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GRUNDRISSE/037: zeitschrift für linke theorie & debatte, frühjahr 2013


grundrisse - zeitschrift für linke theorie & debatte
nr. 45, frühjahr 2013




Inhaltsverzeichnis

Redaktion:
Editorial / Call for Papers

Schwerpunkt: Demokratie, Postfordismus, Räte

Karl Reitter:
Zwischenruf zum Thema "das Politische"

Susan Zimmermann:
Demokratie als Exportartikel? Grenzüberschreitende Intervention
im Dienste der "guten Sache" und solidarische Ökonomie

Stefan Junker:
Die Eroberung der Demokratie

Ewgeniy Kasakow:
Verklärt & Vergessen: Die Räte und ihre Macht

G.M. Tamas:
Über Postfaschismus. Wie Staatsbügerschaft exklusives Privileg wird

G.M. Tamas:
Vorläufige Thesen zu einem System der Angst

Robert Foltin:
Zur Demokratie sozialer Bewegungen

Gerhard Hanloser:
Bewegung und Kritik. Zu typischen deutschen Kritikern von Occupy und David Graeber

Andreas Krandebitter:
Buchbesprechung: Gruppe INEX (Hg): Nie wieder Kommunismus?
Zur Linken Kritik an Stalinismus und Realsozialismus.

Paul Pop:
Buchbesprechung: Michael Seidman: Gegen die Arbeit:
Über die Arbeiterkämpfe in Barcelona und Paris, 1936-1938.

Karl Reitter:
Buchbesprechung: Christine Resch, Heinz Steinert:
Kapitalismus: Porträt einer Produktionsweise

*

Editorial

Liebe Leserinnen und Leser,

diese Ausgabe versucht eine Annäherung an das komplexe Thema Demokratie aus verschiedenen Perspektiven. Stefan Junker und Ewgeniy Kasakow beziehen sich in ihren Beiträgen auf die klassische Alternative zum Parlamentarismus, auf Räte und ihre historischen Ausformungen. Die Perspektive ist dabei durchaus unterschiedlich, unser Redakteur Stefan Junker möchte in der nächsten Ausgabe eine kritische Anmerkung zum Beitrag von Ewgeniy Kasakow veröffentlichen - selbstverständlich erhält Kasakow die Möglichkeit zur Erwiderung. Die Beiträge von Susan Zimmermann und G.M. Tamás haben gemeinsam, dass beide AutorInnen in Budapest arbeiten und daher mit den dortigen Verhältnissen bestens vertraut sind. Der Artikel von Zimmermann beschäftigt sich mit der aktuellen Debatte in Ungarn, ob und in welchem Ausmaß eine politische Intervention der EU gegen die autoritären Tendenzen der Regierung Viktor Orbán, die sich auch in einer Reihe von Gesetzen manifestieren, zu begrüßen oder abzulehnen sei. Die Beiträge von G.M. Tamás haben allgemeinen Charakter und versuchen das Phänomen Postfaschismus zu entschlüsseln. Auf ausdrücklichem Wunsch des Autors publizieren wir auch den bereits 2000 in englischer Sprache erschienenen Artikel Über Postfaschismus - wir danken an dieser Stelle Gerold Wallner für die Übersetzung dieser Texte. Robert Foltin nähert sich dem Thema Demokratie aus der Perspektive vergangener und zukünftig möglicher sozialen Bewegungen. Karl Reitter steuert kurze Thesen zum Begriff des Politischen - nach seiner Auffassung ein Fehlbegriff - bei. Nicht direkt zum Schwerpunkt findet ihr einen Text von Gerhard Hanloser, in dem der Autor die überhebliche und zugleich haltlose Polemik mancher linker Kreise an der Occupy Bewegung und an dem Buch von David Graeber mit dem Titel Schulden kritisiert.

Die nächste Ausgabe der grundrisse wird keinen expliziten Schwerpunkt haben. Wir haben so viele gute Artikel erhalten, so dass wir ein hundert Seiten Heft füllen hätten können. Dank an unsere ZusenderInnen! Eines können wir jetzt schon verraten, wir werden ein langes Interview mit Silvia Federici über ihr neu übersetztes Buch Caliban und die Hexe publizieren.

Eure grundrisse Redaktion

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Call for Papers: Who cares

Für die Herbstausgabe der Grundrisse ist als Schwerpunkt das Thema Care/Sorge geplant. Diese Thematik umfasst nicht nur die Reproduktion, insbesondere der Ware Arbeitskraft, sondern auch den wesentlich umfassenderen Bereich der direkten und indirekten, bezahlten und unbezahlten Beziehungs- und Sorgearbeit, der Hausarbeit, der affektiven und relationalen Arbeit an den Subjekten bzw. zwischen den Subjekten. Wir wollen solcherart den Bereich Care/Sorge ins Zentrum der Betrachtung und Diskussion stellen. Es kann keine Emanzipation geben, ohne die geschlechtlichen Asymmetrien zu beseitigen.

Auch und gerade weil die Redaktion der Grundrisse derzeit sehr "männlich" ist, wollen wir uns diesem Thema widmen. Care/Sorge ist kein Thema, das (ausschließlich) Frauen etwas angeht, sondern eben alle. Die Entwertung dieses Bereiches ergibt sich nicht nur aus einer konservativen Sicht der Geschlechterverhältnisse, sondern auch aus der Ignoranz in vielen linken Diskussionen. Darum ist es unbedingt notwendig Ergebnisse feministischer Wissensproduktion in die Betrachtungen einzubeziehen. Deshalb laden wir Euch herzlich ein, uns Beiträge zu diesen Fragestellungen (und natürlich auch darüber hinaus) bis zum 31. August 2013 an die E-Mail Adresse der Redaktion (redakrion@grundrisse.net) zu schicken. Vorteilhaft wären Essays ohne viele Fußnoten, nicht mehr als 35.000 Zeichen lang.

Eure Grundrisse Redaktion

PS: Bitte die Texte im word-Format (doc), einzeilig, Flattersatz und ohne zusätzliche Formatierungen (z. B. automatische Aufzählungen, Einrückungen, usw.) zu verfassen.

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Karl Reitter:

Zwischenruf zum Thema "das Politische"

Wir befinden uns manches Mal in Situationen, die einerseits eine Intervention erfordern, zu der uns andererseits aber Zeit und Muse fehlt. Wir, die Redaktion der Zeitschrift "grundrisse", haben unsere LeserInnen ersucht, uns Beiträge zum Thema "Demokratie" zu senden. Wie zu erwarten gab es auch (angenommene wie abgelehnte) Beiträge, in denen über die Thematik "des Politischen" gehandelt wurde. Die Zusendungen spiegeln nicht nur aktuelle Debatten in der Linken wieder, sondern auch jene Themen, die an Universitäten verhandelt werden. Wie zu erwarten, war auch der Begriff "des Politischen", in scharfer Abgrenzung zum Feld der Politik, Thema.

Die Hoffnung, jemand würde die Haltlosigkeit dieses Diskurses um "das Politische" ausführlich aufzeigen, erfüllte sich nur sehr partiell. Nun stehe ich vor einem Dilemma. Für einen ausführlichen Artikel fehlt mir die Zeit, aber zum kommentarlosen passieren lassen dieses entleerten Wolkengebäudes, wiederum der Gleichmut. Es sei diesbezüglich auf die umfangreichen Ausführungen in meinem Buch "Prozesse der Befreiung. Marx, Spinoza und die Bedingungen eines freien Gemeinwesens" hingewiesen. Was also tun?

Zwischen nichts sagen und ausführlich Stellung nehmen habe ich den Weg knapper Thesen gewählt. Ausführliche Belege, Begründungen und Illustrationen fehlen daher. Ich ersuche, diese Thesen bloß als Vorschlag zu lesen, wie denn die Dinge betrachtet werden könnten. Wenn es mir gelingt, meine Sichtwiese annähernd zu verdeutlichen, wäre schon viel gewonnen.

1. These: Marx hat in "Zur Judenfrage" die institutionellen Gegebenheiten des entwickelten und gesitteten Parlamentarismus zureichend analysiert. Die bürgerliche Revolution spaltete die Verwobenheit von politischer und sozialer Herrschaft auf, der Staat (die Sphäre der politischen Herrschaft) separierte sich von der Gesellschaft (die Sphäre der sozialen Herrschaft). Beide Dimensionen sind als Herrschaftsverhältnisse für sich zu begreifen, woraus die Doppelaufgabe der emanzipatorischen Umwälzung resultiert: "Jede Revolution löst die alte Gesellschaft auf; insofern ist sie sozial. Jede Revolution stürzt die alte Gewalt; insofern ist sie politisch." (MEW 1; 409)

2. These: Die Spaltung und Entgegensetzung von Staat und Gesellschaft vollzieht sich als Spaltung und Entgegensetzung am Individuum: "Wo der politische Staat seine wahre Ausbildung erreicht hat [durch die bürgerliche Revolution], führt der Mensch nicht nur im Gedanken, im Bewußtsein, sondern in der Wirklichkeit, im Leben ein doppeltes, ein himmlisches und ein irdisches Leben, das Leben im politischen Gemeinwesen, worin er sich als Gemeinwesen gilt, und das Leben in der bürgerlichen Gesellschaft, worin er als Privatmensch tätig ist... Die Differenz zwischen dem religiösen Menschen und dem Staatsbürger ist die Differenz zwischen dem Kaufmann und dem Staatsbürger, zwischen dem Taglöhner und dem Staatsbürger, zwischen dem Grundbesitzer und dem Staatsbürger, zwischen dem lebendigen Individuum und dem Staatsbürger." (MEW 1; 354ff)

3. These: Die Luftsphäre des himmlischen, politischen Lebens ist insofern eine Realsphäre, als wir bei Wahlen und vor dem Gesetz tatsächlich gleich und gleichwertig handeln und behandelt werden, zumindest tendenziell, dort, wo die Trennung von Staat und Gesellschaft ihre maximal emanzipatorische Ausbildung erreicht hat. Sie ist insofern eine fiktive Sphäre, als sie die realen gesellschaftlichen Unterschiede von Geschlecht, Einkommen, Besitz, Bildung, Hautfarbe, Religion, Kultur keinesfalls aufhebt, sondern als gegeben und formbestimmend voraussetzt.

4. These: Der Diskurs um "das Politische" idealisiert und verabsolutiert das "himmlische" Leben der als gleiche und gleichwertig gesetzten Akteure. Die Realabstraktion von der konkreten Lebensbasis verdoppelt der Diskurs um "das Politische" in der Theorie. Gereinigt von allen Makeln des realen Lebensvollzuges treten dann vernunftbegabte Akteure in die politische Sphäre, die zumeist auch als Sphäre der Öffentlichkeit gefasst wird. Die Liquidation des Essentialismus ist dann eine leichte Sache. Tatsächlich ist das Luftleben der politischen, staatsbürgerlichen Sphäre von substanziellen Bezügen zu Interesse und Ökonomie, Geschlecht und Bedürfnis, Lebensnot und Lebenswirklichkeit befreit.

5. These: Als ProtagonistInnen dieses Diskurses sind wohl Hannah Arendt, Claude Lefort, Chantal Mouffe und Ernesto Laclau zu nennen. Methodisch kreisen ihre theoretischen Bemühungen um die Aufgabe, das Politische von Bezügen zur realen Lebenspraxis abzugrenzen. Bei Arendt ist die Sphäre des Handelns durch Worte und Werke strikt von der Sphäre der vorpolitischen und a-humanen Arbeit getrennt, bei Laclau und Mouffe die Sphäre der Politik von der Sphäre der Ökonomie. Bei Lefort verbinden sich politische AktivistInnen ohne Klasse und Geschlecht zur Zivilgesellschaft.

6. These: Anstatt die historisch gewordene Entgegensetzung von Staat und Gesellschaft zu reflektieren, die ihrerseits so etwas wie eine fiktiv-reale Autonomie der politischen Sphäre ermöglicht, verhimmelt der Diskurs unbegriffen die institutionellen Bedingungen unserer Existenz als bloße Vernunft- und Rechtswesen. Der Poststrukturalismus kann insofern an diesen Diskurs anknüpfen und ihn weiterführen, als seine obsessive Auflösung von analytischen Trennungen und Unterscheidungen ihm den Blick auf die Entgegensetzung von Staat und Gesellschaft versperrt. Eine mehr republikanische Variante finden wir in der Nachfolge von Habermas, indem dem kommunikativ aufgelösten Vernunft- und Moralatom das System entgegengestellt wird.

7. These: Nicht durchgehend im Diskurs um "das Politische", aber oftmals, kippt der Diskurs in unmittelbare Affirmation des Staates, indem die Sphäre des Politischen an die Existenz eines konstituierten politischen Gemeinwesens geknüpft wird (ohne "Gemeinwesen", vulgo Staat, kein Politisches). Jenseits von Staat und dem Politischen gäbe es nur die Gewalt, bzw. die Hobb'schen Wölfe, die sich verwunderlicherweise auch schon mal wechselseitig vernichten. Solidarität und Empathie wird hier zur marginalen Restgröße.

Nachbemerkung: Wer von der Wiederkehr des Idealismus sprechen will, findet im Diskurs um "das Politische" geeignete Kandidaten. Aber natürlich nimmt dort, wo die Widersprüche drängender werden auch das Bedürfnis nach "idealen Lösungen" zu.


Literatur und Sigel:

MEW = Marx Engels Werke, Berlin 1965

Marx, Karl (MEW 1) "Zur Judenfrage", Seite 347-376
Marx, Karl (MEW 1) Kritische Randglossen zu dem Artikel »Der König von Preußen und die Sozialreform. Von einem Preußen«, Seite 392-409

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Susan Zimmermann:

Demokratie als Exportartikel?
Grenzüberschreitende Intervention im Dienste der "guten Sache" und solidarischer Internationalismus

Pressefreiheit als Imperialismus? Nationale Souveränität als Politik gegen die Demokratie? Ein Fallbeispiel, und sein welthistorischer Kontext

Am 3. Jänner 2011, dem ersten Arbeitstag des neuen Jahres, erschienen wichtige ungarische Tageszeitungen, die der konservativen ungarischen Regierung kritisch oder ablehnend gegenüberstehen, mit weißem Titelblatt. Am Neujahrstag war das neue Mediengesetz in Kraft getreten, dessen Erlass wegen des antidemokratischen und autoritären Charakters der Neuregelung in Ungarn wie im Ausland einen Proteststurm ausgelöst hatte.[1] Die linksliberale Népszabadság/Volksfreiheit stellte auf ihrem Titelblatt in allen Sprachen der EU fest: "Magyarországon megszünt a sajtószabadság" - "In Ungarn wurde die Pressefreiheit aufgehoben". Die sozialdemokratische Népszava/Volksstimme erklärte in ungarischer und englischer Sprache, unterlegt von der klassisch in rot gehaltenen Darstellung eines hammerschwingenden proletarischen Kämpfers: "Pressefreiheit ist in einem Mitgliedsstaat der EU ein Grundrecht. Wir müssen unsere demokratischen Rechte in Ungarn verteidigen. Wir verlangen Pressefreiheit."[2]

Tatsächlich waren in Ungarn von Seiten liberaler und kritisch-demokratischer Intellektueller, Medien und Politiker, angesichts der schier unbegrenzten Machtfülle der konservativ-autoritären Regierung Viktor Orbán, schon vor Inkrafttreten des Gesetzes Rufe nach grenzüberschreitender Intervention laut geworden. In der ungarischen Öffentlichkeit wurden die Proteste des Auslands, so namentlich die Kritik von Seiten gewichtiger internationaler NGO's und Medienorganisationen und durch Vertreter der EU und gewichtiger Länder in der EU, schon vor Inkrafttreten des Gesetzes immer wieder in die Medien gebracht und warnend zitiert.[3] Die libertäre "politisch-kulturelle" Wochenzeitschrift Magyar Narancs erschien schon am 2. Dezember 2010 mit blankem Titelblatt und titelte mit Blick auf den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte mit der Schlagzeile: "Es bleibt nur Straßburg".[4]

Tatsächlich wurde die EU als Institution bald aktiv. Die Europäische Kommission verlangte eine Prüfung des neuen Gesetzes und schließlich die Abänderung einiger Bestimmungen. Im Europaparlament wurde das ungarische Mediengesetz wiederholt zum Anlass heftiger Debatten. In einer Sitzung im Jänner 2011 demonstrierten grüne Abgeordnete mit verklebtem Mund und hielten ihre eigene Variante der ungarischen Zeitungen mit blankem Titelblatt in die Höhe.[5] Im März wurde in Straßburg eine durch die sozialistische, grüne, freiheitliche und linke Fraktion unterstützte Entschließung angenommen, die herbe Kritik nicht nur an der ungarischen Regierung, sondern auch an der zu laschen Haltung der Europäischen Kommission übte. Verlangt wurden darin die Wiederherstellung der Unabhängigkeit der Medien und der Redefreiheit sowie die Aufhebung des neuen Mediengesetzes. Außerdem forderte die Entschließung die Europäische Kommission auf, die "Vereinbarkeit des ungarischen Mediengesetzes in der geänderten Fassung mit den europäischen Rechtsvorschriften, insbesondere mit der Charta der Grundrechte", weiterhin zu überwachen.[6]

Die ungarische Regierung reagierte auf diese transnationale Opposition gegen ihre autoritäre Medienpolitik mit massiven Angriffen auf die Gegner und mit antiimperial eingefärbtem rechten Nationalpopulismus. Schon in der Jännersitzung des Europäischen Parlaments erklärte der aufgebrachte Ministerpräsident Viktor Orbán, dass Kritik in Ordnung sei, "ein Land, ein Volk aber nicht beleidigt" werden dürften.[7] Vizeministerpräsident Tibor Navracsics erklärte im Interview mit der polnischen Tageszeitung Rzeczpospolita, dass sich die Kritik am ungarischen Mediengesetz aus einem generellem Misstrauen westlicher Länder gegen die neuen osteuropäischen Demokratien speise. Außerdem beschrieb die Regierung das Mediengesetz immer wieder als "zusammengestelltes EU-Gesetz", das ausschließlich aus Verfügungen bestehe, die es auch in anderen EU-Ländern gebe. Ungarn sei daher nur dann zu Änderungen bereit, wenn die entsprechenden Bestimmungen zeitgleich auch in jenen EU-Ländern geändert werden würden, aus dessen Gesetzen diese übernommen worden seien. Ministerpräsident Orbán ließ außerdem - unverkennbar in Reaktion auf Kritik speziell aus Deutschland und Frankreich - verlautbaren, dass er selbst niemals irgendeinen Passus des französischen Mediengesetzes kritisieren würde, nur weil sich dieser von den ungarischen Bestimmungen unterscheide.

Alles in allem hat die Auseinandersetzung um das neue Mediengesetz in Ungarn gewiss zu weiterer Verhärtung der Fronten zwischen liberal-freiheitlicher und zum Teil auch linker politischer Gesinnung einerseits, und nationaler bis rechtsextremer Weltsicht andererseits beigetragen. Dies hängt mit drei politischen Faktoren zusammen. Erstens hat Ungarn als kleines und wirtschaftlich und politisch schwächeres Land nicht erst zu EU-Zeiten die Erfahrung machen müssen, dass die Souveränität des Landes in vieler Hinsicht, bzw. wenn es hart auf hart geht, so manches Mal und in mancher Hinsicht nur auf dem Papier besteht. Zweitens hat insbesondere bei den liberal-freiheitlichen Kräften im Lande der Ruf danach, dass internationale Organisationen oder Regierungen Druck auf Ungarn ausüben bzw. sich in die ungarische Politik einmischen sollen, durchaus Tradition. Immer wieder haben insbesondere liberale, und sonstige sich als progressiv verstehende, Kräfte den Blick nach außen gerichtet, wenn sie sich daran abarbeiteten, wie die hehren Werte und Institutionen der Demokratie, die Menschenrechte, etc., im Lande durchgesetzt oder verteidigt werden können. Hinter den Rufen nach Hilfe von außen steht unverkennbar der Wunsch, auf diese Weise die eigene innenpolitische Schwäche auszugleichen bzw. der eigenen politischen Ohnmacht zu entkommen. Und drittens nutzen, umgekehrt, nationale und rechtsextreme Kräfte den Ruf ihrer politischen Gegner nach derartiger Hilfe von außen immer wieder dazu, die eigenen Angriffe auf die freiheitlich gesonnenen politischen Gegner im Land als Kampf um Freiheit und Selbstbestimmung der ungarischen Nation darzustellen, die sich gegen eine internationale Verschwörung von Liberalen, Bolschewiken und Juden wehren könne und müsse.

Auf den ersten Blick mag die so umschreibbare politische Konstellation in Ungarn in Sachen Mediengesetz 'speziell' erscheinen. Ich möchte jedoch im Folgenden argumentieren, dass die ungarischen Verhältnisse zugleich Züge einer historisch ebenso wirkungsmächtigen wie dominanten, globalen Konstellation und Auseinandersetzung tragen. Gemeint ist damit die lange Geschichte der grenzüberschreitenden Interventionen, die in einer Welt ungleicher internationaler Beziehungen stattgefunden haben, und die, ein wenig ironisch, als Interventionen im Dienste der "guten Sache" bezeichnet werden könnten. In den verschiedenen Zeitabschnitten der Moderne wurden diese Interventionen - die sich, von politischem Druck über ungleiche Verträge bis zum "humanitären" militärischen Eingreifen, der unterschiedlichsten Mittel bedienten - durch ein breites Spektrum an Zielen gerechtfertigt. Historisch am weitesten zurück reichten dabei die Aktivitäten der christlichen Mission, der es um die Rettung der "verlorenen Seelen" und um die "Zivilisierung" der "Barbaren" ging. Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts zog man gegen den Sklavenhandel und die Sklaverei zu Felde. Im 19. Jahrhundert kamen verschiedene weitere Erscheinungen hinzu, die als Mangel an Zivilisation gedeutet wurden, darunter die Polygamie oder das Menschenopfer. Der Aufstieg einer sich verallgemeinernden Doktrin der "Menschenrechte" begann in der Zwischenkriegszeit. Nun wurden nicht mehr die europäischen "Mächte", sondern die "Völkerfamilie" bzw. heute die "internationale Gemeinschaft" als jene Akteure angerufen, die - in erster Linie - die Verantwortung dafür wahrzunehmen hatten, sich überall auf der Welt um die Einhaltung der jeweiligen Doktrin zu kümmern.

Seit den 1990er Jahren spielt nun, gemeinsam mit den Menschenrechten, die Durchsetzung von Werten und Institutionen der "Demokratie" bei der Begründung von grenzüberschreitenden Interventionen eine immer wichtigere Rolle. Die hegemoniale Argumentation hat sich seitdem in bedeutsamer Weise weiterentwickelt. In der Blütezeit der "humanitären Intervention" der 1990er Jahre wurde stets diskutiert, ob, unter welchen Bedingungen, und unter Bezugnahme auf welche Menschenrechtsverletzungen eine Verletzung der Souveränität des betreffenden Staates durch Intervention von außen zu rechtfertigen sei bzw. völkerrechtlich gerechtfertigt werden könne. Heute hat dem gegenüber das Konzept der "Responsibility to Protect", kurz R2P, nach dem die "internationale Gemeinschaft" in bestimmten Fällen von Menschenrechtsverletzungen vor Ort zum Eingreifen nicht nur aufgerufen, sondern unmittelbar verpflichtet ist, den Status einer hegemonialen Doktrin erlangt. Der Problemkreis der Rechtfertigung von Einmischungen in innere Angelegenheiten von Staaten, und der Verletzung des Souveränitätspinzips, wird damit gleichsam ausgeklammert.[8]

Es gibt gute Gründe, all die hier aufgezählten Politikvarianten unter einem nur scheinbar schwammigen Begriff wie dem der grenzüberschreitenden Intervention der "guten Sache" (die ihrerseits, wie gesagt, formal viele Spielarten kannte und kennt) zusammenzufassen. Denn diese Politiken beziehen sich tatsächlich auf ein geradezu unglaublich wandlungsfähiges Spektrum zu bekämpfender Phänomene bzw. zu befördernder Werte und Institutionen. Zusammengehalten werden diese Politiken (hinsichtlich der Werte, die sie vertreten) nur durch zweierlei. Erstens statten sie sich selbst stets mit dem Nimbus der moralischen, zivilisatorischen oder humanitären Überlegenheit aus.[9] Und zweitens würden sich (würden sie danach befragt) tatsächlich vergleichsweise wenige Menschen, Institutionen, Organisationen oder Regierungen klar gegen jene "guten" Werte aussprechen, die in einer bestimmten Epoche dominant sind; und wenige würden sich, umgekehrt, direkt und lautstark für die entsprechenden "schlechten" Praktiken, gegen die es gehen soll, stark machen.

Im folgenden diskutiere ich zunächst die grundsätzliche politische Logik und die argumentativen Fallen der Auseinandersetzungen um das pro und contra grenzüberschreitender Interventionen im Dienste der guten Sache. Sodann beschreibe ich bestimmte Kennzeichen dominanter Formen der grenzüberschreitenden Intervention im Dienste der guten Sache in Vergangenheit und Gegenwart. Ich argumentiere, dass die Tatsache, dass es so schwer fällt, sich im Dickicht der politischen Auseinandersetzungen um die grenzüberschreitende Intervention im Namen der guten Sache zu positionieren, mit diesen Merkmalen zusammenhängt. Abschließend beschäftige ich mich - und dabei komme ich wiederum auf das ungarische Beispiel zurück - mit linken Traditionen und Perspektiven im Umgang mit der Problematik der grenzüberschreitenden Intervention.


Demokratisierung und grenzüberschreitende Ungleichheit und Machtbeziehungen ...

Argumentativ und politisch ging und geht es bei der Auseinandersetzung um die grenzüberschreitende Intervention im Dienste der guten Sache im Kern um die Beziehung zwischen der Selbstpositionierung der unterschiedlichen Akteure bezüglich des Problems ungleicher internationaler Machtverteilung einerseits, und bezüglich des jeweiligen Reformanliegens - also der guten Sache - vor Ort andererseits. Vereinfacht und schematisch zugespitzt treffen in der Auseinandersetzung um diese beiden Achsen der Ungleichheit vier mögliche Positionen aufeinander. Hinsichtlich der Achse globale Ungleichheit geht es dabei um pro - versus antiimperialistische Positionen, hinsichtlich der Achse Politik vor Ort geht es um Vertretung bzw. Ablehnung der guten Sache. Drei Faktoren haben Einfluss auf die Gestaltung der entsprechenden Auseinandersetzungen.

Erstens kommt keiner der beteiligten Akteure umhin, sich bzgl. beider Achsen zu positionieren. Da ein Durchspielen aller möglichen sich dabei ergebenden Kombinationen zu viel Platz in Anspruch nehmen würde, beschränke ich mich im folgenden zunächst auf die Einordnung der im ungarischen Beispiel bereits genannten Positionen. Der Ruf nach Intervention der EU zum Zwecke der Redemokratisierung des Mediengesetzes etwa kann verstanden werden als eine Selbstpositionierung, die grenzüberschreitende Machtstrukturen innerhalb der EU dazu nutzen will, die gute Sache in Ungarn durchzusetzen. Die ungarische Regierung ihrerseits kombiniert (moderate) Kritik an diesen Machtstrukturen mit ihrer Politik der schlechten Sache zuhause in Ungarn.

Zweitens müssen sich alle Akteure, wie aus den genannten Beispielen bereits hervorgeht, der Frage stellen, ob und welche Priorität sie dem Handeln im Dienste der gewählten Position entlang der einen Achse im Vergleich zur anderen Achse einräumen. Verfechter der EU-Intervention etwa räumen, ganz egal ob sie imperialistisch oder antiimperialistisch gesonnen sind (oder ob ihnen die Problematik der globalen Ungleichheit nichts bedeutet oder nicht bewusst ist), der Durchsetzung der guten Sache vor Ort auf jeden Fall Priorität ein.

Zum dritten schließlich bieten sich in der Auseinandersetzung um die grenzüberschreitende Intervention im Dienste der guten Sache zahlreiche Möglichkeiten, Vertreter*innen abweichender Positionen diskursiv auszumanövrieren. Hier wird in aller Regel versucht, die Position politischer Gegner zur einen Achse gegen deren vermeintliche oder tatsächliche Haltung bezüglich der anderen Achse auszuspielen - etwa indem man ihnen, wenn sie ihre Position bezüglich der einen Achse darlegen, eine bestimmte Position zur anderen Achse unterstellt. Als ich Anfang 2011 gegenüber dem ehemaligen leitenden Redakteur einer großen linksliberalen Tageszeitung meine - in einer Reihe konkreter Überlegungen begründeten - Zweifel an der Sinnhaftigkeit des Rufes nach EU-Intervention äußern wollte, konnte ich nicht einmal den ersten Satz zu Ende bringen. "Möchtest Du, dass die Verhältnisse in der Welt der Medien hier in Ungarn noch schlimmer werden als unter Berlusconi in Italien?", fuhr er mir über den Mund. Ich war 'baff', und wenn sich mein 2010 erschienenes Buch (siehe Anm. 1) nicht mit den argumentativen Fallen und Tricks der Diskussion um grenzüberschreitende Intervention im Dienste der guten Sache beschäftigen würde, hätte ich gewiss länger gebraucht, um eine Antwort zu finden, die den Eintritt in eine ernsthafte Diskussion dann doch ermöglichte. So aber stellte ich nach einer ersten Schrecksekunde meinem alten Freund schlicht die Frage, ob er denn überhaupt wissen wolle, was eigentlich meine Position zum neuen ungarischen Mediengesetz sei? Und ob er tatsächlich glaube, dass ich eine Medienpolitik wie die des Silvio Berlusconi für sympathisch oder auch nur akzeptabel erachte? Natürlich nicht, war die Antwort.

Und so konnte ich dann klarmachen, dass eine konstruktive Diskussion über die Ungleichheitsbeziehungen und Machtverhältnisse, die grenzüberschreitender Intervention im Dienste der guten Sache so oft eingeschrieben sind, unmöglich ist, solange Kritiker*innen dieser Machtverhältnisse unterstellt wird, dass sie damit - motiviert durch ihre antiimperialistische Haltung - ungleiche Machtverhältnisse und antidemokratische Zustände vor Ort (in diesem Fall in Ungarn) rechtfertigen oder wenigsten passiv hinnehmen wollen. Die Einsicht, dass sich die ungarische Regierung, die jede Kritik an ihrer antidemokratischen Medienpolitik mit dem Verweis auf die immerwährende imperialistische Verschwörung gegen das arme Ungarnland abzuwürgen versucht, einer sehr ähnlichen Strategie des Gegeneinanderausspielens politischer Positionen zu beiden Achsen befleißigt, war meinem Freund sehr viel geläufiger - und diese Einseitigkeit teilt er, so meine Erfahrung, mit vielen anderen Liberalen überall auf der Welt.

Doch auch wenn es in diesem Fall gelang, über politische Grenzen hinweg argumentativ in Kontakt zu treten, bleibt festzuhalten: Innerhalb jenes politischen und diskursiven Feldes, das ich bis hierher beschrieben habe, bleibt für eine links-solidarische und womöglich internationalistische Kritik der problematischen Seiten grenzüberschreitender Intervention im Dienste der guten Sache oft wenig Raum. Linke Kräfte, die dem Antiimperialismus Priorität einräumen, sehen sich immer wieder damit konfrontiert, dass ihnen unterstellt wird, sie seien gegen jede Beförderung von Demokratie, Menschenrechten, oder Gleichstellung der Frauen, etc., durch grenzüberschreitende Politik, oder gar gegen Menschen- und Frauenrechte überhaupt. Linke Kräfte, die der Beförderung der Politik der guten Sache vor Ort Priorität einräumen, sehen sich immer wieder mit dem Vorwurf konfrontiert, dass sie sich bewusst oder unbewusst zu Söldnern des Imperialismus machten.


... als weltpolitische Konstellation in Vergangenheit und Gegenwart

Die Tatsache, dass sich links-solidarische Kräfte den bis hierher diskutierten Problemen gegenübersehen, wenn sie zu Fragen der grenzüberschreitenden Intervention im Dienste der guten Sache Stellung beziehen, ist einer Reihe von grundsätzlichen Merkmalen geschuldet, die das Feld der diskursiven und politischen Auseinandersetzung um grenzüberschreitende Intervention im Dienste der guten Sache kennzeichnen. Umgekehrt können grenzüberschreitende politische Positionen und Strategien einer solidarischen Linken genau dann argumentative Stärke und politisches Gewicht erlangen, wenn sie sich gegenüber spezifischen Merkmalen der dominanten Auseinandersetzung um grenzüberschreitende Intervention offensiv kritisch positionieren. Auf diese Weise können sie das diskursive und politische Feld der Auseinandersetzung um grenzüberschreitende Intervention im Dienste der guten Sache öffnen bzw. anders besetzen und verschieben.

Welches also sind die Merkmale dominanter Politiken grenzüberschreitender Intervention im Dienste der guten Sache, denen sich die Probleme einer solidarisch-internationalistischen Linken mit derartigen Politiken verdanken? Zunächst einmal können diese Politiken auf eine lange und dominante imperialistische Tradition zurückblicken. In einem brillanten Essay mit dem Titel "Whose Right to Intervene? Universal Values Against Barbarism" hat Immanuel Wallerstein die lange Geschichte der Auseinandersetzung um diese Frage ausgehend von der berühmten Kontroverse des 16. Jahrhunderts zwischen Bartolomé de Las Casas und Juan Ginés de Sepúlveda analysiert. In dieser Debatte ging es um die Rechtfertigung der spanischen Herrschaft in Südamerika als Kampf gegen die "barbarischen" Bräuche der Indios und die Durchsetzung des Rechts auf christliche Missionierung. Wallerstein kommt zu dem Schluss, dass "seitdem nichts gesagt" wurde, was der Debatte um die Durchsetzung universeller Werte durch grenzüberschreitende Intervention "irgendetwas wesentliches hinzugefügt hat".[10] Das Gewicht von Politiken der grenzüberschreitenden Intervention in der globalen Auseinandersetzung allerdings hat gerade in den letzten Jahrzehnten (neuerlich?) massiv zugenommen, und die sich wandelnden Argumentationsmuster spiegeln die (wieder einmal?) zunehmende Aggressivität und Selbstherrlichkeit der Proponent*innen dieser Politiken deutlich wieder. So sehen beispielweise Vertreter*innen der herrschenden Politiken der humanitären Intervention, der "Responsibility to Protect", und der internationalen Menschenrechts- und Demokratiepolitik, immer weniger Anlass dazu, die Verwicklung dieser Politiken in die Traditionen imperialer Intervention unsichtbar zu machen oder herunterzuspielen, im Gegenteil. Es ist deutlich zu beobachten, dass in immer offensiverer Form positiv auf die die Machtverhältnisse im internationalen System Bezug genommen wird, wenn es darum geht, die Expansion massiver Varianten der grenzüberschreitenden Politik der guten Sache argumentativ abzusichern.

Die Argumentation von Fred Abrahams von der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch, der spezialisiert ist auf die Durchsetzung von Menschenrechten in bewaffneten Konflikten, ist dafür ein gutes Beispiel. In einem Interview im März 2011 begrüßte er die Resolution des UN-Sicherheitsrats zu Libyen als "Signal, dass die Grenzen schmelzen, wenn es zu Kriegsverbrechen oder anderen schweren Menschenrechtsverbrechen kommt."[11] Die ungleichen globalen Machtbeziehungen, die Interventionsentscheidungen und vor allem deren praktische Umsetzung gegenüber ganz bestimmten Ländern ermöglichen, werden in Äußerungen wie dieser gleichzeitig ausgeblendet, vorausgesetzt und gutgeheißen; spezifische Grenzüberschreitungen werden in aggressiver Weise als Verschwinden aller Grenzen und ein Vorgang präsentiert, der im Dienste der guten Sache erstrebenswert sei.

Damit ist auch schon eine zweite zentrale Problematik dominanter Muster der internationalen Politik im Dienste der guten Sache angesprochen, nämlich die Frage der Akteure bzw. der diskursiv und politisch herbeigerufenen Akteure. Viele Proponent*innen derartiger Interventionen neigen dazu, ihre Hoffnungen auf die Durchsetzung der guten Sache auf jene Kräfte zu richten, die unmittelbar in der Lage sind, eine selbstgewählte Variante grenzüberschreitender Politik im globalen Machtsystem auch durchzusetzen. Doch gerade dann, wenn die grenzüberschreitende Intervention im Dienste der guten Sache von Akteuren betrieben oder beeinflusst wird, die die Zentren globaler Macht repräsentieren, tendiert sie sie immer wieder zu problematischen Verwicklungen in globale Ungleichheit und lokale Sozialbeziehungen. Was die globale Ungleichheit betrifft, so schmiegte und schmiegt sich solche Politik häufig gleichsam an dominante Kernstrukturen des internationalen Systems an. Dazu zählen Kolonialismus und Imperialismus, kooperative bzw. internationalisierte Kolonialpolitik, sowie ungleiche Machtverhältnisse, abgestufte Souveränität und ungleiche Wirtschaftsbeziehungen in der "internationalen Gemeinschaft" oder der Europäischen Union, etc. Zugleich hat sich die von diesen Kräften betriebene grenzüberschreitende Politik im Dienste der guten Sache historisch immer wieder mit Bestrebungen verbunden, durch Eingriff in die örtlichen Sozialverhältnisse die Expansion des globalen kapitalistischen Systems voranzutreiben oder sicherzustellen. Dies galt im Zeitalter der europäischen kolonial-imperialen Expansion ebenso wie in der Epoche des Neoliberalismus. In den 1990er Jahren etwa war es unübersehbar, dass internationale Organisationen und Stiftungen in ihrer Osteuropapolitik ein Junktim zwischen fortschrittlicher Geschlechterpolitik und Wirtschaftsliberalisierung vor Ort herzustellen suchten. Zumindest kapitalismuskritische Internationalist*innen sind sich darin einig, dass diese Wirtschaftsliberalisierung zu vermehrter sozialer Ungleichheit und auch zur absoluten Verarmung bestimmter Bevölkerungsschichten beigetragen hat.[12]

Schließlich gilt es noch eine weitere und letzte Gruppe zentraler Merkmale dominanter Politiken der grenzüberschreitenden Interventionen in Vergangenheit und Gegenwart zu erwähnen. Dabei geht es um die Art der Begründungen dieser Politik, die Definition jener Erscheinungen, gegen die sich die Intervention richtet, und die Alternativen zu diesen Erscheinungen, die die Interventionist*innen gerne durchgesetzt sehen möchten. Dominante grenzüberschreitende Interventionspolitiken werden meist in philosophischen Universalien, unhintergehbaren Grundsätzen mit Allgemeingültigkeit, und letztlich in moralischen oder vorrechtlichen Setzungen begründet - in der "guten Sache" eben. So geht es etwa, in abstracto und im allgemeinen, um die Durchsetzung der Menschenrechte oder das Prinzip Demokratie, um die Sklaverei, das Menschenopfer, oder an Frauen verübte Gewalt. Es sind außerdem nicht irgendwelche, sondern ganz bestimmte derartige Universalien, die sich unter den gegebenen weltpolitischen Verhältnissen am ehesten als unhintergehbare "gute Sache" darstellen lassen und die daher am ehesten hegemoniale Wirkungskraft entfalten können. Grenzüberschreitende Intervention zur Durchsetzung etwa eines abstrakt-universell formulierten Prinzips "gleicher Lohn für gleiche Arbeit" stellt heute wohl kaum eine ernstzunehmende weltpolitische Option dar. Last but not least lässt sich historisch unzweifelhaft beobachten, dass grenzüberschreitende Interventionspolitik in aller Regel mit dem Vorgehen gegen Einzelelemente eines breiteren Systems gesellschaftlicher Beziehungen vor Ort gerechtfertigt wird. Durch einen etwas genaueren Blick auf einige der oben genannten Beispiele für die Ziele solcher Interventionspolitik lässt sich dies eindringlich illustrieren. So wurde von (den Hauptströmungen) der Antisklavereibewegung nicht die Ausbeutung von Arbeit, sondern die Sklaverei ins Visier genommen. Nicht der komplexe gesellschaftliche Zusammenhang, als dessen Teil die Verstümmelung weiblicher Genitalien auf den Plan tritt, sondern die Genitalverstümmelung steht im Zentrum der Agenda dominanter internationaler Menschenrechtspolitiken.[13] Derartige Strategien der Abtrennung etwa von "Gewalt gegen Frauen" oder "Pressefreiheit" von anderen Problemen und größeren Zusammenhängen - anders gesagt: der punktgenaue Fokus auf zumeist besonders verabscheuungswürdiges oder scheinbar klar definierbares und abgrenzbares Unrecht - machte und macht die grenzüberschreitende Intervention im Dienste der guten Sache besonders konsensfähig. Der Verzicht auf die Berücksichtigung komplexer Ursachen und Kontexte ermöglicht es außerdem, unangenehme Fragen, die bei mangelndem Erfolg der Intervention gestellt werden könnten, beiseite zu schieben. Stattdessen kann, mit Blick auf das aus allen Zusammenhängen scheinbar herausgelöste, zu bekämpfende Übel, unbeirrt am Bekenntnis zur Notwendigkeit fortgesetzter Intervention festgehalten werden.

Gemeinsam tragen also die Selektivität bei der Auswahl der Ziele grenzüberschreitender Intervention im Dienste der guten Sache, die Dekontextualisierung der Phänomene, die auf diese Weise in den Vordergrund gestellt werden, und die universellen Werte, auf die sich die Intervention beruft, entscheidend dazu bei, dass es oftmals fast unmöglich erscheint, die Legitimität oder Sinnhaftigkeit der Interventionen in Frage zu stellen. Zuguterletzt ist die Tatsache, dass sich die Intervention gegen selektiv ausgewählte Übel richtet - so etwa im Fall Abschaffung der Sklaverei statt Kampf gegen die Ausbeutung der Arbeit, oder Geschlechtergleichheit statt Gleichheit aller Menschen - eine Voraussetzung dafür, dass die Intervention kompatibel ist und bleibt mit den oben erwähnten Politiken kapitalistischer Expansion.


Und die Linke?

In der - wie auch immer vielgestaltigen - marxistischen Tradition spielt die systematische Auseinandersetzung mit dominanten internationalen Institutionen und Organisationen sowie zwischenstaatlichen Beziehungen und geopolitischen Dynamiken eine eher untergeordnete und vor allem abgeleitete Rolle. Das internationale System erscheint oft als eine Art Wurmfortsatz der Staaten. Für jede wirkliche Veränderung dieses Systems braucht es zentral die (Klassen-)Bewegung von unten, die die unterdrückerischen Staaten und damit letztlich das Staatensystem, das diese überwölbt, revolutionär verändern oder beseitigen wird.[14] Dementsprechend wird der internationalen Intervention im Dienste der guten Sache - wenn sie nicht einfach als imperialistisch abgelehnt, oder aber die Auseinandersetzung mit diesem Phänomen als allzu vielschichtige und komplexe Frage erst einmal beiseitegeschoben wird - gerne die Notwendigkeit der Selbstorganisation und der Klassenbewegung von unten gegenüber gestellt.

Ich habe demgegenüber in diesem Artikel versucht, eine Lanze dafür zu brechen, die Politik der internationalen Intervention im Dienste der guten Sache als eigenes, zunehmend an Bedeutung gewinnendes, Feld der politischen Auseinandersetzung, einschließlich der ganz praktischen politischen Auseinandersetzung vor Ort, ernstzunehmen. Dahinter steckt nicht die Idee, die soziale Bewegung vor Ort und von unten abzuwerten, im Gegenteil. Dieser Artikel will einen Beitrag dazu leisten, dass die Bewegung und jene, die sich mit ihr verbunden fühlen, sich nicht in den argumentativen Fallen verheddern, die ich oben beschrieben habe, und eigene Positionen entwickeln, die über die sinnlose Frage hinausweisen, ob solche Interventionen nun in abstracto abzulehnen oder (in Einzelfällen) doch zu rechtfertigen oder zu unterstützen seien. Ich behaupte außerdem, dass die grenzüberschreitende Intervention im Dienste der guten Sache sozusagen immer schon da, immer schon vor Ort ist, wenn sich Aktivist*innen vor Ort aufmachen, etwas zu verändern. Die Auseinandersetzung mit diesem Phänomen gehört also, anders gesagt, immer schon zu den unmittelbaren Agenden der Bewegung, ganz egal ob sie dies nun will, oder nicht.

Die angesprochenen alternativen Argumentationsstrategien und Argumentationsmuster können auf einigen Grundüberlegungen aufbauen. Zunächst und zum ersten gilt es dabei, die eigene Position zu beiden oben diskutierten Achsen der Ungleichheit, also zum Problem der globalen Macht und Ungleichheit einerseits, und den Unrechtsverhältnissen, der Ungleichheit, Marginalisierung oder Ausbeutung vor Ort andererseits, stets, und gemeinsam, explizit zum Ausdruck zu bringen. Nur so wird es möglich, den oben beschriebenen argumentativen Strategien des gegeneinander Ausspielens beider Achsen erfolgreich entgegenzutreten. Nur wenn ich - beispielsweise - deutlich mache, dass ich beides, das neue ungarische Mediengesetz von 2011, und die Machtverhältnisse, die der Intervention der EU und anderer internationaler Akteure eingeschrieben sind, ablehne, und wenn ich explizit darlege, ob und wieso ich bereit oder nicht bereit bin, einer der beiden Achsen strategischen Vorrang einzuräumen, kann eine sinnvolle Diskussion entstehen. Wann immer ich hingegen über meine Haltung zu einer der beiden Achsen schweige, wird mir unweigerlich unterstellt werden, ich sei entweder ein*e Befürworter*in grenzüberschreitender Machtpolitik oder bereit Unrechtsverhältnisse vor Ort zu tolerieren. Die Strategie, sich selbst stets und im Tandem zu beiden Achsen explizit zu positionieren, lässt außerdem einen diskursiven Raum entstehen, in dem sich - zumindest grundsätzlich - auch der Diskussionspartner oder die politische Gegnerin die Frage gefallen lassen müssen, wie sie selbst es denn, grundsätzlich und strategisch, mit jeder der beiden Achsen halten.

Zweitens gilt es, jedes Argument, das die an der Diskussion Beteiligten vorbringen, Schritt für Schritt darauf abzuklopfen, wie es sich, ausgesprochen oder unausgesprochen, zu beiden Achsen der Ungleichheit verhält. Wichtig ist dabei auch, zu unterscheiden zwischen dem, was die Akteure, deren Haltung erwogen wird, tatsächlich sagen, und jenen Positionen, die ihnen in der politischen Auseinandersetzung um grenzüberschreitende Intervention, globale Ungleichheit, und problematische Verhältnisse vor Ort jeweils zugeschrieben werden. Auf diese Weise wird es zum Beispiel möglich, zwischen verschiedenen Formen und Absichten internationaler Frauenmenschenrechts- oder Demokratiepolitik und unterschiedlichen Politiken gegen (beispielsweise) autoritäre Verhältnisse vor Ort zu unterscheiden. Dieselbe Strategie kann sich zum Beispiel auch dann als hilfreich erweisen, wenn es vor Ort darum geht, die Argumentationsmuster der Teilnehmer*innen an der politischen Auseinandersetzung ins rechte Licht zu rücken. Manche örtlichen Akteure setzen etwa die Kritik an Politiken der globalen Ungleichheit zur Rechtfertigung bestehender Unrechtsverhältnisse vor Ort ein ("Wer unser politisches System kritisiert, macht sich zum Lakaien des westlichen Imperalismus"), andere bemühen sich, die Arbeit von Kritiker*innen solcher Unrechtsverhältnisse zu delegitimieren (Im Süden: "Die Frauengruppen bei uns sind vom Westen gesteuert, und haben gar kein wirkliches Interesse, unseren ausgebeuteten Frauen zu helfen". Im Norden: "Unsere Feministinnen reden zwar über das Elend der Frauen in der Dritten Welt, betreiben aber in Wirklichkeit das Spiel der NATO"). Gerade die letzten Beispiele zeigen, dass es, wie oben erwähnt, in vielen Fällen gar keine Bewegung von unten gibt, die sich nicht zugleich und immer schon im Spannungsfeld grenzüberschreitender Interventionspolitik im Dienste der guten Sache bewegt. Aus diesem Grund, so mein Argument, lohnt es sich gerade auch für Aktivist*innen vor Ort, sich in diesem Spannungsfeld bewusst und nachdrücklich zu positionieren.

Drittens können erfolgversprechende Konzepte und Strategien solidarischen grenzüberschreitenden Handelns dann entstehen, wenn dabei bestimmte zusätzliche Bezugspunkte systematisch berücksichtigt bzw. einbezogen werden, die in der langen Tradition dominanter grenzüberschreitender Interventionen im Dienste der guten Sache systematisch ausgeblendet worden sind. Dabei geht es unter anderem darum, sich mit Fragen der möglichen mittelbaren und unmittelbaren, auch negativen oder kontraproduktiven Begleiterscheinungen oder Konsequenzen grenzüberschreitender Intervention, sowie der Chancen auf Erfolg, die der angestrebten Reform unter den gegebenen Verhältnissen tatsächlich zukommen, eingehend zu beschäftigen. Hinsichtlich der Akteure etwa gilt es dabei - ganz mit Sepúlveda, der im 16. Jahrhundert seine Stimme erhob - abzuwägen, ob Jene, die sich als Akteure der Intervention anbieten, auch tatsächlich geeignet sind, erfolgreich zu intervenieren, ob es nicht Andere gibt, die besser geeignet sind, die (wie auch immer beschränkte) gute Sache vor Ort tatsächlich voranzutreiben, und wen man sich als mögliche Kooperationspartner*innen aussuchen sollte, und wen nicht.

Die Auseinandersetzung der ungarischen Linken mit der Intervention der EU im Jahre 2011 trägt demgegenüber zum Teil unverkennbar die Züge der klassisch-linken Position, nämlich dass die Bewegung eben von unten kommen müsse. Auf dem Höhepunkt des Konfliktes zwischen "Europa" und ungarischer Regierung etwa antwortete der kritische ungarische Philosoph Gáspár Miklós Tamás in einem Interview des österreichischen Radiosenders Ö1 auf die Frage, ob die EU eingreifen solle oder nicht, ganz schlicht: "Es ist Sache des ungarischen Volkes, den Kampf für die ungarische Pressefreiheit auszufechten." Tamás brachte damit ein Argument vor, das ansonsten in der überbordenden Debatte jener Monate nicht von ungefähr nahezu komplett ausgeblendet wurde. Das Titelblatt der Népszava vom 3. Jänner 2011 wiederum verband die positive Bezugnahme auf die internationale Dimension des Problems indirekt durchaus mit der Frage nach der Legitimität der unterschiedlichen Akteure, der gesellschaftlichen Selbstorganisation, und den Erfolgsaussichten konkreter Formen einer grenzüberschreitenden Politik der guten Sache. Dies ging aus der eingangs zitierten Schlagzeile ebenso hervor, wie auch daraus, dass dieses Titelblatt eben nicht weiß und leer gehalten war, wie die Titelseiten der übrigen Blätter, sondern den hammerschwingenden proletarischen Kämpfer zeigte, der die klassisch linke Position der gesellschaftlichen Selbstorganisation symbolisierte. Die Népszava identifizierte sich unverkennbar nicht mit der internationalen Gemeinschaft der liberalen Medien-NGO's. Ebenso deutlich brachte die Zeitung zum Ausdruck, dass sie die verschiedenen EU-Gremien und Repräsentant*innen internationaler Interessensgruppen gewiss nicht als die einzigen oder idealen Akteure betrachtet, wenn der guten Sache in Ungarn tatsächlich gedient sein soll.

Andere Stimmen auf Seiten der Linken unterzogen bestimmte zusätzliche Zusammenhänge zwischen den internationalen Entwicklungen und den Entwicklungen vor Ort, die ich in diesem Artikel diskutiert habe, zumindest teilweise einer ausgesprochenen Kritik. So wandten sich bekannte Intellektuelle inmitten der hitzigen Debatte um die 'Einmischung' der EU in ungarische Angelegenheiten in einem offenen Brief mit dem Titel "Pressefreiheit?" an die Öffentlichkeit. Sie stellten dabei die Frage nach den Erfolgsaussichten einer grenzüberschreitenden Intervention auf eine Weise, die die konkreten gesellschaftlichen und politischen Kontexte der (nur scheinbar isoliert behandelbaren) schlechten Sache (Einschränkung der Pressefreiheit) analytisch-politisch einzublenden, statt auszublenden, suchte: "Auch wenn sich Orbán und seine Leute auf westlichen Druck hin von der Aneignung der Presse durch eine einzige Partei abbringen lassen würden: die sozialen Anomalien des Systems würden trotzdem bleiben - und in einer Epoche, in der keine reale linke ... Bewegung des gesellschaftlichen Selbstschutzes ... existiert, können diese Anomalien geradezu zu Faktoren werden, die gegen ein demokratisches politisches System arbeiten. ... Eine erfolgreiche Widerstandsbewegung zum Schutz der Pressefreiheit ist nur dann vorstellbar, wenn sich diese mit dem Schutz der sozialen Rechte verbindet ..."[15] Zwar ließ diese Analyse den Beitrag ungleicher grenzüberschreitender Wirtschaftsbeziehungen, zum Beispiel innerhalb der EU, zur fortwährenden Polarisierung der ungarischen Gesellschaft, und zur Verarmung weiter Bevölkerungsschichten, außer Acht. Aber sie machte doch darauf aufmerksam, dass es konkrete Gründe dafür gibt, warum die Interventionspolitik, die von der EU und der liberalen Öffentlichkeit in Ungarn und international betrieben bzw. eingefordert wurde, bestimmte politische und gesellschaftliche Erscheinungen, die Ungarn heute kennzeichnen, einblendet und warum sie andere ausblendet. Sie wies außerdem darauf hin, dass gerade bestimmte Interessen, denen sich die dominante Interventionspolitik verpflichtet fühlte - so das Interesse an jenen Formen der ökonomischen Integration in der EU, die in Ländern wie Ungarn die soziale Polarisierung und Verarmung vorantreiben - dazu beitragen, die Erfolgsaussichten einer Politik der Pressefreiheit für und in Ungarn gering zu halten.


Ich hoffe, in diesem Beitrag zweierlei klar gemacht zu haben. Erstens stehen die Vorgänge rund um das ungarische Mediengesetz, die ich hier als Beispiel diskutiert habe, in einer langen Tradition: der Tradition einer Politik der globalen Ungleichheit, die die Geschichte der grenzüberschreitenden Intervention im Dienste der guten Sache in nahezu erdrückender Weise bestimmt hat. Grenzüberschreitende Menschenrechts- und Demokratisierungsbestrebungen stellen nicht nur die jüngste und heute dominante Ausprägung dieser Tradition dar, sondern auch eine bedeutende Verallgemeinerung älterer Politikmuster. Zudem kommt diesen Politiken im globalen System unserer Tage zunehmende Bedeutung zu. Zweitens kann die grenzüberschreitende Politik der guten Sache nur dann als solidarischer Internationalismus neu geboren werden, wenn sich deren Charakter und Ziele grundsätzlich verändern: namentlich dann, wenn grenzüberschreitende Politik systematisch mit dem Anliegen verbunden wird, globale Ungleichheit abzubauen, wenn sie sich darauf richtet, Ungleichheit vor Ort im übergreifenden Sinne zu hinterfragen, und wenn die Bevölkerungen vor Ort bei der Gestaltung dieser Politiken eine Stimme haben.


Anmerkungen

[1] Wo (hier und) im folgenden nicht anders angegeben, beruhen die Ausführungen zur Auseinandersetzung um das ungarische Mediengesetz auf Artikeln, die in der Tageszeitung Neues Deutschland erschienen sind. Ein Teil der übrigen Ausführungen beruht auf meinem Buch Grenzüberschreitungen. Internationale Netzwerke, Organisationen, Bewegungen und die Politik der globalen Ungleichheit vom 17. Bis zum 21. Jahrhundert, Wien 2010. Übersetzungen fremdsprachiger Zitate stammen von mir.

[2] "Freedom of the press is a fundamental right in a EU member state. We must defend our democratic rights in Hungary. We demand freedom of the press."

[3] Vgl. etwa die Berichterstattung in Népszabadság im Monat Dezember 2010, abrufbar online in der Suchfunktion unter den Titelwörtern "médiatörvény Europai Unió".

[4] Magyar Narancs, 2. Dezember 2010.

[5] Népszabadság online 19.01.2011.

[6] Népszabadság online 11.03.2011, 12.03.2011.

[7] Zitiert in Népszabadság online 19.01.2011.

[8] Die beste Analyse der R2P Konzepts ist jene von Anne Orford, International Authority and the Responsiblity to Protect, Cambridge etc., 2011.

[9] Diese Tradition hat Geritt Gong als Bezugnahme auf einen "standard of "civilization'" gekennzeichnet, dessen Einhaltung im Völkerrecht ursprünglich nur im Zusammenhang mit dem Umgang mit Europäer*Innen, die sich in "unzivilisierten" Gebieten aufhielten, gefordert wurde. Gerrit Gong, The Standard of "Civilization" in International Society, Oxford etc., 1984.

[10] Immanuel Wallerstein, European Universalism. The Rhetoric of Power, New York 2006, Kapitel 1, sowie 72ff. (Deutsche Übersetzung: Die Barbarei der Anderen. Europäischer Universalismus, Berlin 2007.)

[11] Der Standard, 19./20. März 2011.

[12] Am Beispiel Osttimor diskutiert Anne Orford den Zusammenhang zwischen Intervention und neoliberaler Reform. Anne Orford, Reading Humanitarian Intervention. Human Rights and the Use of Force in International Law, Cambridge etc., 2003, Kap. 1.

[13] Eine sorgfältige Analyse dieser Zusammenhänge und alternative Herangehensweisen entwickelt, am Beispiel der Genitalverstümmelung, Isabella R. Gunning, Arrogant Perception, World-Travelling and Multicultural Feminism: The Case of Female Genital Surgeries, in: Columbia Human Rights Law Review 23 (1992) 2, 189-248.

[14] Vgl. Clive Archer, International Organizations, 3. Aufl., London, New York, 2001, 152-158. Eine anregende weiterführende Analyse bietet Benno Teschke, Mythos 1648. Klassen, Geopolitik und die Entstehung des europäischen Staatensystems, Münster, 2007.

[15] Offener Brief vom 17. Jänner 2010.
http://mebal.hu/sajtonyilatkozatok/sajtoszabadsag-nyilt-level, 05/09/2011.

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Stefan Junker:

Die Eroberung der Demokratie

Die Diskussion über die politische Form der künftigen Gesellschaft spielte bei Kommunisten und Sozialisten, welche die Modelle der Sowjetunion, China usw. als Modelle sozialistischer Gesellschaften zurückwiesen, nur eine marginale Rolle. Häufig wurde hier Bezug auf Äußerungen von Marx und Engels genommen, welche fiktive Gesellschaftsentwürfe als utopisch zurückgewiesen haben, ohne zu bemerken, dass sich der Vorwurf der Utopie vorwiegend auf den aufklärerisch-elitären Charakter dieser Entwürfe bezog. Utopie meinte hier nicht das noch nicht wirklich gewordene, sondern das an sich Unverwirklichbare, das Unmögliche. Für unmöglich hielten Marx und Engels und nicht nur sie einen Kommunismus, der die Herrschaft einer mehr oder weniger aufgeklärten Minderheit zur Voraussetzung habe. Nichts falscher als Marx und Engels für die "letzten Aufklärer" zu halten, gehören sie vielmehr zu den ersten, die die elitären Konzeptionen der Aufklärung grundsätzlich und materialistisch kritisierten. "Wer erzieht die Erzieher?" lautete der Vorwurf an die Adresse der utopischen Sozialisten. Die Konzeption von Kommunismus als Wissenschaft von den Bedingungen der Emanzipation des Proletariats verstanden, verlangt die Untersuchung der Umstände und Prozesse dieser Befreiung. Die Konstruktion einer künftigen Gesellschaft, sei es als Phalanstères, als Ikarien usw. ist grundsätzlich zu unterscheiden von dem Bemühen aus dem Studium revolutionärer Erscheinungen auf die Struktur künftiger Gesellschaftsformen zu schließen.

Dass sich Marx und Engels nur sehr kursorisch über eine kommunistische Gesellschaft ausließen hat nichts damit zu tun, dass sie Gedanken darüber für an sich unsinnig hielten, sondern erklärt sich aus dem Mangel kommunistischer Erhebungen und damit an Studienmaterial aus ihrer Zeit. Es verwundert darum nicht, dass gerade die Pariser Kommune Marx den reichsten Stoff lieferte, sich zu diesem Thema positiv zu äußern. Dagegen ist die Situation im 21. Jahrhundert eine völlig unterschiedliche, denn wir können heute auf mehr als zwei Dutzend kommunistische Erhebungen und Revolutionen zurückblicken, deren Erfahrungen zu verarbeiten wären. Es ist verwunderlich, dass dies bis heute nur marginal geschehen ist.[1]

Immerhin lassen sich seit 1905 mehr als zwei Dutzend Beispiele für revolutionäre Selbstorganisationen in Revolutionen und Aufständen heranführen, die über einen eng begrenzten lokalen Bereich hinausgreifen. Trotz der Gewissheit unvollständig zu bleiben, seien einige in Erinnerung gebracht. Die ersten Arbeiterräte[2], die diesen Namen auch verdienen, tauchen 1905/06 in der Russischen Revolution auf, die große Revolution von 1917 lässt sie von neuem erstehen. Ergänzend organisieren sich die Soldaten in eigenen Sowjets und nahezu in allen Fabriken Russlands wählen sich die Belegschaften Fabrikkomitees, die ihrerseits Milizen organisieren, welche die Aufgaben der verhassten Polizei übernehmen oder zu übernehmen trachten. Die Zeit nach dem 1. Weltkrieg ist eine Zeit weltweiter Unruhe, Aufstände und Revolutionen. Zu den bedeutsamsten gehört diejenige in Deutschland. Auch hier werden Arbeiter- und Soldatenräte geschaffen, Betriebe wählen Betriebsräte. Sie sind Träger der revolutionären Bewegung, häufig ohne es zu wissen und sogar gegen ihren Willen, nicht unähnlich manchen Streiks, die radikaler und revolutionärer werden, als es die Streikenden und ihre Organisatoren ursprünglich beabsichtigten. Revolutionen sind keine Ereignisse, die vom Reißbrett aus geplant werden, wie Rosa Luxemburg schrieb, sie geschehen zumeist und nicht selten wider die Pläne und Erwartungen der großen Revolutionäre (auch zumeist eine männliche Geschichte, denn diese sitzen an den grünen Tischen in den Hinterzimmern, während die Frauen in den ersten Reihen der Demonstrationen den bewaffneten Polizeikordons gegenüberstehen). Das sogenannte "revolutionäre Bewusstsein" ist weniger Voraussetzung als vielmehr Folge der Revolution. Weniger erforscht, aber den Zeitgenossen sehr bedeutsam erschienen die Ereignisse in Deutsch-Österreich und in Ungarn 1919, wo sich auch Arbeiter- und Soldatenräte gebildet haben. Im September 1920 besetzen Arbeiter (und Arbeiterinnen?) bei Fiat ihre Betriebe und bilden Fabrikräte, was den Auftakt zu einer mehrwöchigen Bewegung bildet, die sich über Piemont und Ligurien, von Turin bis vor die Tore Genuas ausbreitete. Selbst im irischen Unabhängigkeitskrieg spielten Räte eine gewisse Rolle. Und auch in England entwickelten sich die sogenannten Shop-Stewards zu einer regelrechten Bewegung, die manche Autoren an den Randbereich einer Revolution setzen. Aus England hat vermutlich Lenin seinen unsäglichen Begriff der Arbeiterkontrolle genommen. Vereinzelt konstituierten sich Räte auch in Frankreich, USA und Kanada, ohne allerdings nennenswert auf die nationale Politik Einfluss nehmen zu können. Natürlich ist der Übergang von Streikkomitees und räteähnlichen Strukturen zu klassischen Arbeiterräten fließend. In Südeuropa, von Portugal über Italien bis hin in den Balkan wurden auch die Bauern und Bäuerinnen aktiv und begannen das Land der Großgrundbesitzer zu okkupieren. Auch hier spielten verschiedene Formen der Selbstorganisation eine bestimmende Rolle. Und jenseits Europas, in China und Indien ist diese Zeit bekannt für ihre antikolonialen Kämpfe, die schließlich in die Unabhängigkeit führten. So verwundert es nicht, dass Räte 1927 in China auftauchen.

Mehr ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückten die Bewegungen in Frankreich (1936) und vor allem in der spanischen Revolution (1936-1939). Für die Zeit nach dem 2. Weltkrieg sind Arbeiterräte bezeugt für Osteuropa, Polen, der ungarischen Revolution 1956 und der Tschechoslowakei 1968. In Westeuropa flammen sie kurz im "Pariser Mai" 1968 auf und erstehen wieder in der portugiesischen Revolution 1974/75. Weiter finden wir Räte in Algerien während des Unabhängigkeitskrieges und in Lateinamerika, Bolivien und Chile sowie im Iran 1979. Selbstorganisationen spielten in vielen Erhebungen auch der letzten Jahre eine entscheidende Rolle, wenngleich sie nur kaum beschrieben wurden. Manche sich sozialistisch nennende Regierung versuchte bzw. versucht ihre Legitimation auf die Etablierung von Selbstverwaltung von Arbeitenden zu errichten, mit mehr oder minder großem Erfolg. Jugoslawien hatte hierzu eine reichliche Literatur produziert und natürlich ist hier Chavez in Venezuela nicht wegzudenken. Diese beeindruckende Liste zeigt zu Genüge, wie sehr die Emanzipationsversuche der arbeitenden Klassen eine intensive Beschäftigung verdienen.

Seit dem Zusammenbruch des russischen Ungeheuers tut sich der Mythos schwerer, ohne eine hierarchisch-zentralistisch organisierte Partei und einen allgewaltigen Staatsapparat könne keine Gesellschaft errichtet werden, worin menschliche Freiheit und Selbstentfaltung herrschen. Dabei haben längst die Aufstände und Bewegungen in Kronstadt 1921, DDR 1953, Polen 1956, 1970 und 1980, der CSSR 1968 und besonders die Revolution in Ungarn 1956 den wahren, antikommunistischen Charakter der Sowjetunion und ihrer Satelliten bewiesen. Der bereits in Spanien umlaufende Spruch, "wer den Kommunismus verhindern will, wähle kommunistisch" bewahrheitete sich wenige Jahre später auf breiter Stufenleiter in Osteuropa. Die Leugnung der Selbstbewegungen und der Selbstorganisationen der arbeitenden Klassen sowie deren systematische Unterdrückung war das geheime Band der Herrschaften in Ost und West. Darum ist es nicht verwunderlich, dass sich das Gros der Herrschenden des früheren Osteuropa in den Chefetagen der neuen Gesellschaften gütlich tun konnte, wenngleich diese sich die Pfründe teilen mussten mit neuen Räubern aus dem Westen und den kriminellen Emporkömmlingen, welche sich mählich mit der Legalität des Reichtums arrangierten.

Nun ist diese "Identität" der Herrschaftsinteressen keine neue Erkenntnis, so schrieben Autoren der "Neuen Linken" in den 60er und 70er Jahren davon. Da war es naheliegend, dass sich linke Studenten auf den Begriff der Räte, den sie richtigerweise aus einer kritischen Auseinandersetzung mit der revolutionären Zeit nach dem 1. Weltkrieg entwickelt haben, besannen, obwohl es hier natürlich auch eine gewisse Kontinuität der Kritik an der Sowjetunion und der Verteidigung eines "Sozialismus von unten" (Hal Draper) gab. Diese Rückbesinnung auf die Rätebewegung schuf eine regelrechte Rätediskussion, die leider daran mangelte, dass sie sich relativ schnell auf reine Organisationsvorstellungen und -entwürfe reduzierte. So entglitt der richtige Ansatz aus der Hand und erstarrte, ähnlich wie es mit den pädagogischen Prinzipien A.S. Neills geschah. Dabei schien es, dass diese Organisationsdiskussion mit aktuellen Prozessen parallel laufen wollte, wie im Pariser Mai, den Komitees in der Tschechoslowakei oder Polen sowie den Räten in Chile und Portugal.

Nun sind aber alle sozialistischen Revolutionen und Erhebungen gemessen am Ziel der Errichtung einer sozialistischen Gesellschaft gescheitert. Dies bedarf einer Erklärung. Sicher könnten wir uns auf den bequemen Standpunkt stellen, dass der Sieg nur eine Frage der Zeit sei. Immerhin benötigte die bürgerliche Gesellschaft von der manuelinischen Revolution in Portugal 1389 bis zur Etablierung der bürgerlichen Welt nach 1789 über 500 Jahre, was beweisen dann die 135 Jahre seit der Erhebung der Kommune von Paris? Dieser Einwand reicht für die Widerlegung der platten Argumentation, das nackte Scheitern der Erhebungen beweise die Untauglichkeit des Sozialismus. Sie genügt aber nicht sozialistischen Ansprüchen. Hier finden sich vor allem Vertreter der Auffassung, dass das Scheitern ein Ausdruck der noch nicht reifen Widersprüche gewesen sei oder dass es einer marxistischen Führungspartei gemangelt habe. Beiden Erklärungen gemein ist, dass sie mehr Mystik produzieren, als erklären. Immerhin gab es eine solche Partei in Russland, die Errichtung einer sozialistischen Gesellschaft allerdings gelang auch unter ihrer Führung nicht. Zu der Frage, wie die materialistischen Widersprüche der kapitalistischen Gesellschaft konkret beschaffen sein müssen, damit das sozialistische Experiment gelinge und nicht mehr gecrasht werden kann, haben Marxisten bis heute kaum einen Deut an Erkenntnis zu Marx hinzugefügt. Insoweit kann die Frage nach dem Scheitern nicht erschöpfend beantwortet werden. Allerdings ist die Beobachtung von liberaler Seite, diese Erhebungen des 20. Jahrhunderts seien letzten Endes nur verzweifelte Versuche, die Zeichen der Zeit zurückzudrehen. Gesellschaften, die einmal industrialisiert seien, kennen keine solchen Aufstände mit Räteorganen mehr. Dies trifft in der Tat für viele Länder zu, manundfrau denke an die agrarisch dominierten wie Russland, China, oder auch Spanien und nicht zuletzt Portugal. Aber die Erhebungen im industrialisierten Deutschland 1919-20, die Bewegungen in Deutsch-Österreich und auch der Pariser Mai widerlegen diese Behauptung empirisch, wenngleich ein gewisser unangenehmer Geschmack bleibt. Möglicherweise drückt sich in der revolutionären Zurückhaltung der industrialisierten Länder bereits eine Internationalisierung der ökonomischen Strukturen aus, welche andeutet, dass für die revolutionäre Erhebung größere Krisen vorauszusetzen sind, als diese bisher in Erscheinung traten. Immerhin kümmerten sich in Russland kaum Belegschaften darum, ob sich die Betriebe in deutschem oder sonstigem Eigentum befanden, die sie zu enteignen trachteten. Die spanischen Arbeiter und Arbeiterinnen hingegen nahmen bereits politische Rücksicht auf Betriebe mit ausländischem Kapital, um mögliche Bündnispartner nicht zu verschrecken. In Portugal schließlich ging die Zurückhaltung noch weiter und die Belegschaftsvertretungen versuchten zuerst Kontakt mit den Belegschaftsvertretern der entsprechenden Zweigniederlassungen multinationaler Konzerne in anderen Ländern aufzunehmen, stießen meistens aber auf wenig Gegenliebe. Die internationale Arbeitsteilung erlaubt keine nationalen Erhebungen mehr, was auch eine Erklärung für das momentane Steckenbleiben der arabischen Revolution ist.

Nichtsdestotrotz will ich hier den Versuch wagen, in einem Rückgriff auf die Revolutionen des 20. Jahrhunderts, ihre Bewegungsgesetze zu fassen, um daraus einen Blick in die Zukunft einer kommunistischen Gesellschaft zu werfen. Selbstredend, dass dies hier kaum eine Skizze sein kann.

Unter den Namen Räte, Sowjets, Kollektive, Kooperative usw. treten Organe der arbeitenden Klasse auf, mittels dieser das Proletariat des 20. Jahrhunderts versuchte, seine Unterdrückung abzuschütteln und seine Selbstemanzipation zu verwirklichen. So verschieden die Namen auch waren, sei es als Arbeiterräte, Betriebsräte, Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten, Fabrikräte, Kollektive oder Kooperativen, so finden sich in ihnen die Interessen der Arbeitenden wieder. In den unterschiedlichen Namen drücken sich nur die unterschiedlichen politischen und historischen Erfahrungen der jeweiligen Arbeiterinnen und Arbeiter aus. All diesen Formen gemein ist hingegen der Trieb, eine Gesellschaft ohne Unterdrückung und ohne Ausbeutung zu errichten, mit anderen Worten eine Gesellschaft ohne Klassen. Dabei spielt es gar keine so große Rolle, ob den Akteuren im Augenblick ihres Handelns die historische Dimension ihrer Aktion bewusst ist oder nicht. Es ist ein tief verwurzelter Irrtum zu glauben, das Handeln der Menschen sei durch ihren bewussten Willen bedingt, dass alles was sie tun, zuerst von ihnen gedacht werde. Sigmund Freud hat mit diesem Mythos aufgeräumt und gezeigt, wie bedeutend das Unbewusste in das menschliche Handeln hineinmische und nicht selten bewusste Absichten konterkariere. Trotzdem spielt das Bewusstsein eine bestimmende Rolle für die Lebensentscheidungen, nur ist es häufiger nicht so sehr die Ursache des Handelns als Folge. Nicht selten merkten die Revolutionäre erst nach der Revolution, dass sie eine Revolution gemacht hatten. Die Revolution schuf das revolutionäre Bewusstsein, nicht umgekehrt revolutionäres Bewusstsein die Revolution. Wer sich mit Revolutionen beschäftigt, erkennt sehr bald, wie wenig Bewusstsein und Handeln in einer mechanischen Beziehung zueinander stehen. Sie gehen nicht unmittelbar auseinander hervor, sondern sind Reaktion auf ein anderes, nämlich der Empfindung und Wahrnehmung von Zuständen, die nicht mehr ertragen werden, bzw. nicht mehr ertragen werden wollen.

Bereits eine erste Annäherung an einen Begriff revolutionärer Selbstorganisationen der proletarischen Revolutionen des 20. Jahrhunderts wirft eine Reihe von Schwierigkeiten auf. Zwar ist in der politischen Literatur zu den Revolutionen und Erhebungen, die dem 1. Weltkrieg folgten, viel von Arbeiter-, Bauern-, Soldatenräten in Deutschland, Russland, Österreich, usw. die Rede, aber eine genauere Betrachtung zeigt, dass die Begriffe durcheinander gehen, die gleichen unterschiedliches meinen, verschiedene dasselbe bezeichnen. In Russland nennen sich die Arbeiterräte, Räte der Arbeiterdeputierten, die russischen Fabrikkomitees finden ihre Entsprechung in Deutschland in den Betriebsräten, nicht zu verwechseln mit den Betriebsräten, wie sie später im Arbeitsrecht verankert wurden. Diese Betriebsräte sind es, die 1920 in Italien erneut auftauchen und von denen Gramsci spricht. Arbeiterräte, wie sie in dieser Zeit in Deutschland, Russland, Österreich und Ungarn aufkamen, fehlen hier, obgleich die norditalienischen Fabrikräte begonnen hatten, sich territorial zu organisieren. Wenn Gramsci schreibt, "der Fabrikrat ist das Modell des proletarischen Staates", so kommt Unsinn heraus, wenn wir dies ins Deutsche übertragen "der Betriebsrat ist das Modell des proletarischen Staates", ohne die konkreten Hintergründe in Betracht zu ziehen, unabhängig von der bereits von Engels reklamierten Problematik des Ausdrucks "proletarischer Staat". Die Arbeiterräte der ungarischen Revolution von 1956 wiederum waren bei genauer Betrachtung eher Betriebsräte, wohingegen die territorialen Räte gerne unter der Bezeichnung Revolutionsräte bzw. Nationalräte fungierten. In Portugal 1974/75 ist dann von Arbeiterkommissionen oder Arbeiterkooperativen die Rede, wobei auch hier eher an die russischen Fabrikkomitees zu denken ist, als an die Arbeiterräte der deutschen Revolution. Auch in Spanien 1936 tauchen die Selbstorganisationsformen mit unterschiedlichsten Namen auf: Kollektive, Initiativen, Komitees usw. Ich habe mich darum entschieden, alle Initiativen, die unmittelbar aus den Fabriken und Unternehmen heraus entstehen, als Betriebsräte zu bezeichnen, in dem Augenblick, wo territoriale Gesichtspunkte in den Vordergrund rücken, von Arbeiterräten zu sprechen.

Es ist offenbar, dass die Begriffe von Land zu Land zu unterschiedlichen Bedeutungen gelangen, weil der politische und gesellschaftliche Hintergrund, auf dem sich die Ereignisse abspielen, immer ein anderer ist. In Deutschland spielten die örtlichen Arbeiterräte eine sehr wesentliche Rolle bei der Entwicklung der Revolution im November und Dezember 1917. In Russland finden wir an ihrer Stelle zuerst allein die zentralen Räteveranstaltungen der großen Städte Petrograd und Moskau, die auf den ersten Blick viel mächtiger erscheinen als ihre Schwesterorganisationen in Deutschland oder Österreich. Diese Sichtweise ist möglicherweise schief und kommt von dem Blickwinkel der Forschung, welche ihren Fokus auf die beiden Großstädte richtete und regionalen Rätebewegungen nur wenig Aufmerksamkeit schenkte. In Spanien findet der revolutionäre Wille seinen ersten Ausdruck auf Versammlungen der Gewerkschaften.

Nun ist es zu wissen, dass die Arbeiterräte (Arbeiterinnenräte) primär territoriale Einrichtungen sind, die gewisse Ähnlichkeiten mit demokratisch bestellten Kommunalverwaltungen haben. In Deutschland wurden sie nicht selten auf öffentlichen Versammlungen oder Demonstrationen ad hoc bestimmt oder im Hinterzimmer von den Arbeiterparteien ausgemauschelt, wenngleich der Druck der Straße häufig eine nachträgliche Akklamation erforderlich macht. War der Druck der örtlichen Belegschaften oder der revolutionären Organisationen ausreichend, konnte eine Neuwahl des Arbeiterrats durchgesetzt werden. In diesen Fällen wählten die Betriebe ihre Arbeiterräte, auch wenn im nachhinein Parteien und Gewerkschaften gewisse Sonderstellungen durchsetzten. Wenn wir diese Wahlen auf betrieblicher Ebene als Idealfall festhalten, so ließen sich die Arbeiterräte bzw. die Arbeiterinnenräte über die Wahl definieren, als Körperschaften die durch Wahlen in den Betrieben bestimmter Territorien, Bezirk, Region, Stadt zustandekommen[3]. Ein Unterschied im Wahlverfahren gegenüber sich territorial organisierenden Betriebsräten läge darin, dass diese aus den Vertretungsorganen der jeweiligen Betriebe und Unternehmen hervorgehen, während bei den Arbeiterratswahlen die jeweiligen Vertretungen bereits in den Betrieben, z.B. auf Betriebsversammlungen gewählt werden. Die Räte der Arbeitenden (Arbeiterräte) ähneln darum mehr parlamentarischen Veranstaltungen als die Betriebsräte es tun, nehmen darum aber auch vornehmlich politische Aufgaben wahr, wie sie die Kommunalverwaltung hervorbringt.

Der spanische Anarchismus bevorzugte in Bezug auf die Agrarverhältnisse den Ausdruck "Kollektiv", der auch synonym für Sozialisierung verwendet wurde, wenngleich hier wichtige Differenzierungen Platz griffen. In Russland finden wir die russischen Kollektive, die Bauernräte mehr in der politischen Agitation als in der Wirklichkeit, denn die revolutionäre Bauernbewegung - die übrigens entscheidend für die Machtübernahme der Bolschewiki im Oktober 1917 war - benötigte keine neuen Organe. Sie konnte auf ihre eigene Traditionen zurückgreifen - darunter die Versammlungen der russischen Landgemeinde. Und in Deutschland? Hier erwiesen sich die Bauernräte, soweit sie überhaupt das Licht erblickten, was vor allem den süddeutschen Raum betrifft, als streng konservativ. Allein der revolutionär undemokratischen Politik des Ministerpräsidenten Eisners und seines "Bauernführers" Gandorfer, welcher die Bauernvertreter ernannte, war es zu danken, dass der bayerische Zentralbauernrat eine linke (USP) Politik mittrug. Gerade was den Vergleich der Bauernbewegungen betrifft, erscheint es schwierig, Gemeinsamkeiten zu entdecken. Diese finden sich allein in den jeweiligen Traditionszusammenhängen, wo es im Hintergrund noch die eine oder andere Form kommunistischen Eigentums gab, was wir im zaristischen Russland ebenso finden, wie im vorrevolutionären Spanien oder in Mexiko (1910-1920), nicht aber mehr in Deutschland nach dem 1. Weltkrieg.

Vergleichen wir die nationalen Rätebewegungen miteinander so fällt zuerst auf, dass in Deutschland wie in Russland relativ früh der Wunsch nach einer nationalen Repräsentation entsteht und sich nationale Rätekongresse konstituieren (zwei in Deutschland, fünf in Russland bis zum Juli 1918, vier in Österreich). Selbst in Ungarn 56 wird versucht, einen solchen unter der Aufsicht der russischen Panzer zu organisieren. Hieran wird das Bestreben der arbeitenden Klasse deutlich, sich als Einheit zu bestimmen, wobei es irrelevant ist, ob einige Organisatoren, diese Veranstaltungen hintertreiben oder missbrauchen wollen. Dass sie zustande kommen können, zeugt von diesem Bestreben. Bemerkenswert ist, dass dergleichen auf der iberischen Halbinsel fehlt. Zur Konstitution eines nationalen Kongresses der Komitees ist es im republikanischen Spanien nicht gekommen. Ebensowenig in Portugal. Wenngleich wir in vielen Betrieben Räte finden, kommt es nicht zu einer nationalen Verständigung. Wir dürfen aber nicht übersehen, dass in Portugal der Staatsapparat zu keiner Zeit vollständig von der Bildfläche verschwand, es daher auch nicht zur Ausbildung einer klassischen politischen Rätebewegung kam.

Aber in einer anderen Hinsicht gleicht Portugal den revolutionären Bewegungen nach dem 1. Weltkrieg. Im April 1974 putschen die linksgerichteten Offiziere gegen die Diktatur Salazars und bereiten eine allgemeine politische Öffnung vor. Im Frühsommer 1974 bereits nahm eine breite soziale Bewegung ihren Anfang, in deren Verlauf viele Unternehmer mittlerer und kleiner Firmen ihre Betriebe aufgeben, so dass sich die Belegschaften, nicht unähnlich gegenüber Russland des Sommers und Herbst 1917, gezwungen sehen, die Betriebe in eigener Regie weiterzuführen. Vielfach wurde hier den Belegschaften fälschlicherweise ein sozialistisches Ziel unterstellt, während sie in Wirklichkeit allein darum besorgt waren, ihre Arbeitsplätze zu erhalten, da es ja kein soziales System gab, welches die Betroffenen hätte auffangen können. Das mutige Vertreten der eigenen Lebensinteressen ist darum aber nicht minder revolutionär. Interessant finde ich in diesem Zusammenhang den Sachverhalt, dass der sozialen Bewegung, welche sogar in eine Revolution münden kann, eine politische Revolution vorausgeht. Zuerst der Putsch, dann die Kämpfe der Arbeiterinnen und Arbeiter in Portugal; Rücktritt des Zaren, dann die Arbeitskämpfe um 8-Std-Tag, Anerkennung der Komitees usw. in Russland; Rücktritt des Kaisers, dann die Kämpfe um Lohnerhöhung, 8-Std.-Tag, etc. in Deutschland. Auch in Spanien finden sich die Niederwerfung des Aufstands und die Konstitution der Milizen und Komitees vor Entstehung und Ausbreitung der Kollektivierungsbewegung. Bereits hier wird die Fehlerhaftigkeit anarchistischer Theorien offenbar, welche politische Enthaltsamkeit predigen, außer manoderfrau wolle behaupten, der bewaffnete Kampf, seine Organisierung sowie die Beseitigung von Polizei- und Militärapparat habe nichts mit Politik zu tun.

Überhaupt entsteht hier eine Reihe theoretischer Fragen bezüglich der sogenannten Eroberung der politischen Macht: Hat das Proletariat sich an die Spitze des Staatsapparates zu stellen, um dann diesen zu zerschlagen, oder zerschlägt es diesen, indem es seine eigene Regierungsmaschine (Rätesystem) etabliert? Die "Eroberung der politischen Macht" scheint auf letzteres hinzuzielen, weniger auf eine revolutionäre Führung, die sich an die Stelle der bisherigen Regierung setzt, als vielmehr den bestehende Staatsapparat durch eine Vielzahl territorialer revolutionärer Organe zu ersetzen, die sich nichtsdestotrotz auf gesamtstaatlicher Ebene zusammenschließen. Drei Formen lassen sich beobachten, was ebenfalls die Weitsichtigkeit Marxens unterstreicht, der im "Bürgerkrieg" in dieser Frage Raum für unterschiedliche Interpretationen gelassen hat.

1. Die Hierarchie der Staatsgewalt wurde durchschnitten, aber auf örtlicher Ebene blieb die alte Verwaltung in Grundzügen bestehen, wurde aber den lokalen Arbeitsorganen untergeordnet. In gewisser Hinsicht entsprechend der englischen und amerikanischen Lokalverwaltung, wie Marx und Engels sie sahen, wenngleich ohne darüber errichteter Staatsgewalt. Hier ist auch offenbar, dass die wesentlichen Staatsfunktionen bestehenbleiben und vorerst noch getrennt (entfremdet) sind gegenüber der Gesellschaft, wenngleich ihr nicht mehr übergeordnet. Darum erscheint es mir konsequent, hier noch von einem politischen System (Staat?) zu sprechen. Vorteil dieser Vorgehensweise der Revolution: die niedere Angestelltenschaft wird nicht vor die Tür gestellt, so dass sie ihr Wissen in den Dienst des Sozialismus stellen kann. Nachteil: die alten Vorurteile und Prozeduren in den Ämtern bleiben bestehen und werden sich grundlegenden Änderungen nur widerstrebend anpassen. Deutschland gibt ein sehr schönes Beispiel für diese Vorgehensweise, selbst nach den einschlägigen Erfahrungen 1919 griffen die Zentralräte des aufständischen Ruhrgebiets 1920 nur ausnahmsweise in die konkreten Verwaltungsabläufe ein.

2. Die alten Gewalten verweigerten die Zusammenarbeit bzw. sabotierten und zwangen die Räte selbst in die konkrete Staatsverwaltung einzugreifen bzw. deren Aufgaben zu übernehmen und auszuführen, m. a. Worten, einen eigenen Verwaltungsapparat aufzubauen. Dies ist die Konsequenz von dem, was Marx schrieb, die Kommune sollte sowohl eine arbeitende als auch gesetzgebende Körperschaft sein. Spanien hat hierfür einige Beispiele hervorgebracht.

3. Die meisten Revolutionen haben eine Vielzahl von Mischformen hervorgebracht, worin die alte Kommunalverfassung teilweise erhalten blieb, den Räten zwar untergeordnet, diese sich aber nur teilweise unmittelbar an der kommunalen Arbeit beteiligten.

Allen diesen Formen ist natürlich gemein, dass sie von der erstarkenden Konterrevolution baldigst zurückgedrängt und schließlich beseitigt, bzw. vollständig entmachtet wurden.

Es will sich mir die Vorstellung aufdrängen, dass wir unter "Eroberung der politischen Macht" die Macht des Proletariats in den Gebietskörperschaften verstehen sollten, die im deutschen Sprachraum mit Gemeinden gefasst sind, worauf dann ein nach unten hin unmittelbar verantwortliches politisches Gebäude errichtet wird. Das mag dann "sozialistischer Staat" genannt werden oder auch nicht, das hierarchische Prinzip jedenfalls, dass eine Minderheit ihren Willen mittels eines Apparat der Mehrheit aufzwingen kann, ist hierin erledigt. Der Gesamtwille sollte durch die Konstitution von der Basis her kontrollierter Kongresse bestimmt werden. Hier finden die verschiedenen Rätemodelle ihren Platz, ob aus Deutschland oder in Zusammenhang mit der russischen Verfassung von 1918. Solche theoretischen Spekulationen haben ihre Berechtigung, weil die Geschichte bisher zu wenig Zeit hatte, Beispiele hervorzubringen, worin diese Organisation mit den demokratischen Prämissen in Kongruenz gebracht werden konnte. Aber sie sollten nicht als allein seligmachende Modelle missverstanden werden, die nur der Wirklichkeit aufgestülpt werden müssen. Alle historischen Rätekongresse und ihre ausführenden Organe weisen gravierende Mängel bezüglich ihrer demokratischen Legitimation auf. Doch wer wollte mit heutigen Maßstäben die Wahlen früherer Republiken messen?

Dass Spanien keine Bestrebung zu einer nationalen Koordination der Selbstverwaltungsorgane hervorgebracht hat, ist kein Argument gegen meine Überlegung, denn für die einzelnen Regionen sind die entsprechenden Komitees und Tendenzen zur Zusammenfassung sehr wohl nachweisbar.

Auch hier sollte der demokratische Prozess als Prozess begriffen werden, nicht anders wie in der Genese des bürgerlichen Parlamentarismus. An seinen historischen Ursprüngen war die Wählerschaft auf eine geringe Anzahl Personen beschränkt, Personen, die befähigt waren, mindestens eine bestimmte Summe an Steuer zu entrichten. Bis zur Durchsetzung des allgemeinen Stimmrechts im 20. Jahrhundert war die Souveränität des Volkes sozusagen die Souveränität des Reichtums und des Eigentums. Also mögen wir den proletarischen Revolutionen die erforderliche Zeit gewähren, auch ihre demokratischen Potentiale zu entfalten.

So sehr sich die Begriffe für die proletarischen Selbstorganisationen im Einzelnen unterscheiden mögen, so ähnlich werden sie in ihrer Funktion. Und es springt noch etwas anderes ins Auge, das Marx bereits kühn geahnt hat: die Ungeheuerlichkeit des Unternehmens, die Herstellung allgemeiner Selbstregierung oder anders formuliert, die Verwirklichung authentischer Demokratie. Es ist dies identisch, was die klassische Arbeiterbewegung unter Selbstemanzipation verstanden hat, wobei hier Frauen nur bedingt eingeschlossen waren. Und gerade dies bereitet ein logisches Problem. Die numerische Mehrheit in der Gesellschaft produziert die Lebensmittel, allerdings gilt dies nur, wenn die Arbeit der Frauen mit eingerechnet ist. Erst dann wird Herrschaft unmöglich, wenn die Mehrheit herrscht, also all diejenigen die im Produktionsprozess stehen. Aber wie kann die Mehrheit herrschen anders als in unmittelbarer Selbstverwaltung, d.h. in einer Form worin Herrschaft weniger ausgeschlossen ist? Historisch zeigt sich dies im Kampf zwischen kollektiver Selbstbestimmung und Staatsgewalt. Selbstbestimmung und Staatsgewalt sind Gegensätze, wobei der Wille zu kollektiver Selbstbestimmung sozialen Ursprungs ist, das heißt mit den Klassenkämpfen entsteht und sich erst allmählich Gewalt verschafft. Und dieser Wille entsteht nicht über Nacht, zumal er auf den ersten Blick gar nicht notwendig erscheint. Wir finden nämlich bei den Räteveranstaltungen der ersten Stunde nur selten Wahlverfahren, die unseren heutigen Demokratievorstellungen entsprechen. Meist sind es die Organisationen der Arbeitenden (Parteien und Gewerkschaften), welche über die Besetzung dieser Räte entscheiden, nicht selten, um der revolutionären Bewegung die Spitze zu brechen, so geschehen in vielen Städten Deutschlands 1918, in Petrograd im Februar 1917, um die bekannten Beispiele zu nennen. In dieser Phase genießen diese selbsternannten Führer meist das Vertrauen des großen Teils der Arbeitenden und es bedarf einer gewissen Zeit bis der Irrtum zum allgemeinen Bewusstsein gelangt. Lassen es die sozialen Verhältnisse zu, so drängen die Arbeitenden auf eine Neubesetzung ihrer Vertretungen, und fordern demokratische(re) Wahlen zu den Räten. Aber auch hier zeigt sich nicht selten, dass selbst die aus den eigenen Reihen gewählten Vertreter, (weniger die Vertreterinnen) nicht immer den an sie gestellten Ansprüchen entsprechen. Jetzt werden Formen und Strukturen gesucht, wie die Gewählten einer möglichst effektiven Kontrolle der Wahlkörper zu unterwerfen sind, wie z.B. die jederzeitige Abwählbarkeit. Leider gestattet der knappe Raum hier nicht, diese drei Phasen an historischen Beispielen zu illustrieren. Dass es sich hier um keinen geradlinigen Prozess handeln kann, dass Fehler gemacht werden, gemacht werden müssen und dass experimentiert wird, sollte eigentlich keiner weiteren Ausführung bedürfen. Insgesamt würde ich diesen mühevollen Prozess gerne "Eroberung der Demokratie" nennen.

Nun gibt es manche intellektuelle Einwendungen, die sagen, die Gesellschaft bestehe nicht nur aus weiblichen und männlichen Lohnarbeitern, Handwerkern, Rentnern, Freiberuflern usw. Zugegeben, aber die Revolutionen brachten auch deren Vertretungen hervor, um beispielsweise die verschiedenenorts entstandenen Wohnviertelkomitees zu nennen, welche versuchten, die unmittelbare Wohnungsnot zu lindern. Wenn alle Menschen eingeschlossen sind, die gezwungen sind zu arbeiten, weil sie nicht von fremder Arbeit leben, dann ist dies zweifellos die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung. Und wenn wir uns einen Vergleich mit dem heutigen Kreis der Wahlberechtigten vergleichen, so ist erstere die größere, denn sie nimmt keine Rücksicht auf nationale Vorurteile, kann keine Rücksicht nehmen, ohne ihre Prinzipien zu verlassen. In den Staaten Europas und den USA sind im Schnitt 10% und mehr der Bevölkerung von den entscheidenden Wahlen ausgeschlossen, weil dieser Teil nicht die erforderliche Staatsbürgerschaft besitzt.

Nun sollte aber die politische Konstruktion dieses skizzierten Rätewesens als solches nicht überbewertet werden. Ein politisches Rätesystem, das neben einem bürgerlichen Staatsapparat wirkt, getragen von einer sozialen Bewegung der Arbeitenden, welche für die Verkürzung des Arbeitstages, Lohnerhöhungen und gewisse Mitsprache kämpft, ist von seinem Inhalt her nicht per se auf die Überwindung des kapitalistischen Systems hin angelegt. Allerdings missversteht dies die Gegenseite, die Bourgeoisie fast regelmäßig. Sie reagiert auf der Grundlage ihres beschränkten Profitinteresses und stellt die Lebensgrundlagen der Produzenten prinzipiell in Frage, beispielsweise durch Betriebsstillegungen (so geschehen in Russland, Spanien und Portugal und mutatis mutandis in Ungarn 1956). Erst jetzt ist die Klasse der Arbeitenden gezwungen über die bisherigen Grenzen hinauszugehen und die Betriebe zu besetzen und in eigene Regie weiterzuführen. Aber auch dies gehört noch in das Arsenal des klassischen Klassenkampfes. Die Übernahme der Betriebe und die Fortführung der Produktion auf Rechnung der Belegschaften sind noch keine Schritte jenseits des Kapitalismus. Erst wenn diese "Sozialisierungen" epidemisch werden, setzen sich die Grundlagen für die Etablierung neuer gesellschaftlicher Verhältnisse. Dieser Schritt, der ungemein schwierigste, impliziert die Konstituierung der Arbeiterschaft als Klasse. (Ginge eine solche Konstituierung der Revolution voraus, so wäre die Hälfte der Miete bereits eingebracht.) Es ist offenbar, dass diese Konstituierung nur die politische Einheit der Arbeitenden meinen kann, was verschiedene Arbeiterparteien nicht ausschließt, wohl aber ihren antagonistischen Kampf um die Führung und jegliches sektiererisches Vorgehen. Diese Tendenz, die Einheit der arbeitenden Klasse herzustellen - ich würde hier gerne in Anlehnung an E. P. Thompson von der Konstituierung der arbeitenden Klasse sprechen - lässt sich sowohl für Russland (Herbst 1917), für Spanien, für Deutschland nur teilweise (Ruhrgebiet 1920) und ganz besonders für Ungarn 1956 darstellen.

Doch welche Beziehung besteht zwischen diesem politischen Rätesystem und der ökonomischen Befreiung der Arbeiterinnenklasse? Mit der Revolution im Herbst 1956 hatte Ungarn praktisch bewiesen, dass die Eroberungen der Roten Armee keinen Sozialismus verwirklicht hatten. Als die Versammlung der Arbeiterinnen und Arbeiter Ende Oktober 1956 quasi in Vertretung der gesamtungarischen Arbeiterschaft erklärte "die Fabriken gehören den Arbeitern" machte sie offenbar, dass das verstaatlichte Eigentum kein Eigentum in den Händen des werktätigen Volkes ist und zeigte den Weg auf, den die sozialistische Umgestaltung zu gehen habe. Den Betriebsübernahmen während der russischen Revolution fehlte noch dieses bewusste und souveräne Auftreten. Nur selten erwägten die Belegschaften, sich das Betriebseigentum anzueignen, bestenfalls dann, wenn die Eigentümer ihre Betriebe vorsätzlich in den Konkurs trieben, was allerdings im Verlauf des verschärften Klassenkampfes geschah, wie im Frühsommer 1917 als viele Unternehmer damit die revolutionären Errungenschaften der Arbeiterschaft zu hintertreiben suchten. Dies zwang die Belegschaften unter der Leitung ihrer Komitees die Betriebe unter eigener Leitung weiterzuführen. Mit der Anspannung der Klassenauseinandersetzung im Herbst 1917 begannen diese Betriebsübernahmen epidemisch zu werden. Es liegt auf der Hand, dass mit diesem Augenblick, wenn ein Großteil der Produktion in die unmittelbare Gewalt der Produzenten fällt, eine neue Situation entsteht.

Betriebsübernahmen lassen sich in allen Revolutionen beobachten, so in Portugal 1974/75, aber auch in Deutschland 1919, wenngleich weit entfernt vom Umfange in Russland oder Spanien 1936. Bereits im Vorfeld waren sich die meisten Belegschaften und ihre Komitees bewusst, dass mit dieser kollektiven Aneignung die wirtschaftlichen Probleme nicht zu lösen sind, wenn es nicht gelänge, mit anderen Unternehmen, Zulieferindustrien, den Eisenbahnen usw. zusammenarbeiten. Hier aber zeigten sich die Widrigkeiten in Rußland als schier unüberwindlich, allen voran die restriktive Geldpolitik der jungen Zentralregierung. Ganz ähnlich verhielten sich die Regierungen in Spanien, bzw. Katalonien, trotz oder vielleicht weil sich die Anarchisten an der Regierung beteiligten. In der Frage, wie mit den Banken zu verfahren sei, liegt ein großes Problem, denn der Nationalkredit ist ein ungeheures Machtmittel. Wie kann er demokratisiert werden? Möglicherweise dachten die Komitees zu Anfang, dass die neue Zentralgewalt, die ja aus Personen, Parteien und Organisationen ihres Vertrauens bestand, die Geldmittel in ihrem Interesse verwalten würde und den Nationalkredit zu einem Hebel der Revolution zu machen. Anstelle dessen erfuhren sie rasch, wie die neuen Machthaber dieses Mittel gegen ihre Initiativen, die unmittelbaren Probleme anzugehen, verwendete. Dadurch waren die Betriebsräte gezwungen, auf die Ressourcen ihrer eigenen Betriebe zurückzugreifen, was ihnen den Vorwurf des Betriebsegoismus einbrachte. Manche nannten das "Arbeiterkapitalismus" oder "Produzentenkapitalismus", was theoretischer Unsinn ist. Hat Marx doch unmissverständlich klargemacht, dass die kapitalistische Produktion auf der Lohnarbeit ruhe und mit ihr schwinde.[4] Es ist einer Ökonomie, die auf genossenschaftlicher Arbeit ruht, vieles vorwerfen, nur Eines nicht, dass sie im Marxschen Sinne kapitalistisch ist. Die Identifizierung von Warenproduktion mit Kapitalismus, aus der die Notwendigkeit eines rigorosen politischen Zentralismus abgeleitet wird, die Ökonomie zu regeln - was etwas völlig anderes ist, als die Bedingungen zu schaffen, damit sich die Arbeitenden frei assoziieren können - und diese Maßregeln für Sozialismus auszugeben, dies ist ein besonders gepflegter und verbreiteter Mythos des Bolschewismus. Für den bürgerlichen Soziologen Max Weber allerdings ergibt die Gleichsetzung von Warenproduktion und Kapitalismus Sinn, weswegen er auch von einem "römischen Kapitalismus" spricht, eine Formulierung, die wir bei Marx vergebens suchen.[5] Selbstverständlich kann genossenschaftliche Produktion selbst auf gesamtgesellschaftlicher Stufenleiter erst der Anfang sein, worin sich die "frei assoziierte Arbeit" entfaltet und nicht ihr Ende, wie die jugoslawischen Ideologen glauben ließen.

Um die historischen Tendenzen noch einmal zu überblicken: In der Revolution schaffen sich die Arbeitenden politische Organe, welche darauf zielen, den Machtapparat des bürgerlichen Staates zu beseitigen. In diesem Prozess entwickeln sie demokratische Methoden und Verfahren, sich zuerst fremder, dann eigener Vertreter und Vertreterinnen zu versichern, u.a. dadurch, dass diese ständig dem Willen ihrer Wahlkörper unterworfen sind. Die Etablierung eines solchen "politischen Rätesystems" erst ermöglicht es der Klasse der Arbeiterinnen und Arbeiter, sich ihrer Interessen bewusst zu werden und diese an die Oberfläche der Gesellschaft zu tragen. In der Logik des sich abzeichnenden Klassenkampfes scheint die Tendenz zu liegen, daß die Arbeitenden beginnen, sich der Produktionsstätten zu bemächtigen und die gesellschaftliche Produktion in eigener Regie zu organisieren. Mit der Etablierung allgemeiner genossenschaftlich organisierter Arbeit wird die Lohnarbeit verschwinden und mit ihr die materielle Grundlage von Herrschaft und Ausbeutung. Selbstredend ist diese Entwicklung nicht frei von Konflikten und Fehlern und möglicherweise wird die Zukunft auch Formen gemeinschaftlicher Produktion hervorbringen, die wir uns heute nicht vorstellen können.

Inzwischen aber haben wir den festen Boden verlassen und uns kurz in das Gebiet der "Utopie" gewagt, Utopie hier verstanden als das noch nicht Wirkliche wohl aber Mögliche. Die russischen Arbeiterinnen und Arbeiter sind gescheitert an der Aufgabe die russischen Kriegsindustrie auf eine demokratisch organisierte Produktion umzustellen, die sich an den Bedürfnissen der vorwiegend bäuerlich-kommunalen Wirtschaft der russischen Landgemeinde orientiert. Die Revolutionierung der Produktionsverhältnisse, welche auf die Aufhebung der Lohnarbeit zielt, wird auch eine Revolution der Produktionsweise verlangen, so in der Arbeitsteilung. Im Zusammenhang mit dieser gesellschaftlichen Arbeitsteilung sehe ich die Marxsche Äußerung zu interpretieren, dass die soziale Revolution eine bestimmte Höhe der kapitalistischen Produktion zur Voraussetzung hat.

Sehen wir beispielsweise auf die Energiediskussion, so wird sich die Frage erheben, will die sozialistische Gesellschaft Strom aus der prinzipiell technisch nicht beherrschbaren Atomenergie produzieren, d.h eine Technologie verwenden, die auch demokratisch nicht kontrollierbar ist oder wird sie auf dezentrale Anlagen setzen, welche sich keiner demokratischen Kontrolle entziehen? Der Revolutionierung der Produktionsbeziehungen wird eine Revolution unseres Alltags und unserer Vorstellungen folgen müssen; die Befreiung aus der physischen Sklaverei wird mit einer Befreiung aus der geistigen einhergehen. Die Menschheit wird sich dann nicht weiter irgendwelchen "ExpertInnen", WissenschaftlerInnen, TechnikerInnen, MedizinerInnen, HistorikerInnen usw. ausliefern lassen. Unsere Gefühle und Empfindungen werden nicht mehr als Störungen unseres Arbeitsvermögens wahrgenommen, sondern als Bedingungen unseres Daseins. Möglicherweise wird sich ein Wissenschaftsverständnis entwickeln, das sich gegenüber unserem heutigen so abhebt, wie dieses vom Aberglauben des Mittelalters.


Anmerkungen

[1] Mandel, Ernest: Arbeiterkontrolle, Arbeiterräte, Arbeiterselbstverwaltung. Eine Anthologie. FFM, EVA 1971. Azzellini, Dario; Ness, Immanuel [Hrsg.]: "Die endlich entdeckte politische Form". Fabrikräte und Selbstverwaltung von der Russischen Revolution bis heute. Köln, Neue ISP Verlag 2012. Bertrand, Charles L.: Revolutionary Situations in Europe, 1917-1922: Germany, Italy, Austria - Hungary. (Quebec) 1977.

[2] Eine kleine Erläuterung zu Konventionen von männlicher und weiblicher Schreibweise bei "Arbeiterrat". Soweit es sich um historische Begriffe handelt oder meines Wissens um eine vorwiegend männliche Geschichte, habe ich die männliche Form belassen. Häufig kann ich das aber gar nicht wirkliche beurteilen. Es wäre in der Tat eine verdienstvolle Aufgabe, die Rolle von Frauen für die Herausbildung von proletarischen Selbstverwaltungsstrukturen zu untersuchen.

[3] Dies ist natürlich eine einseitige Bestimmung. Andere Charakteristika, wie die Form des politischen Kampfes oder der Organisationszusammenhang bleiben hier unberücksichtigt.

[4] "Die 'Arbeit' ist die lebendige Grundlage des Privateigentums, das Privateigentum als die schöpferische Quelle seiner selbst. Das Privateigentum ist nichts als die vergegenständlichte Arbeit. Nicht allein das Privateigentum als sachlichen Zustand, das Privateigentum als Tätigkeit, als Arbeit, muß man angreifen, wenn man ihm den Todesstoß versetzen will. Es ist eines der größten Mißverständnisse, von freier, menschlicher, gesellschaftlicher Arbeit, von Arbeit ohne Privateigentum zu sprechen. Die "Arbeit" ist ihrem Wesen nach die unfreie, unmenschliche, ungesellschaftliche, vom Privateigentum bedingte und das Privateigentum schaffende Tätigkeit. Die Aufhebung des Privateigentums wird also erst zu einer Wirklichkeit, wenn sie als Aufhebung der "Arbeit" gefaßt wird, ..." Marx, Karl; Friedrich, Engels: Kritik der bürgerlichen Ökonomie. Neues Manuskript von Marx und Rede von Engels über F. List. Archiv-Drucke 1. Westberlin, VSA 1972, 25.

[5] "Dies Resultat wird unvermeidlich, sobald die Arbeitskraft durch den Arbeiter selbst als Ware frei verkauft wird. Aber auch erst von da an verallgemeinert sich die Warenproduktion und wird sie typische Produktionsform; erst von da an wird jedes Produkt von vornherein für den Verkauf produziert und geht aller produzierte Reichtum durch die Zirkulation hindurch. Erst da, wo die Lohnarbeit ihre Basis, zwingt die Warenproduktion sich der gesamten Gesellschaft auf; ... Im selbst Maß wie sie nach ihren eignen immanenten Gesetzen sich zur kapitalistischen Produktion fortbildet, in demselben Maß schlagen die Eigentumsgesetze der Warenproduktion um in Gesetze der kapitalistischen Aneignung." Marx, Karl: Das Kapital I, MEW 23, 613.


Auswahlliteratur:

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Ewgeniy Kasakow:

Verklärt & Vergessen: Die Räte und ihre Macht

Die linken Auseinandersetzungen mit der Demokratie, sind meist geprägt von Vorstellungen, es muss ja eine "echte", "wirkliche" Demokratie geben. Bei der Suche danach kommt die Rede immer wieder auf die Idee einer "Arbeiterdemokratie" - und damit auf die historische Erfahrung der Räte. Seit im Frühling 1905 die streikenden russischen ArbeiterInnen zum ersten Mal die sog. "Sowety" (Räte) zum Zweck der Streikkoordination bildeten, ranken sich bei der Linken zahlreiche Mythen um die Geschichte und das Potential dieser Institutionen. Im Folgenden sei nur zu den am häufigsten auftauchenden Themen der linken Diskussionen über die Räte kurz etwas gesagt.

Räte als Regierungsform?

Die Räte der Ersten russischen Revolution (1905-1907) waren zunächst einmal Streikkomitees, aber im Verlauf der Streiks haben sie die Verwaltung der (oft riesigen) Streikgebiete übernommen. Dass Räte ein Modell zum Regieren nach der Revolution werden sollten, wurde erst später von TheoretikerInnen wie Trotzki und Luxemburg postuliert. Von den damaligen russischen Linken haben zuerst Menschewiki (gemäßigte SozialdemokratInnen) und Teile der SozialrevolutionärInnen (sog. MaximalistInnen) die Idee der/einer "Rätemacht" übernommen, Lenin und die Bolschewiken schlossen sich dem erst später an. Lenin schrieb jedoch kurz vor Oktober 1917 sein Werk "Staat und Revolution", in dem er die Rolle der Räte als Organe der Staatsmacht nach der Revolution beschreibt. Auch wenn Lenin später einige Aussagen aus diesem Buch revidierte - es blieb eine wichtige Quelle der linken Kritik an der real existierenden Sowjetmacht unter der Kontrolle der bolschewistischen Partei.

Authentische Proletarier versus Parteiintellektuelle?

Gerade die von RätekommunistInnen gepflegte Gegenüberstellung von Räten und Parteien lässt sich bei den russischen Räten so nicht finden. Räteorgane wurden zwar von streikenden ArbeiterInnen gewählt, aber sehr schnell wurden VertreterInnen von sozialistischen Parteien in Exekutivkomitees kooptiert. Um zu wählen, musste man zwar "Werktätiger" sein, aber gewählt werden durfte jeder, dem die Wählerschaft das Vertrauen ausgesprochen hatte. Zwar war ein gewählter Bolschewik oder Sozialrevolutionär offiziell Delegierter des Betriebes, wo er gewählt wurde, aber selbstverständlich waren seine Handlungen auch mit den Organen seiner Partei abgestimmt. Das Exekutivkomitee etwa des Petrograder Rates nach der Februarrevolution, faktisch des wichtigsten Räteorgans des Landes, bestand vor allem aus PolitikerInnen diverser linker Parteien, von denen die wenigsten proletarischen Hintergrund hatten.

Räte - Gegenentwurf zum Parlamentarismus?

Die Gegenüberstellung von Räten und Parlamenten lässt sich vor allem in den Schriften von bolschewistischen, rätekommunistischen, aber auch konservativen Autoren finden. Weder in Russland 1917, noch in Deutschland nach dem November 1918 waren Räte per se gegen Parlamentarismus. Die sog. Doppelherrschaft der Räte und der Provisorischen Regierung zwischen Februar und Oktober/November 1917 in Russland war in Wirklichkeit vor allem ein Petrograder Phänomen. In der Provinz arbeiteten Räte und Organe der provisorischen Regierung oft zusammen. Die Forderung nach der Wahl (wohl bemerkt nach dem allgemeinen Wahlrecht - also ohne Ausschluss der "besitzenden Klassen") der Konstituierenden Versammlung (eines "Vorparlaments", welches über die zukünftige Staatsform entscheiden sollte) wurde von den Räten und zwischendurch auch von den Bolschewiki unterstützt. An die Macht gekommen betonten die Bolschewiki aber den Gegensatz von Räten und Parlamentarismus. Wer nach "allgemeinen Wahlen" oder Konstituierender Versammlung (die zwar gewählt, aber 1918 gleich nach dem ersten Tag wieder aufgelöst wurde) verlangte, wurde ungeachtet der sozialistischen Partei- oder der proletarischen Klassenangehörigkeit als "Feind der Sowjetmacht" aus den Räten ausgeschlossen. In Deutschland konnte sich die radikale Fraktion in den Räten nicht durchsetzen - die Mehrheit stimmte für die Wahl zur Nationalversammlung und lehnte die Räte als Grundlage der neuen Staatsform ab. Es waren vielfach Vorstellungen vertreten, die Räte als Ergänzung und nicht als Negation des Parlamentarismus sahen.

Räte = direkte Demokratie?

Wenn die liberale Philosophin Hannah Arendt bei aller Verurteilung des Kommunismus die Räte lobte, hatte sie vor allem die Parallelen zur griechischen Polis und frühamerikanischen Vorstellungen von "Urrepubliken" vor Augen. Das bedeutet die Idee von der Demokratie der "kleinen Räume", wo die Entscheidungen auf überschaubaren Vollversammlungen getroffen werden. Auch heute sind solche Vorstellungen von Rätepraxis verbreitet.[1] Mal davon abgesehen, dass es eine fragwürdige Vorstellung ist, dass sich Entscheidungen nur mit einer begrenzten Zahl von Menschen treffen lassen, hat es mit den historischen Räten herzlich wenig zu tun. Die Räte in Russland wurden mehrstufig gewählt, auch die obersten Gremien und Organe wurden nicht direkt gewählt. Das Allrussische Zentrale Exekutivkomitee wurde vom Allrussischen Rätekongress gewählt - nicht viel anderes, als wenn die Regierung vom Parlament gewählt wird, aber mit Unterschied, dass das "Bundesparlament" nicht von WählerInnen, sondern von den Abgeordneten der "Landesparlamente" gewählt wird. Zwar waren die obersten Organe nach unten rechenschaftspflichtig, aber deren Beschlüsse waren bindend für alle unteren Organe. Außerdem waren russlandweite Strukturen der Arbeiter- und Soldatenräte von denen der Bauernräte getrennt. Der 2. Allrussische Rätekongress 1917, welcher die Oktoberrevolution quasi legitimierte, vertrat nicht die BäuerInnen, die aber die Bevölkerungsmehrheit bildeten. Der Allrussische Kongress der Bauerndelegierten verlief getrennt - und spaltete sich rasch in AnhängerInnen und GegnerInnen der neuen Machthaber, wobei die Bolschewiki den linken Flügel als einzig legitimen ansahen.

Räte als genuin proletarische Organisationsform?

Da viele Bevölkerungsgruppen von Arbeiter-, Bauern- und Soldatenräten nicht repräsentiert wurden, kam es in Russland zu ad-hoc-Gründungen von Angestelltenräten, Studentenräten, Offiziersräten. Manchmal wurden Soldaten- und Offiziersräte gegründet, welche von den rein soldatischen Räten nicht als legitim angesehen wurden. Es gibt auch Berichte über Versuche, "Räte der Adelsdelegierten" oder "Rat der Pastorendelegierten" (im Baltikum) zu gründen. In Deutschland gab es auch zahlreiche "Bürgerräte". Der Status solcher nichtproletarischer Rätegebilde blieb völlig ungeklärt, da sie von den Arbeiterräten meist nicht anerkannt wurden.

Räte links der Bolschewiki?

Bereits in Frühling 1918 verloren die Bolschewiki massiv an Sympathien unter den BäuerInnen. Die Räte auf dem Land waren oft von wohlhabenden BäuerInnen dominiert. Die Interessen der Bauern, als Privateigentümer ihren neuerhaltenen Boden zu nutzen, kollidierten mit den Beschlüssen der obersten Räteorgane über Lebensmittelrequirierungen. Die Bolschewiki regierten zwar im Namen der Räte und über die obersten Räteorgane, aber auf dem Land versuchten sie den Widerstand der Räte durch die Schaffung neuer Organe, wie z.B. "Komitees der landlosen Bauern", zu brechen. In Frontgebieten konnten "Revolutionäre Komitees" Entscheidungen der lokalen Räte aufheben. Das Kalkül, wenn in einem Gremium nur Arbeiter und Bauern sitzen, werden die Beschlüsse schon für den Sozialismus ausfallen, scheiterte deutlich. Vielfach kamen aus den Räten Forderungen nach der Konstituierenden Versammlung, Freihandel mit Brot, Einstellung der antireligiösen Aktivitäten, nicht selten waren nationalistische und antisemitische Forderungen. Ohne Zweifel haben die Bolschewiki im Laufe des Bürgerkrieges die Räte der Partei untergeordnet, aber es gibt keinen Grund anzunehmen, Räte hätten per se für ein wie auch immer geartetes linkeres Sozialismusmodell gestanden. "Für Räte ohne Kommunisten" bzw. "Räte ohne Parteien" waren Slogans, auf die sich sehr unterschiedliche politische Kräfte beziehen konnten.

Räte genuin links?

Auch außerhalb von Russland waren Räte keineswegs nur von linken Kräften die favorisierte Regierungsform. Der Chef der norwegischen Faschisten Vidkun Quisling war seit seiner Reise nach Sowjetrussland ebenfalls Anhänger von "Räten ohne Kommunisten", während die exilrussische Jugendbewegung der "Maldorossy" für eine Verbindung von Räten und Monarchie plädierte. Gründe für eine solche Begeisterung für die Räte waren vor allem Ablehnung von Parlamentarismus und Parteien als Faktoren, die die Nation spalten.

Bestimmt die Form den Inhalt?

Abschließend lässt sich sagen, dass allein die Entscheidungsform nicht die Entscheidungen vorwegnimmt. Auch brechen die Räte nicht mit dem Mehrheitsprinzip - das demokratische Entscheidungsprozedere bedeutet Herrschaft der (wahlberechtigten) Mehrheit über die bei der Abstimmung unterlegene. Ausschlaggebend ist sowohl bei Räten als auch bei Parlamenten die Kräftezusammensetzung bei der Abstimmung. Die linke Suche nach einer "echten Demokratie", die immer wieder auf die Räte Bezug nimmt, verläuft sich in einem Dilemma - einerseits propagiert man eine bestimmte Entscheidungsform, will damit aber auf eine bestimmte inhaltliche Entscheidung hinaus. Wenn die Mehrheit mal wieder nichts von linken Zielen hören will, kommt die Linke auf die Forderung nach mehr Mitgestaltung für die Mehrheit, in der Hoffnung, dass wenn die Leute alles selber entscheiden, würden sie schon auf andere Inhalte kommen.


Anmerkung

[1] Z.B.: "In den verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen werden politische Entscheidungen in überschaubaren Versammlungen der betroffenen Leuten getroffen, in den höchstens 20 Personen umfassenden Räten."
http://www.systempunkte.org/article/zu-raeten-wird-geraten-eine-andere-demokratie-ist-moeglich

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G. M. Tamás

Über Postfaschismus

Wie Staatsbürgerschaft ein exklusives Privileg wird[1]

Ich habe ein Interesse anzumelden. Die Regierung meines Landes, Ungarns, ist - zusammen mit der Bayrischen Landesregierung (ländlich in mehr als einem Sinne) - die stärkste ausländische Unterstützerin von Jörg Haiders Österreich. Das rechtsgerichtete Kabinett in Budapest versucht gerade, neben anderen Missetaten, die parlamentarische Herrschaft zu unterdrücken, indem sie lokale Behörden mit einer anderen politischen Ausrichtung als der eigenen unter Strafandrohung stellt und eifrig eine neue Staatsideologie schafft und durchsetzt, und zwar mit der Hilfe einer Anzahl von Lumpenintellektuellen[2], einige deklarierte Neonazis eingeschlossen. Sie steht in geheimer Verbindung mit einer offen und bösartig antisemitischen, faschistischen Partei, die leider auch im Parlament vertreten ist. Leute, die für das Büro des Premierministers arbeiten, betreiben mehr oder weniger vorsichtig Geschichtsleugnung im Hinblick auf den Holocaust. Das von der Regierung kontrollierte Staatsfernsehen tobt sich mit Krudem gegen Zigeuner gerichtetem Rassismus aus. Die Fans des im Land populärsten Fußballklubs, dessen Präsident ein Minister und Parteiführer ist, singen im Chor über den Zug, der bald nach Auschwitz fährt.

Im Erdgeschoß der Mitteleuropäischen Universität in Budapest kann eine Ausstellung besichtigt werden, die sich mit den Jahren des Umsturzes vor etwa einem Jahrzehnt befasst. Hier gibt es ein Video, 1988 illegal aufgenommen, und da sehen wir den derzeitigen ungarischen Premierminister, wie er mich verteidigt und mit seinem Körper vor den Schlagstöcken der kommunistischen Bereitschaftspolizei schützt. Zehn Jahre später ernannte derselbe Mensch einen kommunistischen Polizeigeneral zum Innenminister, dem zweit- oder drittwichtigsten Mitglied im Kabinett. Politische Auseinandersetzungen zwischen früheren Freunden und Verbündeten sind üblicherweise scharf. Das hier ist keine Ausnahme. Ich bin ein aktiver Parteigänger einer beginnenden antifaschistischen Bewegung in Ungarn, ein Redner bei Aufmärschen und auf Demonstrationen. Ich kann mich also nicht als neutralen Beobachter verstehen.

Das Phänomen, das ich Postfaschismus nennen werde, ist nicht auf Mitteleuropa beschränkt. Ganz im Gegenteil. Sicher sind Deutschland, Österreich und Ungarn dabei wichtig, aus historischen Gründen, die allen verständlich sind. Vertraute Phrasen haben, wenn sie hier wiederholt werden, andere Nachklänge. Kürzlich sah ich, dass die alte Ziegelfabrik im dritten Bezirk von Budapest abgerissen wird; ich höre, dass sie an dieser Stelle eine abgeschlossene Siedlung, eine gated community von Vorstadtvillen errichten werden. Die Ziegelfabrik ist der Ort, an dem die Budapester Juden darauf warteten, in die Konzentrationslager transportiert zu werden. Man könnte genauso gut Ferienhäuser in Treblinka errichten. Unsere Wachsamkeit ist in diesem Teil der Welt möglicherweise mehr gefragt als anderswo, da Unschuld, in historischer Hinsicht, nicht unterstellt werden kann[3].

Dennoch ist Postfaschismus ein Gemenge aus Politik- und Praxisansätzen, aus Gewohnheiten und Ideologien, die zurzeit überall in der Welt beobachtet werden können, die wenig oder gar nichts, mit Ausnahme von Mitteleuropa, mit dem Erbe des Nationalsozialismus zu tun haben, die nicht totalitär sind, die überhaupt nicht revolutionär sind und die sich nicht auf gewalttätige Massenbewegungen und irrationalistische, voluntaristische Philosophien stützen, die auch nicht, nicht einmal spaßhalber, mit Antikapitalismus spielen.


Warum also dieses Gemisch von Phänomenen Faschismus nennen, wenn auch mit dem Vorsatz Post?

Postfaschismus findet leicht seine Nische in der neuen Welt des globalen Kapitalismus, ohne die vorherrschenden politischen Formen der Wahlrechtsdemokratie und der repräsentativen Herrschaft umzustoßen. Er vollführt das, was ich als zentral für alle Schattierungen von Faschismus, einschließlich seiner nachtotalitären Version, halte. Auch ohne Führer, ohne Einparteienherrschaft, ohne SA oder SS verkehrt der Postfaschismus die Absicht der Aufklärung, Staatsbürgerschaft zur Bedingung menschlicher Existenz zu machen.

Vor der Aufklärung war Staatsbürgerschaft ein Privileg, ein ausgezeichneter Status, beschränkt durch Abstammung, Klasse, Rasse, Glaube, Geschlecht, politische Teilnahme, Sitten, Beruf, Protektion und administrative Ermächtigung, von Alter und Bildung ganz zu schweigen. Aktive Teilhabe in der politischen Gemeinschaft war eine Position, die ersehnt wurde, cives romanus sum die Behauptung einer gewissen Nobilität. Die Politik, Staatsbürgerschaft auszuweiten, konnte großzügig oder knauserig sein, aber die Regel lautete, dass der Rang des Staatsbürgers durch gesetzmäßig konstituierte Autoritäten, entsprechend der hergebrachten Sitten, verliehen wurde. Das Christentum wie auch manche Stoiker trachteten, diese Art beschränkter Staatsbürgerschaft zu überwinden, indem sie sie als zweitrangig oder unwesentlich, gemessen an der eigentlichen Gemeinschaft der Erlösten, betrachteten. Freiheit von der Sünde war der Freiheit der Stadt überlegen. Während der langen mittelalterlichen Wertlosigkeit des Zivilen, Bürgerlichen wurde das Verlangen nach aktiver Mitgliedschaft in der politischen Gemeinde von den Erfordernissen gerechter Herrschaft überlagert und Hervorragendes in der Gemeinschaft war verkürzt zu kriegerischer Tugend.

War aber Staatsbürgerschaft erst einmal mit menschlicher Würde gleichgesetzt, war ihre Ausdehnung auf alle Klassen, Berufe, beide Geschlechter, alle Rassen, Bekenntnisse und Orte nur noch eine Frage der Zeit. Allgemeines Wahlrecht, Wehrpflicht und ein staatliches Bildungssystem für alle mussten folgen. Darüber hinaus verlangte die nationale Solidarität, waren erst einmal alle Menschen als fähig betrachtet, den hohen Rang des Staatsbürgers zu erreichen, in dieser neuen egalitären Gemeinschaft die Abschaffung des Standes des Menschen, eine würdige materielle Existenz für alle und die Ausrottung der Reste von persönlicher Knechtschaft. Der Staat, der augenscheinlich alle repräsentierte, war angehalten, nicht nur ein Minimum an Reichtum für die meisten, sondern auch an freier Zeit zu garantieren, was einmal das ausschließliche Gut nur der Herren war, um uns in die Lage zu versetzen, zu spielen und die Errungenschaften der Kultur zu genießen.

Für die liberalen, sozialdemokratischen und andere fortschrittliche Erben der Aufklärung bedeutete dann Fortschritt allgemeine Staatsbürgerschaft - das heißt eine tatsächliche Gleichheit der politischen Bedingung, eine tatsächlich gleiche Stimme für alle in den gemeinsamen Angelegenheiten welcher Gemeinschaft auch immer - zusammen mit einer gesellschaftlichen Verfassung und einer Vorstellung von Vernunft, die dies möglich machen konnte. Für einige schien Sozialismus geradewegs die Fortführung und Erweiterung des Projekts der Aufklärung, für einige, wie Karl Marx, erforderte die Erfüllung dieses Projekts eine Revolution (die mit der Aneignung des Mehrwerts aufräumen und ein Ende der gesellschaftlichen Arbeitsteilung bedeuten sollte). Aber ihnen allen erschien es vollkommen klar, dass die Verschmelzung von menschlichen und politischen Bedingungen schlicht eine moralische Notwendigkeit war[4].

Die wüsten Verurteilungen der bourgeoisen Gesellschaft im 19. Jahrhundert - die gemeinsame Grundlage, zumindest zeitweise, der kulturellen Avantgarde und der politisch Radikalen - entstammten der Überzeugung, dass der Prozess, wie er war, betrügerisch und dass individuelle Freiheit nicht alles war, was sie sein sollte, aber nicht der Sicht, dass das Bemühen wertlos sei, was nur einige Wenige vertraten. Es waren nicht nur Nietzsche und Dostojewski, die fürchteten, dass wachsende Gleichheit alle ober und unter der Mittelschicht in bourgeoise Philister verwandeln würde. Fortschrittliche Revolutionäre wünschten auch einen Neuen Menschen, Mann und Frau, frei von den inneren Dämonen der Repression und Herrschaft: Eine zivile Gemeinschaft, die gleichzeitig die (im Original hervorgehoben) menschliche Gemeinschaft ist, brauchte neue moralische Vorstellungen, gegründet in der Achtung der bis jetzt Ausgeschlossenen.

Dieses Abenteuer endete im Debakel von 1914. Faschismus bot die entschlossenste Antwort auf den Zusammenbruch der Aufklärung an, vor allem des demokratischen Sozialismus und der fortschrittlichen Gesellschaftsreform. Faschismus, im Ganzen betrachtet, war nicht konservativ, auch wenn er konterrevolutionär war: Er stellte nicht wieder den Erbadel oder die Monarchie her, trotz manchen romantisch-reaktionären Geschwätzes. Aber er war im Stande, den wichtigsten regulativen Begriff (oder die Schwelle) der modernen Gesellschaft zunichte zu machen: den der allgemeinen Staatsbürgerschaft. Bis dahin sollten Regierungen jeden und jede vertreten und schützen. Nationale oder staatliche Grenzen bestimmten den Unterschied zwischen Freund und Feind. Fremde konnten Feinde sein, Mitbürger nicht. Ohne Carl Schmitt, dem Rechtstheoretiker des Faschismus und dem politischen Theologen des Dritten Reichs, nahe treten zu wollen, der Souverän konnte einfach nicht (im Original hervorgehoben) durch Beschluss entscheiden, wer Freund und wer Feind sei. Aber Schmitt hatte in einem fundamentalen Punkt recht: Die Idee der allgemeinen Staatsbürgerschaft enthält einen inneren Widerspruch dahingehend, dass die vorherrschende Institution der modernen Gesellschaft, der Nationalstaat, sowohl eine universalistische als auch eine beschränkte (weil territoriale) Institution ist. Liberaler Nationalismus ist, im Gegensatz zu Ethnizismus und Faschismus, beschränkter - wenn man so will - gemildeter Universalismus. Faschismus machte mit diesem Wankelmut Schluss: Der Souverän war der Richter darüber, wer und wer nicht zur bürgerlichen Gemeinschaft gehörte und Staatsbürgerschaft wurde zur Funktion seines (oder ihres) bösartigen Urteils.


Feindschaft zur allgemeinen Staatsbürgerschaft

Diese Feindschaft zur allgemeinen Staatsbürgerschaft ist, so behaupte ich, das Hauptmerkmal von Faschismus. Und die Zurückweisung selbst eines gemäßigten Universalismus ist das, was wir heute wiederholtermaßen unter demokratischen Umständen beobachten (ich sage nicht einmal: in demokratischer Verkleidung). Nachtotalitärer Faschismus blüht unter dem breiten Schutzpanzer des globalen Kapitalismus und wir sollten sagen, wie es ist.

Es liegt eine Logik in der Erklärung der Nazis, dass Kommunisten, Juden, Homosexuelle und Geisteskranke keine Staatsbürger und daher keine Menschen sind. (Der berühmte Ideologe der Eisernen Garde, der gewandte Essayist E. M. Cioran, unterstrich damals, dass, wenn gewisse Personen nicht menschlich seien, aber Menschlichkeit anstrebten [also Juden], diese Widersprüchlichkeit aufgehoben und aufgelöst werden könne durch deren gewaltsamen Tod, vorzugsweise - folgend dem gefeierten und noch immer modischen Schöngeist - von ihrer eigenen Hand.)

Diese Kategorien von Menschen, wie die Nazis sie sahen, repräsentierten Typen, die ausschlaggebend für das aufklärerische Projekt der Inklusion waren. Kommunisten waren der rebellische "niedrigere Typus", die Massen, die führerlos und steuerlos von wurzellosem Universalismus ins Spiel gebracht wurden, Juden eine Gemeinschaft, die das christliche Mittelalter überlebt hatte ohne eigene politische Macht, geführt von einer im Wesentlichen ohne Zwang agierenden Autorität, das Volk des Buches, per definitionem kein Volk des Krieges, Homosexuelle wegen ihrer Weigerung oder ihrem Unwillen, sich fortzupflanzen, zu vererben und zu tradieren, eine lebende Anfechtung der behaupteten Verbindung von Natur und Geschichte, die Geisteskranken jene, die auf Stimmen hörten, die der Rest von uns nicht wahrnimmt - mit anderen Worten Menschen, deren Anerkennung eine moralische Anstrengung erfordert und nicht unmittelbar ("natürlich") gegeben ist, die sich nur einfügen, indem eine Gleichheit der Ungleichen beschlossen wird.

Die gefährliche Unterscheidung zwischen Staatsbürgern und Nichtstaatsbürgern ist natürlich keine faschistische Erfindung. Wie Michael Mann in seiner bahnbrechenden Studie[5] betont, schließt der klassische Ausdruck "wir, das Volk" nicht schwarze Sklaven und "rote Inder" (amerikanische Ersteinwohner) ein und die Definitionen "des Volks" entlang von ethnischen, regionalen, religiösen Merkmalen und solchen der Klasse haben zu Genozid sowohl "da draußen" (in Siedlerkolonien) als auch innerhalb von Nationalstaaten (siehe das Massaker an der armenischen Bevölkerung, begangen von modernisierenden türkischen Nationalisten) unter demokratischen, halb demokratischen oder autoritären (aber keinen "totalitären") Regierungen geführt. Wenn Souveränität auf das Volk übergeht, wird die territoriale und demografische Definition dessen, was und wer das Volk ist, entscheidend. Darüber hinaus ließ der Rückzug der Legitimität von staatssozialistischen (kommunistischen) oder revolutionär-nationalistischen ("Dritte Welt") Regimes mit ihrer nachgeäfft aufklärerischen Definition von Nationalität nur rassische, ethnische und kirchliche (oder religiöse) Grundlagen für einen berechtigten Anspruch oder Titel für "Staatenbildung" (wie in Jugoslawien, der Tschechoslowakei, der ehemaligen Sowjetunion, Äthiopien-Eritrea, Sudan, etc.) zu.

Überall, von Litauen bis Kalifornien, sind also migrantische und sogar autochthone Minderheiten der Feind geworden und müssen sich mit Schmälerung oder Aufhebung ihrer Bürger- und Menschenrechte abfinden. Die Neigung der Europäischen Union, den Nationalstaat zu schwächen und Regionalismus zu stärken (was, bei Ausweitung, die Macht des Zentrums in Brüssel und Straßburg stützen könnte), führt zur Ethnisierung von Konkurrenz und territorialer Ungleichheit (siehe Norditalien gegen den Mezzogiorno, Katalonien gegen Andalusien, der englische Südosten gegen Schottland, flämisches gegen wallonisches Belgien, Bretagne gegen Normandie). Auch der Klassenkonflikt wird ethnisiert und rassifiziert, zwischen der etablierten und gesicherten Arbeiterklasse und niederen Mittelschicht der Metropolen und den neuen Immigranten der Peripherie, auch als Sicherheits- und Kriminalitätsproblem interpretiert[6]. Ungarische und serbische Ethnizisten geben vor, dass die Nation überall ist, wo Personen ungarischer oder serbischer Abstammung ungeachtet ihrer Staatszugehörigkeit zufällig leben, mit der Schlussfolgerung, dass Angehörige ihres Nationalstaats, die ethnisch, rassisch, religiös oder kulturell "fremd" sind, nicht wirklich zur Nation gehören.

Die wachsende Entpolitisierung des Konzepts von Nation (die Verschiebung zu einer kultureller Definition) führt zur Akzeptanz von Diskriminierung als "naturgegeben". Das ist der Diskurs, den die Rechte ganz offen in Parlamenten und auf Straßenkundgebungen in Ost- und Mitteleuropa, in Asien und zunehmend im "Westen" anstimmt. Es kann nicht verleugnet werden, dass Angriffe gegen egalitäre Wohlfahrtssysteme und affirmative Methoden des Handelns einen dunklen rassistischen Unterton haben, der von rassistischer Polizeibrutalität und Bürgerwehren an vielen Orten begleitet wird. Die Verbindung zwischen Staatsbürgerschaft, Gleichheit und Territorium, die einst als logisch und notwendig betrachtet wurde, dürfte in dem verschwinden, was der Soziologe Anthony Giddens eine Gesellschaft verantwortungsbewusster Übernehmer von Risiken nennt.

Der tiefgründigste Versuch, das Phänomen der politischen Ausschließung zu analysieren, ist Georges Batailles "Die psychologische Struktur des Faschismus"[7], das sich auf die Unterscheidung des Autors von Homogenität und Heterogenität stützt. Um es einfach zu sagen, homogene Gesellschaft ist die Gesellschaft von Arbeit, Tausch, Nützlichkeit, sexueller Repression, Fairness, Stille, Fortpflanzung. Was heterogen ist, "umfasst alles, was von unproduktiven Ausgaben herrührt (Heiliges selbst ist ein Teil all dessen). Dies besteht aus allem, was die homogene Gesellschaft als Ausschuss oder als höhere transzendente Werte ablehnt. Das schließt die Abfallprodukte des menschlichen Körpers und gewissen analogen Stoff (Schund, Gesindel, etc.) ein, Teile des Körpers, Personen, Worte oder Handlungen, die einen suggestiven erotischen Wert haben, die verschiedenen unbewussten Prozesse wie Träume und Neurosen, die zahlreichen nachträglichen Elemente oder sozialen Formen, die homogene Gesellschaft zu assimilieren nicht im Stande ist (Pöbel, Krieger, aristokratische und verarmte Klassen, verschiedene Typen gewalttätiger Individuen oder zumindest jene, die die Regel verweigern - Irre, Führer, Poeten, etc.), ... Gewalt, Exzess, Delirium, Verrücktheit kennzeichnen heterogene Elemente ... im Vergleich zum Alltag kann die heterogene Existenz als etwas Anderes, als Inkommensurables repräsentiert werden, indem diese Worte mit den positiven Werten aufgeladen werden, die sie in der affektiven Erfahrung haben[8]."

Souveräne Macht, nach Bataille (und Carl Schmitt)[9], ist in ihren vormodernen religiösen Varianten (Gottesgnadentum) wesentlich heterogen. Diese Heterogenität ist in der kapitalistischen Demokratie verborgen, wo der Souverän durch eine unpersönliche Rechtsordnung herrschen soll, die für alle gleich angewandt wird. Faschistische Diktatur macht sich daran, sie zu enthüllen oder zu demaskieren. Das erklärt die Verbindung der faschistischen Diktatur mit dem pauperisierten, regellosen Lumpenmob[10]. Und das, so möchte ich hinzufügen, ist genau, was im Postfaschismus verloren geht. Die Wiederherstellung geheiligter Souveränität durch den Faschismus ist jedoch eine Täuschung. Sie ist Homogenität, die sich als Heterogenität maskiert. Was in der Mitte der homogenen Sphäre übrig bleibt, ist der reine Bourgeois ohne den Citoyen, Julien Sorel endgültig und definitiv seines Napoleon, Lucien Leuwen[11] seines Marat beraubt. Faschismus, der der bürgerlichen Verwirklichung der Aufklärung (also der egalitären kapitalistischen Demokratie) ein Ende bereitet hat, verwandelt den sozialen Ausschluss der Unproduktiven (von Eremiten und prophetischen Poeten bis zum arbeitslosen Pauper und unbezähmbaren Rebellen) in ihren natürlichen Ausschluss (also außergesetzlichen Arrest, Hunger und Tod).

Batailles Werk entsprießt der französischen objektivistischen soziologischen Tradition, von Durkheim, Mauss und Halbwachs über Kojève bis Paul Veyne, in der politische Repression und Exklusion nicht in moralischen und psychologischen Begriffen, sondern in anthropologischen behandelt werden - als eine Frage von Identitätsstiftung. Batailles revolutionäre Kritik der Exklusion der "Heterogenen" - der "Nutzlosen", der Leute, die keine "verantwortungsbewussten Übernehmer von Risiken" sind - beruht auf einem Verständnis von Gesellschaft, Sexualität und Religion, einer Kombination von Durkheim und Marx, wenn man so will, das eine Alternative zu unserem gegenwärtigen, im Prinzip kantianischen Widerstand gegen Postfaschismus anbieten könnte. Unsere moralische Kritik, wie berechtigt sie auch sein mag, behindert gewöhnlich ein Begreifen der Verlockungen des Phänomens und führt zu einer vereinfachenden Geringschätzung barbarischer, umnachteter Rassisten, Hetzer und Demagogen und zu einer eher undemokratischen Missachtung von Menschen, Ängsten und Wünschen.

Eine alternative Argumentationslinie, die von dieser Tradition vorgeschlagen wird, beginnt mit der Beobachtung, dass der Zusammenbruch des egalitären Wohlfahrtsstaates oft eine Verschiebung des Fokus von Solidarität, Brüderlichkeit und Mitleid bedeutet. Wenn es keine tatsächlich gleiche Staatsbürgerschaft gibt, deren Verwirklichung das Ziel der ehrlichen liberalen Demokraten und Sozialdemokraten hätte sein sollen, dann wird diese Leidenschaft der Großzügigkeit unbefriedigt bleiben. Ein Gefühl gemeinschaftlicher Freundschaft gegenüber allen und allem war immer eines der stärksten Motive für Altruismus. Altruismus dieser Art wird, wenn ihm sein bürgerlicher, egalitärer Fokus genommen wird, intuitive Merkmale, die ihm vom herrschenden Diskurs geboten werden, dafür finden, wofür und für wen sich einzusetzen er anstrebt. Wenn zivile Politik das nicht vollbringt, werden rassistische Gefühle oder Gefühle kulturelle Nähe dies sicher tun. Identität wird üblicherweise durch Zuneigung und Bedrohung umrissen. Niemand kann diese Identitätspanik besser beschreiben als Bataille[12].


Bataille

Der halb verrückte Pornograf und ultralinke Extremist, als der Bataille immer noch heimlich betrachtet wird, kann von Gesellschaftstheoretikern, die auf sich halten, wie ich glaube, nicht gut rezipiert werden, aber interessanterweise kommt seine Theorie im anerkannten Standardwerk über das Naziregime zum Tragen, das vom größten Rechtswissenschafter der deutschen Gewerkschaftsbewegung verfasst wurde, der glücklicherweise als der große Geist, der er war, heutigen Tags wiederentdeckt wird[13]. In Abgrenzung zu fantasievollen Totalitaritätstheorien schreibt der große Ernst Fraenkel, indem er seine skrupulöse Darlegung der Gesetzgebung und Rechtswissenschaft der Nazis zusammenfasst, dass "im heutigen Deutschland (er schreibt in den Jahren 1937-1939, G. M. T.) viele Menschen die Willkürherrschaft des Dritten Reichs untragbar finden. Dieselben Menschen anerkennen jedoch, dass die Idee der 'Gemeinschaft', wie sie hier verstanden wird, etwas wirklich Großes ist. Diejenigen, die diese zweideutige Haltung gegenüber dem Nationalsozialismus haben, leiden an zwei Hauptmissverständnissen:

1. Die gegenwärtige deutsche Ideologie der 'Gemeinschaft' ist nichts als eine Maske, die die weiterhin bestehende kapitalistische Struktur verbirgt.

2. Die ideologische Maske (Gemeinschaft) verbirgt gleichermaßen den Maßnahmenstaat, der mit willkürlichen Maßnahmen operiert (Fraenkel unterscheidet den "normalen", den so genannten Normenstaat, der vornehmlich für Zivilrecht zuständig ist, und den quasi totalitären Parteistaat, der dem Führerprinzip untergeordnet ist, G. M. T.).

Die Ersetzung des Rechtsstaats durch den Doppelstaat ist nur ein Symptom. Die Wurzel des Übels liegt genau dort, wo die unkritischen Gegner des Nationalsozialismus Gründe für Bewunderung entdecken, nämlich in der Gemeinschaftsideologie und im militanten Kapitalismus, den gerade der Begriff der Gemeinschaft verbergen soll. Und wirklich ist gerade für die Aufrechterhaltung des Kapitalismus in Deutschland der autoritäre Doppelstaat notwendig.[14]"

Die Autonomie des Normenstaates (homogene Gesellschaft) wurde im Nazideutschland in einem begrenzten Bereich erhalten, hauptsächlich was den Schutz des Privateigentums betraf (des Eigentums sogenannter Arier, natürlich). Der Maßnahmenstaat hatte seinen Einfluss in engerem politischem Bereich; Einfluss auf die Vorrechte der Partei, das Militär und Paramilitär, die Kultur, Ideologie und Propaganda. Der Doppelstaat war eine Konsequenz der Entscheidung des neuen Souveräns (im Sinne Schmitts) darüber, was Recht war und was nicht. Aber es gab keine Regelung durch Dekret in der Sphäre, die dem Kapitalismus eigentlich reserviert war, der Wirtschaft. Es ist also daher nicht wahr, dass das ganze System des Nazi- oder faschistischen Regimes zur Gänze willkürlich war. Das makabre Zusammentreffen von Normen und Maßnahmen wird durch die Tatsache illustriert, dass die Deutsche Reichsbahn der SS für die furchtbaren Transporte nach Auschwitz Rechnungen mit ermäßigten Urlaubstarifen ausstellte, gewöhnlich für Pauschalreisen. Aber sie stellte ihr Rechnungen aus!

Menschen innerhalb der Rechtsprechung des Normenstaates (Batailles homogener Gesellschaft) genossen die üblichen Rechtssicherheiten, wie unnachsichtig sie auch sein mochte. Spezielle Regelungen aber betrafen jene im Bereich des Maßnahmenstaats - sowohl Führer der Nazipartei, Funktionäre und militante Aktivisten über dem Gesetz als auch die verfolgten Minderheiten unter dem Gesetz oder außerhalb davon. Vor dem Faschismus waren Bürger und Freund sowie Fremder und Feind Begriffe, die zusammenfielen. Keine Regierung dachte daran, systematisch den Einwohnern des Landes, die Mitglieder der Nation waren (wenn auch ungleiche Mitglieder), den Krieg zu erklären; Bürgerkrieg war gleichgesetzt mit der Abwesenheit einer legal konstituierten, effektiven Regierung. Bürgerkrieg von oben, in Friedenszeiten oder zumindest unter ausgesprochen nicht revolutionären Bedingungen begonnen, richtet die Staatsmacht gegen den obersten Schutzherrn des Bürgers. Die wichtigste Waffe in diesem methodisch geführten Bürgerkrieg, in dem der Staat selbst eine der Kriegsparteien ist, ist die andauernde Redefinition von Staatsbürgerschaft durch den Maßnahmenstaat.

Und weil dank der Aufklärung Staatsbürgerschaft (Mitgliedschaft in der politischen Gemeinschaft), Nationalität und Menschsein zusammengefügt und vermischt worden waren, bedeutete die Aberkennung der Staatsbürgerschaft, im wahrsten Sinne des Wortes, den Ausschluss aus der Menschheit. Dem bürgerlichen Tod folgte daher notwendigerweise der natürliche Tod, das heißt gewaltsamer Tod oder Tod generell. Dem faschistischen oder nationalsozialistischen Völkermord ging keine rechtliche Verurteilung voraus (nicht einmal in der vorgetäuschten und betrügerischen Form der Tscheka-Tribunale); er war die "Naturalisierung" eines moralischen Urteils, das einige Arten von Bedingung menschlicher Existenz als minderwertig verdammte. Und da es außerhalb der Staatsbürgerschaft keinen Schutz gab, war das Fehlen von Staatsbürgerschaft der Grund für die Aussetzung der Vorbedingung der conditio humana geworden - des Lebens.


Die bürgerliche und die menschliche Gemeinschaft entzwei schneiden: Das ist Faschismus.

Das ist der Grund, warum der Ausdruck, wenn auch verstörend, wiederbelebt werden muss, weil nämlich das zu Grunde liegende konzeptuelle Verfahren bürgerlicher, also menschlicher Spaltung wiederbelebt worden ist, diesmal nicht durch eine bewusst konterrevolutionäre Bewegung, aber durch bestimmte Entwicklungen, die möglicherweise von niemandem gewollt waren und nun nach einem Namen rufen. Der Name ist Postfaschismus.

Das Phänomen selbst kam auf die Welt beim Zusammenfließen verschiedener politischer Prozesse. Ich will sie aufzählen.


Verfall der kritischen Kultur

Nach dem Zusammenbruch des Sowjetblocks 1989 unterlag die gegenwärtige Gesellschaft einem fundamentalen Wandel. Bürgerliche Gesellschaft, liberale Demokratie, demokratischer Kapitalismus - nenne man es, wie man wolle - war immer eine widersprüchliche Angelegenheit. Anders als vorherige Regimes entwickelte sie eine Kultur der Gegensätze und war permanent mit starken Konkurrenten von der Rechten (der Allianz von Thron und Altar) und von der Linken (revolutionärem Sozialismus) konfrontiert. Beide sind obsolet geworden und dies hatte eine tiefe Krise innerhalb der Kultur der späten Moderne hinterlassen[15]. Allein die Idee eines radikalen Wandels (Utopie und Kritik) ist aus dem rhetorischen Vokabular verschwunden und der politische Horizont ist erfüllt mit dem Vorhandenen und Gegebenen und das ist Kapitalismus. In der überwiegenden gesellschaftlichen Vorstellung ist der ganze menschliche Kosmos eine "homogene Gesellschaft" - eine Gesellschaft nützlicher, Reichtum produzierender, sich fortpflanzender, stabiler, nicht religiöser, aber zur gleichen Zeit genießerischer, freier Individuen. Staatsbürgerschaft wird in zunehmendem Maße apolitisch im Sinne von Interessen definiert, die nicht dem gemeinschaftlichen Gut entgegengesetzt sind, sondern darin vereint durch Verständnis, Interpretation, Kommunikation und freiwillige Übereinkunft, die auf geteilten Annahmen fußt.

In diesem Bild sind Verpflichtung und Zwang, die differentia specifica von Politk (und notwendigerweise dauernd moralisch gerechtfertigt), auffällig abwesend. Die "Zivilgesellschaft", eine nebulose Ansammlung freiwilliger Gruppierungen, wo Zwang und Herrschaft notwendigerweise nicht die geringste Rolle spielen, hat angeblich den Staat und die Politik ausgeschlachtet. Ein gefährliches Ergebnis dieser Konzeption könnte sein, dass das kontinuierliche Stärken des Rechts durch Zwang und Dominanz, wenn auch in der Gesamtheit kritisiert, nicht sorgfältig genug beachtet wird - da keine Rechtfertigung und so auch keine moralische Kontrolle gesucht wird, wenn es überhaupt nicht gerechtfertigt werden kann. Der Mythos, demzufolge der Kern des späten modernen Kapitalismus die "Zivilgesellschaft" sei, verwischt die Grenzen der Staatsbürgerschaft, die mehr und mehr zu einer Frage der Tagespolitik und nicht der politischen Ausrichtung verkommen.

Vor 1989 galt als sicher, dass die politische Kultur des liberalen, demokratischen, konstitutionellen Kapitalismus eine kritische Kultur war, eher öfter als nicht in Konflikt mit dem System, das ihn, manchmal ungnädig und unwillig, unterstützte. Apologetische Kultur war etwas für vormalige Reiche und antiliberale Diktaturen. Nun wuchert intellektuelle Verzweiflung. Aber ohne eine manchmal auch nur implizite Utopie als Stütze scheint Verzweiflung nicht zu funktionieren. Was ist an einem theoretischen Antikapitalismus dran, wenn politischer Antikapitalismus nicht ernst genommen werden kann?

Es gibt auch eine unerwartete Folge des Fehlens einer kritischen Kultur, die an oppositionelle Politik gebunden ist. Wie einer der größten und besonnensten Soziologen des zwanzigsten Jahrhunderts, Seymor Martin Lipset, angemerkt hat, ist Faschismus der Extremismus der Mitte. Faschismus hat wenig mit rückwärtsgewandten feudalen, aristokratischen, monarchistischen Ideen zu tun, war im Großen und Ganzen antiklerikal, stellte sich gegen Kommunismus und sozialistische Revolution und hasste - wie die Liberalen, deren Wählerschaft er geerbt hatte - die Großunternehmen, Gewerkschaften und den Sozialstaat. Lipset hatte auf klassische Art gezeigt, dass die Extremismen der Linken und der Rechten, keineswegs exklusiv waren: Einige kleinbürgerliche Haltungen, die argwöhnisch gegen Großunternehmer und große Regierung gerichtet waren, konnten - und wurden es - in einen Extremismus, der sich als tödlich erweisen sollte, ausgedehnt werden. Der Extremismus der Rechten und des Zentrums verbanden sich im pseudochristlichen, klerikalen, royalistisch angehauchten Parafaschismus (ich habe den Begriff von Roger Griffin übernommen) Ungarns, Österreichs, Kroatiens und der Slowakei, aber der Extremismus des Zentrums existiert und existierte, was Lipset auch durch Kontinuitäten im Wahlverhalten in den Ländern nachgewiesen hat.

Heute zeigt sich nichts von Bedeutung am Horizont außer dem bourgeoisen Zentrum, daher ist es höchstwahrscheinlich, dass dessen Extremismus wieder auftaucht. (Jörg Haider und seine FPÖ sind das beste Beispiel dafür. Seine Argumentation ist teilweise libertär-neoliberal, sein Idol ist der begüterte kleine Mann, er unterstützt eine "Demokratie" von Kleinbürgern mit Aktien und Eigenheim und er ist ziemlich frei von romantisch-reaktionärem Nationalismus im Unterschied zu beschränktem Egoismus und Rassismus.) Was in den Vereinigten Staaten nun als rechtsorientiert gilt, hätte unter jedem gewöhnlichen rechten Regime als aufrührerisch gegolten und wäre mit Waffengewalt als individualistisch, dezentral und das Gewaltmonopol der Regierung, Grundlage jeder konservativen Überzeugung, bestreitend unterdrückt worden. Konservative sind die Partei der Ordnung und verabscheuen Milizen und plebejische Kulte.


Verfallende Staaten

Das Ende der Kolonialreiche in den 1960ern und das Ende der stalinistischen ("staatssozialistischen", "staatskapitalistischen", "bürokratisch-kollektivistischen") Systeme in den 1990ern hat einen Prozess ausgelöst, wie er seit der mongolischen Invasion im 13. Jahrhundert nicht erlebt wurde: einen umfassenden, offensichtlich irreversiblen Kollaps von Staatlichkeit als solchen. Während die angepasste westliche Presse täglich wahrgenommene Bedrohungen von Diktatur in weit entlegenen Orten beklagt, ignoriert sie im Allgemeinen die Realität hinter dem barschen Gerede machtloser Führer, nämlich dass niemand bereit ist, ihnen zu gehorchen. Der alte, ächzende und unpopuläre Nationalstaat - die bisher einzige Institution, die im Stande war, Bürgerrechte, ein Minimum an gesellschaftlicher Fürsorge und gewissen Schutz vor den Forderungen räuberischer Banden und habgieriger verantwortungsloser Geschäftemachereliten zu garantieren - hörte zu bestehen auf oder entstand nicht einmal in der Mehrzahl der ärmsten Regionen der Welt. In den meisten Teilen des subsaharischen Afrika oder der früheren Sowjetunion müssen nicht nur Flüchtlinge, sondern die gesamte Bevölkerung als staatenlos betrachtet werden. Der Weg zurück zu einer Subsistenzökonomie und zu Naturaltausch nach Jahrzehnten irrwitziger Industrialisierung (man sehe nur auf die furchterregende Geschichte von Wasserkraftwerken überall in der Dritten Welt und im ehemaligen Ostblock) inmitten von Umweltzerstörungen, wo Banditentum die einzige effiziente Methode gesellschaftlicher Organisation geworden zu sein scheint, führt genau nirgendwohin. Die Menschen in Afrika und dem ehemals sowjetischen Eurasien sterben nicht an einem Übermaß an Staat, sondern wegen seines Fehlens.

Traditionellerweise haben sich Befreiungskämpfe jedwelcher Art auch gegen fest eingewurzelte Privilegien gerichtet. Gleichheit kam auf Kosten der herrschenden Gruppen, Säkularismus verringerte die Macht der Kirchenfürsten, Sozialgesetzgebung beschränkte die Profite der "Geldinteressen", allgemeines Wahlrecht schaffte die althergebrachten politischen Klassen des Landadels und des Amtsadels ab, der Triumph der kommerziellen Popkultur zerschlug die ideologischen Vorrechte der progressiven Intellektuellen, horizontale Mobilität und Urbanisierung beendeten den parteipolitischen Einfluss auf lokaler Ebene, Verhütung und Konsumhedonismus lösten das patriarchale Familienregime auf - manches verloren, manches gewonnen. Jeder Schritt in Richtung größerer Freiheit beschnitt jemandes Privilegien (jetzt einmal abgesehen vom Schmerz des Wandels). Es war vorstellbar, sich die Befreiung von ausgegrenzten und unterjochten Unterklassen durch ökonomische, politische und moralische Kreuzzüge zu denken. Grob gesprochen war da jemand, dem man unrechtmäßige Gewinne wegnehmen konnte. Und diese Gewinne konnten an verdienstvollere Teile der Gesellschaft umverteilt werden, die im Gegenzug größeren sozialen Zusammenhalt, politische Ruhe und Sicherheit für unpopuläre, privilegierte Eliten anbot und so die Animositäten zwischen den Klassen reduzierte. Wir wollen aber nicht vergessen, dass dieser sozialdemokratische Handel als ein Ergebnis von jahrhundertelangen Konflikten und schmerzhaften Verzichten der traditionellen herrschenden Schichten erreicht wurde. So ein Befreiungskampf ist, gewaltsam oder friedlich, für die neuen Elenden der Erde nicht möglich.

Niemand beutet sie aus. Es gibt keinen Extraprofit und keinen Mehrwert, der angeeignet werden könnte. Es gibt keine gesellschaftliche Macht, die monopolisiert werden könnte. Es gibt keine Kultur, die dominiert werden könnte. Die Armen der neuen staatenlosen Gesellschaft sind - vom "homogenen" Standpunkt aus - überflüssig. Sie werden nicht ausgebeutet, sondern übersehen. Da gibt es keine Überbesteuerung, weil keine Einkommen vorhanden sind. Privilegien können nicht zu Gunsten einer größeren Gleichheit umverteilt werden, weil es keine Privilegien gibt, außer den zeitweiligen, die bei Gelegenheit mit vorgehaltener Waffe erzwungen werden.

Hungernde Bevölkerungen haben keinen Ausweg aus ihren kaum menschlichen Bedingungen, außer wegzugehen. Das so genannte Zentrum, weit davon entfernt, diese Peripherie der Peripherie auszubeuten, versucht eben nur, die fremden und normalerweise farbigen Armen draußen zu halten (das Phänomen wird euphemistisch als "demografischer Druck" bezeichnet) und errichtet furchteinflößende Barrieren an den Grenzen der reichen Länder, während unsere Finanzbürokratie weitere Deregulierung, Liberalisierung, weniger Regierung und weniger Staat den Nationen verordnet, die ohnehin nichts dieser Art haben und deswegen umkommen. "Humanitäre Kriege" werden geführt, um die Massen der Flüchtigen daran zu hindern, hereinzukommen und die westlichen Wohlfahrtssysteme zu verstopfen, die sich ohnehin auflösen.

Staatsbürgerschaft in einem funktionierenden Nationalstaat ist die einzig sichere Lebensmittelkarte in der gegenwärtigen Welt. Aber eine solche Staatsbürgerschaft ist jetzt das Privileg einiger weniger. Die Aufnahme der Staatsbürgerschaft in die notwendigen und "natürlichen" politischen Bedingungen aller menschlicher Existenz durch die Aufklärung wurde in ihr Gegenteil verkehrt. Staatsbürgerschaft war einmal ein Vorrecht innerhalb von Nationen. Jetzt ist es ein Vorrecht einiger Menschen in einigen Nationen. Staatsbürgerschaft ist heute das außergewöhnliche Vorrecht der Einwohner der erfolgreichen kapitalistischen Nationalstaaten, während die Mehrheit der Weltbevölkerung nicht einmal damit beginnen kann, zu diesen bürgerlichen Bedingungen aufzubrechen, aber gleichzeitig die relative Sicherheit der vorstaatlichen Schutzmäntel (Stamm, Verwandtschaftssystem) verloren hat.

Die Trennung von Staatsbürgerschaft und von Politik nicht erfasster Menschheit ist nun vollendet, das Unterfangen der Aufklärung unwiederbringlich verloren. Postfaschismus muss nicht mehr Nichtbürger in Güterzüge verfrachten, um sie zum Tod zu bringen. Stattdessen muss er nur die neuen Nichtbürger daran hindern, irgendeinen Zug zu besteigen, der sie in die fröhliche Welt überquellender Mistkübel bringen würde, aus denen sie sich ernähren können. Postfaschistische Bewegungen sind überall, aber vor allem in Europa, antimigrantische Bewegungen, die sich auf die "homogene" Weltsicht produktiver Nützlichkeit stützen. Sie schützen nicht die Vorrechte von Rassen und Klassen innerhalb des Nationalstaates (obwohl sie auch das tun), sondern die allgemeine Staatsbürgerschaft im reichen Nationalstaat gegen die virtuell universelle Staatsbürgerschaft aller Menschen, unabhängig von Geografie, Sprache, Rasse, Bekenntnis und Sitten. Der aktuell gültige Begriff von "Menschenrechten" kann Menschen gegen die Rechtlosigkeit von Tyrannen verteidigen, aber er ist kein Schutz gegen die Rechtlosigkeit, die aus dem Fehlen von Herrschaft entstammt.


Varianten des Postfaschismus

Es wird oft vergessen, dass der aktuelle globale Kapitalismus die zweite Auflage ist. Im Kapitalismus vor 1914, der keine Währungskontrollen (Goldstandard, etc.) und den Freihandel kannte, in einer Welt ohne Visa und Arbeitserlaubnis, als Unternehmen in Kriegszeiten militärische Güter an die Armeen des Feindes lieferten, ohne dass das mehr als ein schwaches Quieken bei den Regierungen und bei der Presse hervorbrachte, war der freie Verkehr von Kapital und Arbeit mehr oder weniger gewährleistet. (Es war eine vielleicht ungleichere, aber freiere Welt.) Im Vergleich dazu ist, was sich "Globalisierung" nennt, ein eher bescheidenes Unterfangen, ein schrittweises und furchtsames Zerstören von etatistischen und dirigistischen Wohlfahrtsnationalstaaten, die auf der egalitären Abmachung althergebrachter Sozialdemokratie beruhten, deren Grundlage (geschaffen als das Rückgrat moderner Nationen), die Arbeiterklasse der Schwerindustrie, sich zersetzt. Globalisierung hat die Kapitalflüsse befreit. Spekulatives Kapital bewegt sich dorthin, wo immer Investitionen "vernünftig" erscheinen, üblicherweise an Orte, wo Löhne niedrig sind und es keine militanten Gewerkschaften oder Umweltschutzbewegungen gibt. Aber anders als im 19. Jahrhundert sind der Arbeit dieselben Freiheiten nicht gestattet. Spiritus flat ubi vult[16], das Kapital fliegt, wohin es immer auch möchte, aber der freie Verkehr von Arbeit wird durch immer rigidere nationale Regulierungen behindert. Der Fluss ist zur Gänze eine Einbahn; das Kapital kann seine Stellung verbessern, aber die Arbeit - vor allem niedrig qualifizierte, wenig intensive Arbeit in den armen Ländern der Peripherie - kann das nicht. Deregulierung für das Kapital, strenge Regulierung für die Arbeit.

Wenn die Arbeitskraft an der Peripherie kleben bleibt, muss sie sich mit sweatshops abfinden. Versuchen, für höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen zu kämpfen, wird nicht mit Gewalt, Streikbrechern oder Militärschlägen begegnet, sondern mit stiller Kapitalflucht und Missbilligung der internationalen Finanz und ihrer nationalen und internationalen Bürokratien, die über die Fähigkeit verfügen, darüber zu entscheiden, wer Hilfe oder Schuldennachlass verdient. Um Albert O. Hirschman zu zitieren, voice (also Protest) ist unmöglich, nein, wirkungslos. Nur exit, Auszug bleibt und es ist die Aufgabe des Postfaschismus, ihn zu verhindern.

Unter diesen Bedingungen ist es nur logisch, dass die neue Neue Linke sich die Sprache der Menschenrechte anstatt der des Klassenkampfes angeeignet hat. Wenn man Die Tageszeitung, Il Manifesto, Rouge oder Socialist Worker aufschlägt, wird man sehen, dass sie hauptsächlich über Asylsuchende, Immigranten (legal oder illegal, die sans-papiers), Besetzer, Obdachlose, Roma und Ähnliche berichten. Das ist eine Taktik, die ihnen durch die Auflösung der allgemeinen Staatsbürgerschaft aufgezwungen wird, durch ungehinderten Kapitalfluss, durch die Auswirkungen der neuen Technologien auf Arbeiter und Produzenten und durch den langsamen Tod des weltweiten Subproletariats. Ebenso müssen sie das Wiederaufleben von Klassenpolitik in neuem Gewand durch Proponenten des "Dritten Wegs" wie Tony Blair hinnehmen. Der neoliberale Staat hat seine Verpflichtungen gegenüber "heterogenen" nicht produktiven Bevölkerungsschichten und Gruppen annulliert. Neoviktorianische erzieherische Ideen von "workfare", die Arbeitslosigkeit implizit als sündhaft bezeichnen, die Gleichsetzung jener, die Ansprüche an den Sozialstaat haben, mit "Volksfeinden", der Ersatz von Sozialleistungen durch steuerliche Begünstigungen, wobei jene, die keine Steuern zahlen, der Hilfe nicht für würdig erachtet werden, Einkommensunterstützungen, die von Familien- und Wohngestaltungen abhängig gemacht werden, die "kompetente Autoritäten" für angemessen halten, die zunehmende Rassifizierung, Ethnisierung und Sexualisierung der unteren Schichten, das Ersetzen gesellschaftlicher durch ethnische oder rassische Solidarität, die offene Anerkennung einer zweitklassigen Staatsbürgerschaft, die stillschweigende Bestätigung der Polizei als rassische Verteidigungstruppe, das Ersetzen der Idee von Emanzipation durch die Idee der Vorrechte (wie Mitgliedschaft in der Europäischen Union, der OECD oder der WTO), die willkürlich unter verdienstvollen Armen verteilt werden, und die Verwandlung rationaler Argumente gegen die EU-Erweiterung in rassistische und ethnizistische Hetzerei, all dies ist Teil der postfaschistischen Strategie der Trennung der menschlichen Gemeinschaft in Bürger und Abschaum, eines erneuten Zugestehens oder Verweigerns der Staatsbürgerschaft entlang der Linien von Rasse, Klasse, Bekenntnis, Kultur und Ethnie.

Die Verdoppelung der Unterschicht - eine weltweite Unterschicht draußen und die "heterogenen" wilden Taugenichtse daheim, wobei die Interessen der einen Art von Unterschicht ("hiesig") denen der anderen ("fremd") als feindlich gegenüberstehend vorgestellt werden - gibt dem Postfaschismus seine fehlende populistische Dimension. Es gibt keinen bösartigeren Feind der Immigranten - Gastarbeiter oder Asylanten - als das außer Gebrauch gekommene Lumpenproletariat, in der Öffentlichkeit durch den rechtsextremen hard-core Fußballhooligan repräsentiert. "Lager louts[17]" wissen vielleicht nicht, dass Lager nicht nur eine Art billigen europäischen Biers ist, sondern auch KZ bedeutet. Aber das unbewusste Wortspiel ist, wenn nicht symbolisch, so doch metaphorisch.

Wir stehen also einer neuen Art Extremismus des Zentrums gegenüber. Dieser neue Extremismus, den ich Postfaschismus nenne, bedroht nicht wie sein Vorgänger mit seiner Kernanhängerschaft "homogener Gesellschaft" das liberale und demokratische Regime. In einer Gesellschaft, die entzweigeschnitten wurde, bleiben Freiheit, Sicherheit und Wohlstand im Großen und Ganzen unangetastet, wenigsten in der produktiven und sich fortpflanzenden Mehrheit, die in einigen reichen Ländern nahezu alle weißen Bürger umfasst. "Heterogene", üblicherweise rassisch fremde, Minderheiten werden nicht verfolgt, nur marginalisiert und nicht zur Kenntnis genommen und gezwungen, ein Leben zu führen, das dem way of life der Mehrheit völlig fremd ist (das aber natürlich manchmal qualitativ besser sein kann als stumpfsinniger Workoholismus, Konsumismus und Fitnessbesessenheit der Mehrheit). Drogen, die einst das Bewusstsein erweitern und erhöhen sollten, sedieren nun auf ungute Art die erzwungene Untätigkeit derer, denen zu helfen die Gesellschaft unwillig ist und die sie nicht als Mitmenschen anerkennt. Die "dionysische" Subkultur des Subproletariats überhöht darüber hinaus die Zweiteilung der Gesellschaft. Politische Mitsprache der Habenichtse steht nicht zur Diskussion, ohne dass es eine Notwendigkeit gäbe, das Wahlrecht einzuschränken. Abgesehen von einem sich erst formierenden und schwachen ("neoneo") linken Radikalismus will sie niemand vertreten. Die Konzepte und Werkzeuge, die einst der demokratische und libertäre Sozialismus angeboten haben, fehlen. Und Libertäre sind heute militante bourgeoise Extremisten der Mitte, ultrakapitalistische cyberpunks, die jeder Idee von Solidarität jenseits des Fluxus globaler Marktplätze feindlich gesonnen sind.

Postfaschismus braucht keine Sturmtruppen und Diktatoren. Er verträgt sich hervorragend mit der gegenaufklärerischen liberalen Demokratie, die Staatsbürgerschaft als eine Gewährung durch den Souverän rehabilitiert anstatt eines universellen Menschenrechtes. Ich gestehe, ich verwende hier eine grobe Bezeichnung, um die Aufmerksamkeit auf diese flammende Ungerechtigkeit zu lenken. Postfaschismus ist historisch nur stellenweise der Nachfolger seines fürchterlichen Vorgängers. Sicherlich hat sich der mittel- und osteuropäische Antisemitismus nicht sehr verändert, aber er ist kaum zentral. Da Postfaschismus nur kaum eine Bewegung ist, eher schlichtweg ein Zustand, der oft auch durch so genannte Mittelinksregierungen verwaltet wird, kann er kaum identifiziert werden. Postfaschisten sprechen in der Regel nicht von absolutem Gehorsam und rassischer Reinheit, sondern vom Informationssuperhighway.

Alle kennen die instinktive Wut, die Leute überkommt, wenn sie vor verschlossenen Türen stehen. Jetzt rütteln zehn Millionen hungernde Menschen an den Klinken. Die reichen Länder denken sich raffiniertere Sicherheitsschlösser aus, während ihre Wut über die Eindringlinge auch anwächst. Manch Zorn führt zur Wiederbelebung von nationalsozialistischem und faschistischem Gedankengut und das löst rechtschaffenen Ekel aus. Aber Postfaschismus beschränkt sich nicht auf die früheren Achsenmächte und ihre willigen Auftraggeber, wie empörend und erschreckend diese spezifische Variante auch sein mag. Osteuropäische Zigeuner (Roma und Sinti, um die politisch korrekten Namen zu erwähnen) werden von der Polizei und der Bevölkerung verfolgt und versuchen, in den "freien Westen" zu fliehen. Die Reaktion des Westens ist, Visabeschränkungen gegen die in Frage stehenden Länder zu erlassen, um das massive Einströmen von Flüchtlingen zu verhindern, und feierliche Erklärungen an die osteuropäischen Länder zu richten, die Menschenrechte zu achten. Heimischer Rassismus wird durch globalen Liberalismus ersetzt, beide gestützt auf eine politische Macht, die immer schneller rassisch ausgerichtet wird.

Multikulturelle Antworten sind verzweifelte Eingeständnisse von Impotenz: eine Zurkenntnisnahme der Ethnisierung der zivilen Sphäre, aber mit einer humanistischen und gutwilligen Wendung. Diese Eingeständnisse geben die Niederlage zu, versuchen, das Inhumane humaner zu machen. Das Feld der Auseinandersetzungen wurde vom Postfaschismus ausgewählt und Liberale versuchen, ihn auf seinem bevorzugten Terrain, dem Ethnizismus, zu bekämpfen. Das ist eine furchtbar nachteilige Position. Ohne neue Wege, das Problem des globalen Kapitalismus anzusprechen, geht der Kampf sicher verloren.

Aber der neue Doppelstaat blüht und gedeiht. Ein Normenstaat für die Kernbevölkerung des kapitalistischen Zentrums und ein Maßnahmenstaat mit willkürlichen Entscheidungen über Nichtbürger für den Rest. Anders als im klassischen totalitären Faschismus ist der Maßnahmenstaat nur schwach sichtbar für die Bürger des Normenstaats. Die wesentliche menschliche und bürgerliche Gemeinsamkeit mit denen, die draußen und unten gehalten werden, ist moralisch unsichtbar. Die radikale Kritik, die vorgibt, dass Freiheit im Normenstaat eine Illusion sei, ist irrig, wenn auch verständlich. Die Verweigerung der Staatsbürgerschaft, die nicht auf Ausbeutung, Unterdrückung und offener Diskriminierung unter den Einwohnern der "homogenen Gesellschaft" beruht, sondern auf schierem Ausschluss und auf Entfernung, ist nicht leicht zu verstehen, weil die geistigen Gewohnheiten von Befreiungskämpfen für eine gerechte Verteilung von Gütern und Macht nicht greifen. Das Problem ist nicht, dass der Normenstaat immer autoritärer wird. Das Problem ist, dass er nur einigen wenigen gehört.


Anmerkungen

[1] Der Beitrag wurde das erste Mal in der Sommerausgabe der Boston Review des Jahres 2000 veröffentlicht; die Übersetzung für die Grundrisse besorgte Gerold Wallner.

[2] im Englischen Original lumpen, in Anspielung auf den deutschen Ausdruck Lumpenproletariat.

[3] Einige interessante Beiträge auf Englisch, die die jüngsten Entwicklungen betreffen: Harry Ritter, From Hapsburg to Hitler to Haider, in: German Studies Review 22 (May 1999): 269-284; Jan Müller, From National Identity to National Interest: The Rise and Fall of Germany's New Right, in: German Politics 8 (December 1999): 1-20; Michael Minkenberg, The Renewal of the Radical Right, in: Government and Opposition 35 (Spring 2000): 170-188; Jacob Heilbrunn, A Disdain for the Past: Jörg Haider's Austria, in: World Policy Journal 28 (Spring 2000): 71-78; Immanuel Wallerstein, Albatros of Racism, in: London Review of Books, May 18, 2000: 11-14; Rainer Bauböck, Austria: Jörg Haider's Grasp for Power, in: Dissent (Spring 2000): 23-26.
Die Literaturangaben beziehen sich immer auf die vom Autor angeführte englischsprachige Literatur. Etwaige auf deutsch vorliegende Übersetzungen oder Ausgaben wurden nicht berücksichtigt.

[4] Siehe G. M. Tamás, Ethnarchy and Ethno-Anarchism, in: Social Research 63 (Spring 1996): 147-190; ders., The Two-Hundred Years War, in: Boston Review, Summer 1999: 31-36.

[5] Michael Mann, The Dark Side of Democracy: The Modern Tradition of Ethnic and Political Cleansing, in: New Left Review 235 (May/June 1999): 18-45.

[6] Siehe Mark Neocleous, Against Security, in: Radical Philosophy 100 (March/April 2000): 7-15; ders., Fascism (Buckingham: Open University Press, 1997). Die Entwicklung vom Sozialstaat (l'état social) zum Strafstaat (l'état pénal) wurde immer wieder von Pierre Bourdieu beleuchtet.

[7] Georges Bataille, The Psychological Structure of Fascism, [November 1933], trans. Carl R. Lovitt, in Visions of Excess, ed. Allan Stoekl (Minneapolis: University of Minnesota Press, 1993): 137-160. Zum Problem von Masse und Gewalt siehe: Etienne Balibar, Spinoza and Politics, trans. Peter Snowdon (London: Verso, 1998): 105, 115-116, ebenso Gilles Deleuze, Spinoza: Practical Philosophy, trans. Robert Hurley (San Francisco: City Lights, 1988). Eine interessante liberale Kritik der Faschismustheorie Batailles findet sich in Susan Rubin Suleiman, Bataille on the Street, in: Bataille: Writing the Sacred, ed. Carolyn Bailey Gill (London: Routledge, 1995): 26-45. Batailles Kritik muss im Rahmen der antistalinistischen, revolutionären extremen Linken verstanden werden. Zwei Briefbände rund um Bataille, Souvarine, Simone Weill und die geheimnisvolle Laure (Colette Peignot) wurden kürzlich veröffentlicht: Laure: Une rupture, 1934, ed. Anne Roche und Jérome Peignot (Paris: Editions des Cendres, 1999) und Georges Bataille, L'Apprenti sorcier, ed. Marina Galletti (Paris: Editions de la Différence, 1999). Zu anderer radikaler Faschismuskritik in den 1930ern siehe Karl Polányi, The Essence of Fascism, in: Christianity and Social Revolution, ed. J. Lewis, K. Polányi, D. K. Kitchin (London: Gollancz, 1935).

[8] Bataille, Psychological Structure: 142. (im vorliegenden Text übersetzt aus dem Englischen), siehe auch die zwei interessanten Entwürfe zu dem Essay über Faschismus: "Cet aspect religieux manifeste" und "En affet la vie humaine" in: Georges Bataille, Oeuvres complètes, vol. 2 (Paris: Gallimard, 1970): 161-164, ebenso wie Antonio Negri's Theorie von konstituierender und konstituierter Macht in: Antonio Negri, Insurgencies, trans. Maurizia Boscagli (Minneapolis: Minnesota University Press, 1999: 1-128, 212-229.

[9] Zu den Parallellen zwischen Bataille und Carl Schmitt siehe Martin Jay, The Reassertion of Sovereignty in a Time of Crisis: Carl Schmitt and Georges Bataille, in: Force Fields (New York, Routledge, 1993): 49-60; Batailles Aufsatz über Souveränität in The Accursed Share (Bd. 2 und 3), übers. Robert Hurley (New York: Zone Books, 1933).

[10] seine Fußnote 2.

[11] Julien Sorel ist der Held eines Romans (Rot und Schwarz) von Stendhal, der seinen gesellschaftlichen Aufstieg im nachnapoleonischen Frankreich erzwingen will; Lucien Leuwen Held und Titel des zweiten (unvollendeten) Romans von Stendhal. Beide Figuren sind durch ihre republikanische Gesinnung ausgezeichnet.

[12] Siehe Jean Piel, Bataille and the World, in: On Bataille: Critical Essays, ed. Leslie Anne Boldt-Irons (Albany: SUNY Press, 1995): 95-106.

[13] Ernst Fraenkel, The Dual State [1941], trans. E. A. Shils, E. Lowenstein, and K. Knorr (New York: Octagon, 1969). Siehe auch David Schoenbaum, Hitler's Social Revolution (Garden City: Anchor Doubleday, 196): 113-151.

[14] Fraenkel, The Dual State: 153, aus dem Englischen Originalzitat übersetzt.

[15] Siehe G. M. Tamás, Democracy's Triumph, Philosophy's Peril, in: Journal of Democracy 11 (January 2000): 103-110. Zu den Besorgnis erregenden Alternativen zur Politik, wie wir sie kennen, siehe Jacques Ranciére, La Mésentente (Paris: Galilée), 1995: 95-131.

[16] Der Geist weht, wo er will.

[17] engl. für betrunkene Schläger.

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G. M. Tamás:

Vorläufige Thesen zu einem System der Angst

Kapital rennt rund um den Globus auf der Suche nach billigen Löhnen. Es rennt auch in die Gegenrichtung auf der Jagd nach konkurrierender Konsumentennachfrage. Es rennt Gelegenheiten für lukrative Investitionen nach. Es rennt zu Plätzen mit niedrigen Steuern. Es rennt, um stabile Regierungen oder Bürgerkriege zu finden, die nach Waffen und Waren verlangen. Außer es stolpert über nationale Grenzen, also Gesetze, rennt es mit solcher Geschwindigkeit, dass es ortsungebunden erscheint, unmöglich, lokalisiert zu werden. Es ist so schnell, dass es überall zu sein scheint, was es nicht ist. Gesetze, also nationale Grenzen, bringen nicht wirklich seine in alle Richtungen gehende, multidimensionale Bewegung zum Stillstand, seine Geschwindigkeit verschärft sich durch die fast völlige Leere des verdünnten Mediums, durch das es lautlos zischt.

Arbeit versucht, um den Globus zu wandern auf der Suche nach höheren Löhnen und billigeren Preisen. Sie taumelt andauernd gegen nationale Grenzen, also Gesetze. Sie kann es sich nicht leisten, niedrige Steuern zu befürworten, da sie sich dessen bewusst ist, dass sie den Staat brauchen könnte, also das Arbeitslosengeld. Sie braucht den Staat, mit seinen Grenzen, also Gesetzen, genau den Staat und die Gesetze, die sie davon abhalten, mit einer entsprechenden Geschwindigkeit ein würdiger Rivale des Kapitals zu sein, da Kapital nicht nur ein Gegner und Konkurrent ist, sondern auch eine Quelle von Überfluss, die gesucht wird. Arbeit wird ihr Einkommen mit dem Staat teilen müssen, um das Kapital zu bremsen. So wird sie Geschwindigkeit mehr brauchen als eben zuvor. Aber Arbeit ist langsam, sehr langsam, aus eigener Schuld. Sie hat sich mit den Gesetzen, also Steuern verbunden. Kapital, in seiner Geschwindigkeit nun praktisch unbeschränkt, gleichbedeutend mit Unsichtbarkeit, Abstraktion und Eleganz (und bitte beachtet einfach nicht die Widersprüche in diesen Ausdrücken), wird jung, elegant und streng, in seinen formalen Prinzipien ähnlich der minimalistischen, schlanken, sogar magersüchtigen Architektur der besten Museen für Neue Kunst. Es ist revolutionär. Es ist klug. Es ist richtungslos. Man hört es nicht. Was man hört, ist das Klickklack der Highheels auf Fliesen, das modische Gewimmel seiner abstrakten, schlanken Bewunderer in Schwarz. Arbeit ist furchtbar langsam, sie ist rückständig. Ihre Intelligenz wird zurückgewiesen, da nur eine Art von Intelligenz gebraucht wird, die, die nicht gebremst wird. Vor allem nicht nur Gesetze, die nun ausgerichtet sind, den Verkehr zu fördern, also Geschwindigkeit. Arbeit ist fett, Arbeit ist Bermudashorts und Hawaiishirts, die Kleidung des späten Fordismus. Sehr bunt und laut. Sehr sichtbar. Sehr reaktionär, sehr rückschrittlich. Sesshaft und ängstlich. So ist auch der Staat. Noch immer gestützt auf physische Gewalt, daher auf körperlichen Kontakt, auf Nähe. Lärm. Gerüche. Um weiterzukommen, muss man jemanden zur Seite schieben, der einem auf die Zehen steigen könnte. Der Staat ist nun kein Etwas. Er ist ein Hindernis für etwas. Daher wird er mit Radaubrüdern ausgestattet.

Wie neu aber das Medium, der Stil, die Dringlichkeit und die Ausstattung sein mögen, das Bedürfnis des Kapitals, Produktionskosten zu reduzieren und Profite zu maximieren, ist ewig.

Die Geschwindigkeit der Jagd nach vorteilhaften Verwertungen des Werts beschreibt nicht nur etwas im Raum (also digital oder sonst wie geschrumpfte Zeit), sondern beschreibt es auch qualitativ durch gesteigerte Produktivität, was natürlich eine andere Schrumpfung von Zeit, in diesem Fall von Arbeitszeit ist. Der globale Wettlauf oder Wettbewerb, immer schon ein Wesensmerkmal von Kapitalismus, hat sich jetzt nur insofern verallgemeinert, als es keine nicht kapitalistischen Nischen mehr gibt, die den Wettlauf in eine einzige Richtung gelenkt hatten (Kolonialismus). Die Jagd des Kapitals und der langsamere Fluss der Arbeitskraft (auch sie durch Technologie beschleunigt) lässt Beobachtern alle Hindernisse, alle Halte als widerlich und schmerzhaft erscheinen.

Menschen haben aber solche Halte als Heim angesehen - zumindest bis jetzt. Das Heim ist, wo keine Eile ist. Daheim ist, wo äußerlicher Zwang verlangsamt oder zum Halten gebracht wird. Wo Wert im Marxschen Sinn draußen bleibt. Das Private steht vorgeblich nicht zum Verkauf, es wird nicht als produziert gedacht, es wird als einfach vorhanden vorgestellt, wie es immer war, natürlich: unbeweglich wie ein Baum. Wie uns Christopher Lasch erinnert, wurde Ehe als "Hafen in einer herzlosen Welt" betrachtet. Aber der Halt im globalen Rennen, der Heim genannt wird, war immer von bourgeoiser Doktrin bedrängt worden: Im Gewand der Familie war es der Ort von Fortpflanzung und Reproduktion, das Zentrum des Konsums und politisch betrachtet ein Element der Zivilgesellschaft, zusammen mit Markt, Öffentlichkeit, NGO, Parteien, Sportvereinen, Kirchen und dem ganzen Rest. Wahlsysteme basieren auf Wohnbezirken, wo Menschen Einwohner von Häusern, so gesehen private Bürger sind. Wohnungseigentum basiert auf der Differentialrente. So gesehen ist die Kommodifizierung und die Verdinglichung von Heim (also die Kolonialisierung des Privaten, die Verdünnung der bourgeoisen Individualität, die Mobilisierung der Bewohner von Daheim) nichts wirklich Neues.[1]

Vermittelt, wie es ist, durch Miete, Hypothek, Kredit, Verkehr, durch Heizung, Wasser, Kanalisation, Strom, Telefon, Post, Kabel- und Satelliten-TV, Radio, Internet, GPS, und andere Netzwerke, durch Bauindustrie, Polizeiüberwachung und Schulbezirk, ist das Heim dennoch ein Halt, ein Haltepunkt im globalen Rennen, mitten im Sturm von Produktion, Akkumulation, Zirkulation und Distribution. Denn es ist, einfach gesagt, das, wo Menschen schlafen. Das, wo auch immer, Familienmitglieder oder Zimmergenossen zusammenbringt, es ist nicht Produktion. Nicht Tätigkeit, sondern Untätigkeit. Eher biologische und affektive (wenn man Erbschaft mit ihrem bioökonomischen Charakter dazu nimmt) als finanzielle Bindungen. Mahlzeit, Sex, Ruhe, ein Gefühl von Sicherheit und Innerlichkeit und über allem eine alles umfassende, überspannende Idee von Anhalten. Drinnen sein, in den vier Wänden sein, zu Hause sein bedeutet hauptsächlich eine Unterbrechung ewiger Bewegung. In Analogie dazu wurde dann auch die Begrenzung - die Nation, der Staat, das Recht - als ein Haltepunkt, ein Schutzraum vor dem globalen Wettlauf, rundherum und rundherum, vor Kapital und Arbeit, vor der Geschwindigkeit der Verwertung (Produktion, Akkumulation, Zirkulation, Distribution) und der technologischen Innovation, vor dem "Wandel" (um die offizielle, ideologische, bourgeoise Bezeichnung zu verwenden) betrachtet. In Ausweitung des Begriffes wird sich das politische Analogon von Heim auf Grenze (Nation, Staat, Recht) übertragen, die auch eine Kontrolle der Geschwindigkeit ist, daher als Heim erscheint. Diese Analogie ist die Grundlage für romantisch-reaktionäre Gedanken, vor allem im 19. und frühen 20. Jahrhundert, die sich heute in Nischen einiger linker, populistischer (grüner und anderer) ideologischer Konstruktionen finden. Die Grenze - also eine politische Beschränkung für das Kapital - ist, weil sie institutionell und öffentlich ist, natürlich das genaue Gegenteil von Heim. Aber Grenzen sind ein Ausdruck davon, was sich in ihrem Inneren befindet. In diesem Fall ist, was innerhalb des Nationalstaats ist, eine Beschränkung und ein Zwang für das Kapital, hauptsächlich eine äußerliche Maßgabe für Kauf und Verkauf, für die Ungleichgewichte von Kapital und Arbeit, Preisen, Löhnen und ähnlichem, inklusive der Crux des Ganzen, des Arbeitsvertrages. Der Arbeitsvertrag, der, indem er Kapital und Arbeit zusammenbringt, wesentlich ist für den Beginn der Verschmelzung von Produzent und Produktionsmitteln, die Produktion und Zirkulation (von Wert) initiiert, ist notwendigerweise auf Freiheit gegründet (er findet statt zwischen freien Akteuren, um eine Übereinkunft zu beiderseitigem Nutzen zu besiegeln). Freiheit ist eine unabdingbare Voraussetzung für Ausbeutung, vor allem, aber nicht nur, in einem Regime des Marktes.

Der Nationalstaat erscheint zuerst als eine Kontrolle des freien Flusses von Kapital und Arbeit, insofern als Regulierung, ein Bremsen, ein Unterbrechen, ein Anhalten, wenn auch zeitweilig. Aber der moderne Staat möchte auch regulieren, um Geschwindigkeit zu garantieren, also die freie Bewegung der Subjekte in der Produktion und im Tauschprozess ohne Behinderungen durch irreguläre Kräfte ungerechtfertigter Gewalt oder unvernünftiger Traditionen. Wenn die Grenze (Staat, Nation, Recht) überhaupt ein Heim ist, ist sie eine Heimstatt für einen Widerspruch: für Freiheit (sie befreit von der biopolitischen Gebundenheit wie etwa dem Privileg hoher oder niedriger Geburt, was durch die Zufälligkeiten des Wettbewerbs, gedämpft durch Hierarchien, die sich Erbschaften und "sozialem" und "kulturellem Kapital" verdanken) und für soziale Schutzbestimmungen, die sehr streng die Vertragsfreiheit beschränken (durch Besteuerung und Umverteilung und durch Arbeiterrechte, Konsumentenrechte, durch affirmative Handlungen, durch Gendergerechtigkeit und ökologische Gesetzgebung).

Heim im Spätkapitalismus stellt sich als Freiheit von der Bewegung dar. Heim, das heißt Familie und ihr gesellschaftlicher Schutz durch Gesetzgebung, verteidigt durch staatlichen Zwang, scheint standfest, ein Synonym für permanent. Freiheit von Wandel, begriffen als zwingende, aber willkürliche Wurzellosigkeit. Unnötig zu sagen, dass das eine Illusion ist, aber eine bemerkenswerte Illusion. Bemerkenswert vor allem wegen seiner jüngsten Transformation, wobei der gesellschaftliche Schutz (der Wohlfahrtsstaat und Egalitarismus der Verteilung) nunmehr schon eine furchterregende Bedrohung für die Sicherheit von Heim bedeutet.

Eine der wichtigsten Paradoxien des Zeitalters ist die gleichzeitige Verwandlung des Egalitarismus - vorgeblich eine Sichtweise im Interesse der Mehrheit - in eine elitäre Doktrin als einen Minderheitenstandpunkt. Politische Siege (bei Wahlen oder ideologisch) und Mehrheiten bei Meinungsumfragen, irriger- aber verständlicherweise als "populistisch" tituliert, wurden durch Widerstand gegen sogenannte Sozialgesetzgebung (hauptsächlich verschiedene Formen von Hilfe für Bedürftige) erreicht, einen Widerstand, der von jenen unterstützt wird, die von dem profitierten, das abzulehnen sie nun geneigt sind. Menschen, die sich vor der rücksichtslosen Energie des globalen Wettlaufs fürchten, scheinen bereitwillig zur Demolierung ihres eigenen (sozialen und nationalen) Heims beizutragen.

Es handelt sich um eine große, ideologische Transformation mit schwerwiegenden politischen und kulturellen Konsequenzen, die dringend genaue Analyse erfordert.

Es ist nicht nur Klassenkampf von oben (obwohl es das auch ist, und zwar sehr), aber die Analyse muss auch die Transformation des strukturellen Hauptkonflikts der bürgerlichen Gesellschaft in Rechnung stellen - das Ergebnis einer mächtigen "passiven Revolution" -, die ihn entschieden biopolitisch[2] macht. Diese biopolitische Wendung ist teilweise definitiv rückschrittlich - sie rehabilitiert Herkunft und Stand als Grundlage der Bildung von Schichten, wogegen die bürgerliche Revolution gekämpft hat - und teilweise fortgeschritten, ultramodern, indem sie die Sistierung oder Aufhebung des Klassenkampfes vortäuscht und das Zentrum der fundamentalen Auseinandersetzung vom Eigentum zur Bedingung des Menschseins verschiebt. Zählen wir erst diese Veränderungen, wie sie in den doxa des Zeitalters erscheinen, auf und machen dann ein paar verstreute kritische Anmerkungen:

1) Technologische Veränderungen - von der Automatisierung und Robotik über Digitalisierung und Nanotechnologie bis zu den Wundern der Biochemie - haben zum ersten Mal in der Geschichte die menschliche physische (körperliche) Anstrengung in der Produktion von Gütern unbedeutend gemacht. Das wurde von einem noch nie da gewesenen Wachstum von Produktivität und Arbeitsintensität begleitet, was die Mehrheit der globalen Arbeitskraft für immer überflüssig macht. Strukturelle Arbeitslosigkeit ist nicht länger ein Problem, wenn auch allgemein, verderblich und notwendig, sondern wesentliche Bedingung des Menschseins. Die Mehrheit der Menschheit wird nie wieder wertproduktiv sein.

2) Arbeit - als das hauptsächliche Sozialisationsmodell im Kapitalismus - hört zu bestehen auf. Die Institutionen im Kapitalismus wurden eingerichtet, um die Mobilisierung des durchschnittlich begabten Menschen zur Teilnahme an entfremdeter Arbeit sicherzustellen, also an Tätigkeiten, die von den individuellen Absichten getrennt, aber das einzige Mittel zum Überleben für die Habenichtse sind. Mobilisierung und Zwang haben diesen Zweck unter legal und juristisch gleichen Bürgern bedient, wobei sie Nischen von Subsistenz, Handwerk, unabhängigen Höfen und so weiter zerstörten. In der klassischen bürgerlichen Gesellschaft haben die Leute ihr Leben in Institutionen verbracht: Schule, Armee, Kirche, Verein, Gewerkschaft, Massenpartei, Sportklubs, organisierte Freizeitaktivitäten, kommerzielle Popkultur, Boulevardpresse und Radio, Fangruppen, Nationen, Familien und so weiter. Kollektive Mitgliedschaft in staatlichen und zivilgesellschaftlichen Institutionen war vorrangig. Dieser institutionelle Charakter des fordistischen Kapitalismus wurde weggefegt, in Stücke geschlagen durch die schwindende Nachfrage nach Beschäftigten.

3) Trotz dieser Veränderungen ist eine fundamentale Gegebenheit dieser Gesellschaften gleichgeblieben: Es gibt weiterhin nur zwei anerkannte Quellen für Einkünfte, nämlich Kapital und Arbeit. Beide werden immer marginaler, werden Minderheitsphänomene.

4) Was immer auch durch gesteigerte Produktivität und Abbau der Beschäftigung, was zu einem drastischen Rückgang der globalen Reallöhne führt, also durch die radikale Kürzung der globalen Produktionskosten gewonnen wird, befrachtet die Ressourcen, die für den Konsum gebraucht werden (konkurrierende Nachfrage), mit Unsicherheit. Verbrauchermärkte brauchen noch immer die Teilnahme der Massen, die für immer vom Einkommen in der Lohnform abgeschnitten sind. Damit Produktion und Handel weitergehen können, wird die Verbrauchernachfrage irgendwie finanziert werden müssen. Die erste panische Lösung - daraus auch die aktuelle Schuldenkrise - war die immense Kreditfinanzierung auf der Grundlage fiktiven Kapitals gewesen. Arbeit als eine legitime Quelle des Konsums, also des Unterhaltes, wurde weitgehend durch Kredit ersetzt, eine Vergesellschaftung von Zirkulation und Nachfrage auf zweiter Ebene. Ähnliche Fragen wurden früher durch eine staatliche Version (Wohlfahrtsstaat) dieses Angebots von Anreizen für Akkumulation, Investition und Reinvestition in einer geordneten, regulierten Art gelöst. Dieser gesellschaftliche Kreditvorschuss wurde durch souveräne Staatsmacht und territoriale Expansion (Kolonialismus) garantiert, die unproduktive Löhne in den fortgeschrittenen Ökonomien (sprich weißen Nationen) hautsächlich im Staatssektor finanzieren sollten, was Frieden und Ordnung im Inneren möglich machte, während das zunehmend imaginäre Modell von Vergesellschaftung durch Arbeit intakt gehalten wurde. Der Abbau solcher staatlicher Ressourcen und sozialdemokratischer politischer Maßnahmen zur Finanzierung von Konsum (inklusive Wohnung, öffentlicher Verkehr, Erziehung, etc.) durch die neokonservative Konterrevolution (von den 1970ern bis jetzt) ließ ein noch nie dagewesenes Rätsel auftauchen.

5) Die gesellschaftlichen und ökonomischen Kräfte der Staaten wurden genau zu dem Zeitpunkt radikal beschnitten, da es keine andere Macht gab, an die sich die neue nicht produktive Mehrheit wenden konnte, um zu fordern, dass ihr Überleben (Lebensstandard, Aufstiegsmöglichkeit, materielle Verbesserung) als Bedingung menschlicher Existenz in organisierter Gesellschaft (Zivilisation) aufrecht erhalten bliebe. Dies also war der Moment, in dem die mächtige herrschende Ideologie ernsthaft damit begonnen hat, zwischen bürgerlicher und sozialer Gleichheit zu unterscheiden, deren Synthese von der nun vergessenen Katharsis von 1945 versprochen worden war (man denke an die Reihe sozialer Verfassungen, die von antifaschistischen Wählermehrheiten in Italien, Österreich, Frankreich, Deutschland, etc. in den 1940ern und 1950ern angenommen wurden, vom Sowjetblock ganz zu schweigen). Das war die Zeit, da der alte Konflikt zwischen Freiheit und Gleichheit (vorgetragen von einem altertümlich aristokratischen Liberalismus, eine Reaktion auf die Französische Revolution) wiederbelebt wurde, da, Gleichheit wieder als Neid und Missgunst definiert wurden, was von gerissener totalitärer List in Anschlag gebracht wurde. Das war ein recht erfolgreicher Kniff, um den Forderungen nicht produktiver, aber empirisch schwer arbeitender Mehrheiten nach unbegrenztem Kredit zuvorzukommen, da Löhne für unproduktive Arbeit nichts als (vermummter) Kredit und Lohnerhöhungen nicht als erweiterter Kredit sind. Neokonservative Regierungen (und alle gegenwärtigen Regierungen der entwickelten Länder sind neokonservativ) sind nicht in der Lage, dies zu gewährleisten. Zeit, die mit fremder Tätigkeit verbracht wird, wie in der Verwaltung, im Staatssektor, ist keine Arbeitszeit irgendeiner "natürlicher" Art, sie kann es sein und dann wieder nicht.

6) Der Verfall sozialer und ökonomischer Macht des Staates bedeutet nicht den Verfall all seiner Mächte, also der Fähigkeit des Staates, gesetzlichen Zwang der einen oder anderen Art auszuüben. In diesem Fall ganz im Gegenteil. Der Staat findet sich in einer Lage, wo er entscheidet, gezwungen ist, zu entscheiden, wer staatliche Mittel zum Überleben erhält und wer nicht, was in der gegenwärtigen Gesellschaft bedeutet, dass er die Pflicht und das Vorrecht hat, über Leben und Tod zu entscheiden.

7) Denn es ist ein Gebot der Stunde, dass gegenwärtige Staaten - in einer Situation, wo Produktion und Akkumulation sich schnell steigern und die Masse der Produzenten sich ebenso schnell verringert - die Kriterien finden, nach denen manche Gruppen zu staatlichen Mitteln (jenseits von Kapital und Arbeit) durch gesetzliche und gerichtliche Bescheide legitimerweise berechtigt sind und manche nicht.

8) Die Legitimation zu gesellschaftlichem Leben und zu gesellschaftlichem Tod, die den Betroffenen zugeteilt wird, ist den Regierungen aufgezwungen. Ein typischer Fall ist die Subprime-Hypothekenkrise in den Vereinigten Staaten. Da die Finanzierung der nicht produktiven niedrigen Mittelschicht durch Lohnerhöhungen und direkte Unterstützungen durch die Regierung kulturell unmöglich war, hat die US-Regierung durch staatliche Institutionen wie Fanny Mae und indirekt unterstützte Banken und Versicherungen für diese sozialen Gruppierungen Wohnraum durch Hypothekarkredite finanziert. Als das Kapital dazu nein sagte (die Verluste waren beträchtlich), wurde die Klassenherrschaft durch das Fälligstellen der Kredite und den Zusammenbruch der Kreditinstitute, die den Staatszielen diente, die Mittelschicht über Wasser zu halten, wieder bestätigt. Die Krise - ein Instrument kapitalistischer Disziplinierung - hat gezeigt, dass es vor den rigiden Entscheidungen, denen der Staat gegenübersteht, kein Entkommen gibt. Die Entscheidungen sind bedrückend. Entweder würden sie den Kredit zerschlagen und Hunderte Millionen zu erbärmlicher Armut verurteilen und so den Konsum beschränken, was die Nachfrage reduzieren und die Produktion und Profite und Vermögen zerstören wird, oder sie würden den Kredit finanzieren durch Schaffung und Neuschaffung von fiktivem Kapital, was die Erhöhung von Steuern erforderlich macht mit Kapitalflucht und folgendem Zurückfahren der Produktion, also im Wesentlichem demselben Ergebnis.

9) Die einzige Möglichkeit ist, die Anzahl der Leute, die von staatlich garantiertem Kredit abhängen, zu reduzieren und die Verbrauchernachfrage durch verschärfte Ungleichheit auf einem akzeptablen Niveau zu halten - indem produktive Löhne in den neu industrialisierten Ländern (wie China, Indien, Vietnam, etc.) extrem niedrig gehalten werden.

10) Aber wie können die Regierungen entscheiden, welche Gruppen sozialer Rechte beraubt werden, das heißt nicht marktgebundener Mittel für nicht produktive Bevölkerung (der im öffentlichen Dienst, in den Dienstleistungsindustrien, die in keiner Weise Industrien sind, in den Pflegeberufen, in Erziehung, Forschung und Kunst und anderen, weiter unten beschrieben)?

11) Die Antwort ist zweifach: moralisch und biopolitisch. In einer der größten Wenden in der westlichen (oder europäischen) Geschichte wurde eine gründliche Neuformulierung der politischen Legitimität vorgenommen, ohne dass die gewöhnlichen Beobachter und Auguren davon eine Ahnung hätten - wie üblich.

12) Zuerst wurde der gute alte Unterschied zwischen Besitzenden und Besitzlosen ideologisch zum Verschwinden gebracht, wobei die mit legitimem Einkommen (Kapital und Arbeit) auf der einen und die ohne legitimes Einkommen auf der anderen Seite sich fanden. In Kontinentaleuropa wird von tätiger und untätiger Bevölkerung gesprochen. Die untätige Bevölkerung - Arbeitslose, Alte und Pensionisten, Studenten, Kranke, die, die sich um Kinder oder alte Verwandte kümmern (vornehmlich natürlich alleinerziehende Mütter), Marginalisierte, Unvermittelbare, körperlich oder geistig Behinderte, Obdachlose, fahrendes Volk, urbane Nomaden, manchmal unnütze Künstler, Forscher, Lehrer - wird, manchmal unter Einschluss des Prekariats, für wertlos, parasitär, unwürdig erklärt. Die Maßnahmen von Inklusion, positiver Diskriminierung, sozialer Unterstützung sind - vielleicht mit den Ausnahmen von ineffizienter Umschulung und lebenslangem Lernen - gründlich kompromittiert. Diese Teile der Bevölkerung werden bestraft, diskriminiert, verfolgt und drangsaliert, vorsätzlich dem Hunger ausgesetzt, ermuntert, bald zu sterben. In einer Gesellschaft, in der Arbeit als Sozialisationsmodell schon längst nicht mehr funktioniert, wird Arbeit als Kardinaltugend hochgepriesen, ohne Eudämonismus und Hedonismus (oder die demotische subbourgeoise Variante des Konsumismus) zu verleugnen. Frühere Versionen des Liberalismus anerkannten die Rolle von Glück, von zufälliger Verteilung von Verdiensten als Nebenprodukt von Freiheit, aber sie nahmen üblicherweise Abstand davon, Glück für eine Tugend zu halten - sonst hätten sie keinen Anlass gehabt, es zu verteidigen. Heutige Regierungen meinen, Unglück bestrafen zu müssen und sind bereit, in reinster Nietzscheanischer Manier zu erklären, dass die gesellschaftliche Stellung (mit jedweder Position innerhalb der gesellschaftlichen Arbeitsteilung) ein Ausdruck von innerer Energie und Verdienst ist. Aber wo Nietzsche Sklaverei vorschlug und pries, haben es zeitgenössische Regierungen mit Nichtarbeitern zu tun. Worum es geht, ist nicht die Repression untergeordneter, niedriger Arbeiter, sondern die Rechtfertigung des gesellschaftlichen und in der Folge biologischen Todes derer, die nicht arbeiten können, da ihre Arbeit von Maschinen vollbracht wird.

13) Die Selektion - ich bin mir der nicht Darwin'schen Konnotationen des Begriffs wohl bewusst, da wir hier nicht von natürlicher Selektion sprechen - derer, die entsprechend ihrer körperlichen Merkmale und ihres instinktiven Verhaltens (Gesundheit, Alter, manchmal Geschlecht und sexuelle Ausrichtung) und entsprechend ihrer kulturellen Stigmata zu gesellschaftlichem Tod verurteilt sind, ist rein biopolitisch. So sind es auch die Bestrafungen - Reduktion von körperlichem Wohlbefinden, Wohnung, Heizung, Licht, Nahrung, frischer Luft, medizinischer Versorgung, Hygiene, Bewegung, wärmender Kleidung, psycho-physiologischer Genüsse durch Alkohol und Drogen, etc. Moralisch schneiden der Entzug von gleicher Würde, die stigmatisierenden Vorurteile, die offene, öffentliche und offizielle Geringschätzung für die Unglücklichen (die in diesen Konkurrenzgesellschaften umso heftiger ausfällt) die Gesellschaft entzwei. Hier erscheint das ausgebeutete Proletariat als eine privilegierte Klasse, da es im Gegensatz zu den Neuen Müßiggängern als solid und achtbar angesehen wird. Wenn auch unterdrückt wird es als Vollmitglied des Kapital-Arbeit-Kontinuums betrachtet. Es ist nicht unbezahlt.

14) All dem würde natürlich die Überzeugungskraft fehlen, wenn es nicht mit Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, Spielarten des Ethnizismus, einherginge. Ethnizismus ist nicht einfach eine politische Meinung oder Ideologie. (Dazu gleich mehr in einer Minute.) Ethnizismus ist zumindest zu diesem Zeitpunkt eine symbolische Strategie, die das zufällig ausgewählte Ziel biopolitischer Selektion als fremd, das heißt als Nichtmitglied der politischen Gemeinschaft auszeichnet. Da die typischen Empfänger sozialer Zuwendungen, immer als Schnorrer, kriminell, "welfare queen", Sozialschmarotzer, illegal eingereist, "sans-papier" dargestellt, symbolisch fremd sind, ist seine oder ihre wirkliche Herkunft ohne Bedeutung. So werden Egalitaristen - in der offiziellen Ideologie - zu Vertretern von kleinen bevorzugten Gruppen, weil sie als Verteidiger der Abgeschiedenen, der Atypischen, der Minderheiten gegen "uns" dargestellt werden, was Unsinn ist, aber Egalitaristen und Progressive werden provoziert, sich als gegen den ethnizistischen Mainstream eingestellt aufzuführen, der keine Mehrheit, sondern eine Meinung ist (obwohl nicht nur schlicht eine Meinung). Das Problem ist, dass die nicht produktiven Schichten zusammengenommen die Mehrheit sind, nur die Sündenböcke darunter sind eine Minderheit. So also wird "unsere Gemeinschaft" geschützt. Eine spezifische, aber recht wichtige Form der Delegitimation von Gleichheit und Egalitarismus ist Antikommunismus. Das Schema ist dasselbe: eine sinistre, gefährliche, doktrinäre Elite mit Heilsversprechungen, weit weg von den realen, diesseitigen Beschäftigungen der einfachen Menschen. Just wie die verachteten Menschenrechtsaktivisten, die "Berufsantifaschisten" oder, in Anders Behrens Breiviks Mundart, "die Kulturmarxisten" (er hat geradewegs recht, das ist es, was wir sind), die sich der neuen biopolitischen Aufteilung entgegenstellen. Die Funktion des Antikommunismus in Abwesenheit einer kommunistischen Weltbewegung ist jedoch etwas Komplexeres als eine entlegitimisierende Ideologie. Er erledigt die Aufgabe, die Grenzen neu zu bezeichnen, vornehmlich den Staat (oder die Regierung) als die Alternative oder den Gegner des Kapitalismus, dargestellt als schiere Marktwirtschaft - was er nicht ist und niemals war -, vorzuführen, also Repression und Regulierung (in ihrer legalen Form: Recht) mit Kommunismus zu identifizieren und den Staat als Gefahrenquelle für Freiheit zu malen und so beide zu kastrieren. So wird Befreiung wieder als eine Vorstellung von Unterjochung eingeführt, als Gegenspieler von Spontaneität (Kreativität, Initiative, kreatürlichem Geist und ähnlichem). Die Macht, zu beschränken, zu unterdrücken und zu beherrschen, auch auf wohlwollende Art, (also den Staat) erfolgreich mit der Macht, das weltliche und körperliche Wesen von der unpersönlichen Gewalt abstrakter Arbeit zu befreien, (also dem Kommunismus) zu identifizieren, heißt, vor allem jene, die aus dem Kapital-Arbeit-Kontinuum herausgezwungen werden, ihr Verlassensein verehren zu lassen als ihren Eintritt in wirkliche, keinem Zwang ausgesetzte Menschheit.

15) Krise und Mainstreampolitik (beide sind des anderen Schöpfer und Schöpfung) haben es geschafft, eine doppelte Gesellschaft zu entwerfen: die von mangelhafter Körperlichkeit und Moralität und den gesunden Kern von Gesellschaft. Die Aufgabe ist, die ersteren auszuschließen und ihre Inferiorität akzeptieren zu lassen - und das übrige Proletariat zu veranlassen, den Gendarm biopolitischer Macht zu spielen.

16) Die Synthese von Produzenten und Nichtproduzenten sollte dem entgegentreten, was das Konzept der Ausbeutung verdoppelt und zur gleichen Zeit relativiert, das in seiner direkten und augenscheinlichen Form innerhalb der engen Grenzen dessen, was man als den privilegierten Mikrokosmos des Kapital-Arbeit-Kontinuums verstehen kann, verbleibt. Der Ausgang der marxistischen Debatte, ob es "das Kapital" ist, das das wirkliche Subjekt der Geschichte der Moderne ist, oder "der proletarische Klassenkampf" (das erstere wohl der Standpunkt der Kritischen Theorie und letzteres der von Mario Tronti und des operaismo), wird, wenn sie fortgesetzt wird, von einer neuen Definition von Entfremdung abhängen, die Ausschluss von Produktion und somit von gesunder und gewürdigter Körperlichkeit, vom Kapital vorgetragen und vom Staat sanktioniert, mit einschließt. Die betrügerische Unterscheidung von Lohn und Transferzahlung - zu beobachten in der gegenwärtigen Auseinandersetzung gewerkschaftlich orientierter Alter Linker und humanitärer, auf Umverteilung abzielender neuer sozialer Demokratie, die sich der "Diskriminierung" und "Grausamkeit" entgegenstellt (beide verfehlen das Thema) - und das daraus resultierende Schisma unter den Intellektuellen führt zu einer doppelten, nicht zugegebenen und manchmal nicht einmal bewussten Akzeptanz eines postfaschistischen staatlichen Kommandos über biologisierte und ethnisierte Energien, die von der Krise ausgelöst wurden. Wenn sich die Kräfte der Befreiung dazu bereitfinden, die postfaschistische Betonung von "Arbeit" (oder "entlohnter Beschäftigung") hinzunehmen, die die echte menschliche Spezies dem untermenschlichen Abfall derer, die untätig sind, eine üble Widerspiegelung der tatsächlichen nazistischen Identifikation von Kapitalismus mit parasitärer "Finanz" oder, einfacher, "den Banken" (nicht ohne Einfluss auf die naive und populistische Linke), entgegenstellt, dann wird es keine theoretische und politische Darstellung einer Unterdrückung geben, die wieder einmal die höchste Leistung vollbringt, die Klasse gegen sich selbst in Stellung zu bringen. Das richtige Verständnis von Löhnen ist entscheidend für eine Synthese, die gegen die neue Dynamik des Kapital-Arbeit-Kontinuums gesetzt werden kann, die das beklagenswert einfache Geheimnis des Postfaschismus ist.

Der Ausnahmezustand, der Freund und Feind nun innerhalb nationaler Gesellschaften und Nationalstaaten neu definiert, bleibt das fundamentale Wesensmerkmal des Postfaschismus, wie ich ihn in einem Aufsatz vor zehn Jahren definiert habe. (In dieser Ausgabe der Grundrisse ebenfalls abgedruckt - Anm. die Red.) Sein Vorbild ist die Annullierung der jüdischen Emanzipation durch das Dritte Reich. Die Verwandlung von Nichtstaatsbürgern in homines sacri ist gleichwohl unverändert. Die Errichtung hoher Deiche gegen die Migration, selbst um den Preis der Verlangsamung des kapitalistischen Flusses, ist noch immer sein Hauptinstrument. Aber die Verwandlung von Staatsbürgern in Nichtstaatsbürger aus moralischen und biopolitischen Gründen - in dieser Wildheit - ist eher neu. Solange es keine Synthese zwischen der transzendentalen Identität von Arbeitenden und nicht Arbeitenden gibt, sondern nur zwischen den produktiven Gruppen und den nichtproduktiven als dem Kapital als solchem entgegengestellt, wird etwas dem Faschismus sehr Ähnliches überwiegen. Die Einberufung der ausgebeuteten und unterdrückten Produzenten als Vollstrecker der Kapitalherrschaft bleibt wie in den 1920ern und 1930ern die Hauptgefahr. Es ist die weithin akzeptierte, scheinbare Einheit zwischen berechtigten Verdienern - Kapitalisten und Produzenten -, politisch vereinigt gegen die Untätigen und Fremden, die alle bedroht.

Um diese erschwindelte Einheit zu zerschlagen, brauchen wir Menschen, die den Mut zur Uneinigkeit haben und Streit lieben, einen Streit, der sich aus der Opposition gegen moralisierende Biopolitik erklärt.


Anmerkungen

[1] Die geografischen Dimensionen der "home"-Frage wird am besten beschrieben von David Harvey, Justice, Nature and the Geography of Difference, Oxford: Oxford University Press, 1996 und ders., Spaces of Hope, Berkeley: University of California Press, 2000, pp. 73-96 & passim.

"Home englischen Orignaltext umfasst hier ein anderes Begriffsfeld als das deutsche "Heims ist hier nicht nur Wohnung im Sinne von "Das ist mein Heimmeint, das den Bereich des Privaten recht abstrakt umfasst zuzüglich zu einer konkreten Komponente, es reicht auch über Wohnungen bis zum Eigenheim und den Hervorbringungen der Häuslbauer.

[2] im Sinne Foucaults und Agambens

*

Robert Foltin:

Zur Demokratie sozialer Bewegungen

Immer wieder wurde durch emanzipatorische soziale Bewegungen mehr Demokratie gefordert. In den revolutionären Phasen war es die direkte Demokratie der Räte, in den 1970ers tauchte das Schlagwort "Basisdemokratie" auf. Die sozialen Bewegungen der letzten Jahre von unibrennt bis hin zu den Indignados zeigten sowohl eine Kritik an der Verfasstheit der demokratischen und parlamentarischen Strukturen wie auch "neue" Formen der Demokratie. So forderten die spanischen Besetzer_innen der Plaza del Sol in Madrid (die "Empörten", Indignados) "Demokratie jetzt". Sie experimentierten mit Organisationsformen, die eine Beteiligung der Vielen gewährleisten sollte. Ähnliches gilt für die Strukturen, wie sie 2011 in vielen Städten durch die Occupy-Bewegung entwickelt wurden.

In Österreich / Wien entwickelten sich in der unibrennt-Bewegung 2009 ebenfalls Strukturen, die das gewöhnliche Verständnis von Wahlen in Frage stellten. Anfangs konnten die Medien damit kaum umgehen, dass es keine Ansprechpersonen gab und die Pressesprecher_innen dauernd wechselten. Außerdem wurde versucht, zu gewährleisten, dass sich nicht die übliche Männerdominanz durchsetze.

"Besonders faszinierend finde ich halt, dass Menschen, die sich noch nie mit basisdemokratischer Entscheidungsfindung auseinandergesetzt haben, hier plötzlich basisdemokratisch handeln und zum Teil hab' ich auch das Gefühl, dass das auch von einem Impuls ausgeht und nicht unbedingt von einem theoretischen Hintergrund." (Asenbaum et.al. 2010, S. 7)[1]

Obwohl sich unterschiedliche linke, queere und feministische Gruppen an den aktuellen Bewegungen beteiligten, hatten sie keinen sichtbaren, direkten Einfluss. Die Bewegungen lehnten nicht selten alle "politischen" Organisationen ab, was sich auch gegen anarchistische, autonome oder feministische Interventionen richtete. Ich will zeigen, dass es trotzdem gerade diese Formen, wie sie in anarchistischen und autonomen Strukturen diskutiert werden, waren und sind, die die Organisierung der Bewegungen beeinflussen.

Krise der Demokratie

Warum sind es gerade die aktuellen Bewegungen, die Entscheidungsfindung und Demokratie mehr diskutieren und reflektieren als frühere Bewegungen? Die repräsentative Demokratie wird schon länger in Frage gestellt. Guy Debord (1998) kritisierte bereits in seiner 1967 erschienenen "Gesellschaft des Spektakels", dass die kapitalistische Warengesellschaft ein ebensolches Spektakel sei wie die demokratische Politik. In aktuellen Wahlkämpfen gibt es kaum noch einen Unterschied zu Waschmittelwerbung oder Werbung von Handybetreiber_innen. Konnte in den früheren Jahrzehnten noch die Illusion einer Auswahl entstehen, so wurde das in den letzten Jahren zu Gunsten kapitalistischer Sachzwänge ganz in Frage gestellt[2]. So wurden Referenden und Abstimmungen über den EU-Vertrag so lange wiederholt, bis die Bevölkerung zustimmte. "Linke", sozialdemokratische Regierungen setzten immer und überall die Maßnahmen zu Gunsten des Kapitals durch. In Italien und Griechenland wurden Expert_innenkabinette installiert. Die Stimmen der Wähler_innen, so scheint es, machen der "Wirtschaft" heutzutage mehr Sorgen als früher, als für Politik noch Waschmittelwerbung genügte. So konnte sich die reaktionäre Opposition sozial gebärden und Wahlen gewinnen. In Ungarn siegte so die Rechte, von Gaspar Miklos Tamas als "Konterrevolution gegen die Konterrevolution" (Tamás 2008) bezeichnet.

Die "Linke" hat in den letzten Jahren eine selbstmörderische Anpassung an die herrschenden "Sachzwänge" mitgemacht. Diskurse, die einen ökonomischen Kurswechsel verlangen, dürfen geäußert werden, sind aber marginalisiert. Was nicht dem Kapital nutzt, gilt als unrealistisch. Politik und Medien sind Teil der herrschenden Oligarchie. Dabei meine ich noch nicht die Korruption, die unter dem Titel "Parteienfinanzierung" diskutiert wird, sondern dass die Führungsetagen von Unternehmen, Politik und Medien einen privilegierten sozialen Zusammenhang bilden. Nicht umsonst erhalten auch linke (und grüne) Politiker_innen nach ihrem Ausscheiden Managementposten in großen Unternehmen. Und die großen Medien sind von ihren Werbeetats abhängig, die von den Konzernen kommen.

In der Vergangenheit hat es, wenngleich vereinzelt, auch Initiativen von unten gegeben, die Einfluss auf politische Entscheidungen nehmen konnten. Das Atomkraftwerk Zwentendorf und das Donaukraftwerk Hainburg wurden nicht in Betrieb genommen, bzw. gebaut. Das System der Parteien, das schon damals als Spektakel funktionierte, wurde ergänzt durch Bürger_inneninitiativen und sich immer mehr institutionalisierende NGOs, die so genannte Zivilgesellschaft. Solche Strukturen ergänzen jetzt Gewerkschaften, Kirchen und Vereine zur Integration ins herrschende System. Bürgerinitiativen und NGOs wurden zu einem Teil von demokratischer Vermittlung, auch hier gilt, es ist möglich, Kritik zu üben, aber es darf sich nichts Entscheidendes ändern, was die kapitalistische Verwertung betrifft. Heute wird "mehr Demokratie" oft mit mehr Volksabstimmungen verbunden, es sollte aber klar geworden sein, dass Abstimmungen zwar "demokratischer" sind als die Wahl der Parteien, aber in der Gesellschaft des Spektakels auch nur das Ergebnis von Werbekampagnen sind (wieder eine Macht-, Geld- und Oligarchiefrage).

Demokratie in sozialen Bewegungen

Die sozialen Bewegungen von früher zeigten "andere" Formen der Demokratie als NGOs und linke Parteien. (Spontane) Bewegungen haben immer schon die herrschende Demokratie kritisiert und mit partizipatorischen Strukturen experimentiert. Ein Beispiel ist die "Arena-Bewegung", die Besetzung des Auslandsschlachthofes als Kultur- und Kommunikationszentrum in Wien im Sommer 1976. Vorbereitet wurde die Besetzung durch Künstler_innen und Architekt_innen ("Expert_innen"). Als dann aber die Polizei von den Besetzer_innen verlangte, Verantwortliche zu stellen, antwortete die Menge: "Verantwortlich sind wir alle". Die Organisation funktionierte über Komitees und Plena, die die Entscheidungen trafen. In den Verhandlungen forderte die Gemeinde allerdings verbindliche Strukturen, also das Zurückdrängen von allen Formen direkter oder partizipatorischer Demokratie (vgl. Foltin 2004, S. 116ff).

Auch in der Besetzung der Au in Hainburg, durch die das geplante Wasserkraftwerk verhindert wurde, entwickelten sich demokratische Strukturen, die über die Demokratie im landläufig verstandenen Sinn hinaus wiesen: "Die Organisation hat sich ganz spontan, wie die Besetzung, entwickelt. Da gabs die sog. Zentrale, die dann entmachtet wurde, als die Lager immer mehr autonomer und selbstbewusster handelten. In den Lagern gab es anfangs sporadische Plenas, hauptsächlich bevor Aktionen bzw. Verteidigungsmaßnahmen anstanden, später dann regelmäßige und dann auch Hauptplenas zu dem die Lager einzelne Vertreter entsandten. [...] Teilweise genutzt hat das Chaos den Verhandlern vom Konrad-Lorenz-Volksbegehren, die in einem kontrollfreien Raum mit der Regierung verhandeln konnten, ohne Rechenschaft ablegen zu müssen. Das haben wir gottseidank bald abgestellt, da die Stimmung gegen diese Art von Verhandlungen bei den Besetzern sehr stark war und die Besetzer aufgrund ihrer Position einen Druck ausüben konnten. Letztendlich hat sich eine gewisse Organisationsstruktur herausgebildet die der Besetzung adäquat war und auch mit dem Chaos einigermaßen umgehen konnte. Eine Weiterentwicklung hat leider das Ende der Besetzung verhindert." (Notkühlung 1/1985).

Nicht erst in der unibrennt-Bewegung haben sich spontan-demokratische Organisationsformen gebildet. Ein Unterschied ist, dass im Gegensatz zu heute Selbstorganisation damals fast nur innerhalb der Bewegungen und unter Linken und den Autonomen / Anarchist_innen diskutiert wurde. In den Medien wurde nur über die (Verhandlungs)Realpolitik und die spektakulären Auseinandersetzungen berichtet. Nach 1968 tauchte die "Basisdemokratie" allerdings in vielen Bereichen auf und wirkte in den Anfangszeiten noch in die entstehenden Grünen hinein, die sich aber mehr oder weniger schnell von allen partizipatorischen Konzepten verabschiedeten.

Anarchistische und autonome Konzepte in sozialen Bewegungen

An den oben erwähnten sozialen Bewegungen nahmen Anarchist_innen und Autonome teil. Es gibt aber auch eine längere Geschichte der direkten Einwirkungen. Um 1968 haben sich die Aktionsformen geändert: die direkten Aktionen, zuerst der Bürgerrechtsbewegung in den USA, dann der Student_innen gegen den Vietnam-Krieg waren von gewaltfreien anarchistischen Ideen beeinflusst. Später griffen diese Formen auch auf Europa über. Nicht mehr die geordnete, angemeldete Form des Protests wurde gewählt, nicht mehr Gruppierungen (Parteien und Gewerkschaften) mobilisierten ihr Fußvolk, das dann den Redner_innen zuwinkte, sondern jede einzelne Person sollte aktiv werden[3]. Es wird keine Einheit gesucht, sondern der Konsens, zukünftige emanzipatorische Elemente sollen vorweg genommen werden. Und, was jetzt nur am Rande mit dem Thema "Demokratie" zu tun hat, es werden konfrontative Formen der (gewaltfreien) Auseinandersetzung gesucht.

Auf die späteren Besetzungsbewegungen konnten libertäre Organisationsformen direkt Einfluss ausüben. So bei einer Vielzahl von Besetzungen wie etwa gegen ein Kraftwerk in Lambach in Oberösterreich oder gegen den Bau der Ennsnahen Trasse der Pyhrn-Autobahn. Die "Autonomen" waren nicht nur für die Überschreitung legaler Grenzen mitverantwortlich, sondern förderten auch die Selbstorganisationsstrukturen. Im Niedergang der Bewegungen dominierten dann wieder die Funktionär_innen linker Gruppen und Bürokrat_innen. Charakteristisch dafür die vielen Besetzungen des Audimax[4].

Die "Jugend"- und Hausbesetzungsbewegung Anfang der 1980er forderte von vornherein andere Formen der Beteiligung und es ist nicht zufällig, dass daraus die Organisations- und Plenumsstrukturen der "Autonomen" entstanden. In Österreich wurden illegale Besetzungen nicht geduldet. Aber die Struktur der "Szene" war eine Ähnliche, wie in den vielen Besetzungsprojekten in Deutschland. Nicht umsonst hatten die "Autonomen" den Anspruch, das Leben zu organisieren (was ein Zeichen ist, dass die kapitalistische Struktur nicht die einzig mögliche Organisationsform ist), Plenums- und / oder Delegiert_innenstruktur, den Versuch, das Konsensprinzip durchzusetzen, unterschiedliche Versuche, die Beteiligung von vielen zu entwickeln: Vermeidung von Abstimmung, keine Verpflichtung der Beteiligung, wenn eine bestimmte Aktivität abgelehnt wird, die autonome Organisation bestimmter Strukturen, z.B. der autonomer Frauen. In den 1980ern organisierte sich auch der autonome Teil des Feminismus in solchen Strukturen und konnte durch diese Radikalität auf die institutionellen Strukturen zurück wirken. Gerade unter Feministinnen wurde die Diskussion über die Gefahren einer Institutionalisierung sehr intensiv geführt.

Es sind noch einige Worte zu der auch von den Autonomen postulierten "Kollektivität" zu verlieren. Darunter sind nicht die grauen Fabriken des "realen" Sozialismus zu verstehen, sondern das Gegenteil. Die kollektive Herangehensweise verhindert vereinheitlichende Repräsentation und stärkt den individuellen Ausdruck. Wenn alle zu Wort kommen können, kommt es im Gegensatz zu formalen Wahlen zu keiner Gleichschaltung. Es ist bezeichnend, dass die "Autonomen" keine formalen Organisationsformen entwickelten, sondern die Vielfalt eines sozialen Feldes abbildeten, mit unterschiedlichen, auch zerstrittenen Postionen und Beziehungen. Trotzdem wurde innerhalb der Autonomen diskutiert, dass die Abwesenheit formaler Strukturen zu Ungleichgewichten führen kann, wie z.B. zwischen denen, die sehr aktiv sind und anderen, die eher im Hintergrund bleiben. Auch innerhalb der autonomen Szene entwickelten sich manchmal Tendenzen zur Vereinheitlichung, wenn z.B. Aussehen (Punk, schwarz) ein Ausgrenzungskriterium wurde. Das wurde aber immer wieder in Frage gestellt. Auch die Vermummung, die Anonymisierung ist ein "Werkzeug", um die Hervorhebung von Einzelnen zu verhindern (vgl. z.B. die Anonymität des Subcommandante Marcos von den Zapatist_innen).

Wahlen erzeugen im Gegensatz dazu immer Unterlegene, immer Mehrheits- und Minderheitspositionen und damit die Tendenz zur Ausgrenzung. Außerdem bedeuten sie die Heraushebung von Repräsentant_innen und deren Abtrennung von den Repräsentierten.

Seattle / Genua

Die internationale Protestbewegung zwischen Seattle und Genua entwickelte demokratische Organisationsformen, die über oben beschriebenen lokalen oder kleinräumigen Struktur hinausgingen[5]. Peoples Global Action (PGA) wurde 1997 beim von den Zapatist_innen angestoßenen, zweiten Intergalaktischem Treffen in Spanien gegründet. Der Aufbau eines Netzwerkes wurde beschlossen, das zu den globalen Protesttagen anlässlich der Gipfeltreffen der Herrschenden aufrief, und so den Protesten nach Seattle eine breitere Öffentlichkeit verschaffte. PGA ist nur eine Koordination, stark geprägt von Organisationen des globalen Südens. Organisiert wird sie über das Internet und über regelmäßige lokale und globale Konferenzen. Teilnehmen können Strukturen, die mit den Eckpunkten (Hallmarks) in Einklang stehen.[6] Die PGA stellt ein Koordinationswerkzeug dar, keine Organisation. Sie hat keine Mitglieder und ist nicht juristisch repräsentiert. Keine Organisation oder Person kann die PGA repräsentieren.

Die Demonstrationen zu den Aktionstagen wurden dann von breiten Bündnissen getragen, die sich gegenseitig akzeptierten und verschiedene Aktionsformen zuließen. An den Protesten beteiligten sich wesentlich breitere Kreise als solche, die den libertären Konzepten von PGA nahe standen. Das fand seinen Niederschlag in der Entwicklung der Sozialforumsbewegung mit einem antiautoritären (anarchistischen oder autonomen) Flügel, aber auch Gruppierungen und Funktionär_innen von traditionellen Parteien oder von NGOs.

Was ist von diesen Organisationsformen geblieben? Die Sozialforen organisierten jährliche Welttreffen mit regionalen Ablegern. Die Strukturen waren immer gemischt aus Funktionär_innen linker Parteien und libertären partizipatorisch-autonomen Strukturen wie sie u.a. PGA repräsentierte. Die Sozialforumsbewegung hat sich, zumindest in Europa, inzwischen auf einen Haufen Funktionär_innen reduziert, die staatsfeindlichen Strukturen haben sich schon länger zurückgezogen. Die PGA ist aus der Öffentlichkeit verschwunden, dort wird gerade ein Manifest diskutiert, das auf die neuen Bewegungen eingeht. Die Organisations- und Koordinationsformen wurden aber von den aktuellen Bewegungen übernommen, wie etwa der Gebrauch der Handzeichen. Dies ermöglicht, dass auch auf Plena, die von einer großen Anzahl Menschen besucht werden, sinnvolle Debatten stattfinden und Entscheidungen getroffen werden, ohne dass das in fruchtlose Diskussionen ausartet.[7]

Aktualität der direkten Demokratie

Es sind die radikalen und autonomen sozialen Bewegungen, die egal, unter welchem Namen, die Frage der Selbstorganisation oder der Demokratie von unten immer wieder aufwerfen. Nicht nur in der Vielzahl der Besetzungen der letzten Jahre finden sich die hier diskutierten "demokratischen" Strukturen, sondern auch in einer Reihe von Projekten, die sich als anarchistisch, autonom oder DIY (do it yourself) verstehen. Zusammenfassend lassen sich folgende Kennzeichen feststellen:

(1) Kritik des Staates und der Begrenztheit der Demokratie durch Wahlen, aber auch von Formen der Repräsentation in der Öffentlichkeit, oft verbunden mit einer Kritik an den Medien, die mit den herrschenden Oligarchien verbunden sind und sich am (Wahl)Spektakel orientieren. Reflexion und Selbstkritik an hierarchischen Strukturen im Inneren, z.B. durch Menschen, die mehr Aktivität zeigen oder von "Männern", die sich zu stark in den Vordergrund schieben.

(2) Die Suche nach Strukturen, die es möglich machen, dass sich möglichst viele (alle) beteiligen oder beteiligen können: Plenumsstruktur, Vermeidung von Abstimmungen, Gemeinsamkeit ohne die Individualität / Singularität zu unterdrücken.

(3) Direkte Aktion, die sich nicht nur gegen etwas ausdrückt. Es wird versucht, emanzipatorische Strukturen schon jetzt zu erzeugen. Das ist die Organisation des Lebens, von Volksküchen bis hin zur Organisation von Schlafplätzen.

Viele der aktuellen Bewegungen (unibrennt, Indignados, Occupy) lehnen, wie schon erwähnt, direkte anarchistische oder feministische Einflussnahmen ab. Trotzdem konnten sich die in der libertären Szene ausprobierten und diskutierten Experimente durchsetzen. Es gibt den "Sachzwang" der Organisation, der es notwendig macht, dass sich viele beteiligen können und es ist auch die "Propaganda der Tat", die von den Bewegungen organisatorisch umgesetzt wird: Vor unibrennt ereigneten sich in Wien eine Reihe von Besetzungen (Häuser, soziale Zentren, aber auch andere, wie die am Augartenspitz), dort wurde in Arbeitsgruppen, Volksküchen und demokratischen Strukturen experimentiert. Die spanische Bewegung und Occupy übernahmen die Kommunikationsstruktur durch Handzeichen auf Plenas von den internationalen Treffen von PGA.

Es ist auch egal, wie diese Erfahrungen benannt werden: in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden solche Konzepte "Räte" genannt, inzwischen ist die Bezeichnung von institutionellen Strukturen okkupiert. Die Sowjetunion ("Räteunion") hatte nichts mehr mit den Räten, einer Selbstorganisation von unten, zu tun. Ebenso wie heutige "Betriebsräte" fast nur mehr disziplinierende Funktion zu Gunsten der Unternehmen haben. Aber auch andere Begriffe wurden inzwischen in Institutionen verwandelt: "Basisdemokratie" als Schreckgespenst aus der Frühzeit der Grünen war zu seiner Zeit auch nicht viel mehr als ein Versuch, die Eliten rotieren zu lassen.

Warum die Demokratie der Bewegungen nicht Konstituierende Macht nennen, die Form, in der sich die Multitude der revolutionären Bewegungen in der Organisation des Lebens wieder findet? Als Gegensatz zur Konstituierten Macht, die die neuerliche Bürokratisierung und Integration in das System bedeutet, häufig in staatlichen Strukturen, aber auch in die Institutionen von NGOs.


Anmerkungen

[1] Viele der Beispiele stammen aus sozialen Bewegungen in Österreich, die das Thema in zwei Büchern von mir sind: Foltin (2004 / 2010).

[2] Es ist bezeichnend, dass in zwei besonders autoritären Bereichen nie über Demokratie diskutiert werden durfte: in den Fabriken und in den bewaffneten Strukturen wie Polizei und Armee. Nur in revolutionären Situationen wie z.B. in den Umwälzungen nach der Oktoberrevolution entwickelten sich Arbeiter- und Soldatenräte als direkt demokratische Formen.

[3] Auch vor 1968 hat es die Auseinandersetzungen außerhalb der geordneten Strukturen gegeben, wie etwa den Streik 1950 gegen die Lohn-Preis-Pakte, aber dieser spontane Aufbruch wurde einerseits von der sozialdemokratischen Gewerkschaft niedergeknüppelt, aber auch von einer KPÖ-dominierten Betriebsrätekonferenz abgewürgt (vgl. Koller 2011, S. 472ff). Dieser riesige wilde Streik wurde lange als kommunistischer Putschversuch gewertet, später wurde die Spontanität zumindest anerkannt und gesagt, die KPÖ hätte den Streik für ihre Parteipolitik benutzt. Tatsächlich könnte mensch umgekehrt sagen, dass die streikenden und demonstrierenden Arbeiter_innen die KPÖ-Organisation benutzt haben, weil diese die einzigen waren, die den Streik unterstützten.

[4] Wegen der Erfahrungen dieser Besetzungen von 1987, 1992, 1996, 2000 und 2006 wäre ich am 24. Oktober 2009 dagegen gewesen, das Audimax zu besetzen, weil ich mich noch an die fruchtlosen Sektenstreitereien erinnerte. Aber die Besetzer_innen von unibrennt waren offensichtlich Menschen, die diese negativen Erfahrungen nicht gemacht hatten.

[5] Zu den meisten Gipfeln der Herrschenden wurden weltweite Aktionstage ausgerufen und auch vor Ort demonstriert. Zur Konferenz der WTO in Seattle im November 1999 fanden Demonstrationen statt, an denen sich unterschiedliche Gruppierungen beteiligten, von Gewerkschaften bis hin zu Umweltschützer_innen. Die Auseinandersetzungen rückten die Proteste erstmals medial ins Zentrum der Weltöffentlichkeit. Im Juni 2001 fanden mehrtägige, auch militante Demonstrationen gegen den G8-Gipfel in Genua statt. Dort wurde ein Demonstrant von der Polizei erschossen.

[6] Eine Ablehnung von Kapitalismus, Imperialismus und Feudalismus sowie aller Handelsabkommen, Institutionen und Regierungen, die zerstörerische Globalisierung vorantreiben. Eine Ablehnung aller Formen und Systemen von Herrschaft und Diskriminierung, einschließlich (aber nicht ausschließlich) Patriarchat, Rassismus und religiösen Fundamentalismus aller Art. Wir erkennen die vollständige Würde aller Menschen an.
Eine konfrontative Haltung, da wir nicht glauben, dass Lobbyarbeit einen nennenswerten Einfluss haben kann auf undemokratische Organisationen, die maßgeblich vom transnationalen Kapital beeinflusst sind;
Ein Aufruf zu direkter Aktion und zivilem Ungehorsam Unterstützung für die Kämpfe sozialer Bewegungen, die Respekt für das Leben und die Rechte der unterdrückten Menschen maximieren, wie auch den Aufbau von lokalen Alternativen zum Kapitalismus.
Eine Organisationsphilosophie, die auf Dezentralisierung und Autonomie aufgebaut ist.

[7] Ein kurzer Einschub noch zu Kämpfen im globalen Süden. Raul Zibechi (2008) beschreibt die Organisationsformen der aufständischen Gemeinden in Bolivien und findet dort Organisationsstrukturen, die über die westliche Demokratie hinausweisen, weil sich der Staat ganz aus den Stadtvierteln zurückgezogen hat. Der danach folgende Wahlsieg von Evo Morales wird schon wieder als Integration in herrschende Strukturen gesehen. Zibechi nimmt an, dass die Bevölkerung, wenn sie von der Regierung enttäuscht wird, nicht die Rechten wählen wird, sondern sich aus den Wahlprozessen zurückzieht.


Literatur

Asenbaum, Maria / Hajek, Katharina / Botka, Michael / Piro, Ako (2010): "Die Explosion eines politischen Unbehagens". In: Perspektiven Nr 10, S. 4-11.

Das unsichtbare Komitee (2009): Der kommende Aufstand. Hamburg: Nautilus.

Debord, Guy (1996): Die Gesellschaft des Spektakels. Berlin: Edition TIAMAT.

Foltin, Robert (2004): Und wir bewegen uns doch. Soziale Bewegungen in Österreich. Wien, edition grundrisse.

Foltin, Robert (2010): Und wir bewegen uns noch. Zur jüngeren Geschichte sozialer Bewegungen in Österreich. Wien, Mandelbaum kritik & utopie.

Christian Koller (2009): Streikkultur. Performanzen und Diskurse des Arbeitskampfes im schweizerisch-österreichischen Vergleich (1860-1950), Wien / Münster: Lit. Verlag.

Negri, Antonio (1999): Insurgencies. Constituent Power and the Modern State. Minneapolis / London: University of Minnesota Press.

Tamás, Gáspár Miklós (2007): Konterrevolution gegen eine Konterrevolution. In: grundrisse Nr. 23, S. 45-55..

Zibechi, Raul (2008): Bolivien: Die Zersplitterung der Macht. Hamburg: Edition Nautilus.

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Gerhard Hanloser:

Bewegung und Kritik

Zu typisch deutschen Kritikern von Occupy und David Graeber

Die Occupy-Bewegung ist sicherlich als eine der größten und breitesten sozialen Bewegungen der letzten Jahrzehnte zu bewerten. Sie hatte internationale Resonanz hervorgerufen - bis nach China und nach Nigeria, wo sich auch eine gleichnamige Bewegung konstituierte, und sie wirkt noch jenseits des großen medialen Hypes weiter in Demokratie- und Anti-Repressionsbewegungen und in Kämpfen gegen Hausenteignungen verschuldeter Hausbesitzer. Ihr Bewegungszentrum liegt in den USA, ihren Ausgangspunkt nahm sie mit der Besetzung des New Yorker Zuccotti Parks. Wo sich viele Menschen im bestehenden Falschen auftun, ist anzunehmen, dass dieser Aufbruch noch von falschen Vorstellungen geprägt ist. Kritik ist also notwendig. Eine Kritik dieser sozialen Bewegung und ihrer prominenten SprecherInnen sollte allerdings folgendes leisten: Sie sollte die tatsächlichen Inhalte, Logiken und Grammatiken der Bewegung zum Ausgangspunkt nehmen, sowie die Auffassungen ihrer SprecherInnen adäquat darstellen.

Dass dies die Spezialisten in haltloser Polemik aus dem antideutschen Lager nicht leisten wollen, ist ausgemachte Sache. So stellt die Occupy-Bewegung für die Initiative Sozialistisches Forum aus Freiburg, die schon mal bessere Tage gesehen hat, nämlich in den 80er Jahren, lediglich die "allerneueste Etappe des definitiven Niedergangs einer Linken, die ihren Frieden mit der Nation und ihrem Volksstaat längst schon geschlossen hat", dar.[1] Nachdem noch in leichtem Anklang an Adornos Praxis-Kritik zur Zeit der Studentenbewegung eine "groteske Pseudoaktivität" bemängelt wird, erhebt man sich larmoyant über den AktivistInnen, die lediglich eine "gigantische Gruppentherapie" veranstalten würden, um dann beim Kern der beliebten Kritik zu landen: dem Faschismusvorwurf. Die Initiative Sozialistisches Forum hat nämlich die "tatsächliche Bedeutung der größenwahnsinnigen Propaganda von den "99%" erkannt: "Es geht um die Volksgemeinschaft, die nur 1% liquidieren müsste (nämlich die parasitären Finanzkapitalisten), um endlich glücklich und in Frieden leben zu können. 'Wir werden es nicht zulassen, dass wie früher nur gewisse kleine Kreise den Profit der Arbeit anderer haben' - wüsste man nicht zufällig, dass diese Mordparole aus dem Programm der Deutschen Arbeitsfront von 1935 stammt, könnte man sie glatt für die ehrliche Meinung eines "Occupy"-Bewegten halten." Nach dieser Diagnose steht am Schluss die wenig zimperliche Aufforderung, die bereits in ihrer sprachlichen Gestaltung die Verrohung und intellektuelle Verlumpung der sich in einer kritisch-theoretischen Tradition Wähnenden anzeigt: "Haltet die Klappe! Fangt an zu lesen! Occupy reason!" Bei diesem in Worte gefassten Hass auf die Bewegten von Occupy stellt sich die Frage, ob die wenig davor im Text diagnostizierte "Gewaltlüsternheit", die aus den Texten von Occupy sprechen würde, nicht eine astreine Projektion eigener Seelenzustände darstellt.

Der mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung assoziierte und im Konkret-Verlag publizierende ehemalige Grünen-Aktivist, Ökolinx-Publizist und heutige Wertkritiker Peter Bierl würde sich natürlich in großen Gesten von dieser antideutschen Polemik distanzieren, doch seine Kritik an Occupy, die er in seinen Artikeln "Unpersönliche Arithmetik" (Jungle World Nr.42, 18.10.2012) und "Falschmünzerei statt Wertkritik" (iz3w 335) vorlegte, geht in die gleiche Richtung und ist argumentativ nicht weniger perfide konstruiert. Der Autor ist dafür bekannt, dass er seine Urteile mit einer kalkulierten Unschärfe und Unwissenschaftlichkeit formuliert.[2] Zu der Occupy-Bewegung selbst und ihrem Aktionsradius (Alltagskämpfe um Wohnraum, Bildung und medizinische Versorgung, für die Rechte von Flüchtlingen und Gewerkschaften) fällt ihm ein altväterlich-überhebliches "Das sind durchaus erfreuliche Aspekte" ein. Das ist die Sprache des Schulmeisters. Er tadelt mehr, selbst wenn er lobt, denn wenn etwas als "Aspekt" benannt ist, dann zählt es nicht zum Wesentlichen. Sein eigentliches Anliegen ist nämlich, die Occupy-Bewegung auf Bankenkritik zu verkürzen und den anarchistischen Sprecher und Theoretiker David Graeber als bloßen Zinskritiker in der Tradition von Proudhon und Gesell erscheinen zu lassen. Kritik am Zins sei wesentlicher Inhalt der Bewegung und seiner SprecherInnen, behauptet Bierl. Der Autor geht aber noch weiter: er möchte Occupy und Graeber auch noch vorhalten, dass diese tendenziell eine Unterscheidung von (schlechtem) raffendem und (gutem) schaffendem Kapital vornehmen würden, wie es die Nazis in ihrer pseudo-antikapitalistischen Propaganda bekanntermaßen pflegten. Auch das ist Nonsens und kann von Bierl weder mit Zitaten von Graeber noch mit tatsächlichen Aktionen der US-amerikanischen Occupy-Bewegung belegt werden.

Nun könnte man einfach abwinken und Bierls oberflächliche "Kritik" mit dem Hinweis erklären, dass er als Autor eines aktuellen Buches[3] über den irrelevanten und nur in obskuren Zirkeln noch diskutierten Schwundgeld-Verfechter Silvio Gesell (1862-1930) schlicht ein aktuelles und relevantes Objekt gesucht hat, um seine keinesfalls neuen Erkenntnisse über die in der Tat fehlgehende Kapitalismuskritik von Zinskritikern an den Mann und die Frau zu bringen. Allerdings wohl nur um den Preis des Aufbaus eines Pappkameraden. Denn Graeber ist nicht Gesell, er bewegt sich theoretisch jenseits der Linie von Zinskritik, Freiwirtschaft und Bodenreform, und die Zeltplätze von Occupy sind kein neues Wörgl. In Graebers "Schulden"-Monographie findet sich keinerlei Bezug auf Proudhon oder Gesell. Lediglich ein Zitat von Proudhon ist Graebers "Inside-Occupy"-Erfahrungsbericht vorangestellt. Für Bierl, der immer findet, was er sucht, ist dies Beweis genug, den US-amerikanischen Anthropologen als Proudhonisten abzustempeln.

Doch die billige Machart von Bierls "Kritik" sollte dazu einladen, zu überlegen, wie sich eine notwendige Kritik an einer Bewegung artikulieren kann. Es geht also weniger um den Autoren Bierl, der ja immerhin Redakteure findet, die seine Texte abdrucken, sondern der Autor bringt einen Habitus gegenüber Bewegungen zum Ausdruck, der leider weit verbreitet ist. Und seine Art, Kritik zu üben, folgt einer ebenfalls weitverbreiteten Machart innerhalb der Linken: Diese bedient sich der Mittel der zur Schau gestellten Überheblichkeit gegenüber Bewegungen und der demagogischen Textkonstruktion, um andere Theorien und TheoretikerInnen moralisch in ein Zwielicht zu rücken, und damit inhaltlich zu desavouieren.

"Dass die Akkumulation von Kapital der einzige Zweck und Selbstzweck der real existierenden Wirtschaftsform ist... begreifen viele Occupy-AktivistInnen nicht". Das ist die Sprache des Großsprechers. Aber was soll dieser Satz eigentlich bedeuten? Die Menschen gehen schließlich auf die Straße, protestieren, trauen sich konfrontative Situationen mit der Staatsmacht zu, weil sie erkannt haben, dass sie und ihre Bedürfnisse in der real existierenden Gesellschaft nichts zählen. Auch wenn die AktivistInnen die Sprache des Bierl nicht sprechen, dass sie den Sachverhalt selbst - die absolute Irrelevanz des Einzelnen angesichts eines totalitären Profitsystems - nicht merken, fühlen und begreifen, ist eine Unterstellung. Umgekehrt stellt sich die Frage: Hat denn Bierl begriffen, wie eine Bewegung entsteht, was ihre Dynamiken sind, wie eine radikale Vertiefung von Kritik in einer sozialen Bewegung gelingen kann und wie eine gesellschaftliche Ausweitung von Protestpotential auf andere Sektoren gelingen könnte? Die Wahrheit ist: er will dies gar nicht begreifen, weil ihn diese Fragestellungen überhaupt nicht interessieren.

Die Occupy-Bewegung ist ein Beispiel dafür, dass sich, regional recht unterschiedlich ausgeprägt, in der Bewegung selbst einige Ideologien auflösen konnten. So wurde an der Westküste der USA - besonders in Oakland - eingesehen, dass man vom "Fetisch Platzbesetzung" abrücken muss, dass sich die Machtfrage nicht über vehemente Präsentation in der Öffentlichkeit, sondern nur über die Sabotage des kapitalistischen Alltags und seiner Arbeitsabläufe stellen lässt. "Verlasst die Plätze, besetzt Häuser, Brücken, Häfen!", war eine oft gehörte Parole in den USA. So hat die Bewegung den Machtbegriff von Marx insofern "begriffen", dass gesehen wurde, dass man andere Sektoren, besonders relevante Teile der working class in den USA, für sich gewinnen muss. Wer so gerne mit Karl Marx Kritik der politischen Ökonomie autoritär rumfuchtelt wie Bierl, sie aber weder ausführen noch aktualisieren und auf eine Bewegung beziehen kann, dem sollte doch diese Dynamik von Occupy zumindest aufgefallen sein. Doch Bierl will Occupy nur vor den Banken sitzen sehen.

"Insgesamt bietet Graeber für einen radikalen linken Ansatz nicht genug", schreibt Bierl. Das ist die Sprache des Konsumenten. Aber was bietet Bierl? Abgesehen von den Verdrehungen, Unterstellungen und Denunziationen eigentlich nur Phrasen wie "regressiver Antikapitalismus" - was wäre denn ein fortschrittlicher? Bei Bierl wird man nicht fündig. Der Autor operiert lediglich mit autoritären Setzungen. Der ehemals Grüne hat sich die Kapuze des Anhängers von Marx, Bakunin und Kropotkin übergezogen, das soll radikal wirken. Was jedoch klassischer Anarchismus und klassischer Marxismus heutzutage als "radikal", also: theoretisch und praktisch an die Wurzeln des Systems gehend ausweisen könnte, beschreibt Bierl nicht.

Der Hinweis auf den biographischen Werdegang, die Politsozialisation in der Partei "Die Grünen" wird deswegen angeführt, weil Bierl hier keine Ausnahme darstellt: denn einige selbsterklärte Kritiker oder Ideologiekritiker der Linken, die sich in Unwissenschaftlichkeit, Freund-Feind-Scheidung und einer das Demagogische nicht ausschließenden Polemik gefallen, haben einen solchen Parteihintergrund vorzuweisen: von Justus Wertmüller (Bahamas) über Rainer Trampert und Thomas Ebermann, die Ökolinx bis zu Peter Bierl. Aus ihrer Phase des Grünenaktivismus scheinen sie allerhand Frustrationen über die Möglichkeiten von Bewegung und Aktivismus angesammelt zu haben, in ihren publizistischen Interventionen kommt nach wie vor eine parteimäßige Logik des Politischen zum Tragen, die auf autoritäre Akklamation setzt und sich jenseits wissenschaftlicher Redlichkeit und dem Willen zur Freundschaft im Medium weltverändernder Gemeinsamkeit vollzieht. Kritik zu üben wird vorgegeben, jedoch de facto zur reinen Polemik herabgewürdigt. Doch daran schließt sich immer die Frage an: "Was wär ich ohne dich, Freund Publikum?"

Eine wirklich aufhebende Kritik in Marxscher Tradition könnte als Ideologiekritik herausstellen, dass Fehlwahrnehmung entweder mit einem bestimmten Interesse oder einer fetischistischen Bewusstseinsstruktur zu tun hat. Diese sind aber nicht für immer und ewig fixiert, sondern können gerade im Medium der Bewegung und durch Erfahrung verändert werden. Und was die Auseinandersetzung mit Theorie anbelangt, so würde eine aufhebende Kritik ihre Kriterien nicht phrasenhaft als die richtigen schlicht behaupten, sondern in der Darstellung der Selbstwidersprüchlichkeit der anderen, als falsch erachteten Theorie die eigene Richtigkeit beweisen und in der Darstellung der Plausibilität der eigenen Kriterien und Kategorien die andere Position als falsch erkennen lassen.

Wenn man also - beispielsweise - die populistische Occupy-Parole von den 99% angemessen kritisieren wollte, dann müsste man eine eigene Klassenanalyse vorlegen, die dieses Bild der 99% nachvollziehbar widerlegt. Andernfalls bleibt alles bloßer Glaubenssatz - und Glaubenssätze sind immer autoritär. Wenn man obskurantistische Ausläufer einiger Occupy-Zeltlager, die es sicherlich gab, kritisieren will, dann müsste man erklären, warum sie entstanden, wer ihre TrägerInnen sind, aber auch welche Bedeutung sie eingenommen haben. Und wenn man Graebers nicht-marxistische radikale Gesellschaftskritik kritisieren will, sollte man zumindest plausibel nachweisen, dass er Geschichte und Wirklichkeit mit seinen Kategorien nur fehlerhaft abzubilden in der Lage ist und beispielsweise orthodox-marxistische Geschichtsschreibung wie Theorie besser geeignet sind. Diese Mühe sollte man sich schon machen.

Bierl ist aber kein Ideologiekritiker, sondern moralinsaurer Zielfahnder. Am Anfang steht das Verbrechen. Dieses lautet "regressiver Antikapitalismus". Dann wird die Leiche gesucht, werden Beweisketten konstruiert, Indizien gesammelt, Querverbindungen behauptet. Am Schluss brauchen Occupy und David Graeber ein Alibi. Können sie beweisen, nicht regressiv zu sein?


Anmerkungen

[1] Initiative Sozialistisches Forum, Occupy Reason! http://www.ca-ira.net/isf/jourfixe/jf-2012-1_occupy.html

[2] So urteilte er über die Globalisierungsbewegung in der Vergangenheit wie folgt: "Im Verständnis der globalisierungskritischen Bewegung wird Globalisierung als eine negative Entwicklung der Weltwirtschaft aufgefasst, die sich erst in jüngster Zeit ereignet haben soll und angeblich vom Finanzsektor mit Hilfe modernster Kommunikations- und Informationstechnik dominiert wird... Solche irreführenden Vorstellungen über Kapitalismus werden von Attac vertreten, von Prominenten wie Subcomandante Marcos von den Zapatisten, von Naomi Klein oder von Michael Hardt und Antonio Negri, die als Linke gelten. Maßgeblich mit geprägt haben diese Ideen auch Gruppen und Personen aus dem esoterisch-ökofaschistischen Spektrum der Ökologiebewegung. Auf internationaler Ebene handelt es sich um das "International Forum on Globalization", einen elitären Club von etwa 60 Personen, Esoterikern und Protektionisten, Rechten und Linksliberalen, der von der "Foundation for Deep Ecology" initiiert wurde. In Deutschland sind es die Ökofeministinnen um die Kölner Soziologin Maria Mies, Anthroposophen vom Netzwerk Dreigliederung und die Anhänger der Zinsknechtschaftslehre des Silvio Gesell sowie der Tauschringe..." Das ist die Methode Bierl: Zusammenrühren, was ihm nicht passt.
http://userpage.fu-berlin.de/~roehrigw/kritik/bierl_tauschring.pdf

[3] Peter Bierl, Schwundgeld, Freiwirtschaft und Rassenwahn. Kapitalismuskritik von rechts - Der Fall Silvio Gesell, Konkret Verlag Hamburg 2013

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Buchbesprechung von Andreas Kranebitter

Gruppe INEX (Hg.): Nie wieder Kommunismus? Zur Linken Kritik an Stalinismus und Realsozialismus

Münster: Unrast Verlag 2012, 232 Seiten, Euro 14,80

Erst seit relativ kurzer Zeit scheint es wieder opportun zu sein, innerhalb der Linken über den Charakter "des Kommunismus" im 20. Jahrhundert zu debattieren. Herrschte in den 1990er-Jahre in dieser Hinsicht noch allgemeines Schweigen, so zwang spätestens das immer beliebter werdende Genre der "Sozialismus-im-21.-Jahrhundert-Bücher" ihre Autorinnen und Autoren, sich mehr oder weniger ausführlich auch mit dem Sozialismus des 20. Jahrhunderts auseinanderzusetzen.[1] Diese Beschäftigung war insofern, und das ist gerade das positive und erfrischende daran, nicht mehr Selbstzweck. Auch das hier besprochene Buch setzt diese Diskussion fort. Es wurde nicht geschrieben, um in der Vergangenheit oder der Kritik dieser Vergangenheit zu schwelgen, sondern, wie der Klappentext verspricht, aus "Hoffnung auf eine emanzipatorische Politik, die aus den Erkenntnissen über die linke Vergangenheit die richtigen Lehren zieht". Vergangenheitsbeschäftigung also nicht als Selbstzweck, sondern mit Blick auf eine mögliche andere Zukunft, als, wie es die ebenfalls vertretene Autorin Bini Adamczak andernorts formuliert hat, "Rekonstruktion der Zukunft".

Die heutige Welle dieser Vergangenheitsarbeit könnte man als dritte Welle einer derartigen Auseinandersetzung bezeichnen. Sie hat gegenüber den ersten beiden den Vorzug, dass ihr Forschungsobjekt bereits Geschichte ist. Das ermöglicht eine gewisse Distanz zum Objekt, ermöglicht es, aus dem Reich der formelhaften Problemlösungen, der ideologischen Schnellsch(l)üsse und der kategorisch ausgrenzenden Positionierungen auszutreten und die ganze Sache nüchterner und kühler zu diskutieren. Denn die Anfänge linker Kritik an Stalinismus und Realsozialismus, die erste Welle der Stalinismuskritik, war in den 1920er- und 1930er-Jahren tatsächlich unmittelbares Zeitgeschehen, lief allzu oft buchstäblich auf Fragen von Leben und Tod hinaus. Die Debatten der zweiten Welle in den 1960er- und 1970er-Jahren waren ideologisch verfahren, ergaben sich aus dem Zwang, sich im "sino-sowjetischen" Streit zu positionieren, die schwindende Attraktivität und Legitimität "realsozialistischer" Staaten zu kompensieren oder die eigene Kleingruppe von den unzähligen Konkurrentinnen abzugrenzen.

Auch wenn eine detaillierte Darstellung der einzelnen Beiträge hier nicht gegeben werden kann, sei kurz auf den Inhalt der Beiträge verwiesen. Christian Schmidt versucht in "Die Politik des Kommunismus" einleitend, die theoretischen Fehlannahmen und Irrglauben eines "wissenschaftlichen" Kommunismus zu rekonstruieren; die Gruppe Che Buraska sieht die bolschewistische Nationalitätenpolitik im riesenhaften Unding der Sowjetunion als von allem Anfang an "In der Sackgasse"; Diethard Behrens formuliert in "Vom Scheitern eines Versuchs gesellschaftlicher Modernisierung" einige Thesen zum Stalinismus. Der erste wirklich lesenswerte und neue, weil auch ökonomisch fundierte Artikel, ist Rüdiger Mats mit seiner Auseinandersetzung "Mit 'wissenschaftlichem Sozialismus' in den Staatsbankrott" gelungen, die Realität und Debatte um Vergangenheit und Zukunft der Planwirtschaft diskutiert. Christoph Jünke untersucht die "Schädelstätte des Sozialismus", die Stalins berüchtigte "Zweite Revolution" hinterlassen hat und deren ermordete AnalytikerInnen die eigentlichen Grundsteine der Stalinismusforschung gelegt haben; Bini Adamczak beschäftigt sich mit den Geschlechtlichkeiten in der Theorie und Praxis der frühen Sowjetunion. Die DDR ist Thema von Philipp Graf, der in "Nach Hitler wir!" den offiziell verordneten und realen DDR-Antifaschismus untersucht, und Ulrike Breitsprecher, die sich mit der schleichenden Abnahme des utopischen Gehalts der DDR-Kunst beschäftigt. Hendrik Wallat lässt in "Die Weltreaktion ist auch Moskau!" vergessene und verschüttete zeitgenössische Kritiker des Bolschewismus zu Wort kommen, Sebastian Tränkle in "Akrobatenkunststücke auf dem Seil des Gewissens" den seiner Ansicht nach zu Unrecht als Antikommunisten abgestempelten Arthur Koestler. Alexis Kunze und die Gruppe [paeris] versuchen schließlich, in "Liegt es am System?" bzw. in "Der real gescheiterte Sozialismus und die real existierende sozialistische Linke" die antistalinistische Haltung linker Strömungen seit den 1960er-Jahren sichtbar zu machen und die heutige Relevanz einer antistalinistischen Haltung bzw. die Lehren aus der Geschichte zu ziehen.

Natürlich kann ein derartiger PechaKucha-Wordrap kaum beanspruchen, auch nur die Grundideen der AutorInnen präsentiert zu haben. Dennoch werden dabei einige problematische Punkte des Bandes bereits deutlich: Die thematische Breite der Beiträge bedeutet gleichzeitig eine "Ausfransung" und teilweise eine ermüdende inhaltliche Redundanz. Es wurde, wie die HerausgeberInnen betonen, bewusst nicht redaktionell eingegriffen, weil man sich um Offenheit bemüht hat - dennoch stellt sich die Frage, ob ein derartiges Eingreifen nicht die Lesbarkeit erhöht hätte. Schwerwiegender, wenn auch weder Autorinnen noch Herausgeberin anzulasten, wiegt da schon die geografische Beschränkung auf die DDR und Sowjetunion. Schmerzlich vermisst man nicht nur China, Kuba oder Vietnam, sondern auch sämtliche andere osteuropäische "Sozialismen". Schwerer wiegt auch die Tatsache, dass nur wenige Beiträge überhaupt versuchen, den im Klappentext versprochenen Sprung von der Geschichtsschreibung zur heutigen und künftigen politischen Relevanz zu wagen. Bei aller Liebe, allem Respekt und allem selbst aufgebrachten Interesse für die Sache - aber was sagen uns DDR-Antifaschismus, Arthur Koestlers Romane und Otto Rühles Einschätzung der Sowjetmacht heute, was bringt eine Auseinandersetzung mit ihnen? Das liegt nicht auf der Hand, sondern muss (und kann ja auch) begründet werden. Es geht - das soll hier betont sein - nicht darum, eine unmittelbare "Verwertbarkeit" für "uns" zu fordern, es geht aber sehr wohl darum, die grundlegende Reflexion einer Beschäftigung einzufordern, also zu verlangen, dass sich AutorInnen darum bemühen, diese Relevanzfrage zu stellen. Andernfalls laufen Beiträge Gefahr, wie brave akademische Seminararbeiten zu wirken.

Inhaltlich möchte ich auf einige Details eingehen. Derartig viele Abhandlungen suchen "den Fehler" in der "bolschewistischen" Theorie, dass auch diese Suche eine genauere Betrachtung verdient. Das Vorhaben ist sicherlich nicht per se sinnlos oder unmöglich; schließlich finden sich - und das wird in einigen Beiträgen deutlich - allzu viele haarsträubende Zitate bei Lenin und Konsorten. Dennoch treibt diese Fehlersuche seltsame Blüten, etwa dann, wenn "Che Buraska" den Untergang der Sowjetunion auf Lenins "falsche" Nationalitätenpolitik und Staatstheorie zurückführen ("Staatskritik geht anders"). Da gibt es keine konkreten historischen Bedingungen, keine taktischen Maßnahmen, da finden sich auch keine historischen Entwicklungen, die Politik und Ideologie bestimmen oder vor sich hertreiben - da gibt es nur eine "falsche Ideologie", die von allem Anfang an zu falschen Maßnahmen führt und konsequenterweise die nicht-intendierte Folge des Zusammenbruchs des Sowjetreichs nach sich zieht ("In dieser Manier hat sich die Sowjetunion während ihrer 80-jährigen Existenz stets auf die Welt bezogen"). Anders, mit der richtigen Politik, hätt's vielleicht funktioniert - zum Beispiel, so glauben die AutorInnen zu wissen, indem man Menschen, die in ihrem falschen Bewusstsein Nation und Religion vergöttert hatten, kritisiert und aufgeklärt (!) hätte... Was Che Buraska hier tun ist nichts anderes als die Erhöhung der Figur Lenins, dessen Theorien handlungsleitend gewesen seien, die Reduktion der Geschichte auf die Ideen der großen Männer, und die Abstraktion von jeder realen Geschichte. Das ist aber wiederum nichts anderes als die Praxis einer absolut nicht-materialistischen Geschichtsschreibung und liegt gefährlich nahe an den Argumentationen der TotalitarismustheoretikerInnen im Kalten Krieg, die in allem, was in der Sowjetunion passierte, "die Ideologie" schlechthin schalten und walten sahen.[2]

Zu anderen Schlüssen kommt Rüdiger Mats, der sich ebenfalls die Frage stellt, ob die Probleme der Planwirtschaft nicht in der Konzeption von Planwirtschaft selbst gelegen hätten und liegen. Er blickt kurz auf die Wirtschaftsgeschichte der Sowjetunion, vom Kriegskommunismus über NÖP und Kollektivierung auf die beginnende Stagnation der 1960er-Jahre, in denen die vielfachen Ungleichzeitigkeiten und Ungereimtheiten in den diversen Sektoren der sowjetischen Planwirtschaft im Westen, in der Sowjetunion und auch in der Linken den Schluss nahe legten, dass sich eine komplexe Wirtschaft grundsätzlich nicht planen ließe. Die Wirtschaftsreformen der 1960er-Jahre hätten eine Kombination von Markt und Plan bewirkt, die die Probleme der disproportionalen Produktion nur verschärft hätten und, da sie nur mehr durch internationale Kredite künstlich verzögert werden konnten, letzten Endes in den wirtschaftlichen Bankrott der 1980er-Jahre gemündet hätten. Zentrale Planer, lokale Betriebsleitungen und Belegschaften hatten unterschiedliche Interessen; wollten die ersteren dem Westen nachlaufen, so hätten sie zur Konkurrenzfähigkeit auch die "Arbeitsproduktivität", also den Ausbeutungsgrad der Arbeitenden erhöhen müssen - was ihnen (einer der wenigen Vorzüge des Realsozialismus) nie gelang. Ihre Lösung - "Mehr Markt" - war keine Lösung. Mats sieht in dieser konkreten Entwicklung kein Scheitern "der Planwirtschaft" an sich, sondern ein Problem der Interessenskollisionen im Sozialismus, die in den Kommandogesellschaften nach sowjetischem Vorbild nicht artikulierbar waren und nicht artikuliert wurden. Er hält hier aber nicht am orthodoxen Planfetischismus fest, sondern diskutiert erfrischend die konkreten historischen Probleme der Planwirtschaft vor dem Hintergrund ihres eventuellen Wiederauftauchens in der Zukunft...

Dennoch bleiben Beiträge wie dieser die Ausnahme: Eine Abgehobenheit von Geschichte und vor allem von zeitgenössischer Geschichtsschreibung ist generell der zentrale Schwachpunkt des Bandes. Die, wie oben bereits erwähnt, auf Sowjetunion und DDR beschränkte geografische Basis der Abhandlungen wird auch mit beschränktem empirischen Material analysiert, oft gar nur langatmig nacherzählt. Selten - eigentlich nur bei Adamczak, Jühnke und Mats - wird überhaupt neuere wissenschaftliche Literatur zitiert, meist werden die ewig gleichen Standardwerke vergangener Zeiten als Referenz herangezogen. Auch das ist nicht per se schlecht - denn auch die "alte" Literatur hat einiges zu bieten, während in der "neuen" Geschichtsschreibung teilweise altbackene Thesen in neuem Gewand wiederkehren, die mit Paukenschlägen vor allem eine konservative Wende in der "Kommunismusforschung" einläuten. Aber genau das wäre zu beweisen, indem man sich mit dieser neueren Geschichtsforschung auseinandersetzt. Und das kann wiederum nur, wer nicht nur diese Werke selbst, sondern auch die vielbeschworene Öffnung der Archive in der ehemaligen Sowjetunion, die sich in unzähligen Veröffentlichungen von Archivmaterial oder Studien auf Basis dieser Einsichtnahme manifestiert, wahrgenommen und gelesen hat.[3] Andernfalls kann man sich sowohl Abfassung als auch Lektüre von Nacherzählungen der Geschichte der Sowjetunion ganz einfach sparen.

Die mangelnde Bezugnahme auf zeitgenössische Quellen und Arbeiten ist provokant gesagt Symptom. Symptom dafür, dass die heutige Linke den Anschlusszug verpasst hat, dass geschichtswissenschaftliche Erkenntnisse und linke Deutungsversuche - zumindest im deutschsprachigen Raum - so weit auseinanderklaffen wie selten zuvor. Waren marxistische oder allgemein linke Auseinandersetzungen mit dem real existierenden Phänomen Kommunismus in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts - wie nicht zuletzt Jühnke und Wallat in diesem Band zeigen - noch bestinformiert, federführend und einflussreich; mussten die Debatten der 60er- und 70er-Jahre trotz aller ideologischer Verfahrenheit den Vergleich mit der "bürgerlichen" Geschichtswissenschaft keineswegs scheuen; so mutet die heutige Qualität der linken Auseinandersetzung, wie sie in "Nie wieder Kommunismus?" zum Ausdruck kommt, bestenfalls "brav" und "solide" an, schlimmstenfalls aber empirieresistent, langatmig und arrogant. Wirklich lesbar sind meines Erachtens nur die Kurzfassungen bereits andernorts publizierter Auseinandersetzungen (wie Jühnke und Wallat) sozusagen für "eilige Linke"; das informative Neue ist in Gestalt der hervorzuhebenden Artikel von Adamczak und Mats in der absoluten Minderzahl. Fazit: Großer Anspruch, verpasster Anschluss.


Anmerkungen

[1] Vgl. beispielsweise Tomás Moulian: Ein Sozialismus für das 21. Jahrhundert. Der Fünfte Weg (Zürich 2003), Erhard Crome: Sozialismus im 21. Jahrhundert. Zwölf Essays über die Zukunft (Berlin 2006) und Heinz Dieterich: Der Sozialismus des 21. Jahrhunderts. Wirtschaft, Gesellschaft und Demokratie nach dem globalen Kapitalismus (Berlin 2006), zuletzt Bini Adamczak: Gestern Morgen. Über die Einsamkeit kommunistischer Gespenster und die Rekonstruktion der Zukunft (Münster 2007).

[2] Gerade dieser Kern der Totalitarismustheorie wurde in weiterer Folge nicht nur von der "revisionistischen" Schule der Sowjetforschung scharf zurückgewiesen, sondern auch von den allermeisten heutigen HistorikerInnen, die sich einer kulturgeschichtlichen Wende verschrieben haben. Sehr treffend hat das beispielsweise der deutsche Historiker Karl Schlögel formuliert: "Die Matrix der historischen Wahrnehmung und Analyse ist nach dieser paradigmatischen Wende eine andere. Vieles, was nach Omnipotenz der Staatsmacht aussah, ist nun Verzweiflungshandeln einer ohnmächtigen Macht; was als tollkühne Utopie daherkommt, ist pures Notstandsdenken, ohne das eine Macht mit denkbar schwacher Legitimation nicht einen Tag überleben könnte. Was als Plan erscheint, stellt sich bei näherem Hinsehen als Nothandeln, Improvisation, Reagieren und Lavieren, Leben von der Hand in den Mund heraus. Das 'System' erweist sich in Wahrheit als ein notdürftig beherrschtes, zuweilen aber auch als ein immer wieder zur Herrschaftssicherung erneut entfesseltes Chaos. (...). Es bedarf keines Systems, keiner Logik oder Idee als eines archimedischen Punktes, von dem aus sich alles erklären lässt - die Verwirklichung eines Plans, eine Utopie, die Umsetzung eines Experiments -, sondern lediglich eine Vergegenwärtigung des Spiels der Kräfte vor Ort, das in Wahrheit ein Kräftemessen, ein Kampf auf Leben und Tod ist" (Karl Schlögel: Terror und Traum. Moskau 1937 (Frankfurt/Main 2010), S. 29f.).

[3] Im deutschsprachigen Raum sei hier nur auf die "Jahrbücher der Kommunismusforschung" oder die Publikationen des Hamburger Instituts für Sozialforschung verwiesen, ebenso scheint (im Anschluss an Jühnke und Adamczak) eine, vielleicht kritischere, Auseinandersetzung mit den in den letzten Jahren erschienenen Werken von Historikern wie Orlando Figes, Jörg Baberowski oder Karl Schlögel wünschenswert. Bereits großteils mittlerweile auch auf Deutsch erhältlich sind nicht nur Unmengen an Werken der so genannten "revisionistischen Schule" und der postrevisionistischen kulturgeschichtlichen Wende, sondern auch Quelleneditionen wie Stalins Korrespondenzen mit Molotow und Kaganowitsch, ebenso "Geschichte-von-unten-Dokumente" wie Tagebücher oder Oral-History-Publikationen. Darüber hinaus vermisst man beispielsweise auch Auseinandersetzungen mit den jüngst erschienenen Trotzki- und Stalin-Biografien oder auch nur den Hinweis auf deren vielfache KritikerInnen.

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Buchbesprechung von Paul Pop

Michael Seidman: Gegen die Arbeit: Über Arbeiterkämpfe in Barcelona und Paris, 1936-1938

Mit einem Vorwort von Karl-Heinz Roth und Marcel van der Linden Heidelberg: Verlag Graswurzelrevolution, 2011, 477 Seiten, Euro 24,90

Barcelona und Paris: Gegen die Arbeit

Die Volksfrontregierungen in Frankreich und Spanien von 1936 und die damit verbundenen Kämpfe gehören zu den großen und umstrittenen Ereignissen der Revolutionsgeschichte des 20. Jahrhunderts. Nach dem 7. Weltkongress der Kommunistischen Internationalen 1935 versuchten die Kommunistischen Parteien klassenübergreifende Volksfronten gegen den europäischen Faschismus und japanischen Imperialismus zu schmieden. In Spanien unterstützte sogar die anarchosyndikalistische Gewerkschaft CNT (Confederación Nacional del Trabajo) die Volksfront aus SozialistInnen, KommunistInnen und bürgerlichen Liberalen, die im Februar 1936 die Wahlen gewann. Nach dem vorerst gescheiterten Putschversuch rechtsgerichteter Teile des Militärs, geführt von General Franco, im Juli 1936, kam es vor allem in der Provinz Katalonien zur sozialen Revolution. Das Bürgertum floh aus Barcelona, die meisten Fabriken wurden in Folge von Arbeiterkomitees der CNT übernommen. Auf ihrem Höhepunkt hatte die CNT bis zu zwei Millionen Mitglieder in Spanien und ihre Hochburg war Katalonien.

In Frankreich gewann die Volksfront im Mai 1936 Wahlen und bildete bis Juni 1937 unter Führung des Sozialisten Leon Blum eine Regierung, die von der KPF im Parlament unterstützt wurde. Als Reaktion auf Generalstreik und illegale Fabrikbesetzungen führte die Volksfrontregierung die 40-Stundenwoche sowie zwei Wochen bezahlten gesetzlichen Urlaub ein, was damals in Europa eine große Errungenschaft darstellte. Das französische Bürgertum war aber stärker als das spanische; bis auf die Verstaatlichung der Rüstungsindustrie blieb die kapitalistische Eigentumsordnung unangetastet. Oft wurde in der Linken später diskutiert, wer die spanische oder französische Revolution verraten haben soll oder ob es in diesen Ländern damals überhaupt eine revolutionäre Situation gab. Die zentrale Streitfrage bezüglich des spanischen Bürgerkrieges (1936-1939) ist bis heute, ob die soziale Revolution die Voraussetzung für die Gewinnung des Krieges gegen die FaschistInnen war oder ob erst in einem möglichst breiten Bündnis und einer zentralisierten Armee der Krieg gewonnen werden musste, um an die Möglichkeit einer sozialen Revolution überhaupt denken zu können.

Michael Seidman, Professor an der University of North Carolina (Wilmington), wählt in seinem Buch Gegen die Arbeit einen ganz anderen Zugang: Er untersuchte Arbeitskonflikte auf der Betriebsebene und die Rolle der Gewerkschaften in Paris und Barcelona zwischen 1936 und 1938. Dabei kommt er zu dem Ergebnis, dass die ArbeiterInnen die neu gewonnen Freiheiten dazu nutzten, sich den Zumutungen der Lohnarbeit zu entziehen und weniger arbeiteten als zuvor sowie die Produktivität senkten. Außerdem kam es trotz linker Regierungsbeteiligungen weiter zu Streiks. Er argumentiert, dass die FunktionärInnen, sowohl der kommunistisch-dominierten Gewerkschaft CGT (Confédération générale du travail) in Frankreich als auch der spanischen CNT, glaubten, dass Arbeiterbeteiligung und die Demokratisierung der Fabrik zu einer Rationalisierung und Steigerung der Produktivität führen würden. Dabei liebäugelten sogar einige mit den Management-Ideen von Henry Ford oder dem Traum von Autostädten.

Da die Macht der UnternehmerInnen geschwächt war, konnten CGT und CNT in Teilen der Industrie über die Einstellungen von ArbeiterInnen entscheiden, was auch die Mitgliedschaft in den Gewerkschaften besonders attraktiv machte. Die Mitgliederzahlen der CGT wuchsen z.B. von 800.000 (1935) auf 4 Millionen (1937) an (S.449). Die Disziplinlosigkeit von ArbeiterInnen wurde in Folge zum direkten Problem der Gewerkschaften. In Frankreich appellierte die CGT, die Produktion müsse wegen Rezension und Kriegsgefahr gesteigert werden. (Im März 1936 waren die Truppen Nazideutschlands in das entmilitarisierte Rheinland einmarschiert.) UnternehmerInnen und liberale BündnispartnerInnen übten dagegen Druck auf die Regierung aus, die 40-Stundenwoche wieder abzuschaffen. Das Festhalten der ArbeiterInnen an der verkürzten Arbeitswoche trug zur Sprengung der Regierungskoalition bei, so Seidman. "Die Volksfront war wegen ihrer Ausweitung der Freizeit beliebt und es war kaum überraschend, dass ihr Ende von Arbeiteraktionen gegen die Erhöhung der Arbeitszeit ausgelöst wurde" (S. 422). In Spanien wollten trotz des Bürgerkrieges zwischen der Republik und den Putschisten 1936 und 1937 viele Arbeiter in Barcelona nicht auf den Sommerurlaub verzichten (S. 219). Schließlich unterstützte auch die CNT Disziplinierungsmaßnahmen gegen ArbeiterInnen wie die Einführung von Arbeitszertifikaten. Die Konflikte in Paris und Barcelona gelten Seidman als Beispiel für ArbeiterInnenwiderstand gegen die Zwänge des Arbeitsraumes und der Arbeitszeit. Er macht die oft verdeckten Formen des alltäglichen Widerstandes in den Betrieben sichtbar.

Seidmans Buch stützt sich auf reiches Quellenmaterial, vor allem auf Dokumente von Betriebsversammlungen, aber auch Berichte von UnternehmerInnen. Die englische Fassung des Buches erschien schon 1991 bei University Press of California. Es ist der Verdienst des Verlages Graswurzelrevolution und der ÜbersetzerInnen, dass die innovative Studie jetzt auch auf Deutsch vorliegt. Interessant ist, dass Seidmans Kritik die kommunistischen und anarchistischen Gewerkschaften gleichermaßen trifft. Es ist auch eine indirekte Kritik am Linkskommunismus, der oft den Eindruck erweckt, alles löse sich in Wohlgefallen auf, wenn ArbeiterInnenkomitees in den Betrieben die Macht übernehmen. Der Rückgang von Produktivität wird dann immer mit dem Eingreifen von bösen ParteifunktionärInnen erklärt, durch das die ArbeiterInnen ihren Enthusiasmus verlieren würden. Seidmans Buch gibt indirekt auch orthodoxen KommunistInnen Argumente in die Hand, die behaupten, dass in Spanien die Republik den Bürgerkrieg gegen den Faschismus auch deshalb verloren habe, weil AnarchistInnen die Versuche der Zentralisierung von Armee und Produktion sabotiert hätten. Haben nicht auch ArbeiterInnen den Kampf gegen den Faschismus verraten, wenn sie sich 1937 weigerten, auf den Sommerurlaub zu verzichten, während Zehntausende GenossInnen in den Streitkräften der Republik und Internationalen Brigaden an der Front starben?

Seidmans Argumente regen zum Nachdenken an, allerdings sind sie nicht vollständig überzeugend: Haben wirklich Millionen organisierte ArbeiterInnen in Paris und Barcelona nur ans Blaumachen und Bummeln gedacht oder waren nicht einige auch von den großen Zukunftsvisionen des Kommunismus und Anarchismus beeinflusst? Im Vorwort von 2011 lobt Seidman die "gesunde Skepsis der einzelnen Lohnabhängigen gegenüber verschiedenen Ideologien - Nationalismus, Faschismus, Sozialismus, Kommunismus und Anarchosyndikalismus, die sie beziehungsweise ihn davon überzeugen wollen, sich für eine Sache zu plagen" (S. 16). Existieren diese Ideologien nur außerhalb der Individuen und Klassen? In Seidmans Buch erscheint es, dass nur die FunktionärInnen an das große Ganze dachten, während die ArbeiterInnen nur individuellen Interessen nachgingen. Das scheint fast wie Lenins These aus "Was tun?", der sagte, dass ArbeiterInnen von sich heraus nur gewerkschaftliches Bewusstsein entwickeln könnten. Seidman ist natürlich kein Leninist und steht in diesem Konflikt wohl eher auf der Seite der bummelnden ArbeiterInnen. Die binäre Gegenüberstellung von ArbeiterInnen und FunktionärInnen erscheint im Buch oft künstlich.

Fragwürdig ist auch eine Analyse der Situation in Barcelona, die den Bürgerkrieg nur am Rande erwähnt. Der spanische Bürgerkrieg war damals der größte militärische Konflikt in Europa nach dem 1. Weltkrieg und kostete über 500.000 Menschen das Leben. Auf der Seite Francos standen das faschistische Italien und Nazideutschland, die Waffen und Elitentruppen für den kommenden Weltkrieg probten. Die zeitweilige Regierungsbeteiligung der CNT und auch die Notwendigkeit in manchen Fällen gegen die eigene Basis handeln zu müssen, ist ohne diesen Hintergrund nicht zu verstehen. Zentral für die Bildung und das Ende der Volksfronten in beiden Ländern war auch die Außenpolitik der Sowjetunion. Wurden die großen weltpolitischen Ereignisse in den Betrieben damals nicht diskutiert oder hat sich Seidman beim Lesen der Protokolle dafür nicht interessiert? Eine Pflichtlektüre für alle, die sich für die Geschichte der linken Bewegungen interessieren, ist Gegen die Arbeit dennoch. Es macht nachdenklich, wenn ArbeiterInnen neue Freiräume (aus)nutzen, um sich der Arbeit zu entziehen und damit die Produktion des gesellschaftlichen Reichtums für alle schmälern, statt zu Sitzungen der Fabrikkomitees zu gehen. Die Frage, wie eine Gesellschaft ohne Zwang und die Androhung von Arbeitslosigkeit, Produktivität und ein Mindestmaß an Disziplin auf Dauer aufrechterhalten kann, ist in der Praxis bisher noch unbeantwortet. Ohne sich zu plagen, wird es wohl nicht gehen.

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Buchbesprechung von Karl Reitter

Christine Resch, Heinz Steinert: Kapitalismus: Porträt einer Produktionsweise

Münster: Westfälisches Dampfboot 2. Auflage 2011, 312 Seiten, Euro 2,90

Der Versuch, die kapitalistische Produktionsweise umfassend darzustellen, stellt zweifellos ein Wagnis dar. Christine Resch und Heinz Steinert ist dies, nicht zuletzt durch zahlreiche Vorarbeiten und ihr beeindruckendes Maß an Wissen, exzellent gelungen. Kompakt und dicht, aber niemals unklar oder unverständlich geschrieben, liefert das Buch eine Fülle an Information, Anregungen und Hinweisen. Kapitalismus ist nicht bloß Kapitalakkumulation sondern eine Lebensweise, die "weitreichende Folgen für Arbeitsmoral, Herrschaftsregime, Klassenpolitik und Kultur/Wissen" hat. (51) (Alle Zahlen beziehen sich auf die Seiten des vorliegenden Buches.) Methodisch beruhen ihre Ausführungen nach meiner Sichtweise auf folgenden Pfeilern:

Der Kapitalismus ist von seiner (Sozial)Geschichte nicht zu trennen. Um seine Geschichte zu verstehen, ist es nützlich, ihn in Phasen oder Epochen einzuteilen. Insbesondere bieten sich Unterscheidungen anhand des übergreifenden Reproduktionsmodus an. Resch und Steinert unterscheiden dabei die Phasen "liberaler Industrie-Kapitalismus, Fordismus, Neoliberalismus". (51)

Kapitalismus ist ein Herrschaftssystem, das mit anderen Herrschaftssystemen engstens verknüpft, jedoch nicht mit diesen identisch ist. "Haushalt, Betrieb und Staat sind in sich in den Herrschaftsformen von Patriarchat (mit der Herkunft aus der Hauswirtschaft), Disziplin (mit der Herkunft aus der geschlossenen Anstalt) und Bürokratie (mit der Herkunft aus dem Militär) gestaltet." (29) Die kapitalistische Produktionsweise ist keine Totalität.

Die kapitalistische Produktionsweise ist auf nicht-kapitalistische Verhältnisse angewiesen. "Kapitalismus braucht große anders strukturierte Bereiche als Voraussetzung, um seine Waren produzieren zu können und um sie brauchbar zu machen." (29)

Diese Positionen sind alles andere als selbstverständlich. Ich jedenfalls teile ihre methodischen Annahmen vollkommen. Nur so viel: wird vom Gegenteil ausgegangen, so münden derartige Texte nicht zufällig zumeist in Sterilität oder ersetzen Gesellschaft und Geschichte als Objekt der Untersuchung oftmals durch die Fein- und Schönheiten der jeweiligen Theorie. Resch und Steinert sind andere Wege gegangen. Ihre methodischen Voraussetzungen ermöglichen es ihnen tatsächlich ein umfassendes Porträt des Kapitalismus zu zeichnen, ohne bestimmte Aspekte zu sehr zu betonen oder einen Teil für das Ganze zu nehmen.

Nach einer grundlegenden Einführung spannen die AutorInnen einen großen Bogen vom Feudalismus bis zum Neoliberalismus der Gegenwart. Sie zeigen die Mechanismen der ursprünglichen Akkumulation - "Ursprüngliche Akkumulation heißt Herstellung von Kapitalismus mit nicht-kapitalistischen Mitteln." (79) - und diskutieren weitere theoretische Erklärungen für das Entstehen des Kapitalismus. Maurice Dobb, Karl Polanyi und der mir bis dato unbekannte Henri Pirenne werden kritisch rezipiert, mehr Raum nimmt das Werk von E.P. Thompson und dessen Begriff der moralischen Ökonomie ein. Mit dem Ausdruck moralische Ökonomie beschreibt Thompson die Werte und Gerechtigkeitsvorstellungen der gegen das Kapitalverhältnis rebellierenden Massen. Nach einer Kritik an zu kurz gegriffenen Definitionen von Kapitalismus folgt eine ausführliche kritische Auseinandersetzung mit der überaus populären These von Marx Weber, die protestantische Ethik hätte wesentlich zum Take Off des Kapitalismus beigetragen. (Die AutorInnen können sich dabei auf eine Vorarbeit von Heinz Steinert stützen: Max Webers unwiderlegbare Fehlkonstruktionen.) Ich beschränke mich auf zwei sehr interessante Kritikpassagen: "Max Weber macht in seiner 'protestantischen Ethik' keinen Unterschied zwischen Unternehmern und Arbeitern, jedenfalls nicht systematisch. Unsere These ist dagegen, dass Unternehmer das Problem der Disziplinierung hatten: als Selbstdisziplinierung für sich, aber als Fremddisziplinierung der Arbeiterschaft." (132f) Max Weber sei es auch entgangen, dass die Disziplin keine protestantische, sondern ebenso "eine katholische Erfindung" ist. (131)

Immer wieder wird klar herausgearbeitet, dass es sich beim Kapitalismus um eine umfassende Lebensweise handelt. Zu Recht nimmt daher die Darstellung der unterschiedlichen Klassenkulturen und ihre Änderungen großen Raum ein, wobei sie vor allem den Anteil der Frauen an der Gestaltung der Häuslichkeit, insbesondere bei den besitzenden Schichten, betonen. Weiters resümieren sie das Schicksal der Widerstände und der ArbeiterInnenbewegung, wobei sie von einem libertären und einem staatssozialistischen Flügel ausgehen. Breiten Raum nimmt die Analyse des Patriarchats ein. Ein Zwischentitel verweist auf ihre grundlegenden Thesen: "Die Unersetzbarkeit von Patriarchat für das Gefühlsleben des Kapitalismus". Zur Illustration ihrer These der Verknüpfung von Kapitalakkumulation, Kulturindustrie und Lebensweisen ein etwas längeres Zitat: "Man kann kapitalistisches Wirtschaften ein wenig erzählenswert machen, in dem man es als Bandenkrieg darstellt. Deshalb ist die Mafia, die Familie mit Geschäft und Krieg verbindet, eine so großartige Erfindung. Deshalb sind an den derzeitigen Vorgängen auch die 'feindlichen Übernahmen', die rücksichtslosen Entlassungen durch überbezahlte Manager und die 'Gier' der Finanz-Jongleure das, womit sich der Kapitalismus gerade noch, mühsam genug, veranschaulichen und ein wenig emotional ansprechend (also: abstoßend) machen lässt. Die guten Geschichten brauchen die Verbindung zu den patriarchalen Verstrickungen." (204f) Sehr interessant sind auch die Ausführungen zur Bedeutung der Familie in der Migration. Diese stellt oft den einzigen moralischen, ökonomischen und sozialen Halt dar - mit allen Ambivalenzen einer patriarchalen Struktur.

In weiteren Abschnitten wird die Verknüpfung von Staat und Kapitalverhältnis analysiert. Obwohl nach meiner Auffassung die Entgegensetzung von Realperson und abstrakter Rechtsperson, die mit der institutionellen Entgegensetzung von Staat und Gesellschaft verschränkt ist, zu wenig berücksichtigt wird, wird doch sehr anschaulich klargestellt, dass der Staat ein spezifisches Herrschaftsverhältnis darstellt und - eine Aussage, die aus engen marxologischen Blickwinkeln kaum getroffen wird - dass der Staat vermittels der Steuern ein wesentlicher Hebel der Umverteilung von unten nach oben darstellt. "Der Staat ist nicht nur Gesetzgeber, sondern in erster Linie Verwalter einer ungeheuren Menge an Geld - auch wenn große Konzerne inzwischen da mithalten können." (226) "Es war und ist kein Geheimnis dass Steuern von den Normalverdienern eingezogen werden, um damit die Wirtschaft und die Reichen zu subventionieren." (297 FN)

Das Buch schließt mit einer ausführlichen Darstellung der letzten beiden Phasen des Kapitalismus, dem Fordismus und der darauf folgenden Epoche unter dem Zeichen neoliberaler Umwälzungen. Es wird nicht nur der Wandel der Produktion, des Sozialstaates, der Formen der Politik, (Stichwort Korporatismus, in unseren Breiten als Sozialpartnerschaft institutionalisiert, inzwischen zerschlagen und depotenziert), sondern auch die Transformationen der Lebensweisen und der emotionalen Befindlichkeiten analysiert. Wie stets in ihrem Buch werden wichtige Begriffe wie Fordismus, Taylorismus und Keynesianismus definiert und deren geschichtliche Bedeutung herausgearbeitet. Klargestellt wird auch, dass der sogenannte Reale Sozialismus im Grund eine Abart des fordistischen Kapitalismus darstellte. Vieles von dem, was präzise ausgeführt wird, zählt inzwischen zum festen Theoriebestand jeglichen gesellschaftskritischen Denkens. Den Abschluss bildet eine Charakterisierung der gegenwärtigen Epoche unter dem Zeichen des Neoliberalismus. Aus der Fülle der Aussagen und Ideen möchte ich nur ein paar hervorheben. So wird klargestellt, dass der fordistische Sozialstaat immer ein Instrument war, "um die disziplinierte Arbeitskraft herzustellen und zu reproduzieren." (253) Als ein Unterscheidungsmerkmal zwischen Fordismus und Neoliberalismus wird die Tatsache angeführt, dass nun der Betrieb selbst vollständig zur Ware geworden sei. War im Fordismus die Firma selbst "kein Handels- und Spekulationsobjekt" (247), so hat sich dies im Neoliberalismus gewandelt. Diese Aussage finden wir auch in anderen Texten, selten wird aber auf die soziologische Seite dieser Entwicklung verwiesen. An die Stelle der Dualität von Besitzer und Manager (der Manager hatte am Gedeih und Wohlergehen des Betriebes noch unmittelbares Eigeninteresse) trete nun die "Dreiecks-Beziehung" von Besitzer, Manager und Beratern. Letztere hätten eine Perspektive von außen auf den Betrieb und seien primär an dessen Aktienkurs, anstatt an seiner Realentwicklung interessiert. Ich halte die Analyse der Transformation der sozialen Träger von Herrschaft, wie sie Resch und Steinert versuchen, für ganz wesentlich. Hinsichtlich der beschäftigten Massen vermeinen sie eine Entwicklung vom Arbeitskraft-Beamten (im Fordismus) zum Arbeitskraft-Unternehmer (im Neoliberalismus), mit weitreichenden Folgen für das Selbstbild und den Modus der Disziplinierung, festzustellen.

Zuletzt werden einige Mythen entzaubert, die ProtagonistInnen des Neoliberalismus in die Welt gesetzt haben: Es wurde keineswegs Bürokratie durch Markt ersetzt. Fast möchte man sagen im Gegenteil. Der Unterschied zu früher: die Akkreditierer und Evaluateure werden nun nicht mehr "zur Bürokratie, sondern zu den Dienstleistern" (281) gerechnet. Von einer Entstaatlichung kann und konnte so oder so nie die Rede sein. Auch die viel gepriesenen Privatisierungen erwiesen sich selbst vom Standpunkt des Kapitals aus keineswegs langfristig als Goldgruben. Interessant ist auch ihre Position, dass der so genannte Casino-Kapitalismus, der Gewinne aus Spekulationen mit fiktivem Kapital (dieser Begriff wird nicht verwendet) lukriert, eine vorkapitalistische Form darstellt. "Finanzmarkt-Kapitalismus ist die Wiederkehr des Gewinns, wie ihn Kaufleute erzielt haben." (282) Gemeint sind hier Kaufleute der vorkapitalistischen Epochen, deren Gewinne tatsächlich aus Spekulation und nicht, wie im entwickelten Kapitalismus, aus dem Ausgleich der Profitrate herrühren. Last but not least sei auf ihre Kritik am Begriff der Wissensgesellschaft verwiesen. Der These "Kapital und Arbeit hätten ihre zentrale Bedeutung eingebüßt, Wissen sei der wichtigste Produktionsfaktor" (48) können sie herzlich wenig abgewinnen. Sie setzen dagegen: "Die 'Wissensgesellschaft' biete die feine Ironie, dass in ihr die Wissens-Komponente auch aus Wissens-Arbeit weg rationalisiert wird. Was als 'Wissen' übrig bleibt, ist das Beherrschen einer Gebrauchsanweisung." (142) An dieser Stelle könnten wir weiter denken. Wenn die These stimmt, dass Ingenieure und Techniker in der Rangordnung der herrschenden Klassen zurückgestuft werden, und an ihre Stelle das Heer der Berater getreten ist, was bedeutet dies dann für den Charakter und die Qualität jenes Wissens, das hohe Reputation und Einkommen verschafft?

Das Buch Kapitalismus: Porträt einer Produktionsweise stellt eine mit großer Kompetenz geschriebene Einführung in die Verhältnisse der gegenwärtigen Epoche dar. Zahlreiche Fragen, Themen und Theorien werden behandelt, in Zwischenkapiteln unter der Überschrift Theoriefragen eben solche diskutiert. Allein ihre Unterscheidung zwischen den vier Befreiungsmodellen 1. Produktivkraft-Entwicklung, 2. Klassenkampf, 3. Entfremdung sowie 4. Dialektik der Aufklärung bietet Stoff für weiterführende Debatten und weiteres Nachdenken. Und nicht zuletzt sei auf den feinen und trockenen Humor verwiesen, der in manchen Passagen zum Schmunzeln anregt. Beispiele gefällig? "Aber mit 'Marxologie' allein geht es auch nicht. Dieser interessanten Literaturgattung von Harvey (1982) bis Heinrich (2004) wollen wir nichts hinzufügen." (12) Nicht schlecht ist auch: "Berufstätige (gutverdienende) Mütter sind das Ideal des schwedischen Sozialpolitik-Forschers Esping-Andersen, denn die brauchen viele Waren und (Haushalts-) Dienste und schaffen damit Arbeitsplätze - und Einzahlungen in die Sozialversicherung." (235) So bietet Kapitalismus: Porträt einer Produktionsweise nicht nur Wissen und Information, sondern auch einiges an Lesevergnügen.

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IMPRESSUM

Erscheinungsdatum dieser Ausgabe: 15.3.2013,
Redaktionsschluss der Nr. 46: 30.04.2013

Infos unter: www.grundrisse.net und unter redaktion@grundrisse.net

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Medieninhaberin: Verein für sozialwissenschaftliche Forschung, Weißgasse 4, 1170 Wien
Herausgeberin: Redaktion "grundrisse"

MitarbeiterInnen dieser Nummer: Martin Birkner, Bernhard Dorfer, Robert Foltin,
Maria Gössler, Stefan Junker, Franz Naetar, Karl Reitter, Paul Pop, Gerold Wallner, Walter S.

Layout: Stefan Junker.

Erscheinungsort: Wien. Herstellerin: Digidruck, 1100 Wien

Offenlegung: Die Partei "grundrisse" ist zu 100% Eigentümerin der Zeitschrift "grundrisse"

Grundlegende Richtung: Förderung gesellschaftskritischer Diskussionen und Debatten.

Copyleft: Der Inhalt der "grundrisse" steht unter der GNU-Lizenz für freie Dokumentation, außer wenn anders angegeben.

ISSN: 1814-3156, Key title: Grundrisse (Wien, Print)

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Quelle:
grundrisse - zeitschrift für linke theorie & debatte
frühjahr 2013, nr. 45
Herausgeberin: Redaktion "grundrisse"
Antonigasse 100/8, 1180 Wien
E-Mail: grundrisse@gmx.net
Internet: www.grundrisse.net


veröffentlicht im Schattenblick zum 4. April 2013