definiert einen Einzelfall als ein
"einmaliges Ereignis" oder eine "einmalige Erscheinung". Die inflationäre
Verwendung dieses Begriffs steht damit im offenen Widerspruch zur Realität
in der Armee. Es drängt sich die Erkenntnis auf, dass es sich eben nicht um
ein "einmaliges Ereignis" handelt, wenn rechte Chatgruppen aufgedeckt
werden, Waffendepots bei rechten Soldat*innen gefunden werden, wenn ganze
Bundeswehr-Kompanien Rechtsrock hören oder gemeinsam Adolf Hitlers
Geburtstag feiern. Weshalb wird der Begriff von den politisch
Verantwortlichen dennoch so häufig verwendet?
Eine alternative Definition bietet der Duden: Ein Einzelfall ist demnach
ein "konkreter, einzelner Fall (der jeweils individuell zu beurteilen oder
zu behandeln ist)". Den Verantwortlichen, beispielsweise im Verteidigungs-
oder Innenministerium geht es darum, die Fälle jeweils individuell zu
behandeln. Oder anders gesagt: Ihnen geht es darum, eine Betrachtung jener
Strukturen zu verhindern, welche die vielen "Einzelfälle" möglich machen
und begünstigen. Würde man sich in den Ministerien ernsthaft die Frage
stellen, weshalb Bundeswehr und Polizei gerade für Rechtsradikale eine so
große Anziehungskraft haben, dann würde dies einige Grundlagen dieser
Institutionen bedrohen: den Dienst fürs Vaterland, den Dienst an der Waffe,
klare Befehlsketten, ein patriarchales und archaisches Selbstbild als
Krieger, den Korpsgeist in den Einheiten, die Kontinuitäten seit dem
Nationalsozialismus und einen bis heute andauernden Antikommunismus - um
nur einige prägnante Beispiele zu nennen.
Davon ausgehend ist klar: es sind und waren nie Einzelfälle, sondern
Symptome der strukturellen Probleme, die in diesen Institutionen
vorherrschen und durch ihre Aufgabenstellungen hervorgebracht werden.
Mit der Broschüre, die ihr in euren Händen haltet, wollen wir, ausgehend von den "Einzelfällen", die Debatten der vergangenen Jahre in einen größeren Zusammenhang einordnen. Unseren Fokus legen wir darauf, wie die Regierung, das Verteidigungsministerium, das Parlament, der Militärgeheimdienst, die Justiz und die Gesellschaft mit der Masse rechtsradikaler Soldat*innen und deren Vernetzung umgegangen sind. Die folgenden Themen erwarten euch:
Vor fünfeinhalb Jahren, im Mai 2017, gab die damaligen Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen, ein Fernsehinterview, in dem sie ein "Haltungsproblem" der Truppe sowie "Führungsschwäche" und einen "falsch verstandenen Korpsgeist" in der Bundeswehr anprangerte. Mit ihren Plänen einer Aufarbeitung und dem Ziel, die zugrundeliegenden Strukturen anzugehen, scheiterte sie letztendlich. Nach massiver Kritik zog sich die als große Aufklärerin in den Ring gestiegene Verteidigungsministerin Schritt für Schritt wieder auf die Einzelfallthese zurück. Die Auswirkungen dieser gescheiterten Debatte um strukturelle Reformen wirken bis heute fort.
Ein kurzer Blick auf rechte Vorfälle in der Bundeswehr und die folgenden Debatten in den 1990er Jahren zeigt, dass sich die Aufklärungsrituale in den letzten gut 20 Jahren kaum geändert haben.
Vor zweieinhalb Jahren, im Juni, stellte Annegret Kramp-Karrenbauer das KSK aufgrund der massiven Häufung rechter Vorfälle auf den Prüfstand. Sie kündigte an, mit "eisernem Besen" durchzukehren. Die Zerschlagung des gesamten Verbandes stand, in Abweichung zur gängigen Erzählung von Einzelfällen, zur Debatte. Der anschließende Reformprozess wurde nach einem Jahr als voller Erfolg verkauft. Schaut man hingegen auf die Details, ist von einer grundlegenden Aufarbeitung der Probleme des Eliteverbandes wenig zu sehen.
Eine zentrale Rolle bei der Enttarnung und Entlassung rechter Soldat*innen aus der Bundeswehr spielt der Militärische Abschirmdienst. Der Militärgeheimdienst kategorisierte verdächtige Soldat*innen allerdings lange so, dass selbst Hitlergrüße und offensichtliche Kontakte in die rechte Szene nicht zu einer Einordnung als "Rechtsextremisten" führten. Das Phänomen wurde damit faktisch unsichtbar gemacht.
Drei Monate nach dem Urteil gegen Franco Albrecht im Juli 2022 wagen wir einen Blick zurück. Wie verliefen die Gerichtsprozesse und Ermittlungsverfahren gegen Einzelpersonen des Hannibal-Netzwerks? Muss sich auch die Justiz vorwerfen lassen, für deren politischen Motive und Netzwerkstrukturen blind zu sein?
Unter den politischen Parteien nimmt die AfD mit Blick auf rechte Netzwerke in der Bundeswehr eine besondere Rolle ein. So finden sich nicht nur Mitglieder und Anhänger, sondern auch Personen mit Parteiämtern unter den zentralen Figuren des Hannibal-Netzwerks und in dessen Ausläufern. Das verwundert wenig, will der faschistische Flügel doch explizit Soldat*innen und Polizist*innen für seine Phantasien einer Machtübernahme gewinnen.
In einem kleinen Exkurs blicken wir zum Abschluss noch über den Tellerrand der Bundeswehr. Beispielhaft zeigen die Ermittlungen zur Serie von Drohschreiben mit dem Absender NSU 2.0 auf, welche Geflechte rechter Chatgruppen sich in den Polizeibehörden bei genauerem Hinsehen finden lassen.
All diese Betrachtungen zusammengenommen ist es umso erschreckender, mit welcher Blindheit diverse staatliche Institutionen auf Versuche, bewaffnete staatliche Institutionen von rechts zu unterwandern, reagieren. Auch wenn die öffentliche Debatte sich längst anderen drängenden Problemen widmet, bleibt der Blick auf diesen Themenkomplex bitter nötig - bekommt durch die neue Aufrüstungsdynamik und die fortschreitende Organisierung von Faschist*innen auf den Straßen und in den Parlamenten zudem eine neue Dringlichkeit.
Bevor wir eine gute und hoffentlich gewinnbringende Lektüre wünschen, wollen wir uns noch bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung für ihre finanzielle Unterstützung sowie bei unseren Kolleg*innen der Informationsstelle Militarisierung für ihren Input und die Hilfe bei der Umsetzung bedanken.
Die Broschüre kann per Mail an imi@imi-online.de gegen Portokosten und eine
Schutzgebühr von 2 Euro bestellt werden oder hier kostenlos als PDF
heruntergeladen werden:
[1] https://www.imi-online.de/download/KeineEinzelfaelleWeb.pdf
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Quelle:
IMI-Studie 2022/8 vom 8. Dezember 2022
Keine Einzelfälle!
https://www.imi-online.de/2022/12/08/keine-einzelfaelle/
Herausgeber: Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V.
Hechinger Str. 203, 72072 Tübingen
Tel.: 07071/49154, Fax: 07071/49159
E-Mail: imi@imi-online.de
Internet: www.imi-online.de
veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick am 13. Dezember 2022
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