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GRUNDRISSE/033: zeitschrift für linke theorie & debatte, frühjahr 2012


grundrisse - zeitschrift für linke theorie & debatte
nr. 41, frühjahr 2012



INHALT

Redaktion:
Editorial / Call for Papers
Bewegungen planen europäische Massenproteste gegen Verarmungspolitik

www.fightrepression2010.tk:
Über die Ermittler mit den Ermittlungsparagraphen

Gerhard Hanloser:
Theorien zur Praxis. Kurze Überlegungen zu Occupy nach einem kurzen Ausflug an die Westküste

Karl Reitter:
Bedeutung und Defizite der Ethik Spinozas aus Marxistischer Sicht

Klaus Ronneberger:
Minenhunde der Aufwertung? Die Kreativen und die Stadt

Manfred Lauermann:
China - Katechon der Weltrevolution

Stefan Junker:
Märzrevolution 1920

Barbara Eder:
"The proof of the pudding is in the eating"
Klasse, Klassenbewusstsein und die Frage nach der gesellschaftlich notwendigen Form der Vermittlung

Karl Reitter:
Das Kapital politisch lesen - Ein Rezensionsessay anlässlich der deutschen Erstveröffentlichung von Harry Cleavers Hauptwerk

Philippe Kellermann:
Buchbesprechung: Hendrik Wallat: Staat oder Revolution. Aspekte und Probleme linker Bolschewismuskritik

Raute

Editorial

Liebe Leserinnen und Leser,

diese Ausgabe besitzt ausnahmsweise keinen Schwerpunkt sondern es erwartet euch ein bunter Reigen von Artikeln zu den unterschiedlichsten Themen: von der un-amerikanischen Occupy Bewegung über das Verhältnis des Marxschen Denkens zur Ethik des Spinoza, die ambivalente Rolle neuer kreativer Schichten für die Umgestaltung der Städte und Reflexionen über Rolle und Bedeutung Chinas bis zur Märzrevolution 1920 in Deutschland sowie der Frage des Klassenbewusstseins reicht der Bogen. Ein Rezensionsessay zum soeben auf Deutsch erschienen Hauptwerk von Harry Cleaver sowie zwei Buchbesprechungen beschießen diese Ausgabe. Die Vielfalt der Themen lässt hoffen, dass zumindest einige Texte in dieser Ausgabe sind, die euer Interesse erwecken.

Für die nächste Ausgabe haben wir wieder einen Schwerpunkt geplant. Darüber informiert unser Call for Papers, den ihr im Anschluss an dieses Editorial findet. Wir appellieren vor allem an unsere weiblichen Leserinnen, sendet uns Texte, überlasst nicht den Männern das Feld! Wenn das Geschlechterverhältnis zwischen den männlichen und weiblichen Autoren sich verbessern soll - was wir uns alle wünschen - so sind wir dabei auch auf euer Engagement angewiesen.

Abschließend wollen wir noch auf den Textkasten "Wir suchen RedakteurInnen!" hinweisen. Es können und sollen sich auch Personen an der Redaktion beteiligen, die nicht am Ort der Herausgabe, sprich in Wien wohnen. Auf weitere zehn Jahre grundrisse!

Viel Freude bei der Lektüre sowie einen erfüllten und kämpferischen Frühling wünscht euch

eure grundrisse Redaktion!

*

Wir suchen RedakteurInnen!

Nach zehn Jahren Produktion, der Lektüre von über vierhundert Artikeln und ca. zweihundert Buchbesprechungen, etwa hundertachtzig Redaktionstreffen und der Organisation zahlreichen Veranstaltungen wollen so manche aus der Redaktion in die zweite Reihe zurücktreten. Keine Sorge, die grundrisse werden erscheinen wie immer. Aber ein Wechsel tut not: Wir suchen daher dringend Personen und Gruppen, die die Verantwortung für die Herausgabe unserer Zeitschrift übernehmen wollen. Wir werden selbstverständlich mit Rat und Tat zur Seite stehen, um so eine reibungslose Übergabe zu gewährleisten. Meldet euch - wir meinen es ernst!

*

Call for Papers: Rethinking personalisierte Kapitalismuskritik

Wir geben es zu: In diesem Aufruf schwingt ein wenig Ironie und eine Prise Provokation mit. Denn oftmals wird Kritik an den Verhältnissen, die konkrete Personen und ihr Tun einschließt, mit allerlei abwertenden Bemerkungen bedacht. Von verkürzter Kapitalismuskritik ist dann die Rede, von Unwilligkeit oder gar Unfähigkeit, strukturelle und objektive Bedingungen zu erkennen, die allen - auch und gerade den Herrschenden - ihr Handeln aufzwingen würden. Wir halten dagegen: Zweifellos stehen auch die herrschenden Klassen unter Bedingungen, die sie nicht geschaffen haben, sondern als gesellschaftlich geltend vorfinden. Doch das ist nur die eine Hälfte der Geschichte. Denn es gibt sie tatsächlich, die Kalküle und Entscheidungen, die Strategien und Maßnahmen der Staatsführungen, der KapitalbesitzerInnen, der kleineren und größeren Apparate und Institutionen. Niemand hängt wie eine Marionette an den Fäden objektiver Gesetze und geltender Institutionen, die Herrschenden so wenig wie die Beherrschten. Angesichts der massiven Aktivitäten der herrschenden Klassen in allen Bereichen des sozialen Lebens - der Bogen reicht von militärischen Interventionen, finanztechnischen Maßnahmen und Neustrukturierungen des Ausbildungssektors bis hin zu ideologischen, gesetzlichen und sozialtechnischen Maßnahmen zur Verschlechterung der Lebenslagen der Menschen - ist es methodisch und analytisch dringend erforderlich, ihre Kalküle als das zu erkennen, was sie sind: bewusste Interventionen, um Klassenherrschaft zu festigen und Widerstand zu zerstreuen. Soziale Herrschaft ist ohne soziale TrägerInnen undenkbar. Die Krise geschieht nicht einfach, sie wird gemacht und genutzt. Wer gegenwärtig nur ein automatisches Subjekt Kapital am Werk sieht - ein Subjekt ohne Willen und Bewusstsein -, dem möchten wir eine Verszeile aus einem Bob Dylan Lied entgegenhalten: "And something is happening here, but you don't know what it is, do you, Mister Jones?" Eine emanzipatorische Perspektive kann nicht umhin, sich darüber zu verständigen, was denn tatsächlich gegenwärtig geschieht. Die Einbeziehung der Analyse der tatsächlichen realen personellen Herrschaft ist dafür unumgänglich. Wir würden uns daher auch über Beiträge freuen, die versuchen, Kapitalismuskritik mit persönlichen Erfahrungen bei der Arbeit, beim AMS, an der Universität, in Krankenhäusern oder bei Behörden zu verbinden. In diesem Sinne hoffen wir auf eure Beiträge bis zum 30. April 2012, Texte bis zu 40.000 Zeichen an redaktion@grundrisse.net sind willkommen.

Raute

Bewegungen planen europäische Massenproteste gegen Verarmungspolitik
Erklärung der Europäischen Aktionskonferenz in Frankfurt vom 26. Februar 2012

Die 400 Teilnehmer_innen der Aktionskonferenz vom 24.-26. Februar haben beschlossen, vom 17. bis zum 19. Mai zu Tagen des Protestes gegen das Krisenregime der Europäischen Union aufzurufen. Wir wehren uns gegen gegen die Verwüstung Griechenlands und anderer Länder, gegen die Verarmung und Entrechtung von Millionen und die faktische Abschaffung demokratischer Verfahren in der Folge von Beschlüssen der Troika (EZB, EU und IWF). Die Frankfurter Protesttage schließen damit direkt an den europaweiten Aktionstag des 12. Mai und an den Jahrestag der ersten Asamblea von Madrid an. Wir setzen so ein unübersehbares Zeichen der Solidarität mit den Menschen, die sich seit Monaten schon in Europa gegen das Schuldenregime der Troika und die Angriffe auf ihr Leben und ihre Zukunft wehren. Zeitgleich finden in den USA die Proteste gegen den G8- und NATO-Gipfel in Chicago statt. Die Wahl Frankfurts ergibt sich aus der Rolle, die die Stadt als Sitz der Europäischen Zentralbank (EZB) und der mächtigen deutschen und internationalen Banken und Konzerne spielt. Wir werden am 17. Mai die Anlagen und zentrale Plätze der Stadt besetzen, um uns Raum für Diskussion und inhaltlichen Austausch zu schaffen. Wir werden am 18. Mai den Geschäftsbetrieb der Banken in Frankfurt blockieren, um unsere Wut über die Troika-Politik konkret werden lassen. Wir werden uns dann am 19. Mai zu einer großen Demonstration versammeln und die Breite der Proteste sichtbar machen. Aus vielen Ländern und Regionen der Welt werden Menschen nach Frankfurt reisen und sich an den Tagen des Protest beteiligen.

Zum Gelingen der Tage des Protests bedarf es einer Mobilisierung, die von möglichst vielen aktiv getragen wird: der Occupy-Bewegung, Erwerbsloseninitiativen und Krisenbündnissen, Gewerkschafter_innen, attac-Aktivist_innen, der Umwelt- und Friedensbewegung, antirassistischen und migrantischen, antifaschistischen und linken Gruppen, Jugend- und Studierendenorganisationen, Aktivist_innen der verschiedensten lokalen Kämpfe und der Linkspartei. In die Zeit der Mobilisierung fallen der europaweite Aktionstag zum 31. März, der internationale 1. Mai und Tarifauseinandersetzungen in Deutschland, denen unsere Solidarität gilt.

Mehr Infos unter: http://european-resistance.org/

PS: der grundrisse-Redaktion: Auch aus Österreich wird für die Aktionstage im Mai mobilisiert - watch out!

Raute

Über die Ermittler mit den Ermittlungsparagraphen

Im Zuge der "Uni-brennt-Bewegung" kam es zu verstärkten Überwachungsmaßnahmen von Seiten des Landesamtes für Verfassungsschutz (LVT). Legitimiert wurden diese durch den Ermittlungsparagraphen 278b. Nach dem Brand zweier Mistkübel vor einer AMS-Filiale wurden vier Personen festgenommen und über Wochen in U-Haft gesteckt. Monate später kamen diese Personen neuerdings ins Visier der Ermittler. Grund war eine Videodokumentation einer Abschiebung. Gerichtlich gedeckt wurde dieses polizeiliche Vorgehen wieder mit dem Terrorparagraphen 278b. Am 13. März beginnt nun ein Prozess wegen versuchter Brandstiftung.

Im aktuellen Fall zeigt sich, wie das Zusammenspiel zwischen LVT und Justiz wunderbar funktioniert - in Form von Kontrolle mit strategisch repressiven Momenten. Die vier Angeklagten, die seit geraumer Zeit als j.a.i.b. einen neuen Namen bilden, stehen somit für Viele. Als politische Aktivist_innen kamen sie ins Visier der staatlichen Überwachungsbehörde. Vielleicht war es für die Exekutive nur ein ganz gewöhnlicher Fall; eine Bewegung entsteht, zur Überwachung wird ein Bedrohungsszenario entwickelt und mit dem erhaltenen Persilschein (wahlweise nach õ278a oder b) werden umfassende polizeiliche Arbeiten durchgeführt. Telefone und Personen überwacht, Spitzel eingeschleust, Verhaftungen, Verhöre, Computer beschlagnahmt, durchforstet und weitere Informationen gesammelt. Das Bedrohungsszenario bleibt aufrecht. Dies bedeutet, dass der Ermittlungsparagraph § 278 in Verwendung genommen wird, um Szenen oder Bewegungen auszuspionieren. Und das vollkommen legal. Selbst die Staatsanwaltschaft störte es kaum, dass in diesem Fall von einer terroristischen Vereinigung gesprochen wird, die nach dem Gesetz eine "anhaltende Störung des öffentlichen Lebens oder eine schwere Schädigung des Wirtschaftslebens" verursachen müsste. Wo und wann diese Störung und Schädigung stattgefunden haben soll, bleibt ein Rätsel.

Dass in der Anklageschrift "nur" mehr die versuchte Brandstiftung vorkommt, mag nun als ein Funktionieren der Gerichtsbarkeit verstanden werden. Vielleicht auch als eine Lehre aus dem Desaster von Wr. Neustadt. Aber ähnlich wie beim Tierrechtsprozess muss das Anwenden der Ermittlungsparagraphen als eine polizeiliche Praxis verstanden werden, die darauf abzielt, die gesetzlichen Rahmen bewusst zu überschreiten. Es geht hier nicht darum, was landläufig unter terroristischen oder kriminellen Vereinigungen verstand wird, sondern darum, diese zu erschaffen, um alle kriminaltechnischen Möglichkeiten auszuschöpfen. Sowohl gegen soziale Bewegungen, als auch politische Organisationen. So können ihre Tätigkeiten delegitimiert und ihre Handlungsspielräume eingeschränkt werden. Da die Aktivitäten des LVT verdeckt ablaufen und keiner effektiven Beschränkung unterliegen, wirken sie nicht nur zur Disziplinierung und Kontrolle von (politischen) Gruppen oder Bewegungen, sondern zielen am wirkmächtigsten auf die Individuen. Die Schnüffelparagraphen 278a und b nehmen alle ins Visier, denn die Suche orientiert sich primär an "vermeintlicher" Organisation oder Vereinigung - also Personen - und nicht an Straftaten. Sie erfüllen ihre Funktion im Sinne des Überwachungsapparats selbst dann, wenn sie nicht zur Anklage gebracht werden. Die politische Forderung ist daher die Abschaffung des LVT und sämtlicher Ermittlungsparagraphen.

Gegen Kriminalisierung von bildungspolitischen und antirassistischen Protesten!

www.fightrepression2010.tk

Raute

Gerhard Hanloser:
Theorien zur Praxis
Kurze Überlegungen zu Occupy nach einem kurzen Ausflug an die Westküste

"Stop using our movement to escape reality. Stop using our movement to take pictures for your scrapbook. Stop using our movement to work on your independent film projects. Stop using our movement to get hits on youtube. Most of us are serious about this. Don't ruin it for us. Treat it with respect, or go away!!! We can't wait another 50 years."

Plakataufschrift, gesehen am 25.11.2011 bei Occupy Los Angeles an der City Hall

Wie wird man dem Schreiber/der Schreiberin dieser ergreifenden Worte gerecht, wenn man über die Occupy-Bewegung sprechen will? Aus jedem der zitierten Sätze spricht erfahrungsgesättigtes Wissen von den Gefahren, die einer neuen Bewegung drohen. Man könnte natürlich auf die geschliffenere Begrifflichkeit der SituationistInnen zurückgreifen: angesprochen von der VerfasserIn ist schließlich die Recuperation, also das Wieder-zurück-Holen einer Bewegung in die Welt der Ware, des Marktes, des erstarrten Bildes - und: der privaten Aneignung, um ihr gesellschaftsveränderndes Potential zu zerstören.

Auch jeglicher Versuch, theoretische Überlegungen über Occupy anzustellen, ist der Gefahr ausgesetzt, den AkteurInnen, die nicht 50 Jahre länger warten wollen, sondern zu einer "wirklichen Bewegung" werden wollen, nicht gerecht zu werden und ihnen fremde Begriffe und theoretische Zugriffe überzustülpen.

Werden die Occupy begleitenden Ausführungen von Seiten der BewegungstheoretikerInnen dem eindeutigen Warnschild und seiner Botschaft gerecht? Ich möchte mit einer kleinen, sehr subjektiven Auswahl beginnen: Die einen sehen wieder einmal die Multitude am Werk: "The multitude is now awakened thanks to the new media. We are now conscious of our situation and we are starting to imagine a better world. Moreover, the multitude becomes increasingly aware of the potential of the new democratic digital technology... Let's build our parallel world without attacking to destroy the present-old world. We're not destroyers, we're builders.[1], Judith Butler reflektiert über Körper im Raum: "Die Körper handelten gemeinsam, sie schliefen aber auch in der Öffentlichkeit, und sie waren in diesen zwei Modalitäten gleichermaßen vulnerabel und fordernd, gaben elementaren körperlichen Bedürfnissen eine politische und räumliche Organisation. Auf dies Weise machten sie sich zu Bildern, die allen, die zusahen, vor Augen geführt werden sollten, forderten uns dazu auf, zu empfangen und zu antworten, um für eine Medienberichterstattung zu sorgen, damit das Ereignis nicht unterdrückt wird oder untergeht."[2] Slavoj Zizek bemüht ein weiteres Mal die Psychoanalyse, um das Verhältnis von unklaren bzw. unartikulierten Forderungen und politischer Herrschaft zu durchschauen: "Die beständige Frage ,Aber was wollen sie eigentlich?' sollte uns ... nicht verunsichern. Es handelt sich schließlich um die archetypische Frage des männlichen Herren an die hysterische Frau: ,Du mit deinem Gejammer und Geheule - weißt du überhaupt, was du wirklich willst?' Im psychoanalytischen Sinne sind die Proteste sozusagen ein hysterischer Akt, um den Herren zu provozieren und seine Autorität zu untergraben, und die Frage wollt ihr denn!' zielt exakt darauf ab, die wahre Antwort unmöglich zu machen - im Grunde steckt dahinter der Satz: echt meine Sprache oder haltet den Mund!'"[3] Und die Freunde Foucaults, Deleuze und Guattaris sehen ein molekulare Revolution und den kynischen Philosophen Diogenes in der Tonne wieder auferstehen, wo man vielleicht erst einmal mit Begriffen wie "Revolution" sparsamer umgehen sollte.[4] Und bevor man über einen Philosophen "ohne festen Wohnsitz", der sein Leben völlig öffentlich lebt, schwärmt, wäre es vielleicht angebrachter, etwas nüchterner über Armut und Obdachlosigkeit in der Occupy-Bewegung und ihre Folgen zu reflektieren.

Die zitierten Ausführungen haben mal mehr, mal weniger Gewicht. Sie sind mal mehr, mal weniger hilfreich und sie markieren in unterschiedlicher Weise den intellektuellen Anspruch auf Deutung der Bewegung. Bei mir bleibt der Eindruck, dass in ihnen ein neues Theorie-Praxis-Verhältnis aufscheint: es geht nicht mehr in erster Linie um den Anspruch der geistigen Arbeit auf Führung und Lenkung der Bewegung (Leninismusproblem), sondern das eigentliche Anliegen von Theorie selbst -also: Ordnen, Sortieren, Verallgemeinern, Entwerfen - wurde aufgegeben (Verwirrungsproblem). Als Vertreter der "Alten Schule" sind dahingegen gramscianisch inspirierte Links-TheoretikerInnen zu bezeichnen, die bereits das immergleiche Konzept, die immergleiche Strategie in petto haben, wonach "soziale Bewegungen ohne nachhaltige Auffangstrukturen wieder abebben" würden. Sie setzen auf "Bereitschaft und Fähigkeit ihrer Bündnispartner, sich auf neue Aktionsformen und Entscheidungsprozeduren einzulassen" und empfehlen der Bewegung die Zusammenarbeit "mit Intellektuellen, die in der Analyse und Kritik des gegenwärtigen High-Tech-Kapitalismus bewandert sind".[5]

Die Occupy-Bewegung verkörpert jenseits dieser Einschätzungen erst einmal etwas absolut Faszinierendes. Selbst in den schwächsten lokalen Ausläufern von Occupy konnte man eine neue Haltung gegen Zynismus und Opportunismus - die Kardinaltugenden des Neoliberalismus - beobachten. Der linke Stadtsoziologe Mike Davis hat es treffend formuliert: "Ich sehe hier die Wiedergeburt einer moralischen Haltung, die die kleinen Leute aus der Generation meiner Eltern auszeichnete. Es war ein weitherziges, spontanes Mitgefühl, das aus der Ära der Great Depression stammte und auf einer simplen egalitären Ethik beruhte: Halte dein Auto jederzeit für arme Tramper an. Werde nie zum Streikbrecher, auch wenn deine Familie kein Geld mehr für die Miete hat. Höre hin, was jene stillen Menschen sagen, die alles verloren haben außer ihrer Würde. Klau Milch, wenn deine Kinder keine haben, und gib die Hälfte den Nachbarskindern - meine Mutter hat das 1936 oft getan."[6]

Diese moralische Haltung, so kann berechtigterweise angenommen werden, wird auch in kommende Klassenkämpfe und Revolten eingehen und dafür sorgen, dass sie sich ausbreiten können und nicht bloß auf ein Bewegungs- und selbstbezügliches Aufstandsmilieu beschränkt bleiben.

Man sollte nicht von vorgegebenen Antworten ausgehen, wenn man über Occupy schreibt, sondern von den Antworten, die Occupy selbst gibt und gegeben hat. Auch der Psychoanalytiker, Philosoph und Pop-Leninist Slavoj Zizek scheint diesem Vorschlag zu folgen, wenn er schreibt: "Die Situation gleicht der in der Psychoanalyse, wenn der Patient die Antwort kennt (seine Symptome sind in diesem Fall die Antworten), aber nicht weiß, was sie beantworten, sodass der Analytiker eine Frage formulieren muss." Dieses Bild ist schief und verrät viel über das instrumentelle Verhältnis, das Theoretiker zur Bewegung einnehmen. In der Tat ist die Position zwischen Analytiker und Patient eine durch und durch hierarchische, der Analytiker weiß meistens schon - je nach theoretischer Vorentscheidung - die Antwort auf die Probleme des in den Zustand des bedürftigen Patienten Gedrängten. Doch in einem hat Zizek recht: Die Occupy-Bewegung weiß viel und sie tut viel, und sie gibt Antworten auf Fragen, die noch nicht explizit gestellt wurden.

Wir treffen uns auf einem zentralen Platz, lautet die Antwort auf die Frage "Wo?" Wir hören allen zu, auch demjenigen, der das Nichtigste und Spleenigste verkündet, lautet die Antwort auf die Frage "Wie?" Wir sind die 99 %, lautet die Antwort auf die Frage "Wer?" Und eine Kakophonie erhebt sich auf die Frage "Was?"

Hier werden sehr schnell die Grenzen von Occupy deutlich. Auffallend ist, dass im Kern keine der oben zitierten TheoretikerInnen-Stimmen eine Kritik der Bewegung vor dem Hintergrund der zu vernehmenden praktischen Antworten formuliert. Insofern ist kritisch gemeinte Theorie bereits in den Bannkreis dessen geraten, was Occupy in der Tat mit dem Zustand der sie umgebenden Mehrheitsgesellschaft, also wirklich den 99%, verbindet: einen theoretischen wie praktischen Relativismus, der alles gelten lässt und letzten Endes den Zustand "repressiver Toleranz" in Zeiten des sich postmodern gerierenden Herrschaftsregimes darstellt. Denn Occupy ist vor allem eines: bunt und lässt genau das zu, was der/die PlakatschreiberIn kritisiert:

- Der Welt entfliehen: dafür sorgten in Occupy L.A., aber nicht nur dort, spirituelle und esoterische Gesprächskreise. Der Welt zu entfliehen ist allerdings nur eines der Bedürfnis, das sich bei Occupy artikuliert. Im Kern ist es auch die absolute Zuwendung zur schlechten Realität, wie Jello Biafra betont, der auf einer Occupy San Francisco-Veranstaltung auf die Folgen des mangelnden US-Gesundheitswesens aufmerksam macht.[7] Dennoch stecken Ansätze einer Diskussion, wie in einer produktiven und dennoch krisenhaften Gesellschaft aus dem Hier-und-jetzt die sozialen Beziehungen neu, besser und anders zu organisieren sind, in den Kinderschuhen.

- The media is the massage: Seltener habe ich eine so hohe Dichte an privaten Digitalkameras gesehen und Politaktivisten, die sich von jedermann und jederfrau gerne in Pose ablichten lassen. In erster Linie erstaunte mich bei meinem Besuch von Occupy LA dieses riesige Bildaufzeichnungsbedürfnis. Das Geknipse bei Occupy unterscheidet sich nicht unwesentlich vom samstagabendlichen Selbstauslöserbild von Teenies in der Disco. Meinen die ProtagonistInnen einem einmaligen historischen Ereignis beizuwohnen? Wenn wir es wirklich mit einem großen epochemachenden Umbruch zu tun haben, erstaunt doch die Nichtigkeit des wild-individualisierten Schnappschusses. Mir ist höchst unklar, ob Film und Bild zur Selbstverständigung und Klärung von Bewegungsprozessen benutzt werden, wie es beispielsweise im Mai 1968‍ ‍der Fall war. Tatsächlich wurde damals auch über den zu transformierenden Inhalt beispielsweise des Dokumentarfilmes gesprochen, um ihn als Bewegungsgedächtnisspeicher, aber auch als Mittel zu benutzen, um im dialogischen Verfahren Erfahrungswelten von streikenden Arb eitern und protestierenden Studenten miteinander zu vermitteln. Auch von denjenigen, deren Gebrauch von Medien als unabhängige Medienschaffende als reflektiert gelten dürfte, hört man nicht, welche Funktion das neueste Medienprojekt für die Klarheit, Radikalität und Zielführung der Bewegung bedeuten könnte.

Will man die Occupy-Ideologie auf den Punkt bringen, müsste man sagen: Alles geht, alles ist erlaubt, jeder ist aufgerufen, irgendwas zu tun, dabei sein ist alles. So ist die Verfasserin/der Verfasser des eingangs zitierten Statements bereits KritikerInnen der Bewegung und stellt sich mit den eindeutigen "Stop!"-Aufrufen ins Jenseits des offiziell von Occupy verkündeten Toleranzgebots. In seiner offensiven Formulierung und seinem Aufforderungs- und Unterlassungscharakter stellt es sich theoretisch eher in den Kontext des militantistischen Manifests des Unsichtbaren Komitees, das einen Zipfel der Wahrheit erheischt, wenn es den "Imperialismus des Relativen"[8] kritisiert, in dessen Ideologie auch Occupy gefangen ist. Tatsächlich ist der Relativismus der Occupy-Bewegung, in der jeder Gedanke, jede Performance, jedes Statement gleichviel bedeutet und erst einmal dem Imperativ unbedingter Akzeptanz unterliegt, näher am postmodernen Relativismus als an einer wirklich antiautoritären Haltung. Dieser postmoderne Relativismus sorgt auf den ersten Blick dafür, dass auch VerschwörungstheoretikerInnen, EsoterikerInnen und üble Gesellen sich unter Occupy mischen können; auf den zweiten, genaueren Blick jedoch erkennt man, dass von Anfang an genau dieser Relativismus jegliche autoritäre Formierung oder gelungene Unterwanderung von Occupy durch Gruppen eines "leeren Dogmatismus" verhindert. Auch Marxisten-LeninistInnen haben genau aus diesem einen Grund einen schweren Stand in Occupy. So hat Occupy, wie das klassenlinke Online-Magazin Insurgent Notes betont, "ganz zu recht vermieden, sich zu sehr mit bestimmten Forderungen, Ideologien oder AnführerInnen zu identifizieren".[9] Auf den dritten Blick ist der verallgemeinerte Relativismus aber auch ein Problem für eine wirkliche Radikalisierung der Bewegung, denn diese verlangt eine Entscheidung, eine Option und das Ausschlagen anderer Optionen.

Insofern ist auch jeder Begriff aus den älteren linken Konzepten mit einigen Schwierigkeiten behaftet. Mike Davis, einer der genauesten und klügsten Begleiter von Bewegungen und Revolte seit den 80er Jahren, empfahl den Occupy-AktivistInnen als kategorischen Imperativ: "Organisiert euch, und helft anderen Leuten sich zu organisieren! Das Feuer entfachen ist gut, eine Einheitsfront schmieden ist besser." Natürlich ist es wichtig, eine Einigkeit zu bewahren angesichts von Repression und (teilweise gegebener) medialer Hetze, sich nicht entlang von falschen Fragen wie einer aufoktroyierten Gewaltdebatte spalten zu lassen. Andererseits ist Einigkeit vor dem Hintergrund des allgemeinen Relativismus eine höchst labile Konstruktion. Worin besteht der Inhalt der Einheit? So haben auch AktivistInnen vor allem rund um die Bay Area sehr schnell erkannt, dass man die Bewegung über sich selbst hinaustreiben muss.

Diese Teile von Occupy wollten, dass man eine Besetzungsbewegung nicht bloß auf zentrale Plätze beschränkt, die oftmals zwischen Fragen von legaler Aufenthaltsgenehmigung, Polizeirepression und Medieninteresse eingequetscht waren, sondern die Orte gesellschaftlicher Macht und Gegenmacht aufgesucht werden müssen. Die Parole "Occupy" bezog sich dann auch auf Häuser und - besonders in Oakland - die Häfen, in der Hoffnung eine Besetzungsbewegung der Betriebe und Arbeitsplätze bewirken zu könne. Die Besetzung der Westcoast-Häfen in Oakland, Portland, Longview (Washington) und Seattle am 12. Dezember standen für die längst notwendige Ausweitung der Besetzungsbewegung auf die produktiven Ausbeutungszentren. Lokal gelang es Occupy hier sowohl den Basis-Demokraten, die gerne die Occupy-Bewegung als außerparlamentarische Tea-Party-Entsprechung zur Unterstützung Barak Obamas instrumentalisieren wollen, auf der einen und der Gewerkschaftsbürokratie auf der anderen Seite die kalte Schulter zu zeigen. Während AnarchistInnen und LinkskommunistInnen aus L.A. darüber klagten, dass es bei ihrem Occupy-Zeltlager keinen Raum für radikale Debatten oder Aktionen gebe, dass zwischen obdachlosem Elend und legalistischen Demokraten nichts neues entstehen könne, sah die Situation in Oakland anders aus: hier brachten junge "Aufstands-AnarchistInnen" ihre Erfahrungen aus den Uni-Kämpfen und Besetzungen von Herbst 2009 in die Occupy-Bewegung ein. Die Möglichkeit, dass anarchistische, linkskommunistische, situationistische Kleinstgruppen Einfluss auf eine Bewegung nehmen können, ist recht differenziert zu betrachten, doch Oakland zeigt, dass ein militantes, verbindliches Auftreten von Avantgarden Erfolg haben kann. Ihnen gelang der Zugang zu einer laufenden Klassenauseinandersetzung, wodurch die Bewegung eine Ausweitung erfuhr und die alte Streik-Machtfrage neu gestellt wurde. Hier wollte die Internationale Getreidegesellschaft EGT (Export Grain Terminal) den Tarifvertrag mit der International Longshore and Warehouse Union (ILWU) durch ein Gefälligkeitsabkommen, einen "sweetheart-deal", mit einer gelben Gewerkschaft ersetzen. Generelle Hafenblockade von Occupy und zielgerichtetes Gewerkschaftsinteresse stießen hier aufeinander. Der Bundesverband der ILWU hatte dazu aufgerufen, die Proteste lediglich auf die internationale Getreidegesellschaft EGT (Export Grain Terminal) und Longview zu beschränken und keine anderen Häfen zu blockieren. Die Streikposten der Occupy-Bewegung sollten überall ignoriert werden außer in Longview. Insurgent Notes berichtete sogar von Angriffen einer Occupy-Versammlung in Seattle am 6. Januar durch Schläger der ILWU. Trotzdem konnte sich temporär ein "Klassenbündnis zwischen den Hafenarbeitern an der Basis, der sehr viel größeren Zahl von unorganisierten LKW-Fahrern in den Häfen und den prekarisierten Massen, die den radikalen Flügel der Occupy-Bewegung bilden, entwickeln" - wie es die Insurgent Notes einforderten.[10] Die ILWU-Gewerkschaft würdigte jüngst sogar Occupy als einen wichtigen Verbündeten im Kampf und in der Erlangung eines ambivalent zu betrachteten Abkommens mit EGT,[11] doch nun stellten sich der Bewegung fortwärtstreibende Fragen: Will man als verlängerter Arm der Gewerkschaft fungieren? Mit welchen Teilen der ArbeiterInnen will man Kontakte knüpfen? Welche Chancen und Risiken liegen in "Bündnisarbeit"? Was heißt Selbstorganisation wirklich?

E-Mail: ghanloser@freenet.de

Anmerkungen:

[1]‍ ‍http://multitudeproject.blogspot.com/2011/11/rebranding-occupy-movement.html

[2]‍ ‍Judith Bulter, Körper in Bewegung und die Politik der Straße, in: Luxemburg. Gesellschaftsanalyse und linke Praxis 4/2011, S.110-122

[3]‍ ‍Slavoj Zizek, das gewaltsame Schweigen eines Neubeginns, in: Occupy! Die ersten Wochen in New York. Eine Dokumentation, Berlin 2011, S.68-77, S.75

[4]‍ ‍Gerald Raunig, Molekulare Revolution, Grundrisse Nr. 40, S.72-75

[5]‍ ‍Richard D. Wolff/Jan Rehmann, Occupy Wall Street. Eindrücke und vorläufige Überlegungen, in: Luxemburg. Gesellschaftsanalyse und linke Praxis 4/2011, S.128

[6]‍ ‍Mike Davis, 10 Gebote für die Revolte, DIE ZEIT, 29.12.20

[7]‍ ‍Interview mit Jello Biafra, "Holen wir uns das Geld zurück", in: Neues Deutschland, 14.12.2011

[8]‍ ‍Unsichtbares Komitee, Der kommende Aufstand, 2010, zur freien Verbreitung, S. 60

[9]‍ ‍"The next Step for ows", in: http://insurgentnotes.com/2011/11/the-next-step-for-ows/

[10]‍ ‍Auf deutsch: http://www.kosmoprolet.org/occupy-usa-und-die-militarisierung-von-arbeitskaempfen

[11]‍ ‍http://occupytheegt.org/content/longshore-workers-name-occupy-movement-crucial-settlement-egt

Raute

Karl Reitter:
Bedeutung und Defizite der Ethik Spinozas aus Marxistischer Sicht

Vorweg möchte ich festhalten, dass ich es nicht für möglich erachte, beide Philosophien in eine weitere Großtheorie zu synthetisieren. Trotz Berührungen und Überschneidungen haben wir es mit letztlich inkompatiblen Ansätzen zu tun. Marx analysiert die Dynamik der gesellschaftlich dominierenden Arbeitsverhältnisse und die darin schlummernden Möglichkeiten der emanzipatorischen Umwälzung. Spinoza hingegen kann präziser als Marx das unzerstörbare und vorgängige Streben nach Freiheit und Selbstbestimmung zeigen. Vielleicht sollte ich es auch so ausdrücken: Marx zeigt, in welcher sozialen Existenzsituation das Kapitalverhältnis die überwiegende Mehrheit zu fixieren versucht. Spinoza auf sehr allgemeiner Ebene das vorgängige Streben nach Freiheit, Erkenntnis und Selbstbestimmung. Indem Spinoza die dynamischen Resultate des Kapitalverhältnisses, nämlich die Produktion dieses sozialen Verhältnisses selbst nicht thematisieren kann, ist die Spinozistische Philosophie keine umfassende und den geltenden gesellschaftlichen Formen der Arbeit angemessene Theorie der Befreiung.

Was berechtigt uns, bezogen auf Marx wie auf Spinoza überhaupt von einer Theorie der Befreiung zu sprechen, wie ich es soeben getan habe? Es ist das Zusammenspiel von zwei Dimensionen oder Achsen, wie ich es nenne. Mit dem Begriff Achsen möchte ich ausdrücken, dass wir stets von einem sich verändernden Mehr oder Weniger auszugehen haben. Die erste Dimension ist bei Marx die Produktivkraft der Arbeit, bei Spinoza das Tätigkeitsvermögen. Der Begriff des Tätigkeitsvermögens ist umfassender als der Begriff der Produktivkraft der Arbeit und umschließt diesen. Beide Begriffe thematisieren unser materielles, geistiges, kognitives und affektives Einwirken auf Natur und Menschen. Die zweite Dimension ist der Gegensatz von Gezwungenheit und Freiheit. Auf diese Dimension komme ich in Kürze zu sprechen. Ich betrachte zuerst die Dimension der Produktivkraft bzw. des Tätigkeitsvermögens.

Die Faktoren für die Mächtigkeit der Produktivkraft der Arbeit aber ebenso für das Tätigkeitsvermögen sind weder taxativ aufzuzählen noch abzugrenzen. Marx nennt den Stand der Wissenschaft, die Kommunikations- und Informationsstrukturen, die Naturverhältnisse - kurzum so gut wie alle zivilisatorischen und natürlichen Faktoren. Bei Spinoza verändert jeder Kontakt mit der Welt unser Tätigkeitsvermögen, sei es, dass es dadurch gesteigert, sei es, dass es dadurch vermindert wird. Alle diese Faktoren, von den gesellschaftlichen Verhältnissen bis zu Naturverhältnissen, wirken auf alle Individuen ein, sind jedoch stets individuell gebrochen. Ich gebe ein Beispiel: Die Erfindung und Entwicklung der Schrift, zweifellos ein wesentlicher Faktor für das Tätigkeitsvermögen, garantiert nicht, dass ein bestimmter Mensch auch tatsächlich lesen und schreiben kann. Dies hebt jedoch den wesentlichen Unterschied zwischen schriftlosen Gesellschaften und jenen, die auf der Schrift beruhen, nicht auf.

Welche Ursachen nennen nun Marx beziehungsweise Spinoza, um diese Faktoren, so sie veränderbar sind, zu optimieren, um dadurch die Produktivkraft der Arbeit beziehungsweise das Tätigkeitsvermögen zu erhöhen? Auf den ersten Blick mag es scheinen, als ob die Ursachen derart unterschiedlich bestimmt werden, so dass meine These, der Begriff des Tätigkeitsvermögen - agendi potentiam - schließe den Begriff der Produktivkraft ein, problematisch erscheinen könnte. Die Ursache des Strebens nach Erhöhung des Tätigkeitsvermögens erklärt Spinoza mittels des Begriffs des conatus. Conatus meint Streben oder den Versuch, im Sein dauerhaft zu verharren. Der conatus ist die aktuale, wirkliche Essenz des sich in der Dauer befindlichen Menschen. Dieses Streben ist uns nach Spinoza stets bewusst. Es umfasst sowohl den Körper wie auch den Geist. Ich zitiere: Es folge, dass "Geist und Körper dasselbe Ding sind, das bald unter dem Attribut des Denkens, bald unter dem der Ausdehnung begriffen wird." (3p2s) Der conatus drängt nach der Steigerung des Tätigkeitsvermögens. Da uns dieses Streben bewusst ist, schließt Spinoza: "Der Geist strebt, soviel er vermag, sich das vorzustellen, was das Tätigkeitsvermögen des Körpers vermehrt oder fördert." (3p12) Diese Vorstellungen versuchen wir, so uns nichts daran hindert, auch zu realisieren. Ebenso gilt: Alles, was das Tätigkeitsvermögen des Körpers vermehrt, dessen Idee vermehrt das Denkvermögen des Geistes. Erhöhung und Verminderung des Tätigkeitsvermögens sind unmittelbar affektiv, jede Erhöhung bewirkt Lust oder Freude, jede Verminderung Unlust oder Trauer. Erst mit der Lehre vom conatus, welche Spinoza im dritten Teil der Ethik entfaltet, wird der Mensch tatsächlich Subjekt. Dieses Streben ist unzerstörbar und durch keinerlei äußere Faktoren bewirkt. Das menschliche Subjekt ist bei Spinoza ohne innere Widersprüche, Spaltungen oder Entgegensetzung. Wie stellt sich die Sachlage bei Marx dar? Der Anstoß zur Erhöhung der Produktivkraft der Arbeit scheint ausschließlich der Akkumulationslogik des Kapitals selbst innezuwohnen. Kapitale, denen es gelingt, die Produktivkraft der Arbeit zu erhöhen, lukrieren einen Extramehrwert, bis sich die neuen Produktionsverfahren allgemein durchgesetzt haben. Haben wir es somit mit der Denkfigur der List der Vernunft zu tun? Der Zweck der Erhöhung der Produktivkraft ist der Profit, aber diese Erhöhung impliziert die Steigerung der Gesellschaftskräfte und damit auch in unterschiedlichem und uneinheitlichem Maße die individuellen Fähigkeiten der Menschen. Müssen wir somit folgenden Gegensatz konstatieren: Während für Spinoza der Antrieb zur Steigerung des Tätigkeitsvermögens unmittelbar aus der Essenz des Menschen folgt, bürdet Marx diesen Mechanismus der Logik der Kapitalakkumulation auf? Steigerung der Produktivkraft würde somit bei Marx durch einen dem Subjekt fremden und äußerlichen Mechanismus erzwungen werden.

Gegen diese schroffe Entgegensetzung spricht der Arbeitsbegriff bei Marx selbst und dieselbe schwindet in dem Maße, in dem wir die Unterscheidung zwischen entfremdeter und nicht entfremdeter Arbeit bei Marx berücksichtigen. Wir finden bei Marx, beginnend mit den Frühschriften über das Kapital bis hin zur Kritik des Gothaer Programms die Denkfigur, dass durch die Entäußerung und Vergegenständlichung des Menschen im Arbeitsprozess seine Wesenskräfte erstmals geschaffen werden. Ich zitiere aus dem Kapital: "Indem er" - der arbeitende Mensch - "durch diese Bewegung" - die Arbeit - "auf die Natur außer ihm wirkt und sie verändert, verändert er zugleich seine eigne Natur. Er entwickelt die in ihr schlummernden Potenzen und unterwirft das Spiel ihrer Kräfte seiner eignen Botmäßigkeit." (MEW 23; 192) Allerdings erst unter den Bedingungen der nicht entfremdeten Arbeit kann Arbeit "selbst das erste Lebensbedürfnis" (MEW 19; 22) werden. Die strukturelle Fremdbestimmung im kapitalistischen Produktionsprozess trennt den Menschen von seinem ersten Lebensbedürfnis. Wohl lässt das Kapitalverhältnis für bestimmte Schichten einen positiven Bezug zur Erwerbsarbeit durchaus zu und fordert bestimmte Kompetenzen. Was das Kapital jedoch niemals ermöglichen kann, ist die tatsächliche und umfassende Selbstbestimmung, ist Autonomie im Arbeitsvollzug.

Wir sehen also: Auch Marx verknüpft das Arbeitsvermögen mit dem Wesen des Menschen. Indem der Mensch durch Arbeit seine eigene Natur verändert, verändert er wiederum sein Tätigkeitsvermögen. Dieser positive Zirkel wird nun durch die Fremdbestimmung in der Lohnarbeit gebrochen. Ich komme nun auf die zweite Dimension, auf den Gegensatz von Freiheit und Gezwungenheit, zu sprechen. Wobei ich durchaus im Sinne von Marx und Spinoza Freiheit mit Selbstbestimmung und Autonomie, Gezwungenheit mit Fremdbestimmung und Heteronomie synonym setze.

Der Unterschied der Freiheitsdimension zum Tätigkeitsvermögen ist schlagend. Es ist eine Sache, ob ein Kollektiv oder ein Individuum etwas kann und vermag, eine andere, welche Macht bestimmt, ob und in welcher Weise dieses Vermögen eingesetzt wird. Ich kann mehr oder weniger fähig sein, Texte gut und präzise von einer Sprache in die andere zu übersetzen - die Fähigkeit zum Übersetzen ist Teil meines Tätigkeitsvermögens. Diese Tätigkeit kann meinen Interessen und Bedürfnissen entsprechen -ich übersetze Texte, die mir wichtig und wertvoll erscheinen. Andererseits kann ich kann aber auch Texte übersetzen müssen, die ich in jeder Hinsicht ablehne und als nutzlos und schädlich erachte. Die Unterscheidung zwischen den Faktoren der Produktivkraft der Arbeit und ihrem heteronomen bzw. autonomen Einsatz ist für Marx ganz wesentlich. Im Grunde beruht die von ihm reklamierte Wissenschaftlichkeit seiner Analyse auf dieser Unterscheidung. "Als Fanatiker der Verwertung des Werts zwingt er [der Kapitalist, das personifizierte Kapital] rücksichtslos die Menschheit zur Produktion um der Produktion willen, daher zu einer Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte und zur Schöpfung von materiellen Produktionsbedingungen, welche allein die reale Basis einer höheren Gesellschaftsform bilden können, deren Grundprinzip die volle und freie Entwicklung jedes Individuums ist." (MEW 23; 618) Um diese höhere Gesellschaftsform zu erreichen, ist es jedoch unabdingbar, dass das Kapitalverhältnis und die damit verbundene Fremdbestimmung überwunden werden. Die im Kapitalverhältnis entwickelte Produktivkraft der Arbeit kann sich nur dann mit dem ersten Lebensbedürfnis verbinden, wenn sie selbstbestimmt ausgeübt wird.

Auch für Spinoza ist die Unterscheidung zwischen Tätigkeitsvermögen einerseits und der Freiheit/Unfreiheit andererseits grundlegend. Ich zitiere aus seiner Definition der Freiheit: "Frei heißt ein Ding, das nur aus der Notwendigkeit seiner eigenen Natur heraus existiert und nur durch sich selbst zum Handeln bestimmt wird;" (1def7) In der Formel "nur durch sich selbst zum Handeln bestimmt wird" haben wir das Motiv der Selbstbestimmung. Was nun den Ausdruck "aus der eigenen Natur heraus" betrifft, so ist sein Sinn erneut mittels der Lehre vom conatus zu dechiffrieren. Wie bereits erwähnt, ist der conatus der Versuch oder das Streben jedes tatsächlich in der Dauer sich befindlichen Dinges, in seinem Sein zu verharren. Spinoza nennt den conatus daher auch die aktuale Essenz des Menschen. Wenn es somit gelingt, tatsächlich aus der Notwendigkeit des eigenen conatus heraus zu handeln, dann handeln und sind wir frei. Wie definiert nun Spinoza umgekehrt die Unfreiheit? "[N]otwendig oder vielmehr gezwungen heißt ein Ding, das von einem anderen bestimmt wird, auf gewisse Weise zu existieren und zu wirken." Unfreiheit beruht somit auf Fremdbestimmung, darauf, von einem anderen, also nicht aus sich selbst, zum Sein und Handeln bestimmt zu werden. Es war für mich ein intellektuelles Aha-Erlebnis als ich erkannte, wie sehr diese Definition mit dem Marxschen Denken harmoniert. Identifizieren wir die Notwendigkeit der eigenen Natur mit dem Weltbezug durch Arbeit, so finden wir in der Bestimmung von Freiheit und Unfreiheit durch Spinoza die gesellschaftliche Seinsweise des Proletariats. Es kann sein Tätigkeitsvermögen nicht autonom und selbstbestimmt ausüben, sondern wird von einem anderen - dem Kapital - gezwungen, auf bestimmte Weise zu wirken. Ebenso versucht das Kapital, die gesellschaftliche Seinsweise des Proletariates zu fixieren, nämlich als allgemeines Arbeitsvermögen, welches dem Kapital nach Tunlichkeit zur Verfügung steht. Ich zitiere aus der elaborierten Bestimmung des Proletariats bei Marx: "Im Verhältnis von Kapital und Arbeit sind Tauschwert und Gebrauchswert in Verhältnis zueinander gesetzt [...]" (MEW 42; 193) "Träger der Arbeit als solche, d.h. [...] Arbeit als Gebrauchswert für das Kapital zu sein, macht seinen ökonomischen Charakter aus;" (MEW 42; 218) Die Definition von Unfreiheit bei Spinoza trifft präzise auf das gesellschaftliche Sein des Proletariats zu und charakterisiert trefflich einen wesentlichen Aspekt der Lohnarbeit. Mit Spinoza können wir somit die gesellschaftliche Lage und ebenso die Fremdbestimmtheit seiner Tätigkeit verstehen. Wir können jedoch nicht die dynamischen Prozesse erhellen, die das Proletariat daran hindern, zu Selbstbestimmung voranzuschreiten. Es fehlt die Analyse des Prozesses der Entfremdung. Ich zitiere eine Darstellung bei Marx: "Da der Produktionsprozeß zugleich der Konsumtionsprozeß der Arbeitskraft durch den Kapitalisten, verwandelt sich das Produkt des Arbeiters nicht nur fortwährend in Ware, sondern in Kapital, Wert, der die wertschöpfende Kraft aussaugt, Lebensmittel, die Personen kaufen, Produktionsmittel, die den Produzenten anwenden. Der Arbeiter selbst produziert daher beständig den objektiven Reichtum als Kapital, ihm fremde, ihn beherrschende und ausbeutende Macht, und der Kapitalist produziert ebenso beständig die Arbeitskraft als subjektive, von ihren eignen Vergegenständlichungs- und Verwirklichungsmitteln getrennte, abstrakte, in der bloßen Leiblichkeit des Arbeiters existierende Reichtumsquelle, kurz den Arbeiter als Lohnarbeiter." (MEW 23; 596) Diese Analyse ist mit den Denkmitteln Spinozas nicht zu reformulieren.

Ich möchte nun dieses wesentliche Defizit der Spinozistischen Ethik anhand des Begriffs des Handelns bei Spinoza explizieren. Der Begriff des Handelns bietet sich deshalb an, weil er ummittelbar mit dem Begriff der Freiheit und der Selbstbestimmung verknüpft ist. Ich gehe somit von folgender These aus: Da Spinoza keine Analyse der entfremdeten Arbeit kennt, kann er nicht zureichend die Ursachen nennen, die uns am wahrhaften Handeln hindern.

Auch den Begriff des Handelns stellen wir in den Kontext der conatus Lehre von Spinoza. Wenn ich rekapitulieren darf: Unser Tätigkeitsvermögen wird durch mannigfache Umstände erhöht oder vermindert. Wir streben danach, es zu erhöhen. Wir verändern und wir werden verändert. Diese Veränderungen sind unmittelbar affektiv, sie sind die Ursache für Lust und Unlust. Doch Lust und Unlust zeigen noch mehr an als die bloße Steigerung und Verminderung unseres Tätigkeitsvermögens. Auch die zweite Dimension, der Gegensatz von Freiheit und Gezwungenheit, kommt ins Spiel. Aus der Begierde folgt das Handeln, aus Lust das Streben nach Vollkommenheit. "Je mehr Vollkommenheit ein Ding hat" postuliert Spinoza, "desto mehr tätig und desto weniger leidend ist es, und umgekehrt, je mehr ein Ding tätig ist, desto vollkommener ist es." (5p40) Wenn wir aus der Notwendigkeit der eigenen Natur heraus tätig sind, dann handeln wir und streben nach Vollkommenheit, wenn nicht, dann nicht.

Spinoza verwendet nun für das bloße Tätigsein, welches nicht aus unserer Natur folgt, den Begriff Erleiden. Orientieren wir uns am üblichen Wortsinn, so sind Missverständnisse unvermeidbar. Der Gegensatz von Handeln und Erleiden ist keineswegs mit dem Gegensatz von Aktivität und Passivität identisch. Wohl schließt der Begriff des Handelns stets Aktivität ein, doch auch die Affekte des Leidens führen zu Aktivitäten. Diese Aktivitäten des Erleidens sind jedoch von wirklichen Handlungen klar zu unterscheiden. Wir handeln deshalb nicht, weil wir zwar glauben, dass wir unser Sein erhalten, tatsächlich gefährden wir es stattdessen. Wir handeln nur dann, wenn unsere Aktivitäten einzig und allein aus dem Streben folgen, unser Sein zu erhalten, wenn ausschließlich wir die Ursache unserer Aktivitäten sind. "Ich sage, dass wir dann handeln, wenn etwas in uns geschieht oder außer uns geschieht, dessen adäquate Ursache wir sind." (3def2) Adäquate Ursache zu sein bedeutet die einzige und daher klar erkennbare Ursache zu sein. Ich komme nun zur entscheidenden Frage: Was hindert uns nach Spinoza am Handeln? Diese Frage ist identisch mit der Frage: Was hindert uns an der Freiheit, was hindert uns an der Selbstbestimmung, was an der Tugend?

Erstens: unser Eingebettetsein in die Welt selbst. "Es ist unmöglich, dass der Mensch nicht Teil der Natur ist und dass er nur Veränderungen erleiden kann, die aus seiner Natur allein begriffen werden können und deren adäquate Ursache er ist." (4p4) Damit ist nicht gesagt, dass Leiden immer schlecht ist. Das, was auf uns einströmt, kann unser Tätigkeitsvermögen vermindern, aber auch erhöhen. Es kann unsere Fähigkeit zum Handeln erhöhen oder vermindern, ist aber vom Handeln stets zu unterscheiden. Da wir stets Teil der Natur sind, leiden wir immer, es kommt gewissermaßen auf die Quantität des Leidens an, was Spinoza in der Definition des Affekts auch klarstellt. Absolut aus der Notwendigkeit der eigenen Natur zu handeln ist somit eine Grenzbestimmung, der wir uns nur mehr oder minder annähern können. Ich wüsste gegen diesen Aspekt nun keinen Einwand, der sich aus der Marxschen Perspektive ergeben könnte. Auch in einer freien Gesellschaft, so Marx, bleibt das Reich der Gezwungenheit bestehen, wenn auch qualitativ reduziert. Zweitens: Der Mangel an adäquaten Ideen hindert uns ebenso am Handeln. Spinoza stellt diese Bestimmung an den Beginn des dritten Teiles seiner Ethik, ich zitiere: "Hieraus folgt, dass der Geist um so mehr dem Leiden unterworfen ist, je mehr inadäquate Ideen er hat, dass er dagegen um so mehr handelt, je mehr adäquate Ideen er hat." (3p2c) Das führt uns zum diffizilen und komplexen Problem, wie der Geist seine inadäquaten Ideen minimieren und in adäquate Ideen weiterführen kann. Die Frage, was uns am Handeln hindert, ist somit auch mit der Frage verknüpft, was uns daran hindert, adäquate Iden zu bilden? Auch beim Geist ist zwischen Tätigkeitsvermögen und Freiheit zu unterscheiden. Das Tätigkeitsvermögen des Geistes entspricht der Quantität seines Auffassungsoder Erfassungsvermögens. Wenn Spinoza postuliert: "Der menschliche Geist ist befähigt, vieles zu erfassen und umso befähigter, auf je mehr Weisen sein Körper disponiert werden kann" (2p14), so meint "vieles erfassen" keineswegs vieles auch adäquat zu erfassen. Das Tätigkeitsvermögen des Körpers korrespondiert mit dem Tätigkeitsvermögen des Geistes. "Alles, was das Tätigkeitsvermögen unseres Körpers vermehrt oder vermindert, fördert oder hemmt, dessen Idee vermehrt oder vermindert, fördert oder hemmt das Denkvermögen unseres Geistes." (3p11) Spinoza spricht hier explizit nicht von adäquaten Ideen, sondern eben vom Denkvermögen, cogitandi potentiam, unseres Intellekts.

Einen Faktor, der das quantitative Verhältnis zwischen den inadäquaten zugunsten der adäquaten Ideen verschieben könnte, meine ich in Spinozas Lehrsätzen über die Allseitigkeit des Affizieren und Affiziertwerden gefunden zu haben. "Das, was den menschlichen Körper so disponiert, dass er auf viele Weisen affiziert werden kann, oder was ihn fähig macht, äußere Körper auf viele Weisen zu affizieren, ist dem Menschen nützlich und um so nützlicher, je fähiger der Körper dadurch gemacht wird, auf viele Weisen affiziert zu werden und andere Körper zu affizieren." (4p38) Und Spinoza setzt hinzu: "Je mehr der Körper hierzu fähig gemacht wird, desto fähiger wird der Geist zum Erkennen gemacht." (4p38dem) Einseitigkeit, auch wenn sie Lust zur Folge hat, wird von Spinoza als einschränkend und daher negativ bezeichnet. Wenn die Begierde, so Spinoza, keine Rücksicht auf den ganzen Menschen nimmt, dann kann auch Lust ein Übermaß haben. Auch bei diesem Thema finden wir Berührungspunkte mit Marx. Reduktion, Einschränkung, Fixierung auf bestimmte Lebensvollzüge ist für Marx stets negativ. Umgekehrt hält Marx Allseitigkeit und wahren Reichtum für Bedingungen wie für Resultat von Freiheit: So lesen wir in den Grundrissen einer Vorarbeit zum Kapital: "In fact aber, wenn die bornierte bürgerliche Form abgestreift wird, was ist der Reichtum anders, als die im universellen Austausch erzeugte Universalität der Bedürfnisse, Fähigkeiten, Genüsse, Produktivkräfte etc. der Individuen?" (MEW 42; 395f ) Eine Gesellschaft des wahren Reichtums könnte also bewirken, was Spinoza für Befreiung als grundlegend erachtet: "Der letzte Zweck des von der Vernunft geleiteten Menschen oder seine höchste Begierde, durch die er alle übrigen zu lenken trachtet, ist daher diejenige [Begierde], durch die er dahin gebracht wird, sich und alle Dinge, die in den Bereich seines Erkenntnisvermögens fallen können, adäquat zu begreifen." (Hauptsatz 4)

Wir finden somit drei Hemmnisse für unser Handeln bei Spinoza. Zwei wurden bereits genannt: Erstens die unaufhebbare Verwobenheit in die Natur, zweitens der Mangel an wahrer und adäquater Erkenntnis und drittens der Status der anderen. Aus der Marxschen Perspektive ist der dritte Grund doch sehr mangelhaft und unzureichend. Warum? Wenn wir die Verhältnisse betrachten, die Spinoza in seiner Ethik thematisiert, finden wir zwar vergesellschaftete Menschen, die des Gemeinwesens unbedingt bedürfen, aber sie wirken seltsam nebeneinander gestellt. Kein gemeinsames Tun, kein Arbeitsprozess verbindet sie. Die von Spinoza analysierten Mechanismen der affektiven Beziehungen gelten bereits dann, wenn sich Menschen an einem Ort aufhalten, als Nachbarn nebeneinander wohnen oder gemeinsam bestimmte Orte frequentieren. Spinoza unterstellt einfach vergesellschaftete Menschen ohne bestimmte und spezielle Beziehungen. Dies lässt sich aus auch aus den Formulierungen entnehmen, mit denen er positive Verhältnisse beschreibt. Als Nachbarn sollen wir "in Eintracht leben" (4p40dem), uns mit anderen in "Freundschaft" (Hauptsatz 12) verbinden.

Gemeinsame Aufgaben oder Problemlösungen untersucht Spinoza nur auf der Ebene des politisch konstituierten Gemeinwesens, etwa in der Frage der Abwehr von Feinden oder hinsichtlich einer wirkungsvollen Bündnispolitik. Der durch die Konstitution geschaffene Gesellschaftszustand hebt nun die Gesetze der menschlichen Natur keineswegs auf, sondern beruht auf diesen. Wenn wir die Analyse der sozialen Verhältnisse bei Spinoza verstehen wollen, so dürfen wir nic, aumgekehrt den Gesellschaftszustand ausgehend von der Dynamik des conatus begreifen. Da der Naturzustand bei Spinoza nie aufgegeben werden kann, sondern den Gesellschaftszustand gewissermaßen trägt, müssen wir die Modi der sozialen Verhältnisse aus dem Naturzustand selbst verstehen. Und dort finden wir kein gemeinsames Tun, keine verbindenden Prozesse.

Die vergesellschafteten Menschen in der Ethik Spinozas leben wohl in einem Gemeinwesen, sind jedoch nicht durch einen gemeinsamen Arbeitsprozess miteinander verbunden. Durch Mangel an Sein und an Erkenntnis geraten sie in Konflikt, sie glauben fälschlich, durch bestimmte Aktionen ihr Sein erhalten zu können, etwa indem sie den gehassten Gegenstand zu zerstören suchen - doch diese Affekte beruhen auf inadäquaten Ideen. Spinoza unterstellt jedoch kein soziales Verhältnis, welches mit Notwendigkeit Herrschaft und Knechtschaft impliziert. Dass es soziale Verhältnisse gibt, die das Handeln für Subalterne systematisch und strukturell ausschließt, diesen Ansatz finden wir bei Spinoza nicht. Und ebenso wenig den Gedanken, dass in diesem Verhältnis erneut die materiellen und gesellschaftlichen Bedingungen für dieses Verhältnis selbst produziert werden. Betrachten wir den Mangel bei Spinoza aus der Perspektive der Maximierung der Freiheit. Also, nicht was hindert uns am Handeln, sondern umgekehrt, was ermöglicht uns das Handeln? Diese Frage ist mit der Frage verknüpft: Auf welchen Bedingungen beruht ein freies Gemeinwesen, welches mehr oder weniger für die Freiheit der Einzelnen Voraussetzung ist? Spinoza thematisiert diese Problematik mittels der Begriffe der Übereinstimmung bzw. Nichtübereinstimmung. Wenn die Menschen tatsächlich und nicht bloß in ihrer Einbildung versuchen, ihr Sein zu erhalten, sondern geleitet von wahren Ideen, dann stimmen sie immer notwendig überein. Wenn nicht, dann können sie in Gegensatz geraten, müssen es aber nicht mit Notwendigkeit. Wir finden ein zirkuläres Verhältnis bei Spinoza: Je mehr Menschen der Vernunft folgen, desto mehr stimmen sie überein, desto mehr wirken sie positiv auf andere. Umgekehrt: Je mehr die Menschen von Leiden bestürmt werden, also anstatt zu handeln fremdbestimmte Aktivitäten setzen, desto problematischer wirken sie auf andere. Die Übereinstimmung besitzt einen pragmatischen Aspekt. "Es gibt in der Natur nichts Einzelnes, was den Menschen nützlicher wäre als der Mensch, der nach der Leitung der Vernunft lebt." (4p35c1) Es wäre jedoch irreführend, die Übereinstimmung bei Spinoza bloß als Optimierung von Mächtigkeit zu interpretieren, nach der Logik, zwei vermögen mehr als einer, drei mehr als zwei. Eine bloße Koppelung an sich verschiedener Interessen ist zu schwach, um Übereinstimmung zu stiften.

Die Übereinstimmung muss sich auf den Gegenstand des Erkennens erstrecken. Spinoza sagt uns auch sehr klar, was der Geist erkennen muss, wenn er tatsächlich erkennt, wenn er tatsächlich handelt. Es ist das nicht knappe Gut Gott. "Das höchste Gut des Geistes ist die Erkenntnis Gottes, und die höchste Tugend des Geistes ist es, Gott zu erkennen." (4p28) Nur zur Klarstellung: Der Gott Spinozas hat mit dem theologischen Gott der Religionen nichts gemein. Wer Gott erkennt, erkennt die Welt. Oder, wie es Spinoza im 5. Teil ausspricht: "Je mehr wir die Einzeldinge erkennen, umso mehr erkennen wir Gott." (5p24) Wenn Spinoza nun davon spricht, dass allen, die den Weg der Tugend gehen und somit wahrhaft handeln, das höchste Gut gemeinsam ist und es als nicht knappes Gut keine Besitzansprüche, keinen Neid und keine Eifersucht bewirken kann, so ist diese Aussage mit Marx kompatibel. Auch bei Marx muss eine freie Gesellschaft auf nicht knappen Gütern beruhen, und dieses nicht knappe Gut ist die Vergesellschaftung selbst.

Die freie Gesellschaft, die auf freien Individuen beruht, ist eine Gesellschaft von Menschen, die begreifen, dass das Wichtigste für ihre Freiheit die Freiheit der anderen ist, die versuchen, sich in Liebe zu verbinden, wobei die Liebe zum Sein, welches, identifiziert mit dem eigentümlichen Gottesbegriff bei Spinoza durch inneres Leuchen erstrahlt, ihre gegenseitige Liebe und Freundschaft stabilisiert. Es fehlt jedoch völlig die Einbeziehung der materiellen wie geistigen Produktion und Reproduktion der Gesellschaft, und zwar sowohl hinsichtlich der geltenden gesellschaftlichen Formen als auch hinsichtlich möglicher zu antizipierender Momente einer freien Gesellschaft. Inwiefern uns das Kapitalverhältnis am tatsächlichen Handeln hindert und welche Formen der gesellschaftlichen Arbeit überwunden werden müssen, um Handeln zu ermöglichen, kann Spinoza nicht thematisieren. Dass die gesamte Dimension des Kapitalverhältnisses bei Spinoza fehlt, dafür ist er nicht zu rügen. Nach meiner Auffassung konnte selbst von Frühkapitalismus in den Vereinigten Provinzen zu Lebenszeit Spinozas keine Rede sein. Er konnte die Bedeutung des Klassenverhältnisses nicht erkennen, weil es nichts zu erkennen gab. Aber wir können es. Wenn Spinoza in seiner Definition der Gezwungenheit und der Freiheit davon spricht, dass ein anders Ding jemanden zwingt "auf gewisse und bestimmte Weise zu existieren" (nämlich in der proletarischen Existenzsituation zu verharren) "und zu wirken", so formuliert unser Philosoph auf höchster Abstraktionsstufe die Bedingungen für Unfreiheit und umgekehrt ebenso die Bedingungen der Freiheit. Dass Spinoza die Dynamik der Unfreiheit, wenn ich nun das Kapitalverhältnis so bezeichnen darf, nicht erkennen konnte, ist ein Mangel, den wir in der Rezeption, so wir dem Denken Spinozas Aktualität verleihen wollen, zu berücksichtigen haben.

Wir können jedoch durchaus im Sinne Spinozas den ersten Lehrsatz des vierten Teils auf ihn selbst anwenden. "Nichts von dem, was eine falsche Idee Positives enthält, wird durch die Gegenwart des Wahren, insofern es wahr ist, aufgehoben." (4p1) Setzen wir für die falsche Idee die Ethik Spinozas ein. Sie ist mangelhaft, da sie den Prozess der entfremdeten Arbeit nicht erfassen kann, aber sie enthält Positives. Sie thematisiert auf sehr abstrakter Ebene das Wechselspiel zwischen Tätigkeitsvermögen und Freiheit, somit jene zwei Achsen, die jede Theorie der Befreiung nach meiner Auffassung beinhalten muss. Reduzieren wir alles auf das Tätigkeitsvermögen, so kreieren wir eine eindimensionale Welt des Ja oder Nein zu dieser Produktivität. Lassen wir diese Dimension fallen und fokussieren wir auf geistige Erkenntnis, so entmaterialisiert sich Freiheit und Vernunft. Das Wechselspiel dieser Dimensionen gezeigt zu haben, ist ein wesentlicher Aspekt des Positiven der Ethik Spinozas. Akzeptieren wir die Marxsche Theorie als Gegenwart des Wahren, so hebt nun dieses Wahre, insbesondere die Figur der entfremdeten Arbeit, die Erkenntnisse Spinozas keineswegs auf.

E-Mail: k.reitter@gmx.net

Zitierte Literatur / Siglen:

Marx, Karl, (MEW 19) "Kritik des Gothaer Programms", Seite 13-32
Marx, Karl, (MEW 23) "Das Kapital, Band 1"
Marx, Karl, (MEW 42) "Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie"
Spinoza, Baruch, (1997) "Die Ethik", lateinisch und deutsch, revidierte Übersetzung von Jakob Stern, Stuttgart

Zitierprinzip der Ethik Spinozas: Die Teile der Ethik werden mit arabischen Ziffer angegeben, der darauf folgende Kleinbuchstabe bestimmt die Satzart (z.B. p = propositio, Lehrsatz), danach die Nummer plus eventuell weitere Spezifikation nach demselben Prinzip. 4p37s2 bedeutet also 4. Buch, 37. Lehrsatz, Anmerkung

a = axioma, Axiom
app = appendix, Anhang
c = collarium, Zusatz
cap = caput, Hauptsatz
d = definitio, Definition
dem = demonstratio, Beweis
exp = explicatio, Erläuterung
lem = lemma, Hilfssatz
p = propositio, Lehrsatz
post = postulatum, Postulat
praef = praefatio, Vorwort
s = scholium, Anhang

Raute

Klaus Ronneberger:
Minenhunde der Aufwertung?
Die Kreativen und die Stadt

Vor mehr als zehn Jahren hatten wir - das heißt die Gruppe "Nitribitt - Frankfurter Ökonomien" - eine Veranstaltung zu den prekären Arbeitsverhältnissen im flexiblen Kapitalismus organisiert. Die Frage war, ob das linke, nonkonformistische Boheme-Milieu nicht das ideale Stammpersonal für den Neoliberalismus bilden würde, da postfordistische Werte wie Produktivität, Flexibilität und Kreativität - nach außen stets als disziplinierende Normen des Systems verdammt - uns selbst zur zweiten Natur geworden seien. In gewisser Weise, so unsere These, zählten wir zur Avantgarde des "Neuen Kapitalismus", für den wir immer neue Schneisen schlagen. Vor kurzem haben wir in der Veranstaltung "Florida goes to Frankfurt" diese Fragestellung nochmals aus einer räumlichen Perspektive aufgegriffen: Inwiefern arbeiten die Stadtimaginationen und Raumaneignungspraktiken der Boheme- und Kunstmilieus dem aktuellen Modell der "kreativen Stadt" zu? Heute gilt die Kultur als treibende Kraft eines neuen dynamischen Kapitalismus. Als wichtiger Bestandteil der "kreativen Stadtentwicklung" werden Kulturschaffende gezielt in heruntergekommenen Stadtvierteln und ehemalige Industriebrachen angesiedelt. Damit geraten Künstler und Künstlerinnen in das Sperrfeuer der linken Gentrifizierungskritik. Sie gelten als "Minenhunde" einer kapitalistischen Aufwertungsstrategie. Dem scheinen wiederum die Aktivitäten vieler Kulturschaffenden zu widersprechen, die zusammen mit anderen Gruppen und Organisationen unter dem Label "Recht auf Stadt" gegen die vorherrschende Stadtpolitik protestieren und intervenieren.

Städtische Zentralität

Dieser intuitiv fesselnde Slogan stammt ursprünglich von Henri Lefebvre (1901-1991), der damit die Aufwertungs- und Verdrängungspraxis des kapitalistischen Urbanismus angreift. Im Laufe eines langen intellektuellen Lebens hat sich der französische Philosoph und Soziologe mit so unterschiedlichen Themen wie Marxismus, Alltagsleben, Raum und Staat auseinandergesetzt. Wenn es einen roten Faden in seinen Arbeiten gibt, dann ist die vehemente Kritik an allen Formen von Herrschaft. Lefebvres erklärtes Ziel war insbesondere eine Aufwertung der "Subjektivität" und die Suche nach Spielräumen für Autonomie und Kreativität. Die These von Lefebvre, dass es nicht allein auf die Überwindung überkommener Herrschaftsstrukturen ankomme, sondern die Umwälzung des Alltags im Zentrum der politischen Praxis stehen müsse, fiel gerade bei der "Neuen Linken" auf fruchtbaren Boden. Es ist kein Zufall, dass Lefebvre die Parole vom "Recht auf die Stadt" erstmals 1968 - dem Jahr der Student_innenenrevolten und des Pariser Mai-Aufstandes - auf die politische Agenda gesetzt hat. Lefebvre formuliert diesen Anspruch weniger aus einer juristischen Perspektive, sondern versteht es als Forderung jener sozialen Gruppen, die marginalisiert werden oder unter dem reglementierten städtischen Alltag leiden: Jugendliche, Frauen, Studierende, Migrant_innen, Kolonisierte, Arbeiter_innen und Intellektuelle. Das Phänomen der "Stadt" und die dazugehörigen sozialräumlichen Prozesse sind in verschiedensten Aspekten seines Werkes präsent. Vor allem mit Le droit á la ville (1968) und La révolution urbaine (1970) entwickelt er eine Theorie des Urbanen. Die Texte operieren auf unterschiedlichen Ebenen: Historisch geht es um die spezielle Situation der französischen Nachkriegs-Ära, strukturell um eine grundsätzliche Analyse des Urbanismus. Insbesondere zwei Ereignisse haben seine Hinwendung zum "Städtischen" beeinflusst: Für eine gewisse Zeit besteht zwischen Lefebvre und Vertreter_innen der Situationistischen Internationale (SI) ein produktives Austauschverhältnis. Sie zählen für ihn zu den Ersten, die die "urbanistische Rationalität" als Ideologie kritisieren. Tatsächlich sind die Situationist_innen die eigentlichen Pioniere einer linken Urbanismuskritik. Provoziert von den homogenisierenden und disziplinierenden Auswirkungen des funktionalen Städtebaus formuliert die SI ein neues Verständnis vom sozialen Raum der Stadt. Zum anderen erfährt Lefebvre die Auswirkungen des modernen Urbanismus am eigenen Leib. Unweit seines Herkunftsortes, einem Marktflecken in den Pyrenäen, wo er sich immer wieder gerne zurückzieht, entsteht Ende der 1950er Jahre eine Retortenstadt für 12.000 Einwohner_innen. Lefebvre kann die sozial-räumlichen Auswirkungen des fordistischen Urbanismus sozusagen unter Laborbedingungen studieren. Angesichts der "Wohnmaschinen" packt ihn, wie er in seinen Notizen zur Neuen Stadt (Lefebvre 1976 [1962]) anmerkt, immer wieder das blanke Entsetzten. Es wird ihm mehr und mehr bewusst, dass das Urbane die Widersprüche der Moderne am deutlichsten zum Ausdruck bringt.

Tatsächlich erlebt Frankreich, wie auch andere europäische Länder, ab den 1950er Jahren eine Periode exzessiver Urbanisierung, die zu einer völligen Umstrukturierung der Gesellschaft führt. Lefebvre reflektiert, dass der französische Staat eine Restrukturierung des nationalen Raumes und eine Reorganisation des Kapitalismus vorantreibt. Im Rahmen dieses Modernisierungspolitik, formiert sich eine Gruppe von Planern und Experten, die einen neuen ideologischen Diskurs entwickeln: den des Urbanismus. Für Lefebvre wird es offensichtlich, dass das Objekt der Wissenschaften nun eher der Raum als die Zeit ist. In seinen Schriften versucht er aufzuzeigen, dass der Raum von einer technokratischen Rationalität geformt wird. Er ist Gegenstand der Staatsgewalt, die mittels Raumplanung, Wohngesetzen, Investitionen in die Infrastruktur usw. politisch regulierend eingreift. Der kapitalistische Raum zeichnet sich nach Lefebvre grundsätzlich durch Einheitlichkeit und Fragmentierung aus. Er basiert auf der Trennung von Orten, die dann wieder miteinander verbunden werden. Einerseits bewirken die abstrakte Logik der Warenökonomie und der staatlichen Kontrollstrategien eine Tendenz zur Homogenisierung, andererseits fragmentieren die kapitalistischen Verwertungsstrategien (Bauindustrie, Immobilienspekulation etc.) den Raum, indem sie ihn parzellieren, zerschneiden und pulverisieren. Im Laufe des Jahrhunderts breitet sich ein tissu urbain ("urbanes Gewebe") über die Landschaft aus, das sämtliche Überbleibsel des ländlichen Daseins verschlingt. Bildhaft gesprochen vollzieht sich der Urbanisierungsprozess nach dem Prinzip von "Explosion" und "Implosion". Die historische Stadt explodiert, indem sie ihre Trümmer weit hinaus schleudert und neue Satellitenstädte entstehen lässt. Die Vororte sind räumlich separiert, auch wenn sie funktional weiterhin von der Stadt abhängig bleiben. "Implosion" steht für die gleichzeitig stattfindende Umwandlung der historischen Stadtzentren, die von den letzten "Slums" gereinigt werden und einen Aufwertungsprozess erfahren. Lefebvre erinnert in diesem Zusammenhang an Baron Haussmann, der Mitte des 19. Jahrhunderts im Auftrag Napoleons III. das Zentrum von Paris für die besitzenden Klassen umkrempeln und die städtische Armut aus den mittelalterlich geprägten Stadtquartieren vertreiben ließ. Nun, hundert Jahre später, beobachtet er einen ähnlichen Prozess: Wieder werden die subalternen Klassen aus dem Kernstadtbereich von Paris vertrieben. Die Verwertungsstrategien des Finanzkapitals und der Kulturindustrie leiten eine neue Runde der Verdrängung und Gentrifizierung ein. Soziale Kämpfe sind somit für Lefebvre auch Kämpfe um Territorialität. Diese These demonstriert er am Beispiel des 68-Mai-Aufstandes: Die Revolte beginnt an der Universität von Nanterre, einem neu gegründeten "Wissensstandort" an der Peripherie von Paris. Die Fakultät ist zu diesem Zeitpunkt von Schutthalden, Elendssiedlungen und Wohnblöcken des sozialen Wohnungsbaus umgeben. "Die Universitätsstadt, in der die Funktionen des Wohnens auf ein unbedingt notwendiges Minimum spezialisiert und reduziert wird - nicht ohne die traditionellen Trennungen zwischen Jungen und Mädchen aufrechtzuerhalten, zwischen Arbeit, Freizeit und Privatleben, wird zum Ort sexueller Hoffnungen und Rebellionen." (Lefebvre 1969 [1968]: S. 95) Viele Studenten und Studentinnen, die an diesen "Unort" verbannt sind, nehmen ihr "Recht auf die Stadt" wahr. Es "beginnt eine dialektische Interaktion zwischen Marginalität und urbaner Zentralität. Die Aktion kreist um die Sorbonne. Sie bedarf eines Zentrums, das ihr die 'Heterotopie' Nanterres nicht mehr liefern kann. Die Bewegung wird von diesem ex-zentrischen Ort von dem sie ausging (momentan) aufgegeben. Die Student_innen erobern das Quartier Latin zurück; sie eignen sich diesen Raum wieder an, der ihnen entrissen wurde und den sie im Kampf wiedererobert haben." (a.a.O. S. 106)‍ ‍Ob in den Uni-Satelliten, den Reihenhaussiedlungen der Mittelklassen oder im sozialen Massenwohnungsbau, überall herrscht Homogenität und Langweile. Vor allem die Jugendlichen aus den Vororten nehmen deshalb die Kernstadt Paris als privilegierten Ort wahr und eignen sich das Zentrum als Ort sozialer Aktivitäten an.

Eine entscheidende Aussage von Lefebvre besteht darin, dass mit der Ausbreitung des urbanen Gewebes die städtische Zentralität nicht verschwindet. Der vormalige Gegensatz von Stadt und Land transformiert sich zu einem neuen Gegensatz zwischen Zentrum und Peripherie. Die urbanen Kerne existieren weiter, indem sie sich regenerieren. Sie bleiben Zentren des urbanen Lebens, wobei ihre ästhetische und kulturelle Qualität eine besondere Rolle spielt. Lefebvre verweist dabei auf alle möglichen Formen des Vergnügens, von den Nachtlokalen bis zu den Opernhäusern. Kurz - die städtischen Zentren überleben als Orte des Konsums und als konsumierbare Orte. Die ökonomische Restrukturierung von Paris vor Augen, weist er zudem darauf hin, dass die Metropolen sich als Macht- und Entscheidungszentren der Headquarter- und Finanzökonomie neu konsolidieren.

Doch Lefebvre stellt die städtische Zentralität nicht grundsätzlich in Frage. Im Gegenteil: Das Potential der Stadt liegt für ihn darin, dass sie unterschiedlichste Elemente einer Gesellschaft synchron zusammenführt und aufeinander reagieren lässt. Aus diesem Zusammentreffen kann Unerwartetes und Neues entstehen. "Alles, was andernorts entsteht, reißt die Stadt an sich: Früchte und Objekte, Produkte und Produzent_innen, Werke und schöpferisch Tätige, Aktivitäten und Situationen. Was erschafft sie? Nichts. Sie zentralisiert die Schöpfungen." (Lefebvre 1972 [1970]: S. 127) Lefebvre hat den "schöpferischen Überschuss" der Stadt im Auge, der über die beschränkte Rationalität der Ökonomie und der administrativen Planung hinausgeht. Er unterscheidet zwischen der herrschenden Morphologie der Stadt, die Entfremdung und regulierte Verhaltensnormen erzeugt, und dem "Städtischen", dem Bedürfnis nach einem abwechslungsreichen Lebenszusammenhang. Das "Recht auf die Stadt" bedeutet deshalb für Lefebvre auch das "Zentrum" als Ort der Kreation der Urbanität neu zu erfinden. Diese Perspektive korrespondierte in der 1970er Jahren mit den Aktivitäten von Bürger_inneninitiativen, Stadtteilkomitees und Hausbesetzer_innen, die sich gegen die Normierung und Rationalisierung des städtischen Alltags wehrten und in ihren Aneignungsweisen "Räume des Widerspruchs" antizipierten.

Post-Punk - Rave - Cool Britannia

Entgegen den Hoffnungen von Lefebvre hat sich die Forderung nach "kreativer Urbanität" zu einem stimulierendes Element der neoliberalen Stadtpolitik entwickelt. Im globalen Standortwettbewerb, so die gängige Behauptung, komme der "Kreativität" als wesentlicher Bestandteil der wissensintensiven Ökonomie eine strategische Bedeutung zu. Die damit assoziierte "Kreativindustrie" steht nicht nur für Kunst und Kultur, sondern es geht auch um konsumorientierte Dienstleistungen, um neue Technologien und die verschiedenen Sparten der Wissensproduktion. Gemeint ist damit letztlich eine verstärkte Durchdringung von Kultur und Ökonomie als wesentliche Voraussetzung für die Prosperität der Städte.

Die Redeweise von den creative industries kam ursprünglich in Großbritannien auf. Dafür ist eine Reihe von Gründen verantwortlich zu machen. Im Vergleich zu den anderen Industrienationen war das Land von der Krise der Fordismus besonders stark erfasst worden. Mit dem Wahlsieg der Konservativen unter Führung von Margaret Thatcher im Jahre 1979 kam es dann zu einem radikalen ökonomischen und politischen Umbruch. Die neoliberale Politik führte letztlich dazu, dass der Niedergang von Industriestädten wie Birmingham, Manchester, Liverpool und Glasgow sich beschleunigt fortsetzte. Angesichts der wachsenden Arbeitslosigkeit und des zentralstaatlichen Drucks auf die kommunale Haushaltsführung begannen viele Städte sich an einer unternehmerischen Standortstrategie zu orientieren, die vor allem auf Kultur und Konsum setzte: Zunächst programmatische Ausrichtung der Stadtverwaltung im Sinne eines "entrepreneurial spirit", dann Umschreibung der industriellen Historie mithilfe von Imagekampagnen und öffentlichkeitswirksamen Prestigeprojekten, schließlich Neuerfindung der Stadt als Kapitale des Spektakels. Die Ökonomien des Essens und Trinkens, des Einkaufens und Konsumierens, der Freizeitvergnügungen und des Tourismus galten nun als wichtiger Bestandteil des städtischen Wirtschaftslebens. Nach dem Wahlsieg von Tony Blair geriet der Faktor "Kreativität" in den Focus der wirtschaftspolitischen Aufmerksamkeit. Bereits im vorhergehenden Wahlkampf hatten die britischen Sozialdemokraten die "creative industries" als Joker ins Spiel gebracht und von den zukunftsweisenden Möglichkeiten einer neuartigen Kultur-Ökonomie gesprochen. Der Kreativitätsdiskurs passte ideal zur Ideologie des "Dritten Wegs", da er jenseits von Lohnarbeit und Kapital eine postindustrielle Produktivität quasi aus dem Nichts versprach. Anhand ihrer langjährigen Studien kommt die Kulturwissenschaftlerin Angela McRobbie (2007) zu dem Schluss, dass die Kultur- und Kunstszenen als Experimentierfeld für ein postmodernes "Kultur-Unternehmertum" angesehen werden müssen. Für England macht sie drei Wellen aus: Erst der Post-Punk-"Do-it-yourself"-Ethos subkultureller Mikro-Unternehmen im Musik-, Mode- und Designbereich, der Mitte der 1980er Jahre aufkommt. Hier stehen die Verweigerung der "profanen" Arbeit und das Begehren nach einer sinnvollen Tätigkeit im Vordergrund. Die kreative Independent-Ökonomie erlangt zwar eine mediale Bedeutung, scheitert aber finanziell infolge chronischer Unterkapitalisierung. Die zweite Welle setzt im Gefolge der populären Dance- und Rave-Kultur ein, die weit mehr Jugendliche erfasst als die vorhergehenden Underground-Strömungen einschließlich des Punks. Aus der logistischen Anforderung für große Menschenmassen Musik, Räume und entsprechende Serviceleistungen zu organisieren, entwickelt sich in den 1990er Jahren ein dynamisches Event- und "Nachtunternehmertum", das Merkmale des flexiblen Kapitalismus (Entspezialisierung, Gratistätigkeiten, informeller Arbeitsmarkt, Netzwerkkultur, Freelancertum etc.) aufweist und für jüngere Bevölkerungsgruppen schon bald als Vorlage für die berufliche Orientierung in der Arbeitswelt dient. Die dritte Welle tritt mit der Blair-Periode in Erscheinung. Sie wird von Idee des "großen Treffers" getragen. In der Musikbranche kann dies beispielsweise ein einzelner erfolgreicher Titel sein, der dann als Soundtrack für einen Werbespot oder als Hintergrundlied für eine Fernsehsendung dient. Wichtig sind dafür direkte Verbindungen zwischen den kleinunternehmerischen Aktivitäten und dem kapitalstarken Unternehmenssektor, um aus dem kleinen Original ein global vermarktbares Produkt zu machen. Das Aufspüren und die Mobilisierung kreativer Potentiale gelten als entscheidende Merkmale der "talentbasierten Ökonomie" (McRobbie 2007: S. 82-87). Passend dazu griff New Labour nach dem Wahlsieg den damals kursierenden Brit-Pop-Slogan "Cool Britannia" auf: Das neue England sei jung, urban, multikulturell und vor allem kreativ. Die Vision von der kreativ-unternehmerischen Selbstverwirklichung und der Traum vom "großen Treffer" trugen zwar zur (zeitweiligen) Charme der New Labour-Politik bei, allerdings blieben die erhofften Innovationseffekte für die britische Wirtschaft weitgehend aus. Auch Versuche erfolgreiche Kreativcluster (wie etwa East London) in Form von art centers an anderer Stelle zu kopieren, schlugen häufig fehl.


Die Floridarisierung der Stadtentwicklung

Mit The Rise of the Creative Class (2004 [2002]) hat der Wirtschaftswissenschaftler Richard Florida den städtischen Kreativitätsdiskurs weiter vorangetrieben. Ihm zufolge treten die Kreativen geographisch nicht verstreut auf, sondern ballen sich in jenen Städten, die über die drei "Ts" verfügen: "Technology, Talent and Tolerance." Die Kultur gilt ihm gewissermaßen als ökonomischer Motor, der mit dem Kraftstoff "diversity" angetrieben wird. Der Wissenschaftler behauptet, dass gerade solche Metropolen bemerkenswerte unternehmerische Innovationskapazitäten aufweisen, in denen der Melting Pot-, Gay- und Bohemian-Index besonders hoch ausfällt: Die kreative Klasse sei auf der immerwährenden Suche nach "authentischen" Erfahrungen, sie schätze Städte, wo das "Anderssein" akzeptiert werde und eigene Identitätsentwürfe einen "Push" erhielten (Florida 2004: S. 230). Er empfiehlt deshalb den Stadtpolitikern, nonkonformistische Milieus wie ein Kräutergärtchen zu hegen und zu pflegen. Die Frage "Wohin ziehen die Kreativ-Diven?" erhält damit eine strategische Bedeutung. Das Ranking von Städten - von dem sich inzwischen ganze Beratungsindustrien gut ernähren - basiert auf dem Klassifikationssystem einer "moralischen Geographie", deren Werturteile (cool/spießig, sicher/unsicher, sauber/verschmutzt etc.) erheblichen Einfluss auf die wirtschaftliche Geschicke einer Stadt haben kann (Amin 2006: S. 127f).

Floridas Empfehlungen arbeiten den vorherrschenden Stadtentwicklungskonzepten zu, die auf eine Aufwertung der Kernstadt und gehobenen Mittelklassenkonsum setzen. Er räumt durchaus ein, dass die räumliche Konzentration von Kreativen zu Gentrifizierungsprozessen und einem Anstieg der Immobilienpreise führen kann, was wiederum den Bestand der "Kreativ-Biotope" gefährdet. Nach seinen Untersuchungen ist gerade in den "kreativen Epizentren" die soziale Polarisierung besonders stark ausgeprägt und die Aktivitäten der creative class hängen von einem Heer schlecht bezahlter Jobber und Jobberinnen ab (Florida 2004: S. XV). Doch sein Ratschlag an die "underclass communities" besteht darin, dass diese einfach lernen müssten, ihre kreativen Potentiale und Talente zu entdecken (z. B. im Bereich der Musik). Damit ist ein entscheidender Punkt angesprochen: Die Konzentration der Stadtentwicklungspolitik auf Kreativität und Konsum ist mit einer Vernachlässigung oder gar Missachtung von Alltagspraktiken und Institutionen verbunden, die nicht mit der Logik der Kulturalisierung kompatibel sind. Die "Floridarisierung der Stadtpolitik" (Andrej Holm) - sprich die unternehmerische Stadt mit menschlichem Antlitz - stößt beim Urban Management und den etablierten Parteien auf eine breite Resonanz. Aus Sicht der Stadtadministrationen liegen die Vorteile solcher Kultur-Konzepte darin, dass hier ökonomische Erfolge durch relativ kostengünstige und kleinteilige Maßnahmen versprochen werden. Das Modell der "kreativen Stadt" steht nicht in Opposition zu etablierten Wachstumsstrategien (Flagschiffprojekte, Shoppingmall-Ökonomie etc.), sondern es ergänzt und verstärkt eine konsumorientierte Stadtvermarktung. Neben der Förderung von Kreativ-Clustern im Medien und IT-Bereich geht es auch um den Ausbau von Stadtquartieren zu "Talentschuppen", die wegen ihrer künstlerisch-nonkonformistischen Milieus bei der creative class hoch im Kurs stehen. Solche Viertel werden deshalb verstärkt in die überregionalen place branding-Kampagnen der Städte eingebunden. Eine generelle Verdammung der Kulturschaffenden als "Minenhunde" der kapitalistischen Metropolenpolitik erweist sich jedoch als zu simpel: Bei vielen Künstlern und Künstlerinnen handelt es sich um prekäre Selbständige, die auf einen preiswerten Wohn- und Arbeitsraum angewiesen sind. Ihre räumliche Existenz in einem Stadtviertel löst nicht automatisch einen "Veredlungsprozess" aus. Dies hängt davon ab, wie der lokale Bodenmarkt reguliert ist, welche Bebauungs- und Nutzungsvorschriften existieren oder wie die jeweilige Stadtregierung in den Wohnungsmarkt eingreift. Den Vorwurf der Gentrifizierung sollte man deshalb mit gebotener Vorsicht ins Feld führen.

Kreativität im flexiblen Kapitalismus

Warum stößt das Modell der "Kreativen Stadt" auf so viel mediale und politische Resonanz? Dazu tragen sicherlich die griffigen Marketingformeln bei, die ganz auf Pragmatik und schnelle Durchführbarkeit ausgerichtet sind. Gleichwohl stellt sich die Frage, warum trotz massiver wissenschaftlicher Kritik die Erzählung der Creative City eine solche Ausstrahlungskraft besitzt?

Einen wichtigen Hinweis liefern Luc Boltanski und Ève Chiapello, die in Der neue Geist des Kapitalismus (2003 [1999]) auch das Dispositiv "Kreativität" reflektieren. Folgt man ihren Thesen, so sind die verschiedenen kapitalistischen Regime auch entscheidend von der Art und Weise der Kritik geprägt, die sich gegen das jeweils vorherrschende Modell wendet. Im 20. Jahrhundert lassen sich demnach grundsätzlich zwei Kritik-Strömungen erkennen: Die eine richtet sich gegen Ausbeutung und Ungleichheit und fordert "universelle" Gerechtigkeit und Gleichheit ("critique sociale"), die andere ("critique artiste") lehnt die Disziplinierung und Uniformierung in der "Fabrikgesellschaft" ab und propagiert "subjektive" Werte wie Selbstverwirklichung und Kreativität. Die "künstlerische Kritik", die sich zunächst in kleinen, bohemistischen Intellektuellenzirkeln artikulierte, entfaltet im Gefolge der 68er-Revolte eine breite gesellschaftliche Wirkung. Die "Kinder des Fordismus" revoltieren gegen die rigide Disziplinierung und Normierung in der Familie, der Schule und der Fabrik. Die Intensität der Kämpfe führt jedoch nicht zu einer grundlegenden Veränderung des Systems, vielmehr gelingt es dem Kapitalismus durch neue Identitäts- und Konsumangebote auf Wünsche oder Forderungen der sozialen Bewegungen einzugehen. Er öffnet sich gegenüber den Anliegen der "Künstlerkritik" und vereinnahmt Ein- und Widersprüche auf seine Weise (Boltanski/Chiapello 2003: S. 250-254). Tatsächlich hat es der "flexible Kapitalismus" verstanden, das vormals libertäre Potenzial der "Künstlerkritik" an bürokratischen Verkrustungen, Uniformität und Fremdbestimmung aufzusaugen, sie in gewandelter Form zu Bestandteilen seiner Reproduktion zu machen und sie zugleich gegen die Subjekte zu wenden. Auf die Forderung nach individuellen Gestaltungsspielräumen reagiert er mit dem nachdrücklichen "Angebot", die Individuen sollten sich aktiv und kreativ an der Lösung von Problemen beteiligen. Galt beispielsweise in der tayloristischen Fabrik der passive, dem durchgeplanten Arbeitsprozess vollständig unterworfene Arbeiter_innen als Idealtypus, so sind nun Tugenden wie Selbständigkeit oder Eigeninitiative gefragt. Während zuvor die Subjektivität der Arbeitskräfte unterdrückt wurde, fordern die neuen Managementkonzepte "Selbstorganisation" und "Kreativität". Und in New Economy-Magazinen gilt Nonkonformismus als Schlüssel zum beruflichen Erfolg. Originelle Typen und Querdenker_innen stellen gewissermaßen das Glamour-Modell für den Gehorsam gegenüber den Imperativen der Flexibilisierung dar. Solche Modelle haben natürlich nichts mit der Marxschen Entfremdungskritik gemein. Gilles Deleuze behauptet gar, das sich selbst verwirklichende Subjekt stelle einen "Untertan" im ganz besonderen Sinne dar. Demnach sind die einstmals gegen die kapitalistische Verdinglichung ins Spiel gebrachten Eigenschaften wie Emotionen und Kreativität zu einem wichtigen Rohstoff ökonomischer Verwertungsprozesse geworden. Ein Mehr an Selbstverwirklichung wird jetzt allerdings mit größeren ökonomischen Risiken und sozialer Unsicherheit erkauft. Gleichzeitig eröffnet die Adaption der "Künstlerkritik" neue Verwertungsmöglichkeiten im Bereich des Konsums. Die "Kreative mit den vielen Eigenschaften" stellt heute einen wichtigen Sozialtypus des flexiblen Kapitalismus dar. Die Normen des Schöpferischen strukturieren ganze Berufsstände und beeinflussen im hohen Maße soziale Aktivitäten in verschiedenen gesellschaftlichen Feldern. Doch sind mit der Vereinnahmung von Eigenverantwortlichkeit und Selbstverwirklichung Forderungen nach Autonomie und Kreativität vollständig erledigt? Und bleiben die auf "Nonkonformismus" basierenden Erfahrungen tatsächlich dazu verdammt vom "Geist des neuen Kapitalismus" neutralisiert und in Lebensstile transformiert zu werden? Zunächst: Flexible Normalisierungsstrategien kommen lediglich in einem bestimmten Spektrum der sozialen Realität zum Einsatz. Die Rückkehr des "strafenden Staates" und dazugehörige "Law-and-Order"-Kampagnen (siehe die "viktorianischen" Reaktionen des britischen Staates auf die im Sommer 2011 stattfindenden Riots) sind eindeutige Indikatoren dafür, dass die klassischen Formen der Repression weiterhin Bestandteil der Sozialdisziplinierung sind. Dies gilt nicht nur in straf- und ordnungspolitischer Hinsicht, auch die "Selbstverwirklicher" sind unter Druck geraten: Lange Studienzeiten, experimentelle Lebensformen und biographische (Ein-)Brüche werden von dem vorherrschenden Leistungssystem (in der Regel) gnadenlos abgestraft.

Die Diagnose von Deleuze blendet zudem aus, dass eine Selbstverwirklichung zu konsumtiven Zwecken immer noch mehr mit dem alten nonkonformistischen Modell gemein hat, als die neoliberale Figur des innovativen "Querdenkers". Angesichts der gegenwärtigen Entwicklung ist der alte Entstehungsgrund von subversivem Nonkonformismus - nämlich Erfahrungsverhinderung durch soziale Normen und Gebote - durchaus weiter gegeben. Es wäre also danach zu fragen, was wem verboten ist und zu welchen Selbstverwirklichungspraktiken die Subjekte im flexiblen Kapitalismus angehalten werden - und zu welchen nicht. Bei der Frage nach einem kollektiven Handeln gegen die Zumutungen der kapitalistischen Kreativwirtschaft und die "Ökonomisierung des Kulturellen" helfen möglicherweise folgende Forderungen: "Die Wieder-Versachlichung der personalisierten Techniken, das Verfügen über Rückzugsmöglichkeiten, die nicht vom Zwang zur Reproduktion aufgefressen werden, die Wieder-Aneignung des Selbst durch das Selbst, die De-Ökonomisierung der Seele, des Körpers, der Präsenz, der Sexyness; die Re-Politisierung, Re-Objektivierung, Re-Reifizierung von Fähigkeiten, Skills, Wissen." (Diedrichsen 2011: S. 128)

E-Mail: Ronneberger@t-online.de
Literatur:

Amin, Ash (2006): Kulturelle Ökonomie und Stadt. In: Christian Berndt/Johannes Glückler (Hg.): Denkanstöße zu einer anderen Geographie der Ökonomie. Bielefeld, S. 111-135

Boltanski, Luc/Chiapello, Ève (2003): Der neue Geist des Kapitalismus. Konstanz (Franz. Orig. 1999)

Deleuze, Gilles (1993): Unterhandlungen 1972-1990. Frankfurt am Main (Franz. Orig. 1990)

Diederichsen, Diedrich (2011): Kreative Arbeit und Selbstverwirklichung. In: Christoph Menke/Juliane Rebentisch (Hg.): Kreation und Depression. Freiheit im gegenwärtigen Kapitalismus. Berlin, S. 118-128

Florida, Richard (2004): The Rise of the Creative Class. And How It's Transforming Work, Leisure, Community and Everday Life. New York (Erstveröffentlichung 2002)

Holm, Andrej (2010): Wir Bleiben Alle! Gentrifizierung - Städtische Konflikte um Aufwertung und Verdrängung. Münster

Lefebvre, Henri (1969): Aufstand in Frankreich. Zur Theorie der Revolution in den hochindustrialisierten Ländern. Frankfurt am Main/Berlin (Franz. Orig. 1968)
- ders. (1972): Die Revolution der Städte. München (Franz. Orig. 1970)
- ders. (1977): Die Produktion des städtischen Raums. In: arch+, Heft 34, S. 52-57 (Franz. Orig. 1976)
- ders. (1978): Einführung in die Modernität. Zwölf Präludien. Frankfurt am Main (Franz. Orig. 1962)
- ders. (2009): Le droit à la ville. Paris (Erstausgabe 1968)

McRobbie, Angela (2007): Die Los-Angelesierung von London. Drei kurze Wellen in den Kreativitäts- und Kultur-Mikroökonomien von jungen Menschen in Großbritannien. In: Gerald Raunig/Ulf Wuggenig (Hg.): Kritik der Kreativität. Wien, S. 79-91

Raute

Manfred Lauermann:
China - Katechon der Weltrevolution

The Multitude called Empire into being.
We must push through Empire to come out.
This is the alternative implicit in Lenin's work:
either world communist revolution or Empire.

Hardt & Negri Empire

Angesichts des religiösen Spektakels, den die Massenmedien mit Papst im Petersdom, amerikanischen Fundamentalisten und Bischöfin Käßmann als Star des evangelischen Kirchentages alle Tage inszenieren, habe ich jedes Verständnis, dass Linke mit Religion, gar mit der Reflexionstheorie dieses gesellschaftlichen Teilsystems, die als Theologie fungiert, nichts zu tun haben möchten. Schon gar nicht mit dunklen Wörtern wie Katechon! Einen Augenblick Geduld: Ich werde sogleich [0.] den mythischen Begriff Katechon erklären, den ich dann im 2. Abschnitt gebrauchen werde, um eine theologisch-politische Sichtweise von Revolution adäquat zu entfalten. Im 1. Abschnitt aber entwickle ich mit Hardt/Negris Empire den theoretischen Rahmen eher eine Bastelanleitung - meines Versuchs. Im 3. dann drehe ich die Problemstellung nach Osten: wie also sieht das Empire, wie das Weltsystem von dort aus? Schließlich ende ich mit dem 4. Abschnitt ein wenig spekulativ-nostalgisch: Hegels Totenschein für Europa. Soweit die Konzeption: Realisieren jedoch werde ich bloß die ersten beiden Abschnitte, mit einigem aufblitzenden Vorschein aus den nächsten Abschnitten. Für meine Generation wirkt die 68erErfahrung der Benjamin-Lektüre fort, die unseren Marxismus, mit Benjamins Begriff: unseren historischen Materialismus, geformt hat. In seiner ersten geschichtsphilosophischen These ermuntert er uns, dieser könne, in seiner Metapher einer Puppe, in der sich ein buckliger Zwerg versteckt, "es ohne weiteres mit jedem aufnehmen, wenn sie die Theologie in ihren Dienst nimmt, die heute bekanntlich klein und hässlich ist und sich ohnehin nicht darf blicken lassen." (Benjamin 2010: 30)


0) Warum Politik theologisch traktieren?

In meiner voluminösen Stuttgarter Jubiläumsbibel, die einem "Rolf" zum Weihnachtsfest 1938 geschenkt wurde, wohl um ihm geistige Nahrung für die Durststrecke des "Tausendjährigen Reiches" zu geben, wird das weltliche Reich als Herrschaft des Antichristen begriffen, "der da ist der Widersacher und sich überhebt über alles, was Gott oder Gottesdienst heißt, also dass er sich setzt in den Tempel Gottes als ein Gott und gibt sich aus, er sei Gott" (2 Thessalonicher 2,4). Dieser Krisenlage wird aber ein Sinn abgewonnen, weil die Herrschaft eine notwendige Zwischenetappe ist, die die Heilsgeschichte unterbricht, denn der Antichrist sei ein Aufhalter, oder das Aufhaltende: Katechon (2 Thess. 2,7). Nach der Niederlage des Gesamtdeutschen Reichs, also des deutsch-österreichischen Großraums, der mit dem Vichy-Frankreich und den Kollaborateuren der anderen besetzten Länder das Urmodell der EU konstituierte, scheint den Meisten die politische Heilsgeschichte nun endlich ihren vorgeschriebenen Weg eingeschlagen zu haben. Richtung - the long road [march] west! Die auf drei Bände geplante säkularisierte Heilsgeschichte, von denen zwei bereits vorliegen aus sozialdemokratischer Sicht, wird von H.A. Winkler, wie Hegel für solche Historie vermutet hat, erst nachträglich angesichts des geschichtsphilosophischen Endes konzipierbar, nachdem das (überlegene) zivilisatorische Gegenmodell in der Gestalt Chinas sichtbar wird. Die Eule der Minerva flieht vor dem hastenden Riesen, wie Wolfgang Bauer[1] so einprägsam das Riesenreich während einer früheren Zeit seiner antiwestlichen Machtentfaltung verbildlichte. In Hegels Weltgeschichte wird der Kreis, der mit Chinas Substanzialität angefangen hat, über die verschiedenen Stufen bis zum Staat der bürgerlichen Gesellschaft als Evolution der Subjektivität, als Entfaltung der Freiheit sich ihm im 19. Jahrhundert gezeigt hat, erneut als Kreis abgeschlossen: der Weltgeist verlässt Europa und über den Umweg USA und einen Ausflug nach Moskau, wie Kojève vermutet hat, hat er nun seinen Ausgangspunkt erreicht, in Aufhebung aller seiner Reflexionsstufen: China. In der Sprache Hegels: "Das sogenannte allgemeine Beste, das Wohl des Staates, d.i. das Recht des wirklich konkreten Geistes, ist eine ganz andere Sphäre, in der das formelle Recht ebenso ein untergeordnetes Moment ist, als das besondere Wohl und die Glückseligkeit des Einzelnen." (Hegel 1833: 153) Einfacher gesagt: "Aus chinesischer Sicht kehrt ja die Welt im Grunde bloß zum normalen Gang der Dinge zurück. Wir sind einfach am Ende einer langen historischen Phase der Abschweifung angekommen, während die europäische Zivilisation alles andere hinwegfegte. Jetzt ist eben der Augenblick gekommen, an Vorausgegangenes wieder anzuknüpfen." (Jullien 2006:12)

Das "mysteriöse", so der Theologe Trilling, Katechon wurde bei Hegel umgebaut als eine Figur bestimmter Negation, bei Marx/Engels invisibilisiert in ihr Schema der Gesellschaftsformationen, ihrer Stufenfolge Gemeineigentum - Privateigentum Wiederherstellung des Privateigentums auf höherer Stufenleiter. Die beliebten Warenfetischismus-FetischistInnen belächeln diese naive Vorstellung, die unter dem Geschmacksniveau ihres Fetischismus liegt, denn sie verbleiben lieber als kritische Kritiker im Imaginationsraum des Antichristen, wie der Thess.-Brief den mit Rom gesetzten Protokapitalismus religiös codiert [MEW 23: 96; Anm.]. Daher sehe ich mich genötigt, klassische Marxsätze aus dem Kapital zu zitieren, die deren Meinung nach nur durch den schädlichen Einfluss von Engels, der mit Zudrehen des Geldhahns gedroht haben soll, erklärbar sind. - Das ist meine boshafte Unterstellung: Spekulation halt. - Viel subtiler löst Henning die folgenden Sätze aus dem Marxschen Theoriekörper heraus: "Erstens sind solche Stellen stets nur am Rande, d.h. am Ende systematischer Ausführungen zu finden. Sie sind daher als stilistische Manierismen zu deuten und zu entschärfen. Sie zeigen in einer pointierten Abschlussformel noch einmal das erkenntnisleitende Interesse auf, wie in einem Schlussakt einer Symphonie". (Henning 2010: 263). Wahrscheinlich stimmt das, aber ich möchte störrisch auf dem Wahrheitsgehalt solcher Stellen beharren, weil ich die katechontische Struktur begreifen und für eine Neulektüre präparieren will.

"Die Zentralisation der Produktionsmittel und die Vergesellschaftung der Arbeit erreichen einen Punkt, wo sie unverträglich werden mit ihrer kapitalistischen Hülle. Sie wird gesprengt. Die Stunde des kapitalistischen Privateigentums schlägt. Die Expropriateurs werden expropriiert. Die aus der kapitalistischen Produktionsweise hervorgehende kapitalistische Aneignungsweise, daher das kapitalistische Privateigentum, ist die erste Negation des individuellen, auf eigne Arbeit gegründeten Privateigentums. Aber die kapitalistische Produktion erzeugt mit der Notwendigkeit eines Naturprozesses ihre eigne Negation. Es ist Negation der Negation. Diese stellt nicht das Privateigentum wieder her, wohl aber das individuelle Eigentum auf Grundlage der Errungenschaft der kapitalistischen Ära: der Kooperation und des Gemeinbesitzes der Erde und der durch die Arbeit selbst produzierten Produktionsmittel". Marx: Kapital 1 (=MEW 23: 791)

Hätte man die Klugheit, die Dialektik dieser Formationsstruktur[2] zu erkennen, dann wäre der Ort Chinas versuchsweise mit Arrighi zu bestimmen als "Hybridformation."(Arrighi 2009: 36) Wie die Negation der Negation im gegenwärtigen Zeitalter in die Geschichte sich einschreibt, ist der elementare Gegenstand von Hardt/Negris Empire.


1) Empire als Einrahmung Chinas

China kommt in Empire kaum vor, in Common Wealth eher lustlos, ohne das Ereignis Tianmen-Platz 1989 wäre China als die symptomatische Leerstelle perfekt in der theoretischen Architektur Hardt/Negris gewesen: doch in "Maulwurf und Schlange" ist es ein Ereignis einer Signifikantenkette von Aufständen und Streiks, das ohne Eigenwert bleibt: "Keines dieser Ereignisse löste einen Kampfzyklus aus, weil die darin zum Ausdruck kommenden Wünsche und Bedürfnisse sich nicht in unterschiedliche Kontexte übersetzen ließen." (E 67). Tianmen ist kein Geschichtszeichen, wie in bizarrer Verkennung einer der klügsten China-Historiker weissagen wollte.[3] "Die Auseinandersetzung auf dem Tianmen-Platz bediente sich der Rede von Demokratie, die seit langem außer Mode schien: die Gitarren, Stirnbänder, Zelte und Slogans sahen aus wie das schwache Echo von Berkeley in den 1960er Jahren."(69). That's all!

In Common Wealth nehmen Hardt/Negri China teilweise in der Perspektive von Arrighi (2007) wahr. China, obwohl Kandidat erster Güte, wird nicht die Nachfolge der US-Hegemonie antreten können noch wollen. "Den Aufstieg Chinas betrachtet er [...] als einen Teilaspekt des allgemeinen Aufstiegs der untergeordneten Nationen insgesamt im Vergleich zu den dominanten, was eine grundsätzlich neue Form von Akkumulation mit sich bringt, die nicht auf der Hegemonie eines einzelnen Nationalstaats basiert." (C 235). In der Bastelanleitung[4] von Hardt/Negri ist China nicht vorgesehen. Versuchen wir es trotzdem oder besser: Gerade deshalb, wobei ich mich, seit Jahrzehnten eingeübt im theoretischen Glasperlenspiel, auf den mir fremden Standpunkt[5] stelle, China hätte keine sozialistischen Züge (mehr), es wäre demnach Teil der kapitalistischen Moderne.

Wir können China mit dieser Hypothese, es sei Hauptakteur neben den USA und Europa, damit innerhalb einer der vielen Welten des Kapitalismus (Miller 2005) in das Grundschema von Empire einschreiben: Es gibt kein Außen mehr! "Theoretisch wie praktisch ist es hingegen besser, wenn wir uns auf das Terrain des Empire und dort in die Auseinandersetzung mit den homogenisierenden und heterogenisierenden Strömen in ihrer ganzen Komplexität begeben; wir gründen so unsere Untersuchung auf die Macht der globalen Menge [multitudo]." (E 59). Das Empire hat wie jedes System eine Vorgeschichte, in der die Elemente kontingent entstehen, deren emergente Funktion erst nachträglich erkennbar ist. China musste zuerst in das Innen der Weltpolitik hineinkatapultiert werden, was mit der Hineinnahme der Volksrepublik in die UNO und dem "menschenrechtsverletzenden", satzungswidrigen, nachhaltigen Hinauswerfen von Taiwan auf der anderen Seite 1971 geschah. Gleichzeitig wurde die Weltwährung für das Empire flexibilisiert, ebenfalls 1971 wurde die Konstruktion einer Goldbindung von Nixon aufgehoben. 1999 folgt der nächste Schritt: nach der Integration Chinas in die politische Weltdimension nun die ökonomische Dimension mit dem Aufnahmeantrag in die WTO, nach 15 Jahren Vorverhandlungen (Jacques 2009: 155). Arrighi thematisiert die Empire-Dimension in seinem milden Spott über die Gewerkschaftsproteste gegen die China-Aufnahme, die im übrigen erst nach mehrmonatliger Diskussion und Auseinandersetzung im Politbüro der KPCh beantragt wurde: Der Antrag des Premierministers Zhu wurde vom Politbüro gegen den Generalsekretär durchgesetzt, schließlich wurde 2001 China in Doha Mitglied. Wie alles Wichtige in Politics stand die Aufnahme Chinas nicht auf der Tagesordnung der WTO-Tagung! Wie die WTO 10 Jahre nach (und wegen?) der Aufnahme funktioniert, ist empirisch sehr aufschlussreich.[6]

Empire und multitudo geraten immanent gegeneinander, und bewegen sich durch diesen Widerspruch weiter, hier China als Staatsmacht und dort der Protest in Seattle. Der Aufstieg Chinas beendete erstens erst eigentlich den kolonialen Imperialismus, der von den Europäern geschaffen und unter der Hegemonie der USA befestigt wurde. Moralisch unhaltbar ist die Position einer direkten oder indirekten (Menschenrechte, Klimakatastrophe) "Behinderung von Chinas weiterem ökonomischen Aufstieg, wie ihn manche westliche Progressive befürworten. [...] Und zweitens ist der weitere Aufstieg die beste Garantie dafür, dass in China eine starke Arbeiterbewegung entstehen wird, die die chinesische Arbeiterklassen auf ihren 'langen Marsch' zu ihrer Selbstbefreiung einen Schritt weiter [im Zusammenhang mit der Industrialisierung und Proletarisierung in China] bringen kann." (Arrighi [Silver] 2009: 74) Seltsamerweise werden die rasche Zunahme der arm-reich Differenz in China und die erfreuliche Verdichtung von Arbeiterkämpfen, bes. der Wanderarbeiterinnen (Ngai 2010) von westlichen Progressiven angeklagt, als ob es nicht geradezu komisch wäre, wenn diese Systemlogiken nicht auftreten würden, wenn eine Gesellschaft den Kapitalismus in sich hinein kopiert. Die Zunahme der Arbeitsproduktivität führt letzten Endes zu der ökonomischen Stärke Chinas, den ca. 3.200 Milliarden Dollar Devisenreserven (Ende 2011), die China zu einem immer mehr bestimmenden Akteur in den internationalen Netzwerken, Institutionen und zwischenstaatlichen Organisationen machen. Seltsam ist, dass dieser Kernaspekt von Empire die Auflösung von Zentrum/Peripherie Differenzen unterschätzt wird. Ergänzend sei auf die systemtheoretische Einsicht (Luhmann) hingewiesen, es wäre in der Weltgesellschaft unvorstellbar, das alteuropäische Machtmuster einer Spitze, welches schon überlebtes Moment des Imperialismus war, wieder herzustellen. Das Arrangement zwischen Staaten und internationalen Institutionen, zwischen Kapitalgruppen und NGOs wird immer dem in der Realität ähnlicher, was Deleuze und Guattari Rhizom nannten, "eine nichthierarchische und nicht-zentralisierte Netzwerkstruktur" (311: genauer 335). Dass alle diese Ströme von Macht durchbrochen und von Gegenmacht umgelenkt werden, versteht sich nach Foucault (und Spinoza[7]) von selbst. Die multitudo Chinas gebraucht ihre Potentia in der Form ihres Staates, um die Krisen der Weltgesellschaft aufzufangen und in eine beherrschbare Schwingung zu versetzen, mittels Ausweichen oder noch besser: durch wu wei.[8] Sie ist zum einen trainiert durch ihre klassische Philosophie, die lange Ketten von indirekten Wirkungen beherrschen lernt, zum anderen durch die Erfahrungen von modernen Technologien etwa bei dem Bau von Brücken oder Niedrigenergiehochhäusern. Durch das hinein kopieren der kapitalistischen Marktform in die chinesische Gesellschaft sind "Arbeitskämpfe in China" (Müller 2011) notwendige und immer mehr praktizierte Organisationsformen der lebendigen Arbeit. Die multitudo treibt den Staat voran, die lebendige Arbeit auf Kosten der toten Arbeit zu privilegieren, ihre Marktmacht durch Gewerkschaften und Lohnsteigerungen zu erhöhen und in der 30 Millionen Stadt Chongqing gegen den Marktliberalismus als kalkulierten Widerspruch Elemente des kulturrevolutionären roten Chinas zu generieren, die die Partei zu einem Lernprozess zwingen (Cohen 2011). Die multido bestimmt den Inhalt der Staatstätigkeit, ihre Potentia. Ihre Potestas aber stellt sich getrennt dar als Partei, die Staatsstruktur verdoppelnd. "Es gibt also nicht die Notwendigkeit, eine neue Politik der Distanz vom Staat zu verlangen, da die Partei diese Distanz ist: ihre Organisation verleiht einer Art von grundlegendem Misstrauen gegenüber dem Staat und seinen Organen und Mechanismen Ausdruck, als ob diese die ganze Zeit über kontrolliert werden müssten. Ein wahrer Kommunist ... akzeptiert den Staat niemals ganz: es muss immer eine wachsame Instanz außerhalb des (staatlichen ) Gesetzes geben mit der Macht, in den Staat einzugreifen." (Zizek 2011: 55). Das gilt besonders in "der" Krise, der westliche Staaten verwirrt und weitgehend handlungsgebremst ausgesetzt sind, weil ihre Demokratie erodiert.[9] Politische wie ökonomische Krisen sind logischerweise nach der Erkenntnis des Kapitals ebenfalls konstitutiv für die "sozialistische Marktwirtschaft" der VR China, gleichzeitig aber gilt der feine Unterschied von Haupt- und Nebenwiderspruch: Die Krisenlösungskapazität Chinas verändert die Krisenstruktur der Weltgesellschaft, um ein modisches Wort zu wählen: nachhaltig.

Die letzte Weltfinanzkrise fand nicht statt, nicht als Krise des Empires. Die zu rasch, gern von linken ApokalyptikerInnen (nicht allein Robert Kurz....) heran zitierten Vergleiche mit 1929 trafen daneben, weil im Empire durch die pure Existenz Chinas, das als Garant der Weltwährung für die westlichen Staaten mitsamt dem IWF und der Weltbank fungiert, eine aufhaltende Macht gegeben ist. Zudem haben die Nationalstaaten, - um etwa das Gerede eines staatsfeindlichen Neoliberalismus zu widerlegen? - nein, ohne Ironie, sie haben macht-technisch aus 1929 gelernt. Mit schiefem Blick auf die chinesische Planung, die 2008 schnell ein Konjunkturprogramm von ca. 500‍ ‍Milliarden mit dem Schwerpunkt Umwelttechnologie und Ausbau der Infrastruktur auflegten, zogen sie nach. (Roubini/Mihm 2010: 239ff.). Für den 2008 längst geplanten und begonnenen Umbau von billiger auf qualifizierte Arbeit kam die Krise für China gerade recht, um den Binnenmarkt beschleunigt zu entwickeln; die hier von ökonomischen DilettantInnen vergossenen Krokodilstränen, es seien Millionen von Wanderarbeiterinnen arbeitslos, war in China einkalkuliert worden bei einer, zu erwartenden, Finanzkrise des Westens, und die Partei war darauf eingestellt. Inzwischen gibt es mehr Nachfrage nach Wanderarbeit als Angebot (Lee 2011: 24 & 81; Müller 2011: 10). Wie im Inneren, nutzte China die Krise nach außen im Weltinnenraum des Kapitals, seine sowie schon gewonnenen strategischen Positionen im internationalen Machtgefüge (ten Brink 2008: 260ff.) erweitert zu reproduzieren. Für China ist die Finanzkrise ein Papiertiger.

Wer anarchistische Neigungen hat, die dem Alltagsanarchismus der Chinesinnen entgegenkommen, der subversiv die andere Seite der autoritären Erziehungsdiktatur bildet, mag die Katechon-Rolle einmal entsakralisiert verändert durchspielen. Die heutige Zirkulation der Milliarden täglich, die soviel Angst erzeugen (bei Buffett nicht!), gehen technisch nur mit Rechnerkapazitäten. 60 % aller Operationen im Börsenhandel als 'Hochfrequenzhandel' (HFT) gehen von programmierten Computern aus, die tagtäglich mit Zufallsquotienten Zukunft in die Gegenwart transformieren, was der Hintersinn der Derivate, Leerkäufe und Wetten auf zukünftige Marktlagen ist. Die Zahl der beachteten Möglichkeitssequenzen wird erhöht. "Man kann in diesem Zusammenhang von Techniken der 'Entfuturisierung' sprechen, die die Offenheit der Zukunft begrenzen, ohne dies sichtbar zu machen, d.h. ohne sie mit einer einzigen Ereignissequenz gleichzusetzen. Man gibt nicht vor, die Zukunft vorwegzusehen, hat aber trotzdem den Anspruch, sich davor zu beschützen. [...] Alle Versuche, die Kontrolle der Zukunft in der Gegenwart zu intensivieren..., kehren sich in ihr Gegenteil um, so dass die zukünftigen Gegenwarten am Ende noch mehr Überraschungen bereithalten - die Volatilität zeigt eine 'Grimasse' (skew)." (Esposito 2010: 254/5). Lassen wir hier unberücksichtigt, dass m.E. China die philosophischen Mittel hat, politisch diese Paradoxien managen zu können - wie mit Jullien (2008) leicht gezeigt werden kann. Ich bitte Kenntnisreichere, die technischen Operationen ins Sichtfeld zu nehmen. Gemeint sind die Hacker des Chaos-Computer-Clubs, sind die von Spezialisten behaupteten Forschungskapazitäten, Viren in militärische Rechner des Feindes zu platzieren: wie leicht wäre dann eine Entschleunigung und Ablenkung - vom BKA unbehelligt - der täglichen Geldströme durch ein chinesisches Programm, was die Gewinne aus den Hedgefonds und Investmentbanken entführt und auf die Konten der weltweiten Netze von anti(neo)kolonialen NGOS lenkt? Oder einfach das System zum Überhitzen bringt, indem die Umlaufgeschwindigkeit blitzschnell um beliebige Milliardensummen erhöht wird und zugleich um gleiche Summen in andere Richtungen nach einer Fuzzy-Logik vermindert wird? Ende Dezember 2011 realisierte die Gruppe 'anonymus', - nicht wie der inzwischen erheblich angepasstere Hamburger Club - modellhaft diese Idee im Kleinen: Bei einem Hackereinbruch in die Sicherheitsfirma Stratfor wurden 90.000 Kreditkarten kopiert, mit denen ca. 1 Mill. $ an Spenden abgezweigt wurden. Anonymus muss in den Kontext dessen gerückt werden, was der us-amerikanische Regierungsberater Nye unter ernst zu nehmende Cybergefahren zählt: Wirtschaftsspionage, Kriminalität, Cyberkrieg und Cyberterrorismus". (Nye 2011: 217) Bei einer Umwertung der Werte wären die zusammen höchstens hundert, als MathematikerInnen, ProgrammiererInnen und InformatikerInnen (nicht: ÖkonomInnen) Mitarbeiter (Frauenanteil weit unter 10 %) bei den HFT-Marktführern Getco und Tradeworx als Kriminelle zu identifizieren. Eine kurze Untersuchungshaft - es muss ja nicht gleich Guantanamo sein - wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung und Marktfundamentalismus wäre, da sie für mindestens 1.000 MRD $ Umlauf pro Tag und 100 MRD $ Gewinn p.a. verantwortlich sind, ein wirksames Entschleunigungsprogramm, zumal es bei den Rechneroperationen um tausendstel von Sekunden geht. Imaginieren wir das Katechon als Maschine!


2) Der Katechon als Agent der Gegenmoderne

In Common Wealth schlagen Hardt/Negri vor, die Amivalenzen der Moderne zu diskutieren. Beispielsweise kritisieren sie Wallersteins Weltsystem-Theorie: "Doch auch wenn die Weltsystem-Theorie von zyklischen Veränderungen ausgeht, beharrt sie auf dem 'systemischen' Charakter der kapitalistischen Entwicklung und Expansion. Selbst wo der Ansatz von "antisystemischen" Bewegungen spricht, gelingt es ihm nicht, wirklich zu erklären, was die widerspenstige Kraft der Gegenmoderne ausmacht. [...] Doch selbst in ihren elaboriertesten Varianten versperrt sich die Theorie den dunklen Kräften der Gegenmoderne und fesselt den Marxismus an die Moderne." (C 97) Einen Ehrenplatz unter all den Dunkelmännern der Gegenmoderne gebührt zweifellos Carl Schmitt. Vertraut mit den mythischen Untergründen von Katechon, auch angeregt durch die für ihn vermutlich maßgebende Interpretation von Dibelius (1925), die direkt in sein Leviathan-Buch von 1938 einmündet, unterscheidet er zwei Effekte des Katechons: Eine weltliche Macht, die aufhält, die entschleunigt, in Gestalt des Römischen Reichs, und eine Gesinnungsmacht, die sich im Abfall von Christus und in der Hinwendung zum Antichristen ausagiert.

Einer modernen Interpretation, die Schmitt sicherlich zu rational erschienen wäre, davon abgesehen, dass sie die Nicht-Echtheit von 2 Thess. als Forschungsergebnis präsentiert, - so etwas war Schmitt zuwider -, gelingt es die Funktion des Mythos zu codieren. "Das Katechon hat die Funktion, das Hervortreten des Wider-Gottes zu hemmen, es bis zu einem bestimmten Zeitpunkt aufzuhalten. Es muß daher eine positiv gesehene Macht sein, die diese wohltätige Aufschub-Wirkung ausübt. Diese aus dem Sinngefüge des Textes zu gewinnenden Erkenntnis ist der Schlüssel selbst, nach dem gefahndet wird."[10]

Katechon wird bei Schmitt zum Joker, den er verschieden ausspielt. Es geht ihm um die positive "Entschleunigung" (Badiou) der Moderne. Die Sowjetunion nach der Oktoberrevolution entschleunigt den kapitalistischen Fortschritt, ähnlich wie Rom zuerst das Christentum behindert, und es schließlich verkehrend in ein säkulares Gebilde im Sinne Augustinus der Parusie entzieht. (Blindow 1999: 149) Strukturverwandt verhindert Stalins Sowjetunion die universale Durchsetzung der kapitalistischen Heilsbotschaft, die das Kommunistische Manifest als Schrift an die Wand der Moderne geschrieben hat. Anders als die gängige Meinung, Russland sei vormodern oder gar asiatisch, wird die Moderne[11] explosiv nachgeholt und dadurch entsteht die Lage, sie machtpolitisch in eine Gegenposition zu den USA und Europa in dem Weltbürgerkrieg zu bringen, was ein Energiefeld bildet, welches nach dem Sieg über Deutschland durch die Rote Armee den Prozess der Entkolonialisierung für die III. Welt objektiv möglich machte. "Es gibt keinen Sinn, von der Gewalt, manche sprechen von Barbarei, als dem Gegenkonzept der Moderne zu reden, das den unzivilisierten und rückständigen Gesellschaften zueigne. Dass diese durch die Geschichte nicht gedeckte Anmaßung durch die polare Nachkriegskonstellation nach 1945 noch gefördert wurde, die den freiheitlichen und modernen Westen dem diktatorischen und rückständigen Osten gegenüberstellte, kann man nur vermuten." (Plaggenborg 2006: 122/3)

So wie Hegel den Atheismus, der seit Nietzsche unabweislich ist und die christlichen Kirchen entfundamentalisiert, aufhält, so die Sowjetunion den Kapitalismus, da der Weltgeist nach Moskau gewandert ist (Schmitt und Kojève); die Oktoberevolution unterbricht den Siegeszug der kapitalistischen Moderne. Mit den Worten Molotovs: "Es sei gut, dass die Zaren soviel Land für uns erobert haben. Jetzt ist es einfacher für uns, gegen den Kapitalismus zu kämpfen." (zit. Plaggenborg 2006: 272). Der Textkorpus, in dem Schmitt den Katechon einführt, kreist um den Gegensatz von Land- und Meermächten, wobei ihm das alte China wie das von Mao als Exempel dazu dient, gegen die scheinbare Überlegenheit des Meeres das Land zu favorisieren. Ich schummle in der Chronik! Erst nach 1945 durch den gewonnenen Partisanenkrieg, dem er wichtige Teile seines Partisanenbuchs von 1963 widmet (Schickel 1970), wird China für ihn zum Beispiel; und eher unwahrscheinlich ist, dass er vom Ming-Kaiser Zhu Di wusste, der am 8. März 1421 die größte Flotte der Weltgeschichte unter Admiral Zheng He unter Segel brachte, mit dem paradoxen Ergebnis, dem Antichristen im Gestalt des frühen Kapitalismus und Kolonialismus auszuweichen und freiwillig das Land abzuschotten. Schmitt hatte das großdeutsche Reich des Nationalsozialismus im Auge, dem er bekanntlich freudig seine Geisteskraft angedient hatte. Es war für ihn ein Versuch, dem Antichristen Kapitalismus, der sich als Liberalismus maskiert, auszutreiben mit Belzebub, mit "Hitlers Volksstaat" (Aly).

"Weltmarkt, Welthandel, Weltmeer und der große Mythos der Freiheit erhielten ihren konkreten Inhalt dadurch, daß die Angloamerikaner das fabelhafteste aller Monopole innehatten, nämlich das Monopol, Hüter der Freiheit der ganzen Erde zu sein." (Schmitt 1942:432/3) So polemisiert Schmitt in seinem gegen die USA gerichteten Aufsatz "Beschleuniger wider Willen" in "Das Reich" vom 19.4.1942. Dieser Aufsatz nimmt die zentralen Motive seiner Imperialismuskritik von 1932/33 auf, seiner Suche nach einer anderen Gegenmoderne als der sowjetischen. Ich möchte hier nur seine Pointe zitieren: "Der Imperialismus führt keine nationalen Kriege, diese werden vielmehr geächtet; er führt höchstens Kriege, die einer internationalen Politik dienen; er führt keine ungerechten, nur gerechte Kriege: ja, wir werden noch sehen, daß er überhaupt nicht Krieg führt, selbst wenn er mit bewaffneten Truppenmassen, Tanks und Panzerkreuzern das tut, was bei einem andern selbstverständlich Krieg wäre." (Schmitt 2005: 363) Diese Verdeckung von Krieg durch Vokabeln humanistischer Interventionen ist bereits ab 1930 Gegenstand seines Nachdenkens. Besonders ärgerlich fand er, dass das Vorhandensein des Kriegszustand, beim Chinesisch-Japanischen Krieg resp. vorher dem Konflikt geleugnet wurde; eine militärische Besetzung sei das, nicht Krieg. (Schmitt/Maschke 1965: 610) Wenn es die Gültigkeit von Freund-Feind-Relationen nicht mehr geben darf, trotzdem es Schurkenstaaten (Bush) gibt, was wohl faktisch Feinde sind, wie ist das Vokabular zu analysieren, sind die Schlagworte zu bezeichnen, welche nicht bloß geistige Propaganda und "ideologische Vortäuschung" (Schmitt: 350) sind, also die westlichen Lieblingssignifikanten: Freiheit, Demokratie, Menschenrechte? Im Empire ist nach der Involution der Hegemonialmacht USA die strategische Lage grundsätzlich anders. China lernt zunehmend, mit diesem Vokabular flexibel umzugehen, tritt umstandslos dem Pakt gegen den Terror bei - mit kleinen Nebenabsichten (Brink: 259). Wäre es vorstellbar, dass Fidel Castro auf verschlungenen Pfaden jenen Text kennengelernt hätte? Castros Hartnäckigkeit hat den lateinamerikanische Widerstand am Leben erhalten, ihn aufgehoben für die jetzige Konstellation, die mit "Venezuela" ihren bildlichen Ausdruck findet, gegen die vom Versucher USA missionarisch & militärisch gewollte "Freiheit der ganzen Erde" agiert Castros Kuba als Katechon!

Ein alternativer Bericht über Menschenrechte, den China jährlich erstellt, kann reichlich Menschenrechtsverletzungen der USA und in den USA belegen (wobei man mit Noam Chomskys Texten noch mehr Material hätte). Die Dekonstruktion des Freiheitsvokabulars durch unsere marxistische Linke kann China nicht zuletzt Empire entnehmen, welches seit 2004 in China übersetzt vorliegt. Indem so dessen "Universalisierung" (Schmitt) aufgehalten wird, entschleunigt es die Fortschreibung des neokolonialen Diskurses aus dem klassischen Imperialismus. Die Selbstbeschreibung der Partei, wiederum auf dem XVII. Parteitag 2007, China sei ein Entwicklungsland, wird üblicherweise nicht beachtet. Mit Ausnahme von einigen Hinweisen des alten Kommunisten Theodor Bergmann bleibt die Linke blind für die theoretischen Möglichkeiten, die chinesische Hybridformation (Verzeihung: den Kapitalismus) adäquat zu reflektieren.[12] Eines ist, dass China lernt, Pareto-aufgeklärt, auf die Ideologisierung und die ideologischen Interventionsabsichten mittels des Freiheitsvokabulars taktisch zu reagieren, ein anderes, und wichtigeres ist, dass seine multitudo es mit Inhalten durchkämpft, die weit über die westlich üblichen "Minimaldemokratien" (Roth 2011) hinausreichen.

Unter Mao Zedong war China sich über die Ambivalenzen der Moderne bewusst. "Er hebt das Potential der Gegenmoderne hervor und stellt fest, dass das Ziel, China ökonomisch und sozial zu entwickeln, nicht erreicht werden kann, wenn das Land nur der Moderne folgt. Um die staatlichen Strukturen zu reformieren und die Lebensbedingungen der Arbeiter zu verändern, um sie von der Herrschaft des Kapitals zu befreien, bedarf es eines anderen Weges. [...] Selbst in den bedingungslosesten Modernisierungsprojekten Maos gibt es, wie Wang Hui anmerkt [China's New Order], ein Element des Antimodernen. Diese Art 'antimoderner Theorie der Modernisierung', so Wang, vereint charakteristische Merkmale chinesischen Denkens seit der Qing-Dynastie mit gegenmodernen Positionen der revolutionären chinesischen Tradition." (C 99).

Nach Niederlagen denkt es sich anders. Helden der Niederlage (Enzensberger) werfen das Ruder radikal um; so der Politiker Deng Xiaoping, so der kleine C.S., der als Intellektueller prinzipiell wenig bewegen kann[13] und zusätzlich als Professor nach 45 entlassen wird. Sein Projekt, sich das Katechon aus 2 Thess. zurechtzulegen, startet ja in einem - selten bemerkten - Ausnahmezustand: Beschleuniger wider Willen wurde gedacht und veröffentlicht vor dem 2. Februar 1943,[14] danach war er auf der verzweifelten Suche nach einem "echteren und stärkeren" Katechon (Grossheutschi 1996: 76). Er entwickelte Positionen und Begriffe gegen die Welt-Moderne (Heuer 2010), die vom Empire aus gesehen den Umschlagspunkt des Imperialismus und Neokolonialismus zum Empire markieren, was lehren kann, die Bewegung der multitudo, welche das Empire vorantreibt, von den Herrschaftseliten und kapitalistischen Klassen zu unterscheiden, die das Vokabular der Prä-Empire-Konstellation in das Empire zu übertragen beabsichtigen, mit der Intention, die Kraft der multitudo zu neutralisieren und suggestiv sich von ihr als Antichristen in der elend-glitzernden Gestalt als Finanzkapital anbeten zu lassen. Trifft dieser Befund genauso auf China zu? Sind die Eliten und kapitalistischen Elemente denen der klassischen Welten des Kapitalismus gleich? Wenn, dann spielt China die weltpolitische Rolle eines Aufhalters im Empire, als Katechon für eine multitudo, die beginnt, sich ein Trainingsprogramm für die Weltrevolution zu erarbeiten, wenn wir der Trilogie von Hardt/Negri Glauben schenken wollen.

Wir verfügen nicht wie Marx und Engels über prophetische Gaben, die das Manifest der Kommunistischen Partei in gleiche ungeheure geschichtsphilosophische Dimensionen rückt wie die Bibel (Rorty 1998) - Alle vor Empire liegenden Versuche, den kapitalistischen Zivilisationsprozess aufzuhalten, bilden Material für eine religiöse Verarbeitung, deren theologische Reflektionsfigur das Katechon ist. Kittsteiner erinnert uns an diesen Zusammenhang, der im politisch-theologischen Denken sich in Denkbildern wie Katechon und Antichrist niederschlägt, mittels einer klassischen Passage aus dem Kommunistischen Manifest. (MEW 4: 466):

"Auf der Suche nach Absatz für diese Produktion jagt die Bourgeoisie über die Erdkugel. Produktion und Konsumtion aller Länder sind nun kosmopolitisch. Regionale Erzeugnisse werden durch Importe aus fernen Ländern ersetzt; die Literatur wird zur Weltliteratur. Die Bourgeoisie treibt der Bevölkerung den Idiotismus des Landlebens aus und unterwirft sie der Herrschaft der Stadt. Die Bourgeoisie ist die Zivilisation. Zusammengefasst: 'Die Bourgeoisie reißt durch die rasche Verbesserung aller Produktionsinstrumente, durch die unendlich erleichterte Kommunikation alle, auch die barbarischsten Nationen in die Zivilisation. Die wohlfeilen Preise ihrer Waren sind die schwere Artillerie, mit der sie alle chinesischen Mauern in den Grund schließt, mit der sie den hartnäckigsten Fremdenhaß der Barbaren zur Kapitulation zwingt. Sie zwingt alle Nationen, die Produktionsweise der Bourgeoisie sich anzueignen, wenn sie nicht zugrunde gehen wollen; sie zwingt sie, die sogenannte Zivilisation bei sich einzuführen, d.h. Bourgeois zu werden. Mir einem Wort, sie schafft sich eine Welt nach ihrem Bilde [dem Antichristen M.L.] 'Die wohlfeilen Preise der europäischen Waren sind die schwere Artillerie, mit der alle chinesischen Mauern in Grund & Boden geschossen werden.' Hat Marx nie etwas vom "Opiumkrieg" der Jahre 1839 bis 1842 gehört? Nur die Wohlfeilheit kann es nicht gewesen sein, denn die Märkte mussten erst gewaltsam geöffnet werden - mit schwerer Artillerie. Der kaiserliche Intendant und Leiter des Kriegsministeriums Lin Tse-Hsü schickt ein Protestschreiben an Königin Victoria. Darin heißt es: 'Wir haben vernommen, dass in Eurem ehrenwerten barbarischen Lande den Menschen nicht erlaubt ist, diese Droge einzuatmen. Wenn diese zugegebenermaßen so schädlich ist, wie kann der Versuch, daraus Gewinn zu ziehen, dass man andere der unheilbringenden Wirkung aussetzt, mit den Geboten des Himmels vereinbart werden?'" (Kittsteiner 2008: 70/71).

Wenige Jahre später kämpft China gegen die mit Terror eingedrungene Moderne[15] - es fehlten damals dem Imperialismus noch schöne Begründungsfiguren wie humanitäre Intervention, geschweige denn Opium als wohlfeiles Menschenrecht für das Volk. Marx reagiert sofort mit Sympathie, als Supplement (Derrida) zum Manifest tritt erneut wie in den religiösen BäuerInnen-Kriegen der frühen Neuzeit die multitudo in chiliastischer Verkleidung in die Geschichte, jetzt in die der Moderne als reflektierte Gegenmoderne! Mit bewusstem, wie wohl leicht ironisch gefärbten Bezug auf Hegels Gesetz von der Einheit der Gegensätze markiert er als treffendes Beispiel, den Taipingaufstand 1851-1852, die "ungeheure chinesische Revolution". "Scheinbar ist es eine sehr seltsame und sehr paradoxe Behauptung, dass die nächste Erhebung der Völker Europas und ihr nächster Schritt im Kampf für republikanische Freiheiten und ein wohlfeileres Regierungssystem wahrscheinlich im großen Maße davon abhängen wird, was sich jetzt im Reich des Himmels - dem direkten Gegenpol Europas - abspielt." (Marx 1853: 95) Diese Revolution, die bedeutendste Resultate für die Zivilisation haben muss (Marx), scheint die dialektische Negation der Aussage des Manifestes zu sein, erst eine völlige Entfaltung der Produktivkräfte wäre die Bedingung einer Sprengung der Produktionsverhältnisse.

Erst 100 Jahre später gelingt China perfekt die Identifikation mit dem Aggressor, wie es so trefflich bei Freud heißt, durch die Selbstaneignung der "schweren Artillerie" mittels der Revolution von 1949.‍ ‍Nach Maos Tod 1976 heilt die Wunde, die von Taiping an in China schmerzte, deren letztes großes Aufbrechen die Kulturrevolution war (Wang 2003), jetzt wird die Gegenmoderne dialektisch aufgehoben. Weltgeschichtlich durchschaut sich der Katechon als diese provisorische Gestalt der multitudo, welche sich zur unmittelbaren natürlichen Wirklichkeit durcharbeitet und vollendet in einer Übergangspassage mit durchdringender Ironie den Kapitalismus als Religion, wie Walter Benjamin einst die spezifisch moderne Formgestalt des Anti-Christen dechiffriert hat. Damit erfüllt sich der § 347 von Hegels Geschichtsphilosophie. "Dem Volke, dem solches Moment als natürliches Prinzip zukommt, ist die Vollstreckung desselben in dem Fortgange des sich entwickelnden Selbstbewußtseins des Weltgeistes übertragen. Dieses Volk ist in der Weltgeschichte, für diese Epoche, - und es kann (§ 346) in ihr nur einmal Epoche machen, das Herrschende. Gegen dies sein absolutes Recht, Träger der gegenwärtigen Entwicklungsstufe des Weltgeistes zu sein, sind die Geister der andern Völker rechtlos, und sie, wie die, deren Epoche vorbei ist, zählen nicht mehr in der Weltgeschichte." (Hegel 1833: 381)

Nachsatz: In Grundrisse 39 waren Texte für Heft 40 erbeten worden. Da ich mir das Thema "Weltrevolution" ohne China nicht vorstellen kann, habe ich spontan mit diesem Text reagiert. Dass die Redaktion diese Vorstellung nicht teilt, also Weltrevolution ohne China sich vorzustellen vermag, wie das Heft 40 beweist, bedaure ich. (Vielleicht waren die Gründe eher äußerlich wie das recht späte Einreichen meines Textes?). Sei es, wie es ist: Ich nehme die Gelegenheit - des verspäteten Abdrucks - beim Schopf und reagiere kurz auf die 16 Thesen zur Weltrevolution von Paul Pop (Grundrisse 40) und konzentriere mich auf die China betreffenden 4, 7 & 9.

4.‍ ‍These: "Die Größe von Lenin und Mao besteht vielmehr darin, den richtigen Zeitpunkt für den Umsturz gespürt zu haben". Dieser Spürsinn verdanke sich nicht einer Theorie wie dem Marxismus, Leninismus oder den Mao Zedong Ideen, sondern verarbeiteter Erfahrung. Daher lobt Pop den "(Untersuchungs)-Bericht über die BäuerInnenbewegung in Hunan" (1927), der deshalb zum zentralen Text für die chinesische Revolution geworden sei, weil er nicht die Verhältnisse auf dem Land ökonomisch, sondern politisch untersuche. BäuerInnen und GrundherrInnen werden in ihre Reaktionsmustern beschrieben, wenn die multitudo sich im Kampf gegen die Ausbeutungsverhältnisse konstituiert, werden Strukturen von Klassenschichtungen wirksam; nicht jedoch verhält sich jemand so, wie es nach Klassenlage sein sollte ("dass die Rolle des revolutionären Subjektes nicht einer bestimmten sozialen Gruppe zugeschrieben, sondern immer wieder neu definiert werden muss"; Pop 2011, These 9) Der italienische Operaismus wird in den 60er Jahren diese Perspektive erneuern: Die Selbstorganisation der multitudo markiert die Klassendifferenzen, die Gegenkräfte sortieren sich auf der anderen Seite der Klassenverhältnisse. Kern der multitudo ist die sogenannte Pöbelbewegung, die Armen (Hardt/Negri C), das intellektuelle Prekariat, die in den Modi des Patriarchats beherrschten Frauen (so schon Mao 1927). Nur ausnahmsweise die ArbeiterInnen, soweit sie nicht Zeitarbeit unterworfen sind, kaum die Mittelschicht, in deren Normen das Unten nur in Form von Pöbelherrschaft perhorresziert wird. Den richtigen Zeitpunkt erkennt einzig, wer aus einer tieferliegenden Denkschicht herkommt: Lenin und Mao stehen ihrer Gesellschaft bei aller Konkretheit ihrer Klassenanalysen fremd gegenüber; sie entziehen der kapitalistischen Moderne ihr Mandat (geming) und ersetzen sie durch die multido, deren chiliastische Grundstruktur - ihr Magma (lt. Castoriadis) - sie freilegen. Das Aufspüren, dass die Zeit für die multitudo gekommen ist, umschreibt die Bibel mit Kairos (Mk. 1,15). Benjamin übersetzt in seiner 18 These: "Die Jetztzeit, die als Modell der messianischen in einer ungeheuren Abbreviatur die Geschichte der ganzen Menschheit zusammenfasst" (Benjamin 2010: 81)

7.‍ ‍These: "Das leninistische Parteimodell war relativ erfolgreich zur Eroberung der Staatsmacht, konnte aber keine emanzipatorische Gesellschaft hervorbringen." Zugleich 9. These: "Mao Zedong versuchte, durch die Kulturrevolution die Krise des leninistischen Repräsentationsmodells zu überwinden. Durch ihr Scheitern bleib allerdings auch der Marxismus weiter im Leninismus behaftet." Die 7. These ist religiös längst codiert. In seinem genialen Dialog Der Großinquisitor konfrontiert Dostojewski den Großinquisitor des erzreaktionären katholischen Klerus mit dem wiedergekehrten Messias, der gegen die hierarchische Heilsanstalt [Kirche; Partei] den emanzipatorischen Impuls der Bergpredigt reklamiert und der schließlich resigniert: denn er muss die Sicht der Institution anerkennen, die ihn als Störer ausgrenzt, als Ketzer verbrennen will (Dostojewski 1934: 42). Max Weber, der in seiner Religionssoziologie solcherart institutionelle Prozesse beharrlich analysiert hat, kann als Ergebnis einer erfolgreichen leninistischen Revolution, deren Verwandtschaft mit der Institutionalisierung des Christentums schlagend ist, einzig eine "unentrinnbare universelle Bureaukratisierung" (Weber 1995: 80) antizipieren; Resultat einer Moderne, die Maos Gegenmoderne zu unterlaufen versprach. Doch: "Die 'permanente Revolution' Maos überforderte die Energie und Kräfte der meisten Menschen und verkam schnell zur Routine." (Pop 2011, These 9) Begreifen wir die Kulturrevolution mit Benjamin als Abbreviatur, dann wurde die multitudo durch die Partei dekonstruiert, die heuer dabei ist, katechontisch einen Zweiten Großen Sprung zu organisieren, der dieses Mal in das Reich des antichristlichen Konsumkapitalismus zu führen scheint - als Vorstufe zum Kommunismus.[16] Dieser Konformismus der Moderne, ihre eigentliche Kontingenzformel von Freiheit, droht, wie viele Linken fürchten, die Überlieferung der sozialistischen Freiheitsgeschichte der multitudo zu vernichten, weil der Hegelsche Freiheitsbegriff täuschend imitiert wird, ähnlich wie der Antichrist den Messias.

"In jeder Epoche muß versucht werden, die Überlieferung von neuem dem Konformismus abzugewinnen, der im Begriff steht, sie zu überwältigen. Der Messias kommt ja nicht nur als Erlöser; er kommt als der Überwinder des Antichrist". (Benjamin 2010: 96 - VI.These)

E-Mail: lauermann22@aol.com
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Anmerkungen:

[1]‍ ‍Der großartige Sinologe Bauer gehörte um 68 zu meinen Lehrern, während sonstige Maoisten ihn gar nicht erst ignorierten, weil sie Wissenschaft mit Inbrunst links liegen ließen; was zu ihrer damaligen antiautoritären radikalen Vernachlässigung des Denkvermögens beitrug; sie konnten diesen Mangel nie ausgleichen, gerade nach ihren Konversionen zu westlichen Normen & Werten nicht. [Aus meiner Generation ein paar Temperamente, die "sich haben dumm machen lassen" (Adorno): Courtois (gerissen); Koenen (fanatisch); Claussen (zeitgeistmodisch; daher im SED-Stil Chefkommentator für die Beiträge in izw3, China-Heft 2011]. Wenn man über eine durch Althusser trainierte Denkkraft verfügt, kommt man nicht auf die Idee, sich von der Kulturrevolution zu distanzieren, wie es genauso Badiou (2010: 261ff.) nie einfallen würde, besonders sein Brief an Slavoj'i'ek über Mao Zedongs Werk belegt das. Ich bin glücklich, dass ich, auch Althusser-Schüler, ähnliches, wenngleich längst nicht so elegant & konsequent formuliert hatte (Lauermann 2008). Daher mein Benjaminscher Rettungsversuch gegen die Sieger, die Geschichte schreiben, im Nachsinnen von Bauers: Der hastende Riese. Über die ße Proletarische Kulturrevolution in China (Bauer 1967). Ein halbbewusstes Selbstbildnis Bauers vermute ich in seinem Vorwort zu Richard Wilhelms Die Seele Chinas... . Schicksalhaft scheint, dass er im Todesjahr - Jahr des Pferdes seines großen Vorbildes geboren wurde (1930; gest. 1997)!

[2]‍ ‍Die Negation des Kapitalismus ist, weil dialektisch, nicht dialektisch darstellbar, sonst droht schlechte Geschichtsphilosophie. Die Struktur muss streng als Kombinatorik eines Neben- und Nacheinander von Gemeindeformen, Produktionsweisen, Ausbeuterkla ssen und "Aneignungsweisen der Mehrarbeit" behandelt werden, was Pasemann glänzend gelingt (Pasemann 1978; bes.: 215ff.). Im weiteren muss die Überdeterminierung dieses Widerspruchs analysiert werden, "dass die neu, aus der Revolution hervorgegangene Gesellschaft, sei es durch die Formen ihres neuen Überbaus oder durch spezifische (nationale und internationale) 'Umstände', selbst das Überleben, das heißt die Reaktivierung der alten Elemente auslösen kann. "(Althusser 2011:143/4).

[3]‍ ‍Osterhammel 1989: XI/XII. Selten ist eine solche Verkennung ("bespiellose Blutnacht") im Vorwort zu einer der im Haupttext erhellendsten Interpretationen des vorrevolutionären China. Man sollte die Macht der Affekte nicht unterschätzen, die einen Autor überfallen, der nach jahrelanger Arbeit meint, rasch auf einen für sein Thema kontigenten Vorgang reagieren zu müssen. In den historischen Prozess integriert wird das Ereignis in angemessener Proportion bei Osterhammels Kollegin Dabringhaus (2009: 190/193), mit Hilfe der soziologischen Beobachtungen von Wang Hui (2003). Wäre der Historiker Osterhammel soziologisch ebenso informiert wie sein chinesischer Kollege und 1989er-Aktivist, hätte er sich die Dengsche Verhaltensweise einfach erklären können; mit Pareto ist die rationale Erklärung solcher Ereignisse technisch nicht schwierig und ihre politische Behandlungsart gilt seit Machiavelli als bekannt (vgl. Lauermann 1993).

[4]‍ ‍Ich habe mich zu dieser Theorieform, die ich mit Levi-Strauss' als Bricolage sehe, mehrfach geäußert (u.a. Lauermann 2006 & 2011). Im zweiten Text sehe ich Empire, Multitude und Commonwealth als Trilogie. Hilfreich ist für die Erklärung die sehr frühe und frische Intervention von Foltin (2002) in dieser Zeitschrift, die verfremdende nicht-marxistische Sicht von Kittsteiner ( 2005) und eine kleiner Hinweis von Seibert, der das Erkenntnisinteresse von Hardt/Negri freilegt: warum ein solch beindruckendes, gerade in der Rezeption von Wissenschaft, geistiges Erzeugnis eigentlich nicht Wissenschaft, - die bekanntlich nicht denkt -, sondern Revolutionsaufruf ist.

[5]‍ ‍Mit 'Hyperformation' (besser als früher Übergangsgesellschaft) ist meine Position angedeutet, die ich im Frühjahr 2012 in einem Buch (Chinas Zukünfte; Dietz Verlag) begründe. Bis dahin verweise ich auf diverse Chinaaufsätze in der Zeitschrift Z (Zeitschrift für marxistische Erneuerung), z.B. Widersprüchliche China Bilder (Teil I: Heft 88, Dezember 2011). Wenn China einer der Welten des Kapitalismus ist, dann eine aparte mit Planwirtschaft und Staatseigentum! Vgl. meine Rezension in Z 87, Sept. 2011 zu Lee (2011). Sprach der große Leibniz bereits von China als Anti-Europa bzw. Gegen-Europa, dann wäre ein Begriff für eine Gegenwelt der Moderne in der Moderne erfunden.

[6]‍ ‍Bohne (2010) arbeitet bei seiner empirischen Studie zur WTO mit einem Begriffsnetz, das Hardt/Negri hätten entwickeln können. Conceptuel Frameworks, Variables, and Method: Concepts of actor-centered organizations; Focal, formal, and informal organizations usw. Das Empire bringt Bewegungsformen hervor, die deutlich von denen des Prä-Empire unterschieden sind.

[7]‍ ‍Ohne Spinoza ist Empire nicht codierbar, vgl. Reitter 2005 und Lauermann 2006)

[8]‍ ‍= Nicht-Handeln (Jullien 2008: 19). Bei einer Veranstaltung des World Economic Forum im chinesischen Dalian 2011 sagte Premierminister Wen Jiabao: Die Europäer sehen sich mit ernsthaften Schuldenproblemen konfrontiert. Wir sind bereit, ihnen zu helfen, wenn sie sich selbst helfen; Hilfe zur Selbsthilfe. Ich meine frech: unser wu wei wäre leicht zu erkennen gewesen: In der Finanzkrise 2008 keinerlei Intervention des Staates für Banken (etc.)!

[9]‍ ‍Vgl. Streeck 2011 und dazu: Jürgen Habermas (Rettet die Würde der Demokratie) F.A.Z. 5.11.2011

[10]‍ ‍Trilling (1980: 90). Trilling bevorzugt bei Katechon die sächliche Fassung des Artikels, meistens wird von NichttheologInnen die maskuline Form gewählt, so bei der nützlichen Darlegung vom Katechongebrauch durch Schmitt von Grossheutschi 1996. Unverzichtbar für Katechon ist die ausführliche Anmerkung 12 von Maschke zu Schmitt (1942; 438/40.)

[11]‍ ‍Rainer Land hat mich auf die Stärke von Plaggenborg (2006) hingewiesen, ein Buch, dass ich bei flüchtiger Lektüre für eine der üblichen Gewaltpornografien gehalten hatte, weil die im Stalinismus Getöteten eine Hauptrolle spielen. Doch anders als die beliebten Versuche, Russland zu asiatisieren, betont P. die Strukturverwandtschaft der westlichen mit der sowjetischen Moderne: Nur zeitlich verschoben. Zur gewaltsamen Transformation, der im Kapital analysierten "ursprünglichen Akkumulation", blieben der SU nur wenige Jahre. (Dieser klare Gedanke war in meiner 68er Zeit Allgemeingut von MarxistInnen wie Abendroth und Deutscher). In der Konsequenz dieser als Antimoderne realisierten Moderne liegt es, dass man die kommunistische Politik Stalins als Krieg gegen die BäuerInnen als Klasse durch eine imaginative proletarische multitudo definieren kann, während Mao die chinesische multitudo primär durch die BäuerInnen zu bestimmen verstand, denen das Proletariat zugerechnet wurde, mit der Funktionsbestimmung einer Ko-Evolution. (Dazu die genaue Belegung dieser Differenz bei Pam 2005)

[12]‍ ‍Ein reiches Material, Länderanalysen wie Literaturrecherchen, welches ich für mein China-Buch unter diesem Aspekt gesichtet habe, liegt mit zwei wichtigen Büchern vor: 1.) Randeira 2009 & 2.) Boatca 2010.

[13]‍ ‍Doch gelingt Schmitt im Reich der Gedanken, in der Macht über Diskurse Erstaunliches, wie das bis heute befeindete Freund-Feind-Kriterium sattsam beweist. "Seine vielzitierte These, 'Diktatur ist der Gegensatz zu Diskussion' vermag ja nicht allen Ernstes die Diskussion zu beenden. Sie ist vielmehr deren innovativster Beitrag. [...] Der Grund von Schmitts Erfolg liegt darin, dass er die politische Transzendenzvorstellung in die moderne politische Theorie hineingetragen hat. Es gibt heute kaum eine Erörterung der modernen politischen Theorie, in der nicht die übliche Zitierung Schmitts vorkäme." (Borkoff 2003. 64): Q.e.d.

[14]‍ ‍Das ist der Siegestag der Sowjetunion in Stalingrad. Die Wirkung auf die konservative Elite, die sich mit dem NS arg verschätzt hatten, ist ungeheuer. Der Krieg ist verloren, war die Grundeinsicht von Heidegger und Schmitt. Hans Freyer, der bedeutendste Rechtshegelianer (Schmitt) beginnt seine Weltgeschichte Europas, ebenfalls mit katechontischen Spekulationen, die er nach 45 ohne jede Änderung drucken lässt. Ihr Eurozentrismus ist überaus reflektiert, die Weltmoderne, die Schmitt bekämpft, ist keines Aufhebens wert.

[15]‍ ‍"Das chinesische Kaiserreich verlor 1842 den rein wirtschaftlich motivierten Ersten Opiumkrieg gegen Großbritannien. Danach musste sich das Land auf die Schnelle und unter leidvollen Erfahrungen wirtschaftlich, technisch und wissenschaftlich alles aneignen, was dem Westen zu seiner Überlegenheit verholfen hatte. Diesen historischen Kontext muss man im Blick behalten, denn der gegenwärtige rasante Aufstieg Chinas verleitet durchaus dazu, diese traumatische Begegnung zwischen China und dem Westen auszublenden. Tatsächlich hat dieses Trauma bis heute unterschwellige Auswirkungen auf alle internationalen Beziehungen Chinas." (Jullien 2006:12)

[16]‍ ‍Der Erste Große Sprung nach vorn [Da yuejin], 1958-1961, war ein kulturrevolutionärer Versuch einer Selbsthilfeindustrialisierung, was ein westliches China-Handbuch so kommentiert: "Wenn seine Durchführung durch die Linken übereilt war, so war seine Verdammung durch die Rechten es ebenfalls.... Vielleicht waren die euphorischen, chaotischen Tage des Jahres 1958 ein notwendiger Beginn..." (Franke 1973: 110); ebenso wie die Panzer vom Tianmen-Platz ein notwendiger Beginn des Wirtschaftsliberalismus waren (vgl. Wang 2003)...[Zwei klassische Experimente im Sinne Schumpeters!]

Raute

Stefan Junker
Märzrevolution 1920

Wenn von der gescheiterten Revolution in Deutschland die Rede ist, die vergessen wurde, so ist im Besonderen vom März 1920 zu reden, als mehrere Tausend Arbeiter sich bewaffneten und reaktionären Truppen der Reichswehr trotzten. Die meisten Darstellungen, die sich der deutschen Revolution widmen, lassen diese im Sommer 1919 enden. Dabei bilden die Ereignisse im März des darauffolgenden Jahres den Höhepunkt der revolutionären Bewegung in Deutschland. Bis heute. Im Gefolge eines Putsches und des von Reichsregierung proklamierten und wenig später von ihr verleugneten Generalstreiks kam es in vielen Gegenden zu bewaffneten Kämpfen gegen putschende Militärs, die sich im Ruhrgebiet zu einer revolutionären Erhebung entwickelten. Im Ruhrgebiet gelang den Arbeitern etwas, das ihnen 1919 nicht vergönnt war: sie besiegten reguläre Truppen der Reichswehr im offenen Kampf.[1] Innerhalb weniger Tage eroberten bewaffnete Arbeiter das gesamte Ruhrgebiet. Neugebildete Vollzugsräte beanspruchten alle öffentliche Gewalt und begannen sich zu vernetzen. Am 25. März gab sich die Bewegung in Essen eine organisatorische Spitze. Kennzeichnend für diese Bewegung ist, daß sich an den Kämpfen und in Räteorganisationen Arbeiter, weniger Arbeiterinnen[2] aller politischer Richtungen beteiligten: Mehrheitssozialdemokraten, Unabhängige, Kommunisten, Linkskommunisten, Syndikalisten und Anhänger der Unionen. Zeitzeugen, auch solche der Gegenseite, sprechen von 30.000-50.000 bewaffneten Arbeitern. Die Führer der Reichswehr wußten sich diese Bewegung nicht anders zu erklären, als ein von langer Hand vorbereiteter linker Putsch. Dabei stehen wir hier vor einem der vielen Beispiele der Dynamik proletarischer Selbstorganisationen, vor dem, was Marx meinte, als er schrieb: "die Arbeiterklasse ist revolutionär oder sie ist nichts".[3]

Wie ist es zu diesem Aufstand gekommen und was waren die Gründe seines Scheiterns?[4] Der Anfang läßt sich hier mit der Revolution im November 1918 setzen, als der deutsche Kaiser vertrieben wurde und sich, wie auch andernorts, in den Städten des Ruhrgebiets Arbeiter- und Soldatenräte bildeten. Doch wenige Wochen später, in einer politisch freieren Atmosphäre, begannen die Arbeitenden auf einer Verbesserung ihrer miserablen Lebensbedingungen zu bestehen. Die Bergarbeiter im Ruhrgebiet machten den Anfang. In den Streiks noch Ende dieses Jahres konnten sie bescheidene Erfolge erzielen. Dies bedeutete für sie zweierlei. Zuerst machten sie die Erfahrung, daß sie nach vier Jahren Kriegsdiktatur ihre Interessen gegen die Unternehmer durchsetzen konnten, wenn sie sich solidarisch verhielten. Dabei aber mußten sie andererseits die leidvolle Erfahrung machen, daß dieser Kampf auch gegen den Willen der Gewerkschaftsführung zu führen war. Diese hatte sich nämlich mit den Unternehmensorganisationen ins Einvernehmen gesetzt, um die Anerkennung als Verhandlungspartner zu erringen,[5] wobei sie im Gegenzug die eine und die andere Errungenschaft der Streikenden wieder konterkarierte. Immerhin hatte der preußische Staat die Gewerkschaftsführung für ihr Wohlverhalten im Krieg belohnt, so konsultierte er sie in sozialpolitischen Fragen und der ein oder andere Gewerkschaftsführer brachte es auf eine nicht uninteressante Stelle in der unteren Verwaltung. Als neue Streiks erforderlich wurden, wie im Februar und April 1919, als die beginnende Inflation begann die Lohnerhöhungen unwirksam zu machen, setze die sozialdemokratisch dominierte Regierung kaiserliche Offiziere und Freiwilligenverbände gegen Streikende ein. Hier zeigte sich, daß es diesen Freikorps ein Leichtes war, die zersplitterten Streiks und Erhebungen nacheinander niederzuwerfen. Dies führte natürlich zu einer weiteren Entfremdung der Arbeiterschaft gegenüber der sozialdemokratischen geführten Reichsregierung.

Als im Januar 1920 die Reichsregierung das Betriebsrätegesetz verkündete, das übrigens als Vorbild für das heute in Deutschland geltende Betriebverfassungsgesetz gilt, demonstrierten in Berlin mehrere Tausend Menschen dagegen. Die Regierung ließ mit Maschinengewehren in die Menge schießen und verhängte überdies den Belagerungszustand über das ganze Reich. Mit dieser Verordnung übergab die republikanische Regierung die faktische Macht dem Militär. Alle Grundrechte waren bis auf weiteres außer Kraft gesetzt. Die vollziehende Gewalt ging auf den Reichswehrminister über, der sie auf einen Militärbefehlshaber übertragen konnte. Wer die Anordnungen des Reichswehrministers oder des Militärbefehlshabers übertrat, war mit Gefängnis oder Geldstrafe bedroht. Mit den neuen Befugnissen ausgestattet rückte General Watter, den die Ruhrarbeiterschaft bereits aus den Streiktagen des Frühjahrs 1919 kannte, ins Ruhrgebiet ein, um die Agitation für die 6-Stunden-Schicht im Bergbau zu bekämpfen. In Düsseldorf, Wesel und Essen wurden Kriegsgerichte errichtet, am 28.1. verboten Watter und sein Reichskommissar Carl Severing (SPD) die Bildung von Streikausschüssen und Streikposten. Erst diese Militärdiktatur ermöglichte die klare Frontstellung gegen die Arbeiterinteressen. Der Staat, hier in Gestalt des Militärs, stellt sich in den Dienst der Unternehmerprofite.

Die sich im Frühjahr bildenden Freikorps wurden zur Grundlage der neuen Reichswehr, und es lag in der Natur der Sache, daß diese sich auch gegenüber der Reichsregierung unabhängig machte, zumal sie die Grundlage der revolutionären Neugestaltung, die Arbeiter- und Soldatenräte sowie die Streikbewegungen bekämpfte. Der Versailler Vertrag sah eine massive Reduktion der Truppenstärke vor, was den noch in kaiserlicher Tradition behafteten Offizieren nicht genehm sein konnte. Erste Putschpläne tauchten bereits im Juli 1919 auf. Im März 1920‍ ‍waren die Putschvorbereitungen fast vollendet, als der Putschistenführer Kapp sich ungeschickt in Zugzwang brachte und darum früher loszuschlagen war als geplant. Obwohl Reichswehrminister Noske (SPD) bestens über die Pläne vorgewarnt war, hatte er bis unmittelbar davor nichts unternommen. Erst als der Putsch seinen Anfang nahm gab Noske den Befehl, die Reichswehr solle das Regierungsgebäude schützen und die führenden Köpfe verhaften. Jetzt meuterte General v. Seekt mit dem Ausspruch: "Reichswehr schießt nicht auf Reichswehr". Das war genaugenommen Hochverrat. Die Reichsregierung wandte sich daraufhin an die zuvor von ihr malträtierten Arbeiter und erließ einen Generalstreiksaufruf, von dem sie sich bereits wenige Stunden später wieder distanzierte - und verdrückte sich nach Stuttgart. Auf den Putsch vom 13.3. antworteten Arbeiter, Arbeiterinnen und Angestellte Berlins mit Arbeitsniederlegungen, die sich am Montag, den 15. März zu einem Generalstreik ungeahnten Ausmaßes entwickelte. Bereits zwei Tage später zeigte sich in Berlin, daß der Putsch gescheitert war. Die Wucht des Generalstreiks und die bewaffneten Auseinandersetzungen vielerorts ließen mit dem Putsch sympathisierende Truppenteile im gesamten Reich schwankend werden. Mit dem Rücktritt der Putschistenführer Kapp und Lüttwitz am 17.3. war es nicht getan, es galt vielmehr Garantien zu schaffen, damit sich Ähnliches nicht wiederhole. Daran aber dachte die Reichsregierung als letztes, einzig Reichswehrminister Noske war nicht mehr tragbar und mußte seinen Hut nehmen. Noch auf der Flucht nach Stuttgart dachte sie darüber nach, wie sie die zuvor putschende Reichswehr gegen die Arbeiter einsetzen könnte, sollte der Streik über sein unmittelbares Ziel hinausgehen.

Wie verhielt es sich im Ruhrgebiet? Am 13.3. hatten die Putschisten General Watter zum Befehlshaber des 6. Wehrkreises (Ruhrgebiet) ernannt. Seine Erklärung, wie er sich zum Putsch verhalten wolle, war sehr wankelmütig. Das Bekenntnis zu Neutralität und "Ruhe und Ordnung" nach einem anscheinend gelungen Putsch, konnte im Ruhrgebiet nur als positive Parteinahme gedeutet werden. Interessant ist, daß die Unternehmer angesichts des Putsches, von der Vereinbarung mit den Gewerkschaften, die sie ein Jahr zuvor getroffen hatten, nun nichts mehr wissen wollten. Die Arbeiterschaft, von den Nachrichten über Truppenbewegungen offenkundiger Putschisten erregt, versammelte und organisierte sich erneut. In Polizeigebäuden oder auch andernorts wurden Waffen gefunden und mehr oder minder organisiert verteilt. Die Geschehnisse in verschieden Orten wie Hagen, Bochum, Witten aber auch in Elberfeld zeigen eine ähnliche Grundstruktur. Überall geht die Initiative zunächst von den Funktionären der Arbeiterorganisationen aus, die intern über die zu ergreifenden Maßnahmen beraten. Sie bilden den örtlichen Aktionsausschuß, ohne die Mitglieder oder die Belegschaften heranzuziehen. Die Arbeiter ihrerseits stellen, sobald sie die Betriebe verlassen haben, vor allem zwei Forderungen: Wir brauchen Waffen, um uns vor den Kräften der Reaktion am Ort zu schützen, und: Die politischen Gefangenen müssen freigelassen werden. Die Waffen werden nicht auf einen kommenden Kampf mit Watter verlangt, sondern nur, um die jeweilige Örtlichkeit gegen die Putschisten zu verteidigen. Beide Forderungen beschränken sich auf Unmittelbares und Konkretes. Dies ist interessant, denn es zeigt, daß erst durch die Kämpfe selbst diese über die lokalen Begrenztheiten hinausdrängen. Die ersten Kämpfe entwickelten sich. Werfen wir einen Blick auf die Stadt Wetter. Am 14.3. rücken 150 Mann in die Stadt und besetzen den Bahnhof. Während sich der kommandierende Hauptmann mit dem Bürgermeister unterhält, eilen Arbeiter aus dem Streikkomitee herbei, um mit den Soldaten zu sprechen. Als der Kommandant erklärt, auf Seiten Lüttwitzens zu stehen, ziehen sich die Arbeiter zurück. Der Kampf wird unvermeidlich. Die Nachricht verbreitet sich wie ein Lauffeuer, über Telefon werden die Wetteraner gebeten, zu warten bis Verstärkung aus Hagen komme. Dort werden Autos und Straßenbahnen beschlagnahmt, um bewaffnete und unbewaffnete Arbeiter nach Wetter zu bringen. Ca. 1000 Arbeiter, teilweise bewaffnet, belagern den Bahnhof. Den erbitterten Nahkampf am Nachmittag entscheiden die Arbeiter für sich, der kommandierende Hauptmann wird durch einen Halsschuß getötet. Die Arbeiter stehen vor einer neuen Situation. Sie haben einen Sieg errungen und überdies Geschütze, Minenwerfer, Maschinengewehre und Transportmittel erbeutet. Ähnliche Kämpfe fanden in Herdecke und Kamen statt, bzw. zwei Tage später in Elberfeld. Der Kampf um Dortmund am 16.‍ ‍und 17. März ist ein Wendepunkt in der Entwicklung des Ruhraufstandes. Hier haben sich sozialdemokratische Führer zu Helfershelfern der Putschisten gemacht und erzwangen so den Kampf auch gegen die Sozialdemokratie. In Dortmund obsiegen die aus allen Vororten heranrückenden Arbeiter in hartnäckigen Kämpfen gegenüber 1500-2000 Freikorpsleute und Sipo.[6] Sie gelangen samt Kommandanten in Gewahrsam der Arbeiter. Am 18.3. wurde die Stadt Essen erobert und bis 21.3. fiel nahezu das gesamte Ruhrgebiet unter die Gewalt der Arbeitenden. Es ist erstaunlich, wie hier verstanden wurde, daß die Reichswehr nur erfolgreich bekämpft werden konnte, wenn sie verfolgt und ihr nachgestellt wurde. Die Geschwindigkeit, mit der sich die Bewegung ausbreitete, ist atemberaubend. Daß hierbei auch Fehler gemacht wurden, ist verständlich.

Wo die Arbeiter Reichswehr und Sipo vertrieben haben, erfahren die Aktionsausschüsse einen außerordentlichen Machtzuwachs und benannten sich um in Vollzugsräte. Das ganze Ruhrgebiet fiel unter die Herrschaft der örtlichen Vollzugsräte, die sich am 25.3. mit dem "Zentralrat" in Essen eine organisatorische Spitze gaben. An die Stelle bürgerlicher Staatsmacht traten bewaffnete Arbeiter. Wobei zu unterscheiden ist zwischen denjenigen Arbeitern, die Reichswehr und Sipo verfolgten und den Arbeiterwehren oder Volkswehren, welche Polizeiaufgaben und andere öffentliche Funktionen übernahmen und den örtlichen Vollzugsräten unterstanden. Die Arbeiter erhielten, ähnlich wie die Roten Garden 1917 in Rußland, weiterhin ihre Löhnung aus den Unternehmen, in denen sie beschäftigt waren. Bei kleineren Betrieben wurde stellenweise die Stadtkasse belastet. Die alte Verwaltungsbürokratie blieb zwar im Allgemeinen im Amt, aber die respektvolle Ängstlichkeit von 1918/19 war einer stärkeren Kontrolle durch die Vollzugsräte gewichen. Gleich zu Beginn des Aufstandes wurden neue Betriebsräte gewählt, was aber nur dort durchführbar war, wo die politische Macht bereits in den Händen der Vollzugsräte lag. Dies zeigt, daß die Eroberung der politischen Macht die Voraussetzung für die Etablierung wirklicher Demokratie ist. Eine allgemeine Sozialisierung der Produktionsmittel konnte in dieser kurzen Zeitspanne nicht in Angriff genommen werden, wenngleich einige Belegschaften hier vorstellig wurden. So hatte sich die Familie Thyssen auf das linke Rheinufer, die "neutrale Zone", geflüchtet. Die Leitung der Betriebe wurde von den Betriebsräten gestellt und zwar, wie Lucas schreibt, mit planvoller Überlegenheit. Für die Reife des Aufstandes spricht auch, daß die theatralischen Proklamationen von Räterepubliken - wie 1919 - bis auf eine Ausnahme unterblieben.

Aber bald schon zeigten sich die Grenzen des Aufstandes. Das Ruhrgebiet war auf Lebensmittel von außerhalb angewiesen und die von der Reichsregierung verhängte Blockade entfaltete ihre Wirkung. Außerdem mangelte es an Zahlungsmitteln, die Banken weigerten sich, Gelder zur Verfügung zu stellen bzw. die Reichsregierung die nötigen Devisen, um im Ausland Lebensmittel zu kaufen. Inzwischen war die Reichsregierung wieder in Berlin eingetroffen und wollte zur Tagesordnung übergehen, weswegen sie auf ein Ende des Generalstreiks drängte, ohne aus ihrer fehlerhaften Politik den Militärs gegenüber Lehren zu ziehen. Am 17.3. bereits ernannte Ebert General v. Seekt, welcher am 13.3. die Anordnung Noskes, die Regierung zu schützen, verweigert hatte, zum Reichswehrchef und Nachfolger des Putschistengenerals v. Lüttwitz. Selbst die den Putsch tragende Brigade Ehrhard, deren Auflösung sogar von der Entente explizit verlangt wurde, blieb in Berlin und verwendete sich gegen Streikende. Am 19.3. wurde über Deutschland der verschärfte Ausnahmezustand verhängt, der genau besehen verfassungswidrig war. So lasen die Streikenden in Berlin neben der Aufforderung der Reichsregierung, den Generalstreik zu beenden, die Verkündung des verschärften Ausnahmezustands. Wie mußten sie das verstehen? In dieser außergewöhnlichen Situation machte Carl Legien, der Vorsitzende des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes (ADGB), den ungewöhnlichen Vorschlag an die Adresse der USPD, mit ihr zusammen eine neue Regierung zu bilden. Diese Regierung, wäre sie zustande gekommen, hätte sich wie diejenige der Putschisten in Konkurrenz zur Regierung Ebert-Scheidemann befunden. Aber in beiden Regierungen wären Mehrheitssozialdemokraten gesessen. Eine Zerreißprobe! Innerhalb der USPD wurde erbittert debattiert, ob man sich auf Gespräche einlassen solle oder nicht, und die Fronten gingen quer durch die Parteiflügel. Mit Sicherheit war es ein Fehler, Legiens Angebot, das zwar von selbstsüchtigen Interessen getrieben, aber nichtsdestoweniger ernst gemeint war, ohne weiterer Fühlung aus der Hand zu schlagen. Schließlich wird für den 23.3. die Wiederaufnahme der Arbeit in Berlin beschlossen.

Da in anderen Regionen des Reiches der Generalstreik zum Teil bereits früher abgebrochen war, befand sich nun das Ruhrgebiet allein. In dieser Lage war an eine Ausweitung des Aufstandes nicht mehr zu denken, da nun auch mehr und mehr Truppen vor allem aus Süddeutschland an die Grenzen des Ruhrgebiets verlegt wurden. Verhandlungen lagen in der Luft. Bereits am 21.3. war eine Delegation ins Hauptquartier von Watter nach Münster gefahren, um Verhandlungsmöglichkeiten zu sondieren, aber der General stellte sich stur. Allerdings war es ihm bewußt, daß er am 22.3. mit 17.000 Gewehren die Aufstandsbewegung nicht niederwerfen konnte. Selbst Hagens bürgerlicher Oberbürgermeister Cuno und die berüchtigte "Frankfurter Zeitung" mahnten eine Verhandlungslösung an. In dieser Situation lud der Kommissar der Reichsregierung Carl Severing (SPD) zu "Verhandlungen" nach Bielefeld ein. Sein Ziel war es, die Aufständischen zu spalten. Daß ihm das gelang, hatte mehrere Gründe: In Bielefeld fanden sich um die 150 Personen ein, darunter viele Vollzugsräte, allerdings nicht alle und auch die meisten Kampfleiter fehlten. Fehler der Vollzugsräte war es, daß sie sich nicht vor der Konferenz verständigten. Schnell wäre ihnen bewußt geworden, daß die Frist von 24 Stunden für die Zusammenkunft zu kurz war. Aber auch auf der Konferenz haben sie sich nicht vorab koordiniert und verständigt. Hier wurde ein eigenartiges Waffenstillstandsabkommen geschlossen, das von dem Aufständischen gewisse Vorleistungen verlangte. Auch wurde nicht weiter geklärt, inwieweit Severing überhaupt für Watter zu sprechen befugt war, bzw. seine Unterschrift nicht eingefordert. Sträflicher noch war die Leichtfertigkeit, mit der die Arbeitervertreter in Bielefeld sich zu Sprechern der gesamten Aufstandsbewegung gemacht hatten.

Nur wenige Vollzugsräte, die ja nach internen Beratungen der Parteispitzen besetzt wurden, waren bereit, den neu gewählten Betriebsräten zu weichen. Die Zeit war zu kurz gewesen, als daß sich Formen proletarischer Demokratie auch gegen die eigenen Arbeiterführer hätte durchsetzen und verwirklichen können. Und viele dieser Führer glaubten noch immer, die Arbeiter mit dem Dirigierstab, wie sich Rosa Luxemburg ausdrückte, führen zu müssen. Dies wurde spätestens offenbar, als viele kämpfende Arbeiter sich schlichtweg weigerten, diesen Bielefelder Beschluß anzuerkennen. In Bielefeld sprach die Aufstandsbewegung nicht mit einer Stimme und so konnte der folgenschwere Riß entstehen, der es der Bewegung nicht mehr gestattete, ohne Blutzoll aus dem Aufstand herauszukommen. An der östlichen Front, wo die Aussichtslosigkeit des Kampfes vielen Arbeitern bereits klar geworden war und die Kampfleiter zur Waffenabgabe aufriefen, begann sich die Front aufzulösen, noch ehe die Reichswehr vorrückte. Zu spät für Bielefeld kam, daß sich am 25.3. der Aufstand im Essener "Zentralrat" eine Spitze gab. Ein weiterer Fehler war, wie sich Lucas ausdrückte, daß kein Zug-um-Zug-Abkommen ausgehandelt wurde, um Vertragsbrüche sofort feststellen zu können: ein Teil der Roten Armee zieht sich zurück, dann ein Teil der Reichswehr usw. Watter selbst fühlte sich an keinen Waffenstillstand oder an ein Abkommen gebunden. Mit den ersten Apriltagen rücken Reichswehrtruppen in das Ruhrgebiet vor und verbreiten Schrecken und Terror. Bezeichnend mag eine Postkarte sein, auf der sich Soldaten vor toten Rotarmisten in Positur legen. Viele Arbeiter und mit ihnen auch viele als Sanitäterin tätigen Arbeiterinnen flohen in das bergische Land oder die von den Alliierten besetzte "neutrale Zone". Schlimmer aber als all dies ist das Schweigen, das über diese Ereignisse gelegt wurde. Wie schrecklich mußte es für die Überlebenden gewesen sein, später nie wirklich über diese Erfahrungen sprechen zu können. "An und für sich bin ich überrascht, daß sich nach dieser Zeitspanne noch Menschen finden, denen das damalige Geschehen etwas sagt." So schrieb ein Teilnehmer an E. Lucas [7]. Es liegt an uns, diese Erfahrungen wieder lebendig werden zu lassen und aus ihnen ohne Heroisierung und mit kritischem Verstand für die Zukunft zu lernen.

E-Mail: St.Junker@gmx.de

Anmerkungen:

[1]‍ ‍Selbst Richard Löwenthal will diesen Gegenstand nicht übersehen: "Der sogenannte Ruhrkrieg im März und April 1920 unterscheidet sich von den zahllosen Erhebungen und Unruhen in der Frühzeit der Weimarer Republik zunächst einmal durch seinen Umfang: binnen weniger Tage entstand eine Arbeiterstreitmacht, deren Stärke auf dem Höhepunkt des Aufstandes (in der letzten Märzwoche) von den Zeitgenossen auf mehrere zehntausend Mann geschätzt wurde." So im Vorwort zu Eliasberg, George: Der Ruhrkrieg von 1920. Bonn, Neue Gesellschaft 1974.

[2]‍ ‍Frauen waren nur tätig im Sanitätswesen, nicht als Kombatantinnen. Selbst die Vollzugsräte hoben nach den Siegen die ungleiche Bezahlung zwischen Frauen und Männern nicht auf. Umso bewundernswerter ist die Opferbereitschaft der Frauen, auch ihre Spontaneität und Freiwilligkeit. Sicherlich kam es zu sexuellen Kontakten der beiden Geschlechter bei der Roten Armee. Ihre Anwesenheit erregte auch bei Führern der Roten Armee Unwillen. Hier zeigt sich erneut, wie sehr die Revolutionäre noch in alten Traditionen verhaftet waren. Der Stadtkommandant von Duisburg, Münzberg, äußerte sich offen antisexuell, er wolle Liebe an der Front mit dem Tode bestrafen. Lucas, Band II, 81ff. Aus diesem Grund verwende ich die männliche Form "Arbeiter" vorwiegend, wenn auch von Männern die Rede ist, also von an der Front kämpfenden Arbeitern und nicht kämpfenden Arbeiterinnen und Arbeitern.

[3]‍ ‍"Daß die Enttäuschung über Lassalles unselige Illusion eines sozialistischen Eingreifens einer preußischen Regierung kommen wird, ist über allen Zweifel erhaben. Die Logik der Dinge wird sprechen. Aber die Ehre der Arbeiterpartei erheischt, daß sie solche Trugbilder zurückweist, selbst bevor deren Hohlheit an der Erfahrung geplatzt ist. Die Arbeiterklasse ist revolutionär oder sie ist nichts." Marx an Johann Baptist von Schweitzer am 13. Feb. 1865. In MEW 31, 445.

[4]‍ ‍Ich beziehe mich hier auf die großartige Darstellung des leider viel zu früh verstorbenen Erhard Lucas. Märzrevolution. 3 Bde. Frankfurt a.M., Roter Stern 1994, 1983, 1978. Es ist bezeichnend für die Historikerzunft in diesem Lande, daß Ulrich Kluge in seinem Werk über die deutsche Revolution, das beansprucht, einen Überblick über die Ereignisse zu geben, bei der Darstellung der Märzrevolution die 1000‍ ‍Seiten umfassenden Bände von E. Lucas unerwähnt läßt. Kluge, Ulrich: Die deutsche Revolution 1918/1919. Frankfurt a.M., Surkamp 1985.

[5]‍ ‍Anfang 15. November trafen sich Carl Legien von der Gewerkschaftsführung und Hugo Stinnes, der für Unternehmerverbände sprach, und vereinbarten die sogenannte Zentralarbeitsgemeinschaft. Siehe hierzu auch Heinrich Neuhaus in Inprekorr Nr. 1/2011, 25.

[6]‍ ‍Sipo ist die Kurzform für Sicherheitspolizei.

[7]‍ ‍Lucas, Erhard: Vom Scheitern der deutschen Arbeiterbewegung. Frankfurt a.M., Stroemfeld/ Roter Stern 1983, 7.

Raute

Barbara Eder
"The proof of the pudding is in the eating"
Klasse, Klassenbewusstsein und die Frage nach der gesellschaftlich notwendigen Form der Vermittlung
"Jetzt spiegelt sich der gesellschaftliche Kampf in einem ideologischen Kampfe um das Bewusstsein, um Verhüllung oder Aufdeckung des Klassencharakters der Gesellschaft. Aber die Möglichkeit des Kampfes weist bereits auf die dialektischen Widersprüche, auf die innere Selbstauflösung der reinen Klassengesellschaft hin."[1]
"Wer wird die Welt verändern? Die, denen sie nicht gefällt!" [2]

Eine grundlegende Kategorie, die einst als Indikator zur Bestimmung der gesellschaftlichen Position ganzer Gruppen diente, scheint heute weitgehend in Vergessenheit geraten zu sein. Es war die Kategorie der sozialen Klasse, durch die innerhalb einer marxistisch orientierten Wissenschaft von der Gesellschaft die Lebensverhältnisse von Kollektiven bezeichnet werden konnten, die in Absehung von wesensmäßigen Eigenschaften und moralischen Attributionen durch ihre Stellung im Produktionsprozess charakterisiert wurden. Jene mit dem Insistieren auf einem Primat des Ökonomischen im Bereich der Lebensführung verknüpfte Klassenkategorie ist mit der Dominanz von Schichttheorien seit Beginn der 1970er Jahre am sozialwissenschaftlichen Horizont indes nur mehr bedingt auffindbar (vgl. Geißler 1996). Schichtmodellen liegt nicht nur ein wesentlich harmonischeres Bild von sozialer Ungleichheit zu Grunde, sondern auch die weitgehende Vernachlässigung von Ansätzen zur Erklärung jener gesellschaftlichen Antagonismen, die zur Spaltung von Gesellschaft gegen Ende des 19. Jahrhunderts in die Interessen von lohnabhängigen ArbeiterInnen und kapitalbesitzenden ProduktionseigentümerInnen führte.

Selbst wenn es andere Teilungen sind, die zum Widerspruch von Kapital und Lohnarbeit hinzugetreten sind, so wird der Skandal einer nach wie vor auf ökonomischer Ungleichverteilung beruhenden Gesellschaftsordnung nur mehr selten moniert (vgl. Kreckel 1998). Stattdessen wird von einer angeblich neuen und transversal zur Klassenlage stratifizierten Prekarität als Lebens- und Berufsrisiko gesprochen, die - anders als Statistiken zur Klassenmobilität dies belegen - schichtindifferent konstatiert wird.[3] Der als temporär angenommene Seinszustand der "Prekären" wird zudem nicht selten mit der Möglichkeit eines munteren Auf und Ab entlang der Stufenleiter einer "Multioptionsgesellschaft" (Pongs/Gross 1999) assoziiert, die unter den Bedingungen des Vorhandenseins bestimmter kognitiver Ressourcen der Individuen Aufstiege und Quereinstiege jederzeit zulässt.[4] In Kontrast zur euphorischen Flexibilisierungsrhetorik der ersten Generation von Ich-AGs und kreativen Online-ProletarierInnen bedeutet Prekarität realiter die Widerruflichkeit des Lohns auf Grund von Zeitarbeit oder nach Werk abgerechneten Tätigkeiten, wechselnde, unsichere Dienstverhältnisse ohne rechtliche Absicherung und mit dem damit einhergenden Verlust des Anspruchs auf Sozialleistungen sowie verstärkter Druck infolge von flexiblen Identifizierungen, die sich an der jeweils am Markt nachgefragten Tätigkeit orientieren.

Prekarität ist eine strukturelle Reaktion auf die seit den 1980er Jahren andauernde Krise des westlichkapitalistischen Wohlfahrtsstaates und manifestiert sich makrostrukturell in der Destabilisierung von Positionen am Arbeitsmarkt infolge der rechtlichen und ökonomischen Grundlegungen für atypische Beschäftigungsverhältnisse. Auf Grund ihrer erhöhten ökonomischen Vulnerabilität machen Prekäre zwangsläufig die Erfahrung von gesellschaftlicher Randständigkeit und sozialer Stigmatisierung, die sich in Armut, sozialer Ausschließung, dem Defizit an Anerkennung und dem Erleben starker Hierarchien infolge der dem Erwerb zu Grunde liegenden Ausbeutungsverhältnisse manifestiert. Dimensionen gefühlter Unsicherheit erstrecken sich indes bereits weit in die Mittelschichtsmilieus hinein. Historisch betrachtet bedeutet Prekarität die moderne Wiederkehr des Tagelöhnertums. Ohne Ankoppelung des Konzepts der Prekarität an den Bereich der soziologischen Ungleichheitsforschung lanciert der Prekaritätsdiskurs Christoph Reinprecht zufolge indes jenes durch neoliberale Ideologen forcierte "Leitbild individualisierter Selbstoptimierung" (Reinprecht 2008, 13).

Die mit der Prekarisierung von Lebens- und Arbeitsverhältnissen einhergehende "Refeudalisierung sozialer Ungleichheit" (Reinprecht 2008)‍ ‍wird medial und politisch nur bedingt als Folgewirkung einer veränderten ökonomischen Situation infolge der kapitalistischen Entwicklung begriffen; eher wird Prekarität als Ausdruck eines sich im Lebensstil manifestierenden Bewusstseinszustandes begriffen, der mit neuen Freiheiten und anderen Risken einhergeht (vgl. Meschnig/Stuhr 2003). Infolge der Ausblendung des Sachverhalts, dass wir in einer ökonomisch nivellierten und folglich nach oben gefahrenen Klassengesellschaft leben, in der Klasse, Geschlecht und nationale Zugehörigkeit nach wie vor Einkommensverhältnisse und Lebenschancen bestimmen, wird die Wiederkehr der Prekarität nicht etwa zum Impetus für gesellschaftliche Egalisierungsforderungen herangezogen; stattdessen wird eine neue Unterschicht entdeckt, in der die seitens der Mittelschicht befürchtete - und durchaus reale - Angst vor dem eigenen Abstieg eine Projektionsfläche ex negativo erhält.

Den Gründen dafür, dass in bürgerlichen Medien ebenso wie in der BILD-Zeitung keine oder falsche Schlüsse über die sich im zunehmendem Auseinandertriften von Ober- und Unterschicht manifestierende Verfasstheit von Gesellschaft gezogen wurden, wird im folgenden Text nachgegangen. Sozialwissenschaft wird in diesem Zusammenhang als Bestandteil des gesellschaftlichen Subsystems Wissenschaft aufgefasst, das mit dem Verlust des Anspruchs auf Ideologiekritik die Deutungsmacht über Ursachen und Entstehung sozialer Ungleichheit weitgehend eingebüsst hat. Mit dem Verschwinden des nochmals in strikter Abgrenzung von der Kategorie der Klasse definierten Klassenbewusstseins aus dem sozial-wissenschaftlichen Inventar wird nicht länger der Anspruch auf Überwindung der bestehenden Klassenherrschaft gestellt. Wohl mag eine sich als kritisch bezeichnende Sozialwissenschaft immer wieder die Relevanz der Kategorie Klasse im Sinne eines restringierenden Faktors im Hinblick auf Bildungschancen, die Teilhabe am angeblich universalen Wohlstand und im Hinblick auf die Konstatierung "feiner Unterschiede"[5] im Bereich kultureller Artikulation moniert haben. Von Klassenbewusstsein im Sinne einer ganz und gar konstruktionistischen Kategorie, die nicht einfach Abbild materieller Verhältnisse und infolgedessen eben nicht Resultat wirtschaftlicher Konstellationen ist, konnte im sich szientifisch gerierenden Wissensfeld der Sozialwissenschaft indes allein schon deshalb nie die Rede sein, weil dort das Bewusstsein dafür fehlt, dass Klassenbewusstsein stets in vermittelter Form auftritt und infolgedessen nie aus ökonomischen Faktoren deduzierbar ist. Vielmehr bildet Klassenbewusstsein sich durch hochgradig vermittelte Prozesse aus, die von ökonomischen Faktoren beeinflusst werden, ohne aber durch diese vollständig determiniert zu sein. Die epistemologische Herangehensweise bei der Rekonstruktion der Absenz der geschichtsmächtigen Denkkategorie des Klassenbewusstseins ist eine historisch-genealogische, die mit einer Kritik an der dominanten und aus diesem Grund zur Selbstneutralisierung tendierenden Ideologie des Neoliberalismus einhergeht.


"Eine Klasse für sich?" - Zur medialen Modellierung sozialer Ungleichheit

Strukturell betrachtet sind Deutschland und Österreich Gesellschaften mit starker nach Geschlecht stratifizierter ökonomischer Ungleichverteilung. 1 Prozent der statistisch verzeichneten EinwohnerInnen der Bundesrepublik Deutschland verfügt über 23 Prozent des gesamten Vermögens in Deutschland, dem reichsten Zehntel gehören sogar 61,1 Prozent davon und das gesamte Betriebsvermögen aller BundesbürgerInnen befindet sich in den Händen von 4 Prozent, zu denen laut sozioökonomischem Panel aus dem Jahr 2007 ebenso Kleinstbetriebe wie FriseurinhaberInnen und MetzgermeisterInnen gezählt wurden. Im oberen Einkommensdrittel werden 35,8 Prozent aller Einkünfte eingenommen, während im unteren Drittel nur Schulden gemacht werden (vgl. Herrmann 2012, 33ff.). Ebenso signifikant ist die Korrelation von niedrigem Einkommen und Lebenserwartung: Nur 79 Prozent der GeringverdienerInnen erreichen überhaupt das Rentenalter, bei einkommensstarken Personen sind es hingegen 91 Prozent (ibid., 175). Der Empfang von staatlichen Transferleistungen ist infolge des Zurverfügungstehens am Arbeitsmarkt mit Zwangsvermittlungen und dem verstärkten Druck, Finanzen offenzulegen, verbunden, während Personen, deren Nettoeinkommen das von 180.000 Euro jährlich übersteigt, nicht einmal mehr im Mikrozensus erfasst werden und ihre Einkommenslage folglich nicht in diesem Maße transparent machen müssen (ibid., 29).[6] Berücksichtigt man zudem die "feinen Unterschiede" im Hinblick darauf, wie welche Arbeit von wem verrichtet wird, dann wird man diesbezüglich starke Differenzen vorfinden: Während körperlich harte und gesundheitsschädigende Tätigkeiten im Produktionsbereich an Unterschichtsangehörige mit zumeist migrantischem Hintergrund ausgelagert werden, zelebrieren Angehörige der Mittelschicht ihre Arbeit indes als "Performance", die zwar "anstrengend" ist, weil sie den sozialen Konventionen nach so repräsentiert werden muss, aber nicht primär auf die Erledigung einer Aufgabe abzielt: Vielmehr geht es bei einem Einkommen von 2.000 Euro aufwärts um die Darstellung von Arbeit im Kreislauf des Systems von Erschöpfung und konsumptiver Belohnung, die zum Zweck der Selbstlegitimation mit einem biografischen Mythos ausgestattet wird. Während oben delegiert und damit auch mit der Verrichtung einer Tätigkeit durch andere spekuliert werden kann, ist die im unteren Klassendrittel verrichtete Arbeit Teil einer "symbolischen Politik"[7] (Seeßlen/Metz 2011, 262) der Vernichtung im Sinne sozialer Selektion zum Zweck der Konstanthaltung der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung und der Verhinderung möglicher Aufstände.

Folgt man indes den Selbstbeschreibungen der im Hinblick auf ihre Klassenzugehörigkeit Befragten, dann zählen sich mit einigen Ausnahmen nahezu alle - von Erwerbslosen bis hin zu SpitzenverdienerInnen - zur sogenannten Mittelschicht. Obgleich sich satte 25 Prozent der Befragten weit unterhalb der ökonomischen Kriterien befinden, durch die die Zugehörigkeit zur Mittelschicht bestimmt wird, verorten sich nur 3 Prozent unterhalb dieser Skala. Als reich gilt abseits eines klar definierten Einkommens immer, wer die einige 100 Euro mehr als eins selbst verdient - dies gilt auch in Bezug auf die Selbsteinschätzung, die MilliardärInnen von sich haben (vgl. Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2008). Selbstbeschreibung und Fremddefinition triften diesen Befunden zufolge stark auseinander. Dies mag auch auf das Stigma der Unterschichten-Attribution und die damit einhergehenden Konnotationen zurückgehen: Klassenzugehörigkeit wird nicht länger als produktiver Faktor im Prozess der Bildung einer "Klasse für sich" aufgefasst, sondern vielmehr als schambesetzte Fremddefinition wahrgenommen. Dies resultiert daraus, dass Armut im Neoliberalismus als Resultat eines selbstverschuldeten Elends gilt und es infolgedessen keine klassenadressierenden Formen von Politik im Sinne einer "Option für die Armen" mehr gibt.

Im Hinblick auf die Desavouierung klassenmäßiger Verfasstheiten hat das vormalige Leitmedium Fernsehen als Paralleldiskurs zum sozialwissenschaftlichen Differenz-management ein paradoxes Wissen um eine sogenannte neue Unterschicht etabliert, die als wandelnde Visiotype den Weber'schen Idealtypus[8] beerbt hat. Bei der neuen Unterschicht handelt es sich um eine durch spefizische Bildpolitiken unterstützte Erfindung, die in Zeiten der Ausweitung neoliberaler Regierungstechnologie Vorstellungen wie jene von Eigenverantwortlichkeit und Leistungsfähigkeit mit dem Zweck der ideologischen Legitimation des Rückzugs des Sozialstaates in umgekehrter Weise darstellen soll. Über die dazugehörigen Bilder sowie die damit einhergehende Form der negativen Spiegelung, die stets mit einem "delegierten Genießen" (Zizek) einhergeht, schreiben Seeßlen und Metz:

"Die entfesselte Dummheit des Neoliberalismus erzeugt den Menschen, der zugleich Tier und Maschine werden will. Oder Haustier und Ware, wie man es nimmt. Alles, was tröstet, ohne anzustrengen, denken wir dem Insassen der neuen Unterschicht zu: Schnelles, fettes und fettmachendes Essen, Alkohol und Nikotin, Entertainment der herbsten wie der sentimentalsten Art, 'animalischen' Sex, Kinder und Haustiere. Dieser Mensch, sehen wir ihn uns beim Gang zum Gratisladen an, wird den Dingen, die er sich zum Trost hält, selbst immer ähnlicher, ein wandelnder Schokoriegel in obszöner Kleidung, der verzweifelt versucht, noch blöder zu gucken als sein Hund, qualmend und überschwappend wie ein Bierglas. Aber halt! Was geschieht da zwischen Blick und Bild? Der Anteil der realen Menschen, die sich nach diesem Bild verhalten, ist eher gering." (Seeßlen/Metz 2011, 99)

Im Anschluß an die Entdeckung neuer Unterschichten wurde der diesem Umstand zu Grunde liegende Skandal systematisch erzeugter Ungleichheit vornehmlich unter Rückgriff auf Bilder, die der Plausibilisierung der wesensmäßigen Existenz der dazugehörigen Schicht dienen, decouvriert. Anstelle einer politisch notwendigen Recodierung der Klassenkategorie bedienten sich weite Teile der bürgerlichen Presse neoliberaler Deutungsmuster zur Erklärung der Lage der Anderen. Die Lage der Unteren wurde als Resultat eines "selbstverschuldeten Ausschlusses"[9] interpretiert, während die eigenen ökonomischen Privilegien, die zumeist durch Vererbung und geschickte Heiratspolitik über Generationen in ein und derselben Familie bleiben, durch Gesten und Rhetoriken der "Selbstdistinktion"[10] verteidigt werden. Diesbezügliche Argumente reichen seit Max Webers Studien zum modernen UnternehmerInnentum von religiös imprägnierten Formen der Statusverteidigung - etwa die "Gottgewolltheit"[11] des eigenen Besitzes -, dem damit zusammenhängenden "Berufsethos"[12], dem bedingungslosen "Willen zur Leistung"[13] bis hin zu einem Instistieren auf eine aus der genetischen Veranlagung deduzierbare "intellektuelle Überlegenheit", die insbesondere die Angehörigen einer sich neuerdings als "national" definierenden Elite ins Feld führen, die die ökonomische Fundiertheit des gesellschaftlichen Seins als Epiphänomen von Kultur und kultureller Zugehörigkeit interpretieren.[14] In Einklang mit der herrschenden Ideologie scheint laut Auskunft ihrer ProfiteurInnen die "unsichtbare Hand des Marktes" mehr Distributionsgerechtigkeit zu kennen als staatlich verordnete Instrumente zum Austarieren sozialer Ungleichheit.

Medial erzeugte Bilder wie jene von chipsmümmelnden Kindern, vollalkoholisierten HundebesitzerInnen und anderen als anarchisch desubjektiviert dargestellten LeistungsempfängerInnen, die nur mehr als Wartenummern am Arbeitsamt existieren, werden vornehmlich dort distribuiert, wo der "nicht-dumme Proletarier" ebenso wie "der kluge Kolonialisierte" nach wie vor "die grösste Gefahr für die Zentren von Macht und Reichtum, gleichgültig ob sie sich in Form der Emanzipation oder der Revolte zeigte", darstellt (Seeßlen/Metz 2011, 96). Es gibt folglich eine überhistorische Fortdauer jenes Gefahrenmoments, das hundert Jahre früher noch mit Hilfe einer genuinen und zumeist der staatlichen Zensur[15] überführten Bildpolitik zum Ausdruck gebracht werden konnte. In Abgrenzung von der sozialpartnerschaftlichen Ästhetik in Fritz Langs "Metropolis" (D 1927), in dem die für die Stellung im Produktionsprozess signifikante und durch das Mittel der Personifikation dargestellte Kluft zwischen Hand- und Kopfarbeit mit Hilfe einer Beschwörung der integrativen Kräfte des Herzes nur vermeintlich überwunden werden kann, gab es nahezu zeitgleich Bilder vom autonomen Lebensentwurf der sozialistisch eingestellten Tochter einer verpfändeten ProletarierInnenfamilie, die in der Erwerbslosen-Siedlung "Kuhle Wampe" am Stadtrand von Berlin ihrer vormaligen Hoffnung auf Arbeit einen symbolischen Ausdruck verliehen hat. Auf einem Grabstein im Eingangsbereich zur Kommune befindet sich in Reaktion auf die Einsicht, dass es in Zeiten der Massenarbeitslosigkeit keine Arbeit gibt, die Inschrift "Hier haben wir unsere letzte Hoffnung auf Arbeit begraben."[16]

Die Bezeichnung "Unterschicht" ist heute nicht viel mehr als ein Signum jener Gespenstigkeit, die semantisch noch Remineszenzen an den topografischen Aufenthaltsort einer verfemten sozialen Gruppe erweckt. Der auch mit terminologischen Mitteln in ihrer wehrhaften Funktion unsichtbar gemachte "Unterschicht", deren Lebensbedingungen Emil Kläger und Max Winter um 1900 nicht allein mit sozialkritischem Impetus, sondern vor allem auch mit dem Ziel der Disziplinierung und Überführung in den sozialdemokratischen Parteikorpus in den Tiefen der Wiener Kanalisation nachspürten, wird unter dem heutigen Druck journalistischer Mitteilbarmachung weder das Potenzial zugebilligt, Geschichte zu haben noch zum exemplarischen Subjekt derselben werden zu können (vgl. Kläger 1908 und Winter 1905). Die Sichtbarmachung der Unteren erfolgt nicht anders als damals jedoch nicht im Modus der Selbstrepräsentation, sondern im Rahmen einer forschungstechnischen und journalistischen Praxis, die im apperzeptiv-empirizistischen Apriori stagniert und die auf diese Weise gewonnenen Sozial-Szenen anschließend entlang einer impliziten Werteskala ordnet. An den der Entstehung einer Schicht der Unteren wird ebenso wenig Kritik geübt wie die Ursachen mit Rekurs auf die Existenz einer Klassengesellschaft erhoben werden. Der Preis einer Abkehr vom historischen Materialismus im Sinne eines historisch kontingenten Erklärungsmodells ist jedoch nur vermeintlich jener der Ideologiefreiheit: "Während der dialektische Materialismus eine Form der Ideologie 'Wissenschaft' nannte, nennt der Neoliberalismus/Neopositivismus eine reduzierte Form der Wissenschaft 'Ideologie'" (Kiss 2011, 14).


Das notwendig eingebildete Bewusstsein - Georg Lukács, Herr Dübel und die Frage nach der gesellschaftlichen Vermittlung von Klassenbewusstsein

Georg Lukács, der die Klassenkategorie stets in strikter Differenz von jeglicher Form der empirschen "Meinungsforschung" (Lukács 1967a, 18) bestimmte, hätte jenes im Film "Kuhle Wampe oder wem gehört die Welt" (D 1932) durch die sozialistische Tochter der ArbeiterInnenfamilie Bönicke sukzessive entwickelte und heute weitgehend vergessene Klassenbewusstsein auch auf das Fehlen adäquater Instrumente der "Vermittlung als methodischen Hebel zur Überwindung der bloßen Unmittelbarkeit der Empirie" (Lukács 1967b, 286) zurückgeführt. Folglich gibt es einen Zusammenhang zwischen Klassenbewusstsein und jenen gesellschaftspolitischen Instanzen, die bei Lukács nicht nur Instrumente der Vermittlung, sondern gleichsam solche zur Formierung von Klassenbewusstsein sind. Der zu vermittelnde Erkenntnisinhalt - das Klassenbewusstsein - wirkt somit in doppelter Weise auf das das erkennende Subjekt zurück, das infolge der Bewusstwerdung vom Objekt zum Subjekt der Erkenntnis wird. In strikter Abkehr von jeglicher transzendental-idealistischen Bestimmung schreibt Lukács über das Verhältnis von Unmittelbarkeit und Vermittlung:

"Das Hinausgehen über die Unmittelbarkeit der Empirie und ihre ebenso bloß unmittelbaren rationalistischen Spielregeln darf sich also zu keinem Versuch, über die Immanenz des (gesellschaftlichen) Seins hinauszugehen, steigern, wenn dieses falsche Transzendieren nicht die Unmittelbarkeit der Empirie mit all ihren unlösbaren Fragen in einer philosophisch sublimierten Weise noch einmal fixieren und verewigen soll. Das Hinausgehen über die Empirie kann im Gegenteil nur soviel bedeuten, dass die Gegenstände der Empirie selbst als Momente der Totalität, d. h. als Momente der sich geschichtlich umwälzenden Gesamtgesellschaft erfasst und verstanden werden. (...) Diese kann aber erst infolge des Aufgebens der falschen Einstellung des bürgerlichen Denkens an den Gegenständen zum Vorschein kommen und ins Bewusstsein gehoben werden. Denn die Vermittlung wäre unmöglich, wenn nicht bereits das empirische Dasein der Gegenstände selbst ein vermitteltes wäre, das nur darum und insofern den Schein der Unmittelbarkeit erhält, als einerseits das Bewusstsein der Vermittlung fehlt, andererseits die Gegenstände (eben deshalb) aus dem Komplex ihrer wirklichen Bestimmungen gerissen und in eine künstliche Isolation gebracht worden sind." (Lukács 1967b, 287)

In Rekurs auf jene Tradition der marxistischen Erkenntnistheorie, deren VertreterInnen in strikter Abkehr von einer rein idealistischen Konzeption der Erkenntnis die Idee verwerfen, dass die materielle Realität an sich erkennbar wäre, nicht aber damit in Frage stellen, dass diese durch eine vermittelnde Praxis zu begreifen ist, verabsolutiert Lukács den Praxisbegriff des historischen Materialismus zu Gunsten eines selbstreflexiven und durch die Praxis der politischen Aneignung mehrfach gebrochenen Idealismus:

"Denn die Annahme, dass die Umwandlung des unmittelbar Gegebenen in wirklich erkannte (nicht nur unmittelbar bekannte) und darum wirklich objektive Wirklichkeit, also die Wirkung der Vermittlungskategorie am Weltbild nur etwas 'Subjektives' nur eine 'Bewertung' der dabei 'gleichbleibenden' Wirklichkeit sei, heisst soviel, wie der objektiven Wirklichkeit wieder einen Ding-an-Sich-Charakter zuzusprechen. Freilich behauptet jene Art von Erkenntnis, die diese 'Wertung' als bloß 'Subjektives' als das Wesen der Tatsachen nicht Berührendes auffasst, gerade zu der tatsächlichen Wirklichkeit vorzudringen. Ihre Selbsttäuschung liegt darin, dass sie sich zu der Bedingtheit ihres eigenen Standpunktes (und besonders zu dessen Bedingtheit durch das ihm zu Grundeliegende gesellschaftliche Sein) unkritisch verhält." (Lukács 1967b, 267)

Im Rahmen von Lukács Erkenntniskonzeption ist Erkenntnis von Wirklichkeit im Sinne der Erkennbarkeit materieller Verhältnisse in Rekurs auf die Interpretation der 11. Marx'schen Feuerbach-These nur insofern möglich, als diese durch den gestaltenden Zugriff vermittels der politischen Praxis begriffen wird. Im Moment der schöpferischen Aneignung tritt Realität indes bereits als veränderte hervor. Die auf diese Weise vonstatten gehende Transsubstantion des An-Sich schafft das Objekt der Erkenntnis im Moment seiner Veränderung. Ähnlich wie Lenin, der auf der Erkennbarkeit von Objekten außerhalb des praktischen Zugriffs insistiert, hält Lukács jedoch an einer ideellen Determination der materiellen Verhältnisse fest;[17] in einer kapitalistischen, sich auf die Distribution und Erzeugung von Warenfetischen stützenden Gesellschaft ist materielle Realität jedoch selbst als vermittelte nicht erkennbar, weil diese nicht nur die Verdinglichung der Erkenntnissubjekte voraussetzt, sondern materielle Realität auch mit dem sich in der Ware inkarnierenden falschen Schein umgibt. Die Ware wird gleichsam zum "Ding an sich", das seine menschliche Gemachtheit und damit die gesellschaftlich-historische Dimension verschleiert.

Infolge des damit einhergehenden Unsichtbarmachens des Prozesses der Vermittlung selbst suggerieren jene der warenproduzierenden Gesellschaftsform immanenten Vermittlungsinstanzen nicht nur, Wirklichkeit als unvermittelte darzustellen; Medien vermitteln folglich nicht nur falsche Authentizität oder zusammenhanglose Beliebigkeit, sondern bringen damit auch das eigentliche Movens des historischen Prozesses durch Passivierung und Stigmatisierung zum Schweigen. Anstelle der Übernahme des aus sozialistischer Perspektive epistemologisch privilegierten und infolgedessen objektiven Standpunkts eines neuen, wesentlich inhomogener als zuvor bestimmten Proletariats, dem anno dazumal "die objektive Erkenntnis des Wesens der Gesellschaft" (Lukács 1967b, 267) infolge des Zusammenfallens von Geschichte und Genesis möglich war, erfolgt Vermittlung heute stets von oben herab. Andernfalls wäre ein (w)ehrhafter Proletarier namens Herr Dübel, der als "Arbeitslos-und-Spaß-dabei"-Darsteller[18] im deutschen Talk-TV Karriere machte, in Reaktion auf die von ihm verlautbarte Großzügigkeit, durch das eigene Ausscheiden aus dem Produktionsprozess die Arbeitsplätze anderer zu sichern, nicht pathologisiert und anschließend im Arbeitslager von RTL resozialisiert worden, wo man ihn mit sozialsadistischem Distinktionsgewinn beim unentgeltlichen Reifenwechsel ebenso beobachten konnte wie bei der unbezahlten Beseitigung von tierischen Exkrementen. Abseits von derartigen Verblendungszusammenhängen gibt es Lukács zufolge "eine klassenmäßig bestimmte Unbewusstheit über die eigene gesellschaftlich-geschichtliche ökonomische Lage" (Lukács 1920, 128), deren Bewusstwerdung weder mit der Sendung von Sequels zur televisuellen Zwangsarbeit einhergeht noch mit den falschen Folgerungen, die zur Erklärung der bestehenden Klassenherrschaft herangezogen werden. Ist es etwa doch jene kritische Sozial- und Geschichtswissenschaft, der Lukács eine hegemoniale Funktion im Prozess dieser Erkenntnis zubilligte und die zur Aufklärung derzeit beiträgt und?

Unter Rückgriff auf die Vorstellung einer notwendigen Überwindung der bestehenden Klassengesellschaft könnte der Befund ökonomischer Ungleichheit nicht nur zum Ausgangspunkt für politische Bewegungen werden, sondern auch zum genuinen Gegenstandsbereich der gegenwärtigen Sozialwissenschaft. Im Zuge der Aufspaltung der Sozialwissenschaft in einen qualitativen und einen quantitativen Bereich der Forschung - wobei letzterer zunehmend von StatistikerInnen mit volkswirtschaftlichem oder mathematischen Ausbildungshintergrund abgedeckt wird[19] - erfolgt seitens der Soziologie indes ein breites Angebot zur Beschreibung von Identitäten im Modus maximaler Ausdifferenziertheit.[20] Während der fordistischen Periode des Wohlfahrtsstaates wurde etwa eine Form der Gegenwartsbeschreibung favorisiert, die die sich im Lebensstil manifestierenden "feinen Unterschiede" in Abgrenzung vom Insistieren auf eine nach Klassen geteilte Gesellschaft stark aufwertete. Im Zuge der historischen Ausnahmesituation der kapitalistischen Entwicklung im Europa der 1960er und 1970er Jahre sprach man in euphemistischer Antizipation des Soll-Zustandes nicht länger von sozialer Exklusion im Sinne der Konstatierung eines "harten" Ausschlusses von Personengruppen von zentralen Institutionen der ökonomischen Reproduktion innerhalb der Gesellschaft, sondern vielmehr von Prozessen temporärer Ausschließung.[21] Erst zu Beginn der 1990er setzte eine erneute Gewichtung des ökonomischen Fundaments identitätsbedingter Exponiertheiten ein: Durch neue soziale Bewegungen wie etwa die Zweite Frauenbewegung und die Queer-Bewegung inspiriert, fand die Kategorie der Klasse starke Berücksichtigung im Rahmen des aus feministischen und (post-)kolonialen Ansätzen hervorgegangenen "Intersektionalitätsparadigmas". Die Mannigfaltigkeit von Unterdrückungs- und Ausbeutungsverhältnissen sollte unter Rückgriff auf den wechselnden Bedingungs- und Verweiszusammenhang von Geschlecht, Rasse und Klasse erneut beschrieben werden können.[22] Fragen der Vermittlung von Klassenbewusstsein werden in diesem Zusammenhang indes ebensosehr marginalisiert wie Möglichkeiten, Klasse in einem ganz und gar konstruktionistischen Sinne zu denken.

Als reduktionistische Kategorie im Zusammenspiel mit anderen Faktoren wird soziale Klasse ebenso im Rahmen der postoperaistischen Theorie modelliert. Toni Negri und Michael Hardt führen den Verlust von Klassenbewusstsein auf die Veränderungen zurück, die der Kapitalismus des 19. Jahrhunderts auf seinem Weg hin zum "kognitiven Kapitalismus" durchlaufen hat. Seit Beginn der 1970er Jahre stellten die AutorInnen eine zunehmende Ausdehnung der Produktion auf vormals nicht produktivierbare Bereiche des Lebens fest, die zur Veränderung des Fundaments eines möglichen Klassenkampfes - "Biopolitik ist Klassenkampf im erweiterten Sinn" (Negri 2007, 28) - führten. Bisher unverwertet gebliebenen Tätigkeiten im Sinne eines "uneingelösten Vermögens, einer blockierten Potenzialität" (ibid., 30.) werden im Empire durch das transnational operierende Kapital angeeignet und urbar gemacht. Infolge der Ausrichtung von gegenwärtigen Regimes der Akkumulation auf die Produktivierung des Lebens (bios) selbst kann es kein Außen des Verwertungsprozesses mehr geben. Formen von "affektiver Arbeit", die bei Marx und Engels nicht Bestandteil der Sphäre der Wertschöpfung waren, sind im Empire ebenso Teil des kapitalistischen Produktionsprozesses wie jene von Erwerbslosen, ReproduktionsarbeiterInnen und "Armen", denen Negri und Hardt ein nicht näher definiertes "Tätigsein" im Sinne eines "uneingelösten Vermögens, einer blockierten Potenzialität" (ibid.) zuschreiben. Insbesondere jene Angehörigen der durch die viktimisierende Anrufung als "Lumpenproletariat" definierte Klasse, deren Tätigkeit nicht auf die unmittelbare Produktion von Mehrwert ausgerichtet ist, sind bei Negri und Hardt "nicht nur Ausgeschlossene", sondern "exemplarischen Subjekten der Ausbeutung" (ibid.).

Im Hinblick auf die Traditionen und Geschichte(n) einer vormals homogen gedachten Kategorie reicht der mit dem Insistieren auf der Möglichkeit einer reinen Empirie einhergehende Deutungsverzicht ebenso wenig zur Neukonstitution des Klassenstandpunktes unter veränderten politischen Vorzeichen aus wie jene subjektlose Politik der Inklusion, die Negri und Hardt - wenngleich vor dem Hintergrund einer angestrebten Überwindung des Empire - mit dem Ziel der Mobilisierung aller, die ihre Arbeit als ausgebeutete darzustellen vermögen, propagieren. Obgleich infolge der gesellschaftlichen Transformation am Übergang vom Fordismus zum Postfordismus Prozesse der Klassenformierung durch die Veränderung des Stellenwerts der Lohnarbeit erschwert wurden, bleibt dennoch danach zu fragen, inwieweit jene Klasse, die Georg Lukács in ganz und gar konstruktivistischem Sinne einer Bewusstwerdung "das Proletariat" nannte und diese infolge der durch den Widerspruch zwischen Kapital und Lohnarbeit konstant vorangetriebenen Entwicklung eines Klassenbewusstseins mit der Funktion betraute, "identisches Subjekt-Objekt der Geschichte" (Lukács 1967a, 24) zu werden,[23] heute tatsächlich verschwunden ist. Wie sinnvoll ist ein Festhalten an Begriffen wie "dem Vorindividuellen"[24] in Anbetracht des damit einhergehenden Verlustes einer vormals geschichtsmächtigen Kategorie? Welches Problem der Vermittlung liegt diesem Verlust zu Grunde? Und wie müssten jene Instanzen der Vermittlung von proletarischem Klassenbewusstsein heute beschaffen sein, als deren zentrales Instrument Georg Lukács die Geschichtswissenschaft erkannte?


Zum Verhältnis von bürgerlicher Wissenschaft und wehrhaften Klassen

Die Sozialwissenschaft der Gegenwart mag zwar ein Instrument zur empirischen Feststellung von Klassenzugehörigkeit im Sinne einer Fremddefinition sein; keineswegs aber ist sie ein Organ der Vermittlung von Klassenbewusstsein. Sucht man nach den tieferen Ursachen dieses Umstands, dann beginnt der epistemische Bruch mit einer politisch revolutionär gesinnten Begriffsbildung bereits mit den Anfängen der modernen Lehre von Gesellschaft. Wo zur Mitte des 19. Jahrhundert noch in Reaktion auf die wachsende Armut von sich konstituierenden gefährlichen Klassen die Rede war, ersetzte die im Entstehen begriffene Soziologie ihr begriffliches Instrumentarium in bewusster Abgrenzung von der Disziplin der politischen Ökonomie um Begriffe wie Macht, Charisma, Beruf und Berufsethos.[25] Dieselbe Sozialwissenschaft, die zu diesem Zeitpunkt noch an den Fundamenten einer im Entstehen begriffenen Wissenschaft arbeitete, sollte im ausgehenden 20. Jahrhundert die marxistische Mitgift einer klassenmäßigen Geteiltheit der Gesellschaft mit den sich daraus ergebenden Antagonismen nicht einmal mehr erinnern. Der durch bürgerliche GeschichtsschreiberInnen forcierte Auszug der Kategorie des Klassenbewusstseins im Sinne eines generationen-übergreifenden und stets an Instanzen der Vermittlung gebundenen Bewusstseins bewirkt ein Erstarken von Geschichte im Raum einer Gegenwart, die von Fukoyama bis zu Samuel Huntington nach 1989 als Geschichte des siegreichen Parts - des Kapitalismus - recodiert wird. Infolge des Ausblendens der dialektischen Widersprüche zwischen den Klassen, die die historische Wirklichkeit vorantreiben, wird ein Denken von revolutionären Veränderungen infolge der Verabsolutierung des Verblendungszusammenhangs schlechterdings unmöglich. Marx (1859, 9) verband mit der proletarischen Revolution indes nicht das Ende der Geschichte, sondern ihren Beginn. Mit der Aufhebung des Fetischcharakters der Ware wird die Erkenntnis einer Wirklichkeit wieder möglich werden, die nur in dem Maße wirklich wird, wie Menschen vermittels des Prozesses ihrer Bewusstwerdung und durch ihn in den Zustand einer bewussten Gestaltung ihrer Lebens- und Produktionsverhältnisse eintreten.

Wenngleich die Remineszenz an jene sozialistische Hoffnung eindeutig politischer Natur ist, die mit dem aus einer bestimmten Form des gesellschaftlichen Seins erwachsenden Bewusstsein stets auch ein Bewusstsein adressierte, das die Überwindung der bestehenden "Klassenherrschaft" herbeiführen sollte, so wird Klasse infolge einer weitgehenden Pragmatisierung sozialwissenschaftlicher Denkkategorien zum Ergebnis des deskriptiv feststellbaren Sachverhalts eines monatlichen (Nicht-)Verdienstes. Endre Kiss zufolge ist dies auch auf jene die Gegenwart der Sozial- und Geisteswissenschaften bestimmende Symmetrie von Neoliberalismus und Postmoderne zurückzuführen, die eine fundamentale Umgruppierung der für den Prozess der Wissensgenerierung relevanten Episteme bedingt. Die Regulation von Begriffsbildungen erfolgt entlang eines neopositivistischen Settings, das Multiperspektivik gerade deshalb zur forschungslogischen Prämisse erklärt, weil dadurch "die grenzenlose und absolute Kritik mit der vollkommen garantierten Wirkungslosigkeit" (Kiss 2011, 13 kursiv im Original) friktionsfrei in Einklang miteinander gebracht werden können. Die neoliberale Überführung neopositivistischer Prämissen in den Bereich der Erkenntnissphäre führt zur argumentativen Zernierung jener Ideologeme, die unter der Voraussetzung einer vermeintlichen Neutralisierung im Bereich der Wertsphäre die Dominanz des "neopositivistischen Neoliberalismus" (ibid., 2) bewirken.[26] Infolge der bewussten Ausklammerung jener partialen Perspektive, die das Realitätsbewusstsein des Erkenntnissubjekts überhaupt erst hervorbringt, kann in der Postmoderne eine "virtuelle Ideologie" distribuiert werden, die "nach einer Einübung in die Differenzlogik, die auch Missionierung genannt wird, wie von allein entsteht." (ibid., 15)‍ ‍Die diesem Prozess vorausgehende idealistische Annahme der Existenz von Objekten im Bewusstsein führt nicht etwa dazu, dass in Abgrenzung von der materialistisch konzeptionierten Weltauffassung Bewusstsein von oder über etwa entstehen kann; vielmehr führt dies zur Rehabilitierung der Annahme einer Erkennbarkeit jenes "Ding-an-sich-Charakters" von Wirklichkeit, welcher historisch betrachtet immer dann beschworen wurde, wenn das Insistieren auf "das Unbewusste wie auch das strukturell Isomorphe im ursprünglichen Paradigma" (Kiss 2011, 15) die selbstreflexive, kommunikativ hergestellte und standortgebundene Herkunft von Wissen nahe legte.

Friedrich Engels zufolge kann Klassenbewusstsein jedoch auch in Absehung von adäquaten Instanzen der Vermittlung als jähe, unvorhersehbare und praxeologische Manifestation zu Tage treten. Um 1892‍ ‍hatte Engels dafür eine allgemeinverständliche Metapher im Modus pragmatisch orientierten, proletarischen Denkens gefunden. Daraufhin befragt, ob mit der Erkenntnis der eigenen Klassenzugehörigkeit zwangsläufig die Herstellung eines Klassenbewusstseins einherginge, antwortete dieser, dass das Essen selbst der Beweis für die Existenz eines Puddings sei - "The proof of the pudding is in the eating. Man prüft den Pudding, indem man ihn isst." (Engels 1892, 296). Folgt man diesem dezenten Hinweis, dann zeigt Klassenbewusstsein sich heute auch dort, wo dieses dem modus operandi der dazugehörigen Metapher sich nur in versteckter Form präsentieren kann. Diese Annahme sollten wir zum Ausgangspunkt für eine Lesart von Kämpfen nehmen, die noch im Latenzbereich jenes Klassenbewusstseins ausgefochten wurden und werden, das im Zuge von Bankenkrisen im "Lumpenproletariat der Finanzaristokratie"[27] erneut einen unmittelbar greifbaren Antagonisten im Sinne einer besitzenden Klasse erhält. Mit dem zunehmenden Druck zum Offenlegen des Privateigentums der herrschenden Klasse verändert sich zunehmend auch das Wissen um eine vormalige "Unbewusstheit über die eigene gesellschaftlich-geschichtliche ökonomische Lage" (Lukács 1920, 128) seitens der Subalternen; die multituda formidulosa findet statt und wird auch dann stattfinden, wenn ihre Repräsentation nicht Bestandteil von televisuellen Formen der Vermittlung ist. "The revolution will not be televised" - yet. Wir wissen warum.

E-Mail: barbara.eder@univie.ac.at

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"Arno Dübel - Sein letzter Auftritt?" / Bild TV 2010. Online unter http://www.youtube.com/watch?v=1bsH7caoJ1I&feature=related

"Arno Dübel - Deutschlands frechster Arbeitsloser" / Bild TV 2010. Online unter http://www.youtube.com/watch?v=sIE4hNDbHt4

"Deutschlands glücklichster Arbeitsloser" / Deutschlands Schrägste Typen, Serie / RTL 2010. Online unter
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Anmerkungen:

[1]‍ ‍Lukács 1920, 138

[2]‍ ‍Ausspruch einer jungen Erwerbslosen gegen Ende von Slátan Dudows Film "Kuhle Wampe oder wem gehört die Welt" (D 1932).

[3]‍ ‍Einem diesbezüglichen Trugschluss ist ebenso Pierre Bourdieu aufgesessen, der ungeachtet des höheren Vulnerabilitätsrisikos im Bereich der unteren sozialen Schichten aus Gründen der höheren Mobilisierbarkeit politischer AktivistInnen davon sprach, dass Prekarität "überall sei" und auch alle betreffen würde (vgl. Bourdieu 1998).

[4]‍ ‍Zu diesem euphemistischen Bild exemplarisch Friebe/Lobo 2006, die mit "Wir nennen es Arbeit" die kreationistische Vorstellung von einer sich aus autonomen WissensproduzentInnen rekrutierenden "digitalen Bohème" forcierten. Die AktivistInnen der Euro-Mayday-Bewegung erkannten bereits sehr früh, dass es nur bedingt sinnvoll ist, von Luxusprekarisierten wie der "kreativen Klasse", den "intellos précaires" oder der "digitalen Bohème" zu sprechen, vgl. diebszüglich das Manifest "Prekär, Prekarisierung, Prekariat. Bedeutungen, Fallen und Herausforderungen eines komplexen Begriffs und was das mit Migration zu tun hat" des Frassantio-Netzwerks (2005).

[5]‍ ‍Ein bemühter Versuch, den hochvermittelten Prozeß der Bewusstseinsbildung nicht reduktionistisch zu denken, findet sich bei Bourdieu (1998b), der in "Die feinen Unterschiede" dennoch in alte Determinismen verfällt.

[6]‍ ‍Die in diesem Absatz genannten Zahlen stammen aus Herrmann 2011, die sich auf aktuelle Erhebungen und Wochenberichte des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung bezieht.

[7]‍ ‍Georg Seeßlen und Markus Metz (2011, ibid.) schreiben im Hinblick auf die klassenmäßige Verteilung von Arbeit: "Arbeit ist totale Unterwerfung, Arbeit 'da unten' ist nicht Teil des Diskurses der Produktivität, sondern Teil des Diskurses der Macht (und schon damit ist Arbeit hier Teil des Todes)."

[8]‍ ‍Implizites Ziel der idealtypischen Methode ist die Bildung eines geschlossenen Systems von Begriffen im Sinne einer endgültigen Gliederung von sozialer Wirklichkeit. Entlang einer vertikalen Skala werden "Idealtypen" geschaffen, die infolge der Verdichtung und Zuspitzung von praxeologisch beobachtbaren Handlungs- und Verhaltensformen der Individuen kreiert werden. Das Ergebnis der typisierenden Verdichtung des Beobachteten, bei der Erkenntnisgenerierung vom Konkreten zum Abstrakten hin erfolgt, sind Max Weber zufolge Typologien, bei der ohne Rekurs auf Vorgefundenes Handlungsformen in begrifflicher Reinheit zu Tage befördern sollen. Die von Max Weber im Zusammenhang mit seiner Methode postulierte Prämisse einer "objektiven Wertfreiheit" wissenschaftlicher Erkenntnis, die infolge einer gemutmassten "absoluten Heterogenität" (Weber 1947, 1f.) von Werten und Tatsachen eingelöst werden soll, erscheint vor dem Hintergrund seiner Vorgehensweise indes höchst bedenklich. Der Idealtypus, verstanden als gedankliche Konstruktion zur Simplifizierung unüberblickbar gewordener Fakten, verdankt sich, wie Weber zugeben muss, einer "einseitigen Steigerung eines oder einiger Gesichtspunkte" (Weber ebd.) und ist damit wohl kaum als "wertfreier" Parameter der Wissensproduktion zu betrachten: Mit dem Weber'schen Postulat der Neutralität sozialwissenschaftlicher Erkenntnisgenerierung gehen diametral entgegengesetzte Zuschreibungsprocederes einher, die Wertungen enthalten, welche bereits in den gewählten Bezeichnungen zum Ausdruck kommen.

[9]‍ ‍Zur soziologischen Hypothese des "selbstverschuldeten Ausschlusses" exemplarisch Bude/Lantermann 2006.

[10]‍ ‍Pierre Bourdieu zeigt in seinen sozialen Analysen auf welche Weise ein rhetorischer Stil, eine bestimmte Mode oder eine ästhetische Eigenart als "strategisches Mittel zur Darstellung von Distinktion" systematisch eingesetzt wird (Bourdieu 1987, 120) Der Effekt der Anwendung bestimmter Strategien der Distinktion wirkt sich zu Gunsten eines sozialen Benefits der Akteure aus (ebd. 50, 519, 528). Sogenannte Distinktionsgewinne, also spezifische Merkmale sozialer Unterscheidung, sind mit Anerkennungen ebenso verbunden wie diese als Riten der Zugehörigkeit und als diskursive Wiederholungsmechanismen zur Versicherung der eigenen Identität verstanden werden können (ibid. 346, 440).

[11]‍ ‍Max Weber zufolge legitimierte das moderne bürgerliche UnternehmerInnentum seine Stellung im "Bewußsein, in Gottes voller Gnade zu stehen und von ihm sichtbar gesegnet zu werden" (Weber [1904/05] 1996, 150). Der calvinistischen Prädestinationslehre und ihrem Dogma der Gnadenwahl liegen die Ursprünge dieser "Überbietung der innerweltlichen Sittlichkeit" (ibid., 80) zu Grunde, auf deren ideengeschichtliche Entstehung aus Platzgründen hier leider nicht näher eingegangen werden kann.

[12]‍ ‍Ebd.

[13]‍ ‍Dieses Argument wird vor allem von neoliberalen Polit-Technokraten zur besseren Selbststeuerung forciert, exemplarisch Nolte 2004.

[14]‍ ‍Ein Formenkatalog an rhetorischen Gemeinplätzen, durch die Reichtum zum Epiphänomen genetischer Dispositionen erklärt wird, findet sich exemplarisch in Sarrazin 2010. Intelligenzleistung, kulturelle Zugehörigkeit und ökonomische Prosperität werden darin in Bezug zueinander gesetzt und biologisch zum Zweck imperialer Vormachtsansprüche begründet.

[15]‍ ‍Insbesondere die Selbstmord-Szene eines jungen Arbeiters in "Kuhle Wampe oder wem gehört die Welt", der seine Uhr - das einzige, was er besitzt - ablegt, bevor er sich aus dem Fenster stürzt, wurde seitens der filmischen Zensurbehörde im Deutschland der 1930er Jahre auf Grund möglicher Nachahmungseffekte als bedenklich eingestuft und infolgedessen in der Endversion des Films zensiert. Realiter verhält es sich indes umgekehrt: Brecht, der am Drehbuch beteiligt war, nahm für die Szene, die mit dem kühlen Zwischentitel "Ein Arbeiter weniger" überschrieben ist, das gehäufte empirische Vorkommen von Selbstmorden ehemaliger ArbeiterInnen, die nunmehr erwerbslos geworden waren, zum Vorbild.

[16]‍ ‍"Kuhle Wampe oder wem gehört die Welt", D 1932, R: Slátan Dudow, 2.‍ ‍Drittel des Films.

[17]‍ ‍Alfred Schmidt (1974, 452), der die unterschiedlichen Varianten innerhalb der marxistischen Erkenntnistheorie, zum Problem des "An-sich" Stellung zu nehmen, nachzeichnet, wirft Lukács einen "fichteanisch überspannten" Praxisbegriff vor, der infolge der Voraussetzung des totalen Verdinglichungszusammenhangs in der warenproduzierenden Gesellschaft nur mehr den Ausweg einer messianischen und damit manifest religiösen Erlösung zulässt. Ohne an dieser Stelle über eine daraus resultierende Verwandtschaft Lukács' mit Benjamin zu spekulieren, sei an dieser Stelle nur darauf verwiesen, dass bei Lukács' infolge des Prozesses fortschreitender Aneignung in der politischen Praxis und durch sie materielle Verhältnisse wiederum der Sphäre des Ideellen einverleibt werden. Infolgedessen wird der Trugschluss möglich, in Abkehr von der gramscianischen Position das Tätigsein im Sinne einer politischen Praxis zu Gunsten einer Illusion reinen Denkens suspendieren zu können. Schmidt zufolge gehört es zu den Defiziten der Lukács'schen Erkenntnistheorie, "den historischen Materialismus geradezu in einen - soziologisch' verkleideten - Erzeugnungs'-Idealismus" (Schmidt 1974, ibid.) zu verwandeln.

[18]‍ ‍Mit Songs wie "Arbeitslos und Spaß dabei" und Sprüchen wie: "Man soll sich doch so wenig Arbeit machen, wie's nur geht", avancierte Arno Dübel im Jahr 2010 zum prominentesten Erwerbslosen Deutschlands. In einschlägigen Talksshows sowie im Rahmen der Skandalisierung durch BILD wurde der Hamburger Fussballfan infolge wachsender Popularität durch dieselben Medien denunziert, die ihm anfänglich die Aufmerksamkeit eines Stars verliehen. Die dazugehörigen Darstellungen erschöpften sich in platten Einleitungen - "Dübel ist Kettenraucher, sitzt den ganzen Tag auf seinem Sofa und sieht fern" - und kulminierten in tele-visionären Formen der Vermittlung im Rahmen des Sequels "Arno in der Welt der Werktätigen". Mit Blick auf den zeitlichen Abstand in der Spannweite von Aufstieg und Fall vgl. "Der Fall Arno Dübel - Seit 30 Jahren arbeitslos" im Talkformat "Menschen bei Maischberger"/ARD (http://www.youtube.com/watch?v=pypwopo3BD0) und die Beschäftigungsmaßnahmen zu späterem Zeitpunkt durch die Medienmeute von RTL unter http://video.google.com/videoplay?docid=-1683994911592903656#

[19]‍ ‍Der Hiatus zwischen Theorie, Empirie und Sozialpolitik manifestiert sich innerhalb der Sozialwissenschaften ebenso in der wissenschaftlichen Arbeitsteilung: Im Gegensatz zu "kapitalistischen Theorieunternehmern" kommt den "proletarischen Hypothesentestern" im Forschungsprozess die Aufgabe zu, in verifikatorischer Absicht Zahlen und Daten den Lücken einer großen Theorie zu supplementieren (Glaser/Strauss 1998, 20).

[20]‍ ‍Dies ist darauf zurück zuführen, dass im sogenannten "postideologischen Zeitalter" eine Renaissance der marxistisch besetzten Kategorie der sozialen Klasse ebenso wenig angebracht erscheint wie daraus erwachsende Antworten auf Fragen der Distributionsgerechtigkeit, die zumeist in den Zuständigkeitsbereich der Sozialpolitik verwiesen werden. Zum anderen ist dieser Umstand auf die ideologievermittelnde Funktion einer sich nicht länger als kritisch verstehenden Wissenschaft zurückzuführen, die auf Grund der Kriterien für die Vergabe von Fördermitteln Ergebnisse zu Gunsten der Plausibilisierung neoliberaler Argumentationsstrukturen modelliert. Einen symbolischen Ausdruck erhält dies unter anderem in Form von jenen positivistisch orientierten Methodenpostulaten, in denen die apodiktische Forderung nach einer theoriefreien und möglichst unvoreingenommenen tabula rasa-Haltung bei der Annäherung an den Forschungsgegentand forciert wird. Dies kulminiert in der wissenschaftstheoretischen Mystifizierung jenes fingierten Nullpunkts, von dem aus die ForscherIn einen Sachverhalt ex nihilo und folglich "ideologiefrei", aber dennoch analog eines ebenso "ideologiefreien" common sense, erfassen solle. Für diese Zugangsweisen stehen beispielsweise die wissenschaftstheoretischen Positionen der hermeneutischen Soziologie. Dort wird davon ausgegangen, dass theoretische Vorkenntnisse die Strukturierungsleistungen des Feldes verdecken anstatt ihrer wissenschaftlichen Entdeckung förderlich zu sein. (vgl. Schröer 1997) Gerade weil es jedoch keine unvoreingenommene Beobachtung des Sozialen geben kann, sind Wissensbestände stets so tief in die Praxis der Wissensgenerierung eingebettet, dass Wahrnehmung und die auf Theorie abzielende Interpretation von Daten im Idealfall nicht voneinander isolierbar ist.

[21]‍ ‍Für die Kategorie Race im Kontext von räumlicher Exklusion und Ghettoisierung exemplarisch Wacquant 2007.

[22]‍ ‍Ein richtungsweisender Versuch, Intersektionalität erneut in methodischer und theoretischer Hinsicht fruchtbar zu machen, findet sich in Hess, Sabine/Langreiter, Nikola/Timm, Elisabeth 2011 sowie im Kontext der Multitude-Diskussion von Osten 2007.

[23]‍ ‍Im Gegensatz zur idealistischen Annahme, dass im Prozess der Erkenntnis die materiellen Dinge im Kopf des Erkennenden als Bilder sich vergegenwärtigten und infolge einer Kongruenz mit dem Angeschauten sich als wahr zu erkennen geben, geht Lukács von einem disruptiven Moment zwischen Wahrheit und Wirklichkeit im dialektischen Erkenntnisprozess aus. Zudem strapaziert dieser das Moment des Werdens. Die durch die historische MaterialistIn zu Tage beförderte Wahrheit besteht folglich nicht "in dem Auftreffen auf die Wirklichkeit. Diese Wirklichkeit ist nicht, sie wird." (Lukács 1967b, 347)‍ ‍Mit diesem Werden geht die beständige Veränderung des ursprünglichen Erkenntnisgegenstandes einher. Lukács beschreibt den dazugehörigen Prozess des Erkennens als "keinen einmaliger Akt des Zerreißens seines Schleiers", sondern als "ununterbrochenen Wechsel von Erstarrung, Widerspruch und Influßgeraten, dass dabei die wirkliche Wirklichkeit - die zur Bewusstheit erwachenden Entwicklungstendenzen - das Proletariat repräsentiert." (ibid., 341-342).

[24]‍ ‍Postoperaistische AutorInnen wie Paulo Virno und Mauricio Lazzarato brachen am Vorabend von 1968 mit der Vorstellung einer orthodoxen Genese des Subjekts von Kämpfen und Konflikten aus dem Bereich der ökonomischen Basis. In der Multidude verflüchtigt sich die ArbeiterInnenklasse, die unter der historischen Bedingung der Objektivierung, d. h. der Univeralisierung des eigenen proletarischen Standpunktes zum Synonym für Klasse schlechthin wurde, im metaphysischen Substrat jenes general intellect, der die Diversität der Vielen und die Spaltungen, die die Individuuen durchziehen, Negri und Hardt zufolge repräsentieren soll. Unter Rückgriff auf das "Vorindividuelle" versucht Virno, Individuen erneut als vergesellschaftete zu denken, diese und nicht etwa das Kollektiv werden infolgedessen zum Ausgangspunkt seiner Theorie (vgl. Virno 2007, 37ff.). Die AkteurInnen im Empire sind folglich nicht länger RepräsentantInnen einer Klasse mit dem dazugehörigen Bewusstsein, sondern Bestandteil eines begrifflich nicht distinkt bestimmten "Vorindividuellen", das aus multiplen, in der Menge miteinander verbundenen Subjekten der Ausbeutung besteht.

[25]‍ ‍Parallel dazu entstand im Bereich der Philosophie ein diffuser und unter dem Etikett der "Lebensphilosophie" vermarkteter Korpus an Weltanschauungsliteratur, der in Verwerfung der Mühseligkeiten einer Hegelschen Dialektik das Unbehagen der deutschen Bourgeoisie kanalisieren sollte, die im preußischen Staat Bismarcks ihren Glauben an den unbegrenzten Aufstieg des Kapitalismus nicht ausreichend gespiegelt sah. (Vgl. Lukács 1983, 355f.)

[26]‍ ‍Die Trennnung in disziplinäre Zuständigkeitsbereiche ist Endre Kiss zufolge ebenso eine Finte, um über den fundamental ideologischen Gehalt des Ganzen hinwegzutäuschen: "Weil aber die neuen Komplexe in ihrem imperialen Charakter bis zuletzt legitimatorische philosophische, sogar auch ebenso legitimatorische wissenschaftslogische Eigenschaften bewahren, geht ihnen das Philosophische für keinen Augenblick ab. Das Philosophische, das Politische und das Organisatorische erscheint in ihrem Fall in einer neuen und homogenen Einheit." (Kiss 2011, 10)

[27]‍ ‍Marx, der mit der gehassten und ihrer politischen Wetterwendigkeit wegen gegeißelten Klasse des Lumpenprolerariats eine abwertende Bezeichnung für die Schicht, die sich aus den Abfällen der anderen ernährt und ihre einzigen Regelmäßigkeiten im Aufenthalt in Kneipenbesuchen und Brandtweinstuben hat, erfand, hatte dieser bei Benjamin (1939) als konspirative Bohème rekonfigurierten Schicht mit der Darstellung der Finanzaristokratie in "Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848-1850" immerhin ein gesellschaftlich nach oben gefahrenes Pendant gegenüber gestellt. Dort heisst es: "Die Finanzaristokratie, in ihrer Erwerbsweise wie in ihren Genüssen, ist nichts als die Wiedergeburt des Lumpenproletariats auf den Höhen der bürgerlichen Gesellschaft." (Marx 1850, 126, Kursivierung im Original).

Raute

Karl Reitter
Das Kapital politisch lesen
Ein Rezensionsessay anlässlich der deutschen Erstveröffentlichung von Harry Cleavers Hauptwerk

1979‍ ‍erschien Reading Capital Politically erstmals in englischer Sprache und wurde seither in zahlreiche andere übersetzt. Nun ist sein Buch dankt der Initiative des Mandelbaum Verlages endlich auch auf Deutsch erschienen, übersetzt von Renate Nahar. Cleaver, in den USA geboren und an der University of Texas in Austin lehrend, positionierte sich mit diesem Buch im Umfeld des italienischen Operaismus und des so genannten autonomous Marxism, wie aus der Darstellung seiner Auffassungen wohl rasch ersichtlich werden wird. Sein Buch besteht aus zwei unterschiedlichen Teilen, einem sehr langen Vorwort und der eigentlichen Interpretation des Marxschen Textes. Die Einleitung ist tatsächlich ein summarischer Essay, in dem Cleaver die bisherigen Kapitalinterpretationen auf dem Stand der späten 70er Jahre Revue passieren lässt und seine, als politisch deklarierte Interpretationen, von den ökonomischen als auch philosophischen Lesarten des Marxschen Kapital abgrenzt. Im zweiten Teil interpretiert Cleaver nun keineswegs das Kapital insgesamt, sondern bloß den ersten Abschnitt des ersten Bandes zu Ware und Geld. Um das Kapital gemäß den eigentlichen Intentionen vom Marx zu lesen, "müssen wir all unser Wissen und all unsere Interpretation des Rests vom Kapital und des Klassenkampfes, den es analysiert, in einer Lektüre des 1. Kapitels zur Anwendung bringen." (Cleaver 2011; 173)‍ ‍Ich halte diese Methode für korrekt und sinnvoll, und zwar aus folgenden Gründen: Marx analysiert in diesem Abschnitt die Oberfläche der Zirkulation, in der anscheinend bloß Waren gegen Geld getauscht werden. Diese Sphäre ist weder aus sich zu begreifen noch kann sie für sich stehen. Marx schrieb: "Die Zirkulation, die also als das unmittelbare Vorhandne an der Oberfläche der bürgerlichen Gesellschaft erscheint, ist nur, sofern sie beständig vermittelt ist. In sich betrachtet ist sie die Vermittlung vorausgesetzter Extreme. Aber sie setzt diese Extreme nicht. (...) Ihr unmittelbares Sein ist also reiner Schein. Sie ist das Phänomen eines hinter ihr vorgehenden Prozesses." (MEW 42; 180) Um die von Marx analysierten Phänomene, den Doppelcharakter der Arbeit, den Gegensatz von Tauschwert und Gebrauchswert, das Maß, die Substanz wie die Form des Werts, um all diese Kategorien zureichend begreifen zu können, ist es legitim und höchst berechtigt, diese auf Erkenntnisse zu beziehen, die Marx erst in späteren Abschnitten seines Hauptwerks entwickeln kann. Bei dieser Interpretation geht es nicht um Kleinigkeiten. Es geht schlicht um die Frage, ob elementare Kategorien wie Ware, Wert und Geld ohne Rekurs auf den Klassenkampf - der formal im 1. Kapitel abwesend ist - verstanden werden können oder noch drastischer, ob wir mit Marx einen Vergesellschaftungsmodus denken können, in dem die Individuen über bloße Waren Geld Verhältnisse auf einander bezogen werden und zu denen dann der Klassenkampf hinzutritt - oder auch nicht. Dem gegenüber zu zeigen, dass bereits alle Kategorien im 1. Abschnitt des Marxschen Hauptwerks auf den Klassengegensatz verweisen und nur aus dieser Perspektive sinnvoll entfaltet und gebraucht werden können, dieses Verdienst kommt Cleaver ohne Zweifel zu.


Cleavers Einleitung, ein Essay über die unterschiedlichen Lektüren des Kapital

Ich gehe nun ein wenig ins Detail. Cleaver beginnt wie erwähnt mit einer summarischen Kritik vorhergehender Interpretationen des Marxschen Kapital. Die ökonomische Lesart würde den Anspruch des Marxschen Hauptwerkes substanziell einengen. Indem sein Werk ausschließlich in die Tradition der ökonomischen Theoriebildung gestellt würde, könne das eigentliche Anliegen von Marx nicht mehr rekonstruiert werden. Stattdessen wird aus Marx ein Autor, der eine bessere Ökonomie als seine Vorgänger geschrieben hätte. Cleaver skizziert diese fehlerhafte Auffassung folgendermaßen: "Das Kapital von Marx unterscheide sich von Ricardos Grundsätzen in erster Linie dadurch, dass es korrekt sei. Marx wird entweder als derjenige gesehen, der die Versprechen Ricardos erfüllt, oder als derjenige, der dessen Fehler korrigiert." (Cleaver 2011; 83)

Aus einer Analyse umfassender gesellschaftlicher Verhältnisse wird ein selbstbezügliches System von Werten, Preisen und Kapitalbewegungen. Die Dimension der Rebellion gegen soziale Herrschaft fällt bei dieser Interpretation aus dem Bannkreis der Kapitallektüre und muss sekundär hinzugefügt werden. Dies erfolgte unter dem Schlagwort der Überwindung des Ökonomismus; unter anderem begründeten die Bolschewiki damit die Notwendigkeit der Partei neuen Typs. Wohl unterschieden sich die Konsequenzen aus der Kapitallektüre bei Bernstein, Kautsky, Luxemburg oder Grossmann gewaltig. Trotzdem zerfiel ihnen die soziale Wirklichkeit in eine autonome Sphäre der Kapitalbewegung hier und der sozialen Rebellion und des Klassenkampfes dort. "Allen ist gemeinsam, dass sie das Kapital als Politische Ökonomie lesen und sich dadurch auf eine Kritik der kapitalistischen anarchistischen Instabilität beschränken oder auf deren ausbeuterische Natur." (Cleaver 2011; 87)

Ebenfalls als ökonomisch verengt sind die Arbeiten von Paul Sweezy und Paul Baran zu nennen, auf die Cleaver ausführlich eingeht. Gegenwärtig haben diese Autoren offenbar deutlich an Relevanz verloren, in den 50er bis in die 70er haben sie jedoch insbesondere in den USA eine wichtige Rolle gespielt. Beide waren im akademischen und universitären Milieu fest verankert und insbesondere Sweezy kam ursprünglich aus einem von Keynes geprägten Diskussionszusammenhang, von dem er sich nie wirklich entfernte. Seine Kapitalrezeption ist in der Tat durch Oberflächlichkeit und eine gewisse Banalisierung gekennzeichnet. Dies ist nicht intellektuellem Unvermögen geschuldet, sondern entspringt aus der verengenden Methode, Marx ausschließlich als Ökonomen zu lesen. Trotzdem muss die Rolle von Sweezy und Baran auch gewürdigt werden. Sie verhalfen dem Marxschen Hauptwerk den Einzug in das US-amerikanische Universitätsmilieu und scheuten sich nicht, auch während der Hysterie der McCarthy-Ära die Zeitschrift Monthly Review weiter zu publizieren. Diese Zeitschrift stellt ein wichtiges Forum für auf Marx bezogene Debatten dar und erscheint heute noch. Resümierend stellt Cleaver zu diesem Abschnitt fest, dass die ökonomische Lesart unfähig ist, "... das gesamte Ausmaß der kapitalistischen gesellschaftlichen Verhältnisse außerhalb der Fabrik zu erfassen ...". (Cleaver 2011; 110) Die ökonomische Interpretation engt geradezu zwangsläufig das Klassenverhältnis auf die unmittelbare wirtschaftliche Sphäre ein. Bewegungen von MigrantInnen, Frauen, Minderheiten, Studierenden usw. usf. scheinen außerhalb des Kapitalverhältnisses zu stehen, ein fataler Fehler der ökonomistischen Lesart des Kapital.

Als philosophische Interpretation identifiziert Cleaver einerseits das Theorieunternehmen Althussers als auch die den Umgang der Kritischen Theorie mit dem Kapital. Cleaver erkennt sehr scharfsinnig, dass die Althusser Schule den "eingehendsten Versuch des alten orthodoxen Marxismus dar[stellt], sich selbst zu reinigen und den in den letzen Jahrzehnten verlorenen Boden wiedergutzumachen." (Cleaver 2011; 112) Dieser Versuch, so Cleaver, entsprach den Bedürfnissen der KPF der 60er und 70er Jahre, "die sich dem Herunterspielen und unter Kontrolle Halten des Klassenkampfes der ArbeiterInnen widmet." (Cleaver 2011; 118) Der alte Wein des dialektischen Materialismus wurde sozusagen in neue Schläuche gefüllt - so kann das Resümee Cleavers über die theoretischen Versuche Althussers zusammengefasst werden. Bezüglich der Kritischen Theorie, als deren bekannteste Vertreter Adorno, Horkheimer und Marcuse zu nennen sind, konstatiert Cleaver einen bemerkenswerten Dualismus. Einerseits wurde das Kapital sehr traditionell aufgefasst, eben als für sich stehende, abgegrenzte Sphäre, in der das Kapital scheinbar vollständig dominiert. Andererseits wurde das Potential für Befreiung jenseits der ökonomischen Sphäre vermutet. Theoretische Weiterentwicklungen, insbesondre von Friedrich Pollock, verstärkten diese Tendenz. "Die Basis der gesamten Diskussion war eine ihnen allen gemeinsame Gewissheit über die absolute kapitalistische Herrschaft in der ökonomischen Sphäre - den kapitalistischen Despotismus in der Fabrik." (Cleaver 2011; 122) Da die Kämpfe der ArbeiterInnenklasse, so Cleaver, völlig aus dem Blick verschwanden, musste die Theorie in der These einer totalitären Herrschaft münden. "Ihr Begriff der Herrschaft ist so total, dass die 'Beherrschten' buchstäblich als handelndes historisches Subjekt verschwinden." (Cleaver 2011; 129) Cleaver wird in meiner Sichtweise insbesondere Herbert Marcuse nicht wirklich gerecht. Marcuse vertritt keinesfalls die These einer totalitären Abschließung gegen den Prozess der Befreiung. Dessen Arbeiten wie Der Eindimensionale Mensch, Versuch über die Befreiung sowie Konterrevolution und Revolte sind zeitdiagnostische Versuche, die um das Paradox der gleichzeitigen scheinbaren unumschränkten Herrschaft als auch den Kräften der Befeiung kreisen.

Im dritten Abschnitt seiner Einleitung kommt Cleaver auf die ProtagonistInnen der politischen Interpretation des Kapital zu sprechen. Cleaver sieht sich selbst in der Tradition der so genannten Johnson-Forester-Tendenz im US-amerikanischen Trotzkismus (hinter diesen Pseudonymen verbargen sich C.L.R. James und Raya Dunayevskaya) und dem italienischen Frühoperaismus, vor allem repräsentiert durch Panzieri und Tronti. (Über diese Strömung informiert das Buch von Martin Birkner und Robert Foltin (Post)Operaismus). Auch auf die frühe Phase von Socialisme ou Barbarie, einer in Paris nach 1945‍ ‍von Claude Lefort und Cornelius Castoriadis herausgegebenen Zeitschrift, nimmt Cleaver positiv Bezug. In neun Punkten summiert Cleaver die programmatischen Orientierungen dieser Strömungen, die ich hier vollständig zitierten möchte:

1)‍ ‍die ArbeiterInnenklasse als autonome Macht;

2)‍ ‍das Kapital als die ArbeiterInnenklasse in sich selbst beinhaltend, das Kapital folglich als Klassenkampf;

3)‍ ‍Technologie als spezifische Spaltung der Macht der ArbeiterInnenklasse, die durch den Klassenkampf hervorgebracht wird;

4)‍ ‍die Organisationen der ArbeiterInnenklasse als Funktion der Klassenzusammensetzung und daher der historische Charakter von Gewerkschaftsbewegungen, Sozialdemokratie und Leninismus als gültige organisatorische Lösungen der ArbeiterInnenklasse;

5)‍ ‍die politische Neuzusammensetzung als die Überwindung der Spaltung der ArbeiterInnenklasse durch das Kapital;

6)‍ ‍die ArbeiterInnenklasse als die Entlohnten ebenso wie die Nichtentlohnten mit einschließend; und somit

7)‍ ‍das Kapital als gesellschaftliches Kapital oder als gesellschaftliche Fabrik;

8)‍ ‍die kapitalistische Krise als Krise der Macht zwischen den Klassen und

9)‍ ‍die politische Neuzusammensetzung der ArbeiterInnenklasse und die kapitalistische Zerschlagung bzw. Zersetzung ebendieser als die Substanz der zwei Momente der Krise (Cleaver 2011; 164f)

Wie diese Auflistung zeigt, geht es Cleaver nicht zuletzt um eine gesamtgesellschaftliche Sichtweise. Wenn wir das Klassenverhältnis aus der Perspektive des Gesamtkapitals und nicht nur des konkurrierenden Einzelkapitals aus betrachten, dann können wir mittels der Marxschen Analyse alle Bewegungen und Kämpfe als Teil des Ringens um Autonomie verstehen. Auch die Nichtentlohnten, Frauen, Studierenden und formal Beschäftigungslosen zählen zum Proletariat; auch ihr Schicksal entscheidet sich in der Klassenauseinandersetzung.


Cleavers Interpretation des ersten Abschnitts des Kapital

Indem Cleaver die Ergebnisse der weiteren Kapitel des Kapital auf die von Marx entwickelten Begriffe im ersten Abschnitt bezieht, gelingt es ihm von Anbeginn an den Klassengegensatz offenzulegen, die den scheinbar klassenneutralen Begriffen wie Ware und Geld erst ihre Dynamik und Bedeutung verleihen. Marx beginnt sein Kapital bekanntlich mit der Analyse der Ware, der Elementarform des Kapitalverhältnisses. Cleaver fokussiert sofort auf den Klassengehalt dieser Kategorie. Durchsetzung des Kapitalverhältnisses bedeutet immer Durchsetzung der Warenform, Kampf gegen das Kapital den Kampf gegen die Warenform. Die Warenform losgelöst vom Kapitalverhältnis begreifen zu wollen, erscheint Cleaver zu recht als absurd. "Die vorhergehende Klassifizierung des Klassenkampfes durch die Fragen, ob, wie stark und zu welchem Preis die Warenform durchgesetzt werden kann, ist ebenso historisch wie analytisch." (Cleaver 2011; 196) Über Ware im Marxschen Sinne zu sprechen bedeutet über die Durchsetzung der Warenform zu sprechen, die Warenform wiederum ist vom Kapitalverhältnis und damit vom Klassenkampf nicht zu trennen. Die warenproduzierende Gesellschaft ist zugleich die Kapital produzierende und ebenso die Klassen produzierende Gesellschaft. Schon vom Ansatz her stellt somit Cleavers Interpretation eine Alternative zu allen Spielarten der Wertkritik und des Zirkulationsmarxismus dar.


Abstrakte Arbeit, die Substanz des Tauschwerts

Cleaver zeigt nach meiner Auffassung nach zutreffend, dass die Kategorie der gleichförmigen abstrakten Arbeit, die Substanz des Werts, nicht von der gesellschaftlichen Durchsetzung der sozialen Existenzweise des Proletariats zu trennen ist und keinesfalls, wie es oftmals geschieht, als bloße tauscherzeugte Abstraktion zu fassen ist. Nicht der Tausch abstraktifiziere die Arbeit und lösche den Unterschied zwischen den konkreten Arbeitsarten aus, sondern die gesellschaftliche Geltung der abstrakten Arbeit beruht auf dem Versuch des Kapitals, "die Arbeit kontinuierlich formbarer für seine Bedürfnisse zu machen." (Cleaver 2011; 229) Die Wertsubstanz, die abstrakte Arbeit sei nur die andere Seite des Versuchs des Kapitals, eine homogene, zu jeder beliebigen Arbeit bestimmbare ArbeiterInnenklasse zu schaffen. Das "Verlangen nach einer kontrollierbaren Homogenität abstrakter Arbeit" versucht das Kapital "paradoxerweise über die Durchsetzung von Heterogenität durch die Spaltung der ArbeiterInnen" (Cleaver 2011; 230) durchzusetzen. Wir können somit den Zusammenhang zwischen der Kategorie der abstrakten Arbeit und der Klassenbeziehung erkennen. Das Kapital setzt die abstrakte Arbeit mittels der Homogenität der ArbeiterInnenklasse durch, wobei diese Homogenität politisch durch Spaltung bewirkt werden soll. Umgekehrt hat die ArbeiterInnenklasse das Interesse, diese Spaltung zu überwinden. "Der Widerspruch zwischen den Anstrengungen des Kapital, die Klasse als Arbeitskraft durch die Spaltung zu vereinheitlichen, und den Anstrengungen der ArbeiterInnen, diese Spaltung zu überwinden, um gegen das Kapital zu vereinigen, ist eines der wesentlichsten Merkmale des Klassenkampfes." (Cleaver 2011; 230)

Auch das Maß des Werts, die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit, muss aus der Dynamik ihrer Durchsetzung begriffen werden. "Jede Zeit, die die ArbeiterInnenklasse nicht mit Arbeit verbringt - genau jene Zeit, für dessen Ausweitung die ArbeiterInnen kämpfen - ist tote Zeit für das Kapital. Ich werde bald darauf zurückkommen, wie das Kapital versucht, solche tote Zeit in Arbeitszeit zu verwandelten." (Cleaver 2011; 245) Auch hier trifft Cleaver den Punkt. Das Kapitalverhältnis ist als Zeitverhältnis zu begreifen, und die Unterscheidung zwischen jener Zeit, die für das Kapital profitabel genutzt wird und jener Zeit, die nicht der Wertproduktion unterworfen ist, ist für das Begreifen der Klassenauseinandersetzung fundamental. Cleaver wendet sich im Vorwort zur deutschen Ausgabe gegen die These, das Wertgesetz gelte nicht mehr und stellt fest: "Alle ArbeiterInnen wissen an ihrem Arbeitsplatz - sei er in einem Büro, einer Fabrik, einem Labor oder bei der Heimarbeit am Computer -, wann sie tatsächlich arbeiten, also jene Dinge tun, für die sie bezahlt werden, und wann nicht." (Cleaver 2011; 23) Soll das Wertmaß zum Maß aller Dinge werden, so muss Lebenszeit in Arbeitszeit für das Kapital überführt werden.

Etwas problematisch erscheinen mir seine Ausführungen zum Doppelcharakter der Arbeit. Wohl verweist Cleaver auf die These von Marx, dass zwischen den allgemeinen Aspekten von Produktion und den je spezifisch historischen zu unterscheiden sei, doch führt unser Autor diesen Gedanken in den Passagen zum Doppelcharakter nicht weiter. Aspekte der konkreten, tatsächlich sicht- und hörbaren Arbeit gelten, so lese ich Marx, für jede Gesellschaft, hingegen ist die abstrakte, homogene Arbeit eine Kategorie, die nur innerhalb kapitalistischer Verhältnisse gilt. Cleaver möchte jedoch transzendierende Momente an der konkreten Arbeit nicht erkennen, im Gegenteil: "Deshalb muss nützliche Arbeit im Kapital als der eigentliche Stoff gesehen werden, aus dem abstrakte Arbeit geschmiedet ist." (Cleaver 2011; 260) Analog zum Staat, der nicht übernommen sondern zerschlagen werden müsste, soll offenbar auch in einer freien Gesellschaft die konkrete Arbeit nicht autonom ausgeübt werden, sondern durch das ganz Andere einer nicht näher bestimmten freien Tätigkeit ersetzt werden. Diese freie Tätigkeit nimmt bei Cleaver ein wenig utopische Züge an, und da in der Marxschen Tradition das Austauschen von Utopien abgelehnt wird (nicht zu Unrecht), könnten wir über diese zukünftige freie Tätigkeit wenig sagen. Cleaver übernimmt auch die These des frühen italienischen Operaismus, dass die Maschinerie keineswegs ein neutrales Mittel, sondern - wie Marx im Kapital schreibt - als "Kriegsmittel wider die Arbeiteremeuten" (MEW 23; 459) [Emeute = Aufstand, Rebellion] eingeführt wurde. Dem ist wohl zuzustimmen, aber Cleaver manövriert sich in die Position des "nichts anderes als". Ist Technik wahrhaftig nichts anderes als ein Mittel der Unterwerfung der Arbeit unter das Kapital? Ist die konkrete Arbeit tatsächlich nichts anderes als die andere Seite der abstrakten Arbeit? Werden wir in einer freien Gesellschaft keinen Strom, keine Computer, keine Flugzeuge, keine Traktoren mehr benützen? Zweifellos, viele konkrete Arbeitsabläufe können nicht so bleiben, wie sie vom Kapital durchgesetzt werden. Aber das ganz Andere, das heute geradezu Undenkbare werden sie auch nicht darstellen.


Die Wertformanalyse

Der Abschnitt zur Wertformanalyse stellt zweifellos das Glanzstück der Kapitalinterpretation von Cleaver dar. Auch wenn wir den Fehler vermeiden, den ersten Abschnitt des Kapital aus sich selbst verstehen zu wollen, so gelingt es Cleaver unmittelbar die Perspektive der Klassenbeziehung in diesem spröden Abschnitt des Marxschen Hauptwerks zu entfalten. Auf den ersten Blick scheint insbesondere die Wertformanalyse mit Klassen und Klassenkampf nicht zu tun zu haben. Worum geht es bei dieser Wertformanalyse scheinbar? Marx leitet darin die Verdopplung der Ware in Ware und Geld ab. Marx geht dabei vom Tauschverhältnis zweier Waren aus. Zum Beispiel können wir annehmen, fünf Kilogramm Kartoffeln sind zwei Trinkgläser wert. Marx schriebt diese Relation folgendermaßen an: x Ware A sind y Ware B wert. Marx untersucht an dieser Stelle nicht die Identität, sondern die Nichtidentität dieser Gleichung. Der Wert der Ware A wird ausgedrückt, die Ware B drückt den Wert der Ware A aus. Oder anders gesagt, die Ware B wird zum Wertspiegel oder Wertausdruck der Ware A. Die beiden Pole besitzen somit unterschiedliche Funktion. Diese einfache Wertform, das einfache Tauschverhältnis zweier Waren, wobei die erste ihren Wert ausdrückt, die zweite als Wertspiegel fungiert, ist der Beginn der Wertformanalyse, die Marx über die entfaltete Wertform (x Ware A drückt sich in y Ware B, in z Ware C, in w Ware C usw. aus - wir erhalten eine unabschließbare, unendliche Kette von Wertausdrücken) zur allgemeinen Wertform (eine Ware, die Geldware wird zum Wertausdruck aller anderen Waren) weiterführt. In beeindruckender Weise zeigt nun Cleaver die Präsenz des Klassenverhältnisses in diesen Relationen.

Ich dachte ursprünglich, Cleaver käme über bloße Analogien nicht hinaus. Was meine ich damit? Beginnen wir mit Cleavers Kommentar zur ersten, einfachen Wertform. Die Ware A wird zum Ausgedrückten, die Ware B drückt aus. Doch beiden Pole sind nicht gleichartig. Die Ware A fungiert als Gebrauchswert, Produkt der konkreten Arbeit. Die Ware B hingegen (Marx nennt ihre Funktion die Äquivalentform) fungiert als Wertspiegel, sie tritt nicht als Gebrauchswert, sondern als Wert in diese Beziehung, die zu ihrer Erzeugung verausgabte Arbeit fungiert als abstrakte Arbeit, sie repräsentiert den gesellschaftlich geltenden Wert der Ware A. Durch die Ware B wird das Arbeitsprodukt erst zur Ware A, erst durch den Wertausdruck der Ware B tritt der Gegenstand A in den Bannkreis des Kapitalverhältnisses ein.

Wir haben somit, wie Marx in der Erstausgabe des Kapital schreibt, eine Reflexionsbeziehung. Die Ware A ist nur das, was sie ist, durch ihre Beziehung auf die Ware B. Sie ist nur durch diese Beziehung überhaupt Wert und Ware, ohne diese Beziehung wäre sie bloßer Gebrauchswert. Exakt hier setzt die spezifische Interpretation von Cleaver ein. "Diese Reflexionsbeziehung ist ein Aspekt der Warenform, des Kapitalverhältnisses. (...) So wie die relative Wertform [die Ware A, K.R.] ihre Bedeutung nur in der Äquivalentform [die Ware B, K.R.] findet. So erkennt die ArbeiterInnenklasse sich selbst als ArbeiterInnenklasse nur in ihrem Verhältnis zum Kapital." (Cleaver 2011; 282)

Wir haben zwar ein Verhältnis von Dingen vor Augen, aber dieses Verhältnis ist nur der dingliche Ausdruck sozialer Verhältnisse. Daher sind die Aussagen von Cleaver keine bloßen Analogien zwischen der Reflexionsbeziehung zweier Waren und der Reflexionsbeziehung zwischen ArbeiterInnenklasse und Bourgeoisie. Wir haben in der einfachen Wertform eine Beziehung zwischen einem Gebrauchswert, der Ware A und dem Wertspiegel, der Verkörperung von Wert, der Ware B. Aber aufgepasst, es handelt sich nicht um eine bloße Messung! Die Ware B misst keinesfalls den Wert des Gebrauchswerts der Ware A, sondern den zu diesem Gebrauchswert verausgabten Menge an abstrakter Arbeit, sie misst den Wert der Ware A und fixiert somit die Verdopplung des Gegenstandes A in Gebrauchswert und Tauschwert. Deswegen - und Cleaver ist hier sehr scharfsinnig - handelt es sich ja um eine Reflexionsbeziehung, somit eine Beziehung, die zurückwirkt und auch den ersten Pol verändert. Trotzdem: die Ware A tritt uns als Gebrauchswert, die Ware B als Tauschwert entgegen. Allerdings: Erst wenn wir von der Beziehung zwischen den Dingen zur sozialen Beziehung weiter schreiten, verstehen wir sie wirklich und umfassend. Daher kann Marx auch sagen: "Im Verhältnis von Kapital und Arbeit sind Tauschwert und Gebrauchswert in Verhältnis zueinander gesetzt, die eine Seite (das Kapital) ist zunächst der andren Seite als Tauschwert gegenüber und die andre (die Arbeit) dem Kapital gegenüber als Gebrauchswert." (MEW 42; 193) Erstmals besteht die ArbeiterInnenklasse aus tätigen Menschen, die Gebrauchsgüter erzeugen. Dass die Ware B überhaupt als Wertspiegel fungierten kann und dadurch auch den Gegenstand A endgültig zur Ware macht, beruht auf der sozialen Klassenbeziehung, die im Ware - Geldverhältnis ihren dinglichen Ausdruck besitzt. Erst durch das Verhältnis zum Kapital werden diese Menschen zur Klasse und ihr Arbeitsprodukt zur Ware. Das Kapital befindet sich immer auf der Seite der Äquivalentform. "Die Äquivalentform betont eine einzige Qualität der Waren, den Wert, und drückt diese aus - genauso wie das Kapital die gemeinsame Qualität von Menschen als ArbeiterInnen, als Arbeitskraft, durchzusetzen und auszudrücken versucht." (Cleaver 2011; 284)‍ ‍Das Proletariat, die andere Seite des Pols wird erst durch ihr Verhältnis zum Kapital das, was es ist, erst durch dieses Verhältnis wird sie ArbeiterInnenklasse. Dieses Verhältnis könnte jedoch nicht existieren, wenn es kein Ware - Geld Verhältnis gäbe. Doch die vereinzelte Wertmessung einer bestimmten Ware durch eine andere entspricht nicht dem Wesen des Kapitalverhältnisses. Die zweite von Marx analysierte Wertform, die unendliche, unabschließbare Kette von Wertausdrücken soll diesen Mangel überwinden. Jede Ware kann ihren Wert durch eine andere ausdrücken, und diese Ware wiederum in einer anderen Ware und so weiter. Wir können somit schreiben: x Ware A = y Ware B = z Ware C = w Ware D usw., die Kette ist nicht abschließbar. Diese Kette von Ausdrücken, von Marx als entfaltete Wertform bezeichnet, ist keine bloß logische Stufe der Analyse. "Diese Endlosigkeit erklärt eine der grundlegenden Besonderheiten des Kapitals - sein Streben nach Unendlichkeit: Es tendiert dazu, sich selbst beständig auszudehnen - immer mehr Menschen, Gegenstände und Produktion unter seien Kontrolle zu bringen: ewiges Wachstum, dessen einziges Ziel die erweiterte soziale Kontrolle ist." (Cleaver 2011; 289)‍ ‍Cleaver referiert an diesem Punkt auf die These von Marx, dass das Kapital ungewollt die Voraussetzungen einer freien Gesellschaft implizit miterzeugt. Durch diese Unendlichkeit würde die ArbeiterInnenklasse einen eigenen "Typus an Unendlichkeit" entdecken: "- die potentiell unendlichen Möglichkeiten des Lebens. In dieser wirklichen Bewegung, in der das Kapital eine Welt der zunehmenden Güter und Tätigkeiten eröffnet, wird das gewaltige Potential einer künftigen Gesellschaft für die ArbeiterInnenklasse sichtbar -" (Cleaver 2011; 289) Ich hebe diese Aussage von Cleaver schon deshalb hervor, weil es im oben erwähnten Abschnitt zum Doppelcharakter der Arbeit den Anschein haben könnte, Cleaver würde eine Art Totalitätstheorie vertreten, in der alles vom Wert bestimmt wird, auch und gerade der Gebrauchswert. Die soeben zitierte Passage spricht gegen eine solche Auffassung.


Vermittlung und die allgemeine Wertform

Doch auch die unabgeschlossene Kette von Wertausdrücken wird dem Kapitalverhältnis nicht gerecht. Es muss einen adäquaten Ausdruck des Werts geben, in dem sich alle Waren darstellen können und dieser Wertausdruck muss zwischen allen Waren eine Wertbeziehung herstellen. Diese allgemeine Wertform ist letztlich das Geld, welches den Wert aller Waren ausdrücken kann und alle Waren als Werte aufeinander beziehen lässt. Was Cleaver Darstellung der allgemeinen Wertform von so vielen Einführungen ins Kapital unterscheidet, ist die Rolle der Vermittlung, die das Geld in der Realität spielt und die Cleaver sehr präzise darstellt. "Das Äquivalent [Geld K.R.] ist nun in doppelter Weise Vermittler. Erstens für den Ausdrucks des Werts jeder einzelnen Ware, zweites für die Beziehung einer jeden Ware zu jeder anderen als Werte." (Cleaver 2011; 295f) Durch das Geld wird alles in den Bannkreis des Kapitalverhältnisses gezogen. Das Geld vermittelt alles mit allem. Die Vermittlung zwischen dem Kapital und der ArbeiterInnenklasse erfolgt mittels des Lohnes. An diesem Punkt zeigt sich eine der größten Stärken der Analyse von Cleaver. Seine grundlegende These lautet, dass die Spaltung der ArbeiterInnenklasse durch Spaltung in einen entlohnten und einen nicht entlohnten Teil erfolgt. "Damit das Geld die Rolle des Vermittlers oder des allgemeinen Äquivalents spielen kann, müssen zahlreiche Beziehungen existieren, in denen es nicht direkt vermittelt." (Cleaver 2011; 305) Studierende, nur Hausfrauen, die Massen an Menschen, die keine regelmäßige Lohnarbeit ausüben kann und deswegen keine Entlohnung erhält - sie alle sind auf das allgemeine Äquivalent angewiesen. Doch zwischen das entlohnende Kapital und ihnen treten andere Vermittler; Männer, Stipendien vergebende Bürokratien, staatliche Institutionen, der Keynesianismus. "Wenn zum Beispiel Hausfrauen direkt vom Kapital einen Lohn verlangen, so umgehen sie die kapitalistische Vermittlung durch die Männer und stellen ein direktes Verhältnis Kapital - Frauen her." (Cleaver 2011; 299) Scheinbar - nur scheinbar stünden Kinder und Hausfrauen nur in einem privaten Verhältnis zum Ehemann bzw. zum Vater. Tatsächlich ist der Mann bloß der Vermittler zwischen dem Kapital und Frau und Kindern. Wie Cleaver mehrfach betont, ist die "Notwendigkeit der gleichzeitigen Existenz von geldförmigen und nicht geldförmigen Beziehungen für das Kapital" (Cleaver 2011; 307) ein wesentliches Mittel seiner Herrschaft. Gehen wir also der allgemeinen Wertform auf den Grund, so finden wir soziale Herrschaft mittels der allgemeinen Vermittlung des Geldes, die über das enge Lohnarbeitsverhältnis weit übergreift. Dieser gesamtgesellschaftliche Blick erlaubt es Cleaver, den Zugriff des Kapitals auf die nicht entlohnte Arbeit in den Kontext der Ausbeutung zu stellen. Er verweist auf die seinerzeitige Bewegung Lohn für Hausarbeit, in dem der Zusammenhang zwischen Lohn - als Mittel der Spaltung der ArbeiterInnenklasse in bezahlt und nicht bezahlt - und männlichen Lohn und der weiblichen Hausarbeit erkannt wurde. Aktuell ist diese Konstellation nicht mehr in dieser Weise relevant wie in den 70er Jahren, aber es geht um die Methode: die Durchsetzung des Wertmaßes ist als gesamtgesellschaftliche Strategie zu dechiffrieren, deren Methoden und Ziele jedoch historisch variieren.

Dieser Blick ermöglicht es, die begrifflose Addition sozialer Verhältnisse zu überwinden. Ich meine damit das Nebeneinanderstellen von unterschiedlichsten Unterdrückungsverhältnissen, in denen es scheinbar um je spezifische Verhältnisse geht, die dann entweder in diversen politischen Bekenntnissen als bekämpfenswert aufgezählt werden (nur keinen Ismus und keine Phobie vergessen!) oder mittels politischer Strategiebildung "vernäht" (eine neogramscianische Begriffsperle) werden sollen. Wohl sind seine Ausführungen etwas knapp und oft auch unscharf, aber Cleaver gelingt besser, was auch ich versuchte zu begründen, nämlich die übergreifende Bedeutung des Kapitalverhältnisses. Ich schrieb: "Kein Verhältnis, keine Form der Unterdrückung kann von Geld und kapitalistischen Eigentumsformen abstrahieren. Jeder nur denkbare Prozess der Befreiung und der Unterdrückung vollzieht sich im Medium der dominanten kapitalistischen Formen." (Reitter 2011; 29) Durch den Fokus auf die Vermittlung durch das allgemeine Äquivalent wird diese Aussage dynamisiert und bezieht die Strategie der herrschenden Klassen mit ein. Cleaver hat sein Buch 1979‍ ‍veröffentlicht. Daher seine oftmalige Erwähnung der Inflation. In den 70er Jahren versuchten die herrschenden Klassen die ArbeiterInnenklasse dadurch zu schwächen, in dem sie den Lohn durch Inflation zu entwerten versuchte. Wohl verteuert die Inflation alle Preise, nur besitzt das Kapital bessere Möglichkeiten, die Preise zu erhöhen als das Proletariat, das Lohnsteigerungen erst erkämpfen muss und nicht bloß das Preisschild auswechseln kann. Auch hier, eine gewisse Unschärfe bei Cleaver. In manchen Passagen scheint es, als ob er meinte, das Kapital kann Preise sehr willkürlich manipulieren. Im aktuellen Vorwort zeigt unser Autor jedoch, dass das Wertgesetz weiter Geltung besitzt. Cleaver redet somit der Auflösung des Ökonomischen in bloße Machtverhältnisse keineswegs das Wort. Wichtiger als solche Unschärfen ist jedoch sein klarer Blick auf die Zirkulationssphäre als Feld der Klassenauseinandersetzung. "Änderungen in der Form, wie z.B. Geldentwertung durch Inflation, werden durch unkontrollierbare Folgeerscheinungen von Änderungen in der Produktionssphäre erklärt. Mit anderen Worten: Weil die Zirkulation nur als Widerspiegelung von Kämpfen in der Produktion und um sie angesehen wird, werden Geld und Waren nicht als wichtige Aspekte des Kampfes selbst erkannt." (Cleaver 2011; 272) Zweifellos haben sich die Instrumente seit den 70er Jahren verändert. Angesicht der Bedeutung des fiktiven Kapitals scheint Inflation gegenwärtig kein Mittel der herrschenden Klassen zu sein. Ihre Angriffe sind weitaus direkter und substanzieller. Ebenso ist das Kalkül der herrschenden Klassen, Frauen an den Herd zu verbannen, schon lange durch das Konzept der Einfügung in den unmittelbaren Verwertungsprozess - selbstredend zu allen noch so schlechten Bedingen - gewichen. Erneut können wir den Begriff des Kapitals nicht von der Geschichte des Kapitalismus ablösen. Cleaver selbst betont, dass wir die Fragen nach der aktuellen Rolle der Verknüpfung von Geld und Klassenkampf im Kapital nicht beantwortet bekommen. Wir können jedoch "einige fundamentale Einsichten in die Natur des Geldes und seinen Stellenwert für das Kapital" (Cleaver 2011; 270) entnehmen. In diesem Sinne sollten wir auch Das Kapital politisch lesen diskutieren.

E-Mail: k.reitter@gmx.net

Literatur:

Cleaver, Harry (2011), "Das Kapital politisch lesen. Eine alternative Interpretation des Marxschen Hauptwerks", Wien
Marx, Karl (MEW 23), "Das Kapital, Band 1", Berlin
Marx, Karl (MEW 42), "Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie", Berlin
Reitter, Karl (2011), "Prozesse der Befreiung. Marx, Spinoza und die Bedingungen eines freien Gemeinwesens", Münster

Harry Cleavers Webseite: https://webspace.utexas.edu/hcleaver/www/

Raute

Buchbesprechung von Philippe Kellermann
Hendrik Wallat: Staat oder Revolution
Aspekte und Probleme linker Bolschewismuskritik
Münster: Edition Assemblage 2012, 380 Seiten, Euro 38,-

Warum, könnte man sich fragen, heute (schon wieder?) ein Buch über die Bolschewiki und ihre linken KritikerInnen? Ist dieser Zug nicht endgültig abgefahren und Slavoj Zizek recht zu geben, wenn er vor nicht allzu langer Zeit erklärte, dass der, der heute "ernsthaft vorschlägt, Lenin einer Reaktualisierung zu unterziehen" mit einer "Salve sarkastischen Gelächters" zu rechnen hat (Zizek 2002: 7)? Aber vielleicht trügt hier auch der Schein und im Zuge einer zunehmenden Verhärtung der Fronten, einer Zeit, in der dann nicht zufällig auch problematische Kampfschriften wie Der kommende Aufstand erstaunliche Resonanz erlangen (vgl. Kellermann 2011), mögen vielerorts leninistisch-autoritäre Gedankenformen wieder abgerufen werden, um einen Ausweg aus einer (vermeintlichen?) Misere der "Neuen Linken" zu weisen.

So meint Raul Zelik erkennen zu können, dass in letzter Zeit - er hat namentlich Zizek und Dath im Auge - "sehr ernsthaft" das Konzept eines "linken Neo-Leninismus verteidigt" wurde (Zelik 2011: 34); und Gerhard Hanloser erwähnt einen "auch heute" noch "trotzig auftretenden Neostalinismus und Neobolschewismus" (Hanloser 2012). Man muss diese meines Erachtens gefährlichen Versuchungen nicht übertreiben, aber unterschätzen sollte man sie nicht und deshalb scheint mir Wallats Thema nach wie vor politisch aktuell.

Ungeachtet der politischen Relevanz, aber durchaus nicht von dieser losgelöst, ist Wallats Thema auch deshalb von Bedeutung, weil jene bolschewistische Versuchung einen großen Teil ihrer Attraktionskraft auch von daher gewinnt bzw. gewinnen kann, dass man ihn für eine irgendwie "erfolgreiche" oder "historisch-notwendige" - damit durch die Zeitumstände zu verteidigende - Denkform und Bewegung interpretiert und nicht kategorisch als das begreift, was seine (links-)radikalsten Widersacher in ihm sahen: "dass die bolschewistische Usurpation der russischen Revolte ein Verhängnis in der Geschichte der Emanzipation von welthistorischem Ausmaß darstellt. Auch sie ist ein Fanal, ein Geschichtszeichen, nicht aber für den Fortschritt der Freiheit, sondern der Selbstzerstörung der Revolution, die im Namen des Kommunismus nicht die Selbstbefreiung der Subalternen bedeutete, sondern die Errichtung einer neuen, überaus brutalen Form von Herrschaft." (Wallat) Überdies scheint ein Gutteil jenes, mühsam in Teilen durch die "Neue Linke" erarbeiteten antibolschewistischen Gedächtnisses, heute kaum mehr in fundierter Form zu existieren. Aus dem Erfolg eines Essays wie Gestern Morgen von Bini Adamczak lässt sich wohl auf das Geschichtsbewusstsein vieler Linker schließen; und dieser Essay ist eben, wie Wallat meines Erachtens zu Recht (vgl. Kellermann 2008) anmerkt, zwar einer der "wichtigsten, klügsten und auch intensivsten Essays der letzten Jahre", aber eben auch ein Text, der "indirekt" den "Mythos einer Identifikation von Bolschewismus und Kommunismus" fortschreibt und in dem die "häretische[n] Fraktionen" des Letzteren außen vor gelassen werden. (Im Gespräch mit mir erklärte Bini Adamczak hierzu: "Genau hier, in der Suche nach anderen möglichen geschichtlichen Auswegen, nach alternativen Ausgängen der Revolution, hätten die anarchistischen wie auch rätekommunistische und andere minoritäre Strömungen aber eine größere Rolle in Gestern Morgen spielen können und sollen. Dass sie es nicht tun, ist eine der bedeutsameren Lücken des Textes." Adamczak 2012)

Man ermisst die gegenwärtige Geschichtslosigkeit, wenn eine Rezension von Gestern Morgen irritierend-pathetisch mit folgenden Worten eingeleitet wurde: "Es bedarf schon einiges Mutes, sich im Jahr 2007 als selbst erklärte Kommunistin mit den historischen Erfahrungen der Sowjetunion auseinanderzusetzen." (Zeller 2007)

Es ist diese Geschichtslosigkeit, die auch den Ausgangspunkt für Wallats Intervention bildet. Denn es habe "auch in der Geschichte des so furchtbar gescheiterten kommunistischen Emanzipationsversuchs stets Alternativen" gegeben, "die in einer geschichts- und somit bewusstlos gewordenen Gegenwart dem Vergessen anheim zu fallen drohen." Im Auge hat Wallat jene, "die sich nicht vom erdrückenden politischen Koordinatensystem der Vergangenheit, das am Ende durch die stalinistische und nationalsozialistische Gewalt zermalmt wurde, haben dumm machen lassen".

Hendrik Wallat, der sich schon mit seiner Dissertation über das Verhältnis von Marx und Nietzsche mit unorthodoxem Blick der Philosophiegeschichte näherte (vgl. Wallat 2009) und dessen Interessen auch ansonsten breit gefächert sind - von materialistischer Rechts- und Staatstheorie (vgl. Wallat 2012) bis hin zur Tierrechtsproblematik (vgl. Wallat 2011) - legt mit Staat oder Revolution eine beeindruckende Untersuchung vor.

Beginnend mit Lenin, zu dem erklärt wird, dass - "[p]olitiktheoretisch" - der bolschewistische Terror aus Lenins Staats- und Demokratiebegriff" folge, schließt eine anschauliche Rekapitulation und (kritische) Diskussion der "Organisationsdebatte der russischen Sozialdemokratie" an, in welcher die Leninkritik des frühen Trotzki und von Luxemburg vorgestellt werden. Hierauf folgen Ausführungen über die erhitzten Auseinandersetzungen zwischen Lenin/Trotzki und Luxemburg und Kautsky im unmittelbaren Anschluss an die Oktoberrevolution. "Realistisch" - so Wallat zu Trotzkis Schrift Terrorismus und Kommunismus. Anti-Kautsky (1920), die seines Erachtens wie "keine zweite die Logik und Moral bolschewistischen Denkens ohne Mythos zum Erscheinen bringt" - "scheint ein Sieg der Revolution nur möglich zu sein, wenn dieser auf dem Schlachtfeld der Herrschaft und mit ihren Waffen errungen wird; dies zu leugnen, erfüllt für Trotzki bereits den Tatbestand konterrevolutionärer Umtriebe. Inwiefern indessen eine solche vermeintlich ultra-realistische kommunistische Politik von den Mechanismen der Herrschaft im Innersten ergriffen werden kann, bleibt Trotzki keinesfalls zufällig verborgen. Die Affizierung der Revolution durch die Konterrevolution ist für den bolschewistischen Revolutionär bloßer Schein, da die (konterrevolutionären) Mittel der Kommunisten den Zweck der Revolution gar nicht berühren bzw. die Mittel durch den Zweck eine geschichtsphilosophisch abgesicherte Wesensverwandlung durchmachen. Es ist der Glaube, im Besitz der absoluten Wahrheit der Geschichte zu sein, der es ermöglicht, die längst stattgefundene Pervertierung des Zwecks durch die Mittel zu leugnen und deren Verselbstständigung nicht einmal der Möglichkeit nach ins Auge zu fassen, obschon deren einzig mögliche Kontrolle, die Freiheit von Kritik und Opposition, bereits beseitigt ist. Die Herrschaft, die es zu überwinden galt, ist in neuer Gestalt wiederauferstanden. Sie spricht nun im Namen der Revolution und der Gschichte."

Das folgende Kapitel widmet sich mit Lukács dem "genuine[n] Philosoph der Oktoberrevolution", wobei zur Abrundung gleich noch eine "Kritik des geschichtsphilosophischen Hegelmarxismus" mitgeliefert wird. Nachdem diese eher "üblichen Verdächtigen" abgehandelt sind, wendet sich Wallat neben der Gruppe "Arbeiteropposition" den Rätekommunisten zu - Pannekoek, Gorter, aber auch Otto Rühle und Franz Pfemfert, sowie der "Gruppe Internationale Kommunisten Hollands", deren kritische, aber teils sehr ambivalente Stellung und Einschätzung zum Bolschewismus und Lenin im Besonderen herausgearbeitet wird. Kritisch wird festgehalten: "Die bestechende rätekommunistische Kritik am Bolschewismus findet ihre Grenze an traditionsmarxistischen essentials: dem ökonomistischen Fortschrittsdeterminismus und einer Ontologie der Arbeiterklasse, der eine Arbeitsmetaphysik korrespondiert."

Was sich hier etwas klischeehaft anhört, wird eindrucksvoll begründet und ausgeführt. Ähnlich differenziert widmet sich Wallat nun einem wirklich Unbekannten - zumindest im marxistischen Spektrum -, dem Anarchosyndikalisten Rudolf Rocker, den Wallat nicht zu Unrecht als den "bedeutendsten anarchosyndikalistischen Theoretiker der damaligen Zeit" einführt und der das "Gegenteil eines Exponenten des Klischeeanarchismus" darstelle. Dieser nun, und dies ist für Wallat von entscheidendem Interesse, brach mit jenen "traditionsmarxistischen essentials", wodurch seine 1921 formulierte Bolschewismuskritik in Der Bankerott des russischen Staatskommunismus ihre eigenständige Bedeutung erlangt: "Rockers Bolschewismuskritik zeichnet sich dadurch aus, dass sie über die Analysen der Rätekommunisten in entscheidender Hinsicht hinausgeht. Im Zentrum seiner Kritik steht nicht die ökonomische Bestimmung der russischen Revolution und der bolschewistischen Politik als bürgerlich, sondern die Fokussierung des Politischen." Bei aller Sympathie bleibt aber auch Rocker von Kritik nicht verschont, nicht zuletzt aufgrund dessen "orthodox-anarchistische[r] 'Anthropologie des guten Willens'", wobei dann noch ein ganzer Katalog von "zentrale[n] Fragen" anschließt, die sich der Anarchismus "nicht stellen zu müssen" glaubte.

Gewissermaßen den Höhepunkt des Buches bildet die Diskussion des Buches Gewalt und Terror in der Revolution des linken Sozialrevolutionärs Issak Steinberg, das Wallat völlig zu Recht für "das bis heute wichtigste Buch über die terroristische Politik der bolschewistischen Diktatur" hält. Steinberg diskutiert dort jede mögliche Rechtfertigung des Terrors und weist diese zurück; wohlgemerkt als einer jener, der unmittelbar an der Russischen Revolution beteiligt gewesen war und wusste wovon er sprach.

Abschließend folgen Abschnitte zu Korsch, dessen "mühselig[er] und steinig[er] Weg zum "Kritiker des Bolschewismus" nachgezeichnet wird und Simone Weil, die nicht nur die maoistische Fabrikintervention der 1970er Jahre in den 1930er Jahren vorwegnahm - siehe ihr Fabriktagebuch -, sondern auch wichtige Texte zum Bolschewismus und der Revolutionstheorie vorlegte.

Wallats Buch ist nur zu empfehlen. Daran ändern auch meine Einwände, die eher generelle Fragen betreffen und aufwerfen, nichts: die von Wallat ignorierte (mögliche) Rolle und Bedeutung von gewaltfreiem Widerstand; das implizit nahegelegte Geschichtsverständnis, wonach die bürgerlichen Gesellschaft historische Bedingung für eine emanzipierte Gesellschaft sei; sowie die analytische Tragweite eines Konzepts, das Theorien ihre Defizite auch - aber nicht nur! - dadurch nachweisen möchte, dass diese nicht den eigentlichen Kapitalismus und Staat erfasst hätten, wobei sich aber die Frage stellt, ob dieser eigentliche Kapitalismus und dieser eigentliche Staat überhaupt jemals existiert haben.

Das, was Wallat Simone Weil referierend erklärt, bleibt für eine geschichtsbewusste Linke jedenfalls aktuell: "Der Idee der Revolution die Treue zu halten, verlange folglich an erster Stelle ihre Entmythologisierung".


Literatur:

Adamczak, Bini (2007): Gestern Morgen. Über die Einsamkeit kommunistischer Gespenster. Münster: Unrast Verlag.

Adamczak, Bini (2012): Gespräch mit Philippe Kellermann, in: Philippe Kellermann (Hg.). Anarchismus, Marxismus, Emanzipation. Gespräche über Geschichte und Gegenwart der sozialistischen Bewegungen. Münster: Edition Assemblage, 2012. (im Erscheinen)

Hanloser, Gerhard (2012): Gespräch mit Philippe Kellermann, in: Philippe Kellermann (Hg.). Anarchismus, Marxismus, Emanzipation. Gespräche über Geschichte und Gegenwart der sozialistischen Bewegungen. Münster: Edition Assemblage, 2012. (im Erscheinen)

Kellermann, Philippe (2008): Geschichte anders schreiben. Bini Adamczak über die Einsamkeit kommunistischer Gespenster, in: Graswurzelrevolution. Nummer 334. Dezember 2008. S. 18.

Kellermann, Philippe (2011): Gegen die Militarisierung des linken Diskurses! Die Inszenierung tendenziell totalitärer Entweder-Oder-Politik in Der kommende Aufstand, in: Graswurzelrevolution. Nummer 355. Januar 2011. S. 18.

Wallat, Hendrik (2009): Das Bewusstsein der Krise. Marx, Nietzsche und die Emanzipation des Nichtidentischen in der politischen Theorie. Bielefeld: Transcript Verlag.

Wallat, Hendrik (2011): Die Tiere als Hüter der Menschlichkeit, in: Zeitschrift für kritische Theorie. Heft 32/33 (2011). S. 179-199.

Wallat, Hendrik (2012): Die Herrschaft des Rechts und ihre Suspension. Ein Beitrag zur politischen Philosophie des Rechts(staats), in: Ingo Elbe/Sven Ellmers (Hg.). Anonyme Herrschaft. Zur Struktur moderner Machtverhältnisse. Eigentum, Gesellschaftsvertrag, Staat III. Münster: Verlag Westfälisches Dampfboot. (im Erscheinen)

Zelik, Raul (2011): Nach dem Kapitalismus. Perspektiven der Emanzipation oder: Das Projekt Communismus anders denken. Hamburg: VSA Verlag.

Zeller, Jessica (2007): Gespenster revisited, in: jungle world. Nummer 45. 8.11.2007.

Zizek, Slavoj (2002): Die Revolution steht bevor. Dreizehn Versuche über Lenin. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.

Raute

Buchbesprechung von Paul Pop
Louis Hyman: Debtor Nation
The History of America in Red Ink
Princeton: University Press 2011, 392 Seiten, US-Dollar 35,-

Alles auf Pump: Verschuldung als struktureller Imperativ

"Das ist doch alles nur auf Pump" pflegte meine Oma zu sagen, wenn eine Familie im Dorf auffällig ihren Wohlstand zur Schau stellte. Mittlerweile ist der moderne Kapitalismus ohne expandierende private Verschuldung für Konsum und Immobilienkauf nicht mehr vorstellbar. Der Kredit ermöglicht erst Arbeiterinnen und Arbeitern Dinge zu kaufen, die sie sich von einem Monatsgehalt nie hätten leisten können oder wofür sie sehr lange hätten sparen müssen, wie z. B. für Autos und Immobilien, früher sogar für Fernseher, Kücheneinrichtungen oder Möbel. Toni Negri behauptet, dass die Finanzkrise in den USA 2008 nicht zuletzt durch das undisziplinierte und subversive Kosumverhalten der einfachen Bevölkerung ausgelöst worden sei. Bisher wurde das Thema "Konsumkredit" in linken ökonomischen Theorien wenig berücksichtigt. Louis Hyman, der an der Harvard Universität lehrt, zeigt in seinem Buch "The Debtor Nation: The History of American in Red Ink" wie die Vergabe von Privatkrediten im 20. Jahrhunderten von einem zwielichtigen Gewerbe von Kleinunternehmern und Kriminellen zu einem der profitabelsten Zweige der US-Wirtschaft wurde.

Hyman betont immer wieder die zentrale Rolle des Staates, der auf Krisen und Kämpfe reagiert. Vor der Weltwirtschaftskrise von 1929 war das Kreditbewerbe für Immobilienkauf sehr stark dezentralisiert und wurde von kleinen Firmen dominiert. Banken betrachteten diesen Markt damals nicht als gutes Anlagegeschäft. Im Zuge der damaligen Krise, die auch den Immobilienmarkt erfaßte, wurden Hunderttausende Häuser zwangsversteigert. Als Reaktion darauf schuf die Regierung unter Präsident Roosevelt im Rahmen des "New Deal" ab 1934 diverse Institutionen wie die "Federal Housing Adminstration" und setzte Programme in Bewegung, welche der einfachen Bevölkerung günstige Kredite für den Immobilienkauf einräumte. Mit dem "Federal Housing Act" wurden nationale Standards für den Immobilienmarkt festgelegt und von Beauftragten der Regierung überwacht. Auf Grund dieser Standardisierung erfuhren diejenigen, die Investitionen tätigen wollten, den genauen Wert einer Immobile und das Geschäft begann, für landesweit agierende Konzerne interessant zu werden. Die Bundesregierung verlieh selbst allerdings kein Geld, sondern sicherte die Kreditvergabe gegen Verluste ab, wenn im Gegenzug Kredite zu Zinsen von unter 5 Prozent vergeben wurden. Diese Programme Roosevelts legten die Grundlagen für einen modernen Immobilienmarkt und förderten sehr stark die Suburbanisierung. In den Vorstädten etablierte sich vor allem die weiße Mittelklasse. AfroamerikanerInnen profitierten von diesen Programmen im viel geringeren Maße, weil "Rassenkriterien" bei der Kreditvorgabe der Banken eine Rolle spielten. So bekamen jene entweder keine Kredite oder mussten im Durchschnitt höhere Zinsen bezahlen. Außerdem verhinderte die gesetzliche und die faktische Rassentrennung im Süden und im Norden, dass sich AfroamerikanerInnen in besseren Gegenden eine Immobilie kauften. Der Staat förderte die Suburbanisierung zusätzlich durch den Bau von Straßen und öffentliche Verkehrsmittel, mit welchen vor allem das Dienstpersonal seinen Arbeitsplatz in den Vororten erreichte. Die Mittelklasse kaufte schließlich auch ihr Auto auf Kredit. Die in den 1930er Jahren vom Staat angestoßene Entwicklung setzte sich während des Nachkriegsboom fort. Ende der 1950er Jahre besaßen zwei Drittel der "weißen" AmerikanerInnen und ein Drittel der "Schwarzen" ein Haus. Große Teile der "weißen" ArbeiterInnen gelangten so zu Eigentum.

Die Benachteiligung der AfroamerikanerInnen im Kreditsystem wurde vor allem im Zuge der Ghetto-Aufstände in den 1960er Jahren von der Regierung als Problem wahrgenommen. Studien zeigten, dass "Schwarze" auch für Konsumgüter mehr bezahlen mussten als "Weiße", weil sie die Angebote für günstige Ratenzahlungen der großen Kaufhäuser, die ohnehin außerhalb der Ghettos lagen, seltener in Anspruch nehmen konnten. Die Kreditnahme "um die Ecke" kostete viel höhere Zinsen als bei Banken oder Kaufhausketten. Die Überwindung der Diskriminierung im Kreditsystem sahen die Herrschenden als Mittel an, um durch die Schaffung einer "schwarzen" Mittelschicht die unruhigen Städte zu stabilisieren. Laut Hyman waren es aber vor allem Frauen aus der "weißen" Mittelschicht, die Gleichberechtigung einforderten. In der Regel vergaben Banken keine Kredite an verheiratete Frauen, selbst wenn sie über ein eigenes Einkommen verfügten. Viele ledige Frauen verloren mit der Ehe die Kreditwürdigkeit und mussten die aufkommenden Kreditkarten sowie Ratenzahlungen in Kaufhäusern über den Namen des Gatten laufen lassen. Auf Grund von Protesten wurde im "Equal Credit Opportunity Act" nach 1974 jede Diskriminierung auf Grundlage von Geschlecht und Ehestatuts verboten. 1976 wurde die Regelung auf die Kategorien "Rasse", "Religion", "Alter" und "ethnische Herkunft" ausgeweitet. Der damalige US-Präsident Ford pries den fairen Zugang zu Krediten für alle als Markenzeichen der amerikanischen Konsumgesellschaft. Hyman zeigt jedoch, dass damit noch lange keine Gleichberechtigung erreicht war. Zwar war die Abfrage von "Rassenkriterien" bei den standardisierten Verfahren zur Kreditvergabe nun verboten, Banken arbeiteten hingegen mit Postleitzahlen, die mehr oder weniger auch den soziale and "rassischen" Charakter eines Wohngebiets widerspiegelten. Individuelle Kreditraten wurden auf Grund des Kreditverhaltens der KundInnen in der Vergangenheit bewertet und so das Risiko für die Bank bewertet. Das bedeutete, dass Arme oder "Schwarze" aus den Ghettos, die keine "Kreditgeschichte" hatten, immer noch höhere Raten als die Mittelschicht bezahlen mussten.

Seit den 1980er Jahren expandierten Konsumkredite und Immobilienkredite rapide. Die Verwendung von Kreditkarten wurde zum Standard in der Ober- und Mittelschicht. Um weiter expandieren zu können, entdecken Banken und Kreditfirmen nun auch "Risikogruppen" als neue Kunden. Noch 1995 waren ein Fünftel der Afro-AmerikanerInnen nicht Kunde bei einer Bank ("unbanked" im Englischen). Ca. 26 Prozent der Afro-AmerikanerInnen sowie 45 Prozent der unteren Einkommensgruppen besaßen keine Kreditkarte. Da auf Grund des alten Bewertungssystems diese "Risikogruppen" keine Kredite bekommen hätten, zogen das Kreditgewerbe nun andere Informationen heran, z. B. ob die Rechnungen von Telefon- und TV-Gesellschaften immer pünktlich beglichen wurden. Neben der weiteren Ausdehnung des Zugangs zu Krediten, wurden auch den Mittelschichten immer neue Wege erlaubt, sich weiter zu verschulden. Da die meisten Konsum- und Immobilienkredite alle mit flexiblen Raten aufgenommen wurden, war das System extrem von der positiven Entwicklung des Immobilienmarktes abhängig, das 2008 zusammenbrach.

Leider endet Hymans spannende Geschichte vor der gegenwärtigen Krise. Es wird nicht mehr behandelt, dass die Privatverschuldung für die Ausbildung und Hochschulbesuche in den letzten 10 Jahren rapide zunahm und heute die Privatschulden wegen eines Studiums in den USA sogar die Kreditkartenschulden übersteigen. Diese Entwicklung passt eigentlich gut zu Hymans Argumenten, weil es in der Regel auch hier der Staat ist, der mit Garantieren für Banken und gesetzlichen Regelungen, es überhaupt erst attraktiv macht, an eine BA-StudentIn Geld zu verleihen, wobei er oder sie die Zinsen erst nach Jahren zurückzahlen kann. Im Nachwort vermerkt Hyman, dass die Finanzkrise von 2008 nicht ein Resultat des Scheiterns des Kapitalismus sei, sondern seines Erfolges. Seit 40 Jahren seien die Gewinne der Besitzer von Kapital gestiegen, während die Löhne gleichzeitig stagnierten. Da die kapitalistische Expansion auf immer weiter wachsenden Konsum beruht, wäre diese Entwicklung ohne die explodierende Privatverschuldung gar nicht möglich gewesen. Es sei falsch, die Privatverschuldung nur als freie Wahl der KonsumentInnen darzustellen, sondern sie ist in Zeiten von wachsender sozialer Ungleichheit, stagnierenden Löhnen und De-Industrialisierung zum strukturellen Imperativ geworden, dem sich niemand entziehen kann. Negri könnte man also entgegnen, dass dem strukturellen Zwang "über die eigenen Verhältnisse zu leben" nichts Subversives anhänge. Hymans Geschichtsschreibung des Privatkredits scheint von Karl Polanyi beeinflusst sein, der immer wieder betonte, dass erst der Eingriff des Staates in die Gesellschaft die Kapitalisierung immer größerer Bereiche möglich macht. Es war nicht nur der Staat, der mit der Übernahme von Garantien für die VerleiherInnen in den 1930er Jahren einen nationalen Immobilienmarkt ermöglichte, sondern auch durch seine Anti-Diskriminierungsgesetze in den 1970er Jahren die Einbeziehungen von immer größeren Teilen der Bevölkerung gestattete. Dass die Regierungen so handelten, war auch eine Reaktion auf die Kämpfe der Bürgerrechts- und Frauenbewegung. Gleiche Rechte bedeutete auch das Recht haben, sich wie "weiße" Männer für Konsum und Haus verschulden zu dürfen. Mit der Krise von 2008 sind allerdings die "Demokratisierung" des Kredits und damit auch die Ausdehnung der "Zinsknechtschaft" an eine Grenze gestoßen. Es wäre interessant, mehr darüber zu erfahren inwiefern Kreditvergabe als Kontrollinstrument gegenüber den Menschen eingesetzt wird. Maggie Thatcher propagierte die EigentümerInnengesellschaft als Programm. Die kleinbürgerliche Familie fürchtet um ihr Haus, das ihr "die Roten" wegnehmen wollen und um ihren auf Pump finanzierten Mittelklassewagen, den die "Ökos" madig machen. Diese Angst ist noch immer eine wichtige Stütze des Systems gegen gesellschaftliche Veränderungen. Selbst der oder die Yale-AbsolventIn, die oder der seinen 100.000 US-Dollar Studienkredit noch abbezahlen muss, kann den lukrativen Job nicht einfach hinschmeißen, wenn danach die Lust steht. In China wird heute z.B. von "Haussklaven" (fangnu) gesprochen, womit keinesfalls die bäuerlichen Dienstmädchen gemeint sind, sondern der Käufer, in der Regel ein Mann, der die nächsten 30 Jahre jeden Morgen brav zur Arbeit gehen muss, um seinen Kredit abzubezahlen.

In Österreich haben die Herrschenden allerdings die Option durch die Einführung von hohen Studiengebühren ganze Studentengenerationen zur Kreditaufnahme zu zwingen oder z. B. die Wohnungen des Gemeindebaus zu staatlich abgesicherten Bankkrediten an die MieterInner zu verkaufen. Bisher muss sich noch niemand für die Geburt eines Kindes oder eine Operation verschulden. Die Herrschenden haben radikale Privatisierungen, die dafür notwendig wären, vermieden, da sie zu großen gesellschaftlichen Konflikten führen könnten. Die Staatsverschuldung zur Finanzierung der sozialen Befriedung der Gesellschaft stößt aber mittlerweile an Grenzen, da nicht mehr alle europäischen Staaten auf den Kapitalmärkten Kredite zu günstigen Konditionen aufnehmen können. Die Praxis des Konsumkredits ist in Mitteleuropa im Vergleich zu den USA immer noch unterentwickelt. In Österreich und Deutschland kann man z.B. erst in letzter Zeit mit Kreditkarten in einigen Supermarktketten bezahlen. Eine spannende Frage, der Hyman nicht nachgegangen ist, ist die, wie Staats- und Privatverschuldung zusammenhängen. Die Linke hat bisher zu dem Thema der privaten Verschuldung keine klare Position. Verschuldung wegen Kaufs von Häusern, Autos oder Markenartikeln scheint bei Kritikerinnen und Kritikern der "Konsumgesellschaft" keine Sympathien zu erzeugen. Dabei können viele prekär Beschäftige nur noch mit der ständigen Überziehung ihres Kontos über die Runden kommen. Die Frage der Verschuldung spielte in vielen sozialen Bewegungen eine wichtige Rolle, wie beispielsweise der Pariser Kommune oder den Revolutionen nach dem 1. Weltkrieg. Die Nazis konnten in den 1920er Jahren beim Kleinbürgertum mit der Parole von der "Brechung der Zinsknechtschaft" politisches Kapital schlagen. Der chinesische Kommunismus fand bei den Bauern viel Sympathie, weil im Zuge der Bodenreform die Schuldscheine verbrannt wurden. Die Bolschewiki hatten seinerzeit reinen Tisch gemacht und nach der Oktoberrevolution von 1917 kurzerhand die zaristischen Staatsschulden annulliert. Wäre eine Übertragung dieser Methode auf die Privatschulden, also auch deren Annullierung, nicht ein wichtiger Auftakt für eine andere Gesellschaft?

Raute

IMPRESSUM

Erscheinungsdatum dieser Ausgabe: 15.3.2012,
Redaktionsschluss der Nr. 42: 30.4.2012,

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MitarbeiterInnen dieser Nummer: Martin Birkner, Robert Foltin, Stefan Junker, Wolfgang Neulinger,
Minimol, Franz Naetar, Karl Reitter, Georg Wallner

Layout: Karl Reitter

Erscheinungsort: Wien. Herstellerin: Digidruck, 1100 Wien

Offenlegung: Die Partei "grundrisse" ist zu 100% Eigentümerin der Zeitschrift "grundrisse".

Grundlegende Richtung: Förderung gesellschaftskritischer Diskussionen und Debatten.

Copyleft: Der Inhalt der "grundrisse" steht unter der GNU-Lizenz für freie Dokumentation, außer wenn anders angegeben.

ISSN: 1814-3156, Key title: Grundrisse (Wien, Print)

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Quelle:
grundrisse - zeitschrift für linke theorie & debatte
winter 2011, nr. 41
Herausgeberin: Redaktion "grundrisse"
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Internet: www.grundrisse.net


veröffentlicht im Schattenblick zum 6. April 2012