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GRUNDRISSE/032: zeitschrift für linke theorie & debatte, winter 2011


grundrisse - zeitschrift für linke theorie & debatte
nr. 40, winter 2011


INHALT

Redaktion:
Editorial

Schwerpunkt: (Welt)Revolution

Bernhard Dorfer:
Columbus segelt wieder ... nur ist sie diesmal eine Piratin.
Ein erster Versuch nach mehr als 9 Monaten im chaotischen Aufbruch der Weltrevolution Orientierung zu gewinnen

Paul Pop:
16 Thesen zur Weltrevolution

Pascal Jurt:
Pascal Jurt im Gespräch mit Diedrich Diederichsen

Stefan Junker:
Die Bolschewiki und die Übernahme der Ministerialbürokratie

Philippe Kellermann:
Das Schwere, das schwer zu machen ist. Erbauliches zum 10. Geburtstag der grundrisse

Peter Fleissner & Andreas Exner:
Peak Oil: wirtschaftliche Folgen und politische Folgerungen

Henning Fischer:
Erinnerung, Vergessen und das linke Geschichtsbewusstsein

Gerald Raunig:
Molekulare Revolution

Thomas Seibert:
Ontologie der Revolution. Elf Thesen zum PRAXIS-Zirkel - heute

Karl Reitter:
Buchbesprechung: Werner Bonefeld, Michael Heinrich (Hg.):
Kapital & Kritik. Nach der "neuen" Marx-Lektüre

Martin Birkner:
Buchbesprechung: Bernhard Schmid: Die arabische Revolution?
Soziale Elemente und Jugendprotest in den nordafrikanischen Revolten 2011

Robert Foltin:
Buchbesprechungen: Leo Kühberger / Samuel Stuhlpfarrer (Hg.):
Angekommen: Krise & Proteste in der Steiermark - Anna Leder (Hg.):
Arbeitskämpfe im Zeichen der Selbstermächtigung.
Kollektive Gegenwehr in Frankreich, Deutschland, der Schweiz, Österreich und Serbien

Raute

Editorial

Liebe LeserInnen,

vor euch liegt die Nummer 40 der grundrisse, Produkt unserer mittlerweile 10jährigen Redaktionstätigkeit. In den Frühzeiten der grundrisse wären wir wohl nicht auf die Idee gekommen, einen Schwerpunkt mit (Welt)Revolution zu betiteln, da hielten wir es noch mit der Kritik der politischen Ökonomie oder mit Theorien von Staat und Klasse. Nicht, dass dies heute nicht auch Thema so mancher Diskussionen der Redaktion und von Artikeln in den grundrissen wäre, aber die historische Entwicklung zeigt unseres Erachtens deutlich, dass Revolutionen auch nach dem vermeintlichen Ende der Geschichte (wieder) auf der Tagesordnung stehen. Entgegen unserer sonstigen Gepflogenheiten wird dieses Editorial nicht dazu benützt, die Texte der Nummer vorzustellen; der eine oder andere Stehsatz ließe ohnehin kaum ernsthafte Rückschlüsse auf die behandelten Thematiken zu. Auch unser revolutionäres Jubiläumsfest wird, wenn ihr diese Zeilen lest, bereits Geschichte sein. Wohin sich die grundrisse in den nächsten 10 Jahren bewegen werden, kann ebenfalls nicht vorausgesagt werden, zu konstatieren wären allenfalls die Fakten: dass trotz einem zufriedenstellenden Level an Abos und einer unseres Erachtens gleichmäßig hohen Qualität der Texte auch Ermüdungserscheinungen in die Arbeit der Redaktion eingeschlichen haben, dass die personelle und damit verbunde alters- und geschlechtsmäßige "Umverteilung" nach Teilerfolgen vor einigen Jahren weitgehend ausgeblieben ist, dass die (radikale) Linke hierzulande nach wie vor bestenfalls marginale Rolle in der politischen und sozialen Realität darstellt ... Versteht dies ruhig auch als Aufruf!

Jetzt aber genug gejammert, nicht zuletzt wollen wir ja mit diesem Heft die unterschiedlichen Aspekte historischer aktueller revolutionärer Bewegungen beleuchten. Lange Zeit gehörte der Begriff der Revolution zum Kernbestand linker Diskussionen. Wenn wir uns aber die Literatur dazu - selbst in den für die Theorieproduktion der Linken "goldenen" 70er Jahren - ansehen, so ist jenseits historischer Exegesen und ML-Plattitüden nicht sehr viel zu finden. Nicht zuletzt deshalb sahen wir es als Herausforderung, der Aktualität, aber auch der Historizität des Revolutionsbegriffes und seiner politischen Bedeutungen nachzuspüren. Seine Aktualität ist sicher auch der absoluten Unfähigkeit des zeitgenössischen Kapitalismus geschuldet, auch nur graduelle Verbesserungen in den Lebensverhältnissen der breiten Masse zu schaffen - und das angesichts eines noch nie dagewesenen Standes der gesellschaftlichen Produktivkräfte! Es scheint jedenfalls so, dass sich alles ändern muss, damit es nur ein bisschen besser wird. Kapitalismus und Zukunft sind jedenfalls mittlerweile tatsächlich unvereinbar geworden, und auch in Sachen Demokratie gilt es ganz von vorne (wo immer das auch ist) anzufangen. Die von John Holloway beschriebenen zwei Zeiten der Revolution, die un(ver)mittelbare des aufständischen "Ya basta!" auf der einen, und jene des langsamen und geduldigen des Neuerschaffens alternativer Ökonomien und Institutionen auf der anderen Seite dürften dabei eher die Untergrenze darstellen im Kampf gegen die "homogene und leere Zeit" (Walter Benjamin) des Kapitals. Die Occupy-Bewegungen, die Aufstände im arabischen Raum und die kollektiven Aneignungen der Jugendlichen in den europäischen Metropolen laufen noch getrennt voneinander. Gemeinsam aber - nicht vereint! - wären sie unwiderstehlich. Lest! Kämpft! Schreibt! Diskutiert! Hört einander zu! Mischt euch ein - auch bei uns!

Raute

Wer ist wer?

Wer sind sie und wer sind wir? / Sie sind die Prinzen und die Sultans / Sie: Das Geld und die Macht sind bei Ihnen
Und wir sind die Armen, die Habenichtse / So rate mal, denk scharf nach: / Wer von uns den anderen beherrscht?

Wenn das Volk aufwacht und ruft / Es heißt wir oder ihr auf dieser Welt / Rate mal, denk scharf nach
Wer von uns den anderen besiegen wird

(Scheikh Imam Isa, gestorben 1996, wiederauferstanden in der Erhebung vom Jänner 2011 - Lieder des blinden Sängers wurden auf dem Tahrir-Platz in Kairo oft gesungen)


Bernhard Dorfer:

Columbus segelt wieder ... nur ist sie diesmal eine Piratin

Ein erster Versuch nach mehr als 9 Monaten im chaotischen Aufbruch der Weltrevolution Orientierung zu gewinnen

Es gibt keine weißen Flecken mehr auf den Landkarten unseres Planeten. Die Welt, die es noch zu entdecken gilt, existiert erst mal nur in unseren atomisierten Träumen. Es geht um eine Welt, in der ein gutes Leben für alle real wird, die von niemandem und nichts mehr bedroht wird. Wir, die 99%, die Multitude, haben alle unsere Aufgaben. Unsere Feinde kontrollieren derzeit noch fast alles, weil sie all das, was sie uns und unseren Vorfahren geraubt und abgepresst haben, als ihren Besitz und damit als ihre gesellschaftliche Macht monopolisieren.

Zurzeit befindet sich der globale Kapitalismus jedoch aufgrund seiner inneren Antagonismen in einer veritablen Krise, die Finanz- und Wirtschaftskrise ist inzwischen zur Staatsschuldenkrise eskaliert. Unsere Feinde haben alle Hände voll zu tun, um ein komplettes Absaufen dieses Scheißsystems hintanzuhalten. Es sieht derzeit auch nicht sehr danach aus, als könnten sie die Kacke jemals wieder in den Griff bekommen. Die Krise entwickelt sich prächtig! Alle Freundinnen und Freunde des Kapitalismus wirken einigermaßen ratlos und zerfahren, und das ist gut so.

Und vor allem: Sie kontrollieren das Wichtigste, das sie zur Aufrechterhaltung des Systems brauchen, nicht mehr, nämlich uns! Wir haben am 14. Jänner 2011, als Ben Ali, der tunesische Langzeitpräsident nach 23 Jahren an der Macht die Flucht antrat, die Weltrevolution unwiderruflich begonnen. Wir haben endlich, endlich! abgelegt und die ersten Schiffe verlassen bereits die Küstengewässer und gewinnen an Fahrt; andere liegen noch am Kai vor Anker und werden gewaltsam an der Abfahrt gehindert und auf vielen Schiffen hat sich noch nicht mal die Mannschaft an Bord gesammelt. Dennoch hat die Flotte begonnen, aufzubrechen, und wir werden nicht Halt machen, bis wir ihr Empire gestürzt und unsere neue Welt erreicht haben werden.

Die Gesellschaften des Planeten sind heute hochgradig vernetzt und das Internet schafft die Möglichkeit für jede und jeden, bei allem, was auf der Welt geschieht, "live" dabeizusein und zu jedem und jeder persönlich Kontakt aufzunehmen. Die Migrantin ist längst eine wichtige Gestalt in den globalen Kämpfen geworden. Der Internationalismus ist im Zuge dessen von einer politisch abgeleiteten und moralisch getönten Forderung ans Bewusstsein von in eher abgeschlossenen, regional beschränkten Lebenswelten Existierenden und Kämpfenden zu einer tagtäglichen Praxis von Millionenmassen geworden. Die globale Wahrnehmung der Ereignisse hat sich enorm beschleunigt. Die Verallgemeinerung der Erfahrungen und Resultate unserer Kämpfe findet längst schon auf globaler Ebene statt. Es macht überhaupt keinen Sinn mehr, auf voneinander separierte, national zu vereinheitlichende Prozesse zu setzen, wie es die staats- und damit natürlich zwangsläufig auch nationalstaatsfixierte Linke nach wie vor tut. Nationale Befreiung war gestern (und auch gestern schon hochproblematisch)!

Die globale revolutionäre Bewegung, deren Teil wir sind, entfaltet sich weltweit in Kämpfen um Demokratie und als Besetzungsbewegung. Zwischen deren räumlich und zeitlich indizierten Äußerungsformen sind keine grundlegenden inhaltlichen Unterschiede mehr auszumachen. Demokratie- und Besetzungsbewegung gehen jeweils spezifische Verbindungen miteinander ein. Die Besetzung des Tahrirplatzes (= Platz der Befreiung) in Kairo, die eine zeitlang im Fokus der internationalen Medienöffentlichkeit gestanden ist, wurde zum internationalen Symbol dieses neuen Zyklus der Kämpfe. Der durch sie erzwungene Rücktritt des ägyptischen Langzeitherrschers Mubarak war ein weiterer substanzieller (Teil-)Erfolg der weltrevolutionären Bewegung.

Vorstellungen, als könnten irgendwo mit einer einzigen entschlossenen Aktion (Sturm auf die Bastille, Sturm aufs zaristische Winterpalais) oder mit dem Erkämpfen einer parlamentarischen Mehrheit von 50% + 1 Stimme "die Hebel" in einer Gesellschaft endgültig umgelegt und diese damit unwiderruflich auf einen anderen Entwicklungspfad gesetzt werden, wie sie die mit ihren beiden Flügeln, dem parlamentarisch-reformistischen der Zweiten Internationalen und dem aufständisch-revolutionären der Dritten Internationalen historisch gescheiterte Staatslinke nach wie vor pflegt, sind vollends obsolet geworden und damit auch die ihnen entsprechende, parteiförmige Form der Organisierung der emanzipatorischen Kräfte. Und dennoch: Ohne organisierte Konfrontation mit der staatsförmigen, global zum Empire entwickelten Formierung der Gesellschaft ist keine nachhaltige Befreiung denkbar. Dass bisher gegebene Antworten sich geschichtlich als Sackgassen erwiesen haben, hat die ihnen vorgeordneten Probleme und Fragen nicht gleich miterledigt oder verschwinden lassen, sondern die alten Fragen stellen sich mit gesteigerter Dringlichkeit immer noch und verlangen neue Antworten.

Das zapatistische Motto "fragend schreiten wir voran" reflektiert die Situation, in die wir gestellt sind: Wir haben die Antworten noch nicht und sehen uns zugleich genötigt, in den im Zusammenbruch des Kapitals aufbrechenden emanzipatorischen Bewegungen unsere Praxis zu entfalten. Wir sind also nicht nur physisch heillos überfordert, weil wir, die vielen, kleinen "Wirs", die kleinen Netze persönlicher Bekanntschaften, so wenige und untereinander so unkoordiniert sind und vor gewaltigen Aufgaben stehen, sondern auch deswegen, weil wir über weite Strecken noch nicht einmal über das geistige Rüstzeug verfügen, zumindest theoretisch zu wissen, wie wir sie bewältigen könnten.

Trotzdem bleibt uns nichts anderes übrig, als praktisch zu handeln, und die Idee, es könnten irgendwelche TheoretikerInnen in irgendwelchen Studierstuben für uns die fehlenden Antworten austüfteln, ist nicht nur Ausdruck eines überkommenen akademischen Elitismus und/oder politischen Avantgardismus, sondern schwächt und behindert in der derzeitigen Situation darüber hinaus die emanzipatorische Strömung, weil sie den Bewegungen intellektuelles Potential entzieht und eventuelle Ergebnisse aller derartiger Bemühungen nicht anderes sein können als in mehrfacher Hinsicht daneben. Wir müssen auf die Massenintelligenz setzen, die organische Intellektuelle und das leidenschaftliche Bemühen um fehlende Antworten. Es geht um die auch theoretische Anstrengung im Handgemenge, und das hat gar nichts zu tun mit einem Kult der Antwortlosigkeit, der blasierten Nonchalance, ja offensiven Ignoranz gegenüber offenen theoretischen Fragen, die als Rekuperation des zitierten zapatistischen Slogans ebenfalls im Schwange sind.

Auch das scheint mir jedoch nicht das gewichtigste Hindernis für einen entschiedenen Schritt vorwärts in unseren Breiten zu sein, sondern vielmehr das realitätsblinde und gedankenfaule Weitermachen in den einmal eingefahrenen Bahnen, das Weitergehen auf Wegen, für die mensch sich einmal entschieden hat. Von der organisierten radikalen Linken wird der ganze um den Staatsfetisch zentrierte abgelebte theoretische Schrott der historisch gescheiterten III. Internationale bewusst- und lustlos weitertradiert und in der Praxis erschöpft sie sich in der Simulation (weil es die ersehnte Partei eben nicht oder, wie sie glauben, noch nicht gibt) der in der Vergangenheit erprobten und bewährten Aktionsformen. Mehr oder weniger große Großdemonstrationen auf der unteren Mariahilferstraße in Wien werden so zum Jakobsweg der österreichischen Linken und Abschlusskundgebungen vor dem Patlament zum säkularen Gottesdienst. Da kann wirklich nur mehr Maria helfen (die unfreiwillige Ironie der topographischen Bezeichnungen!) beziehungsweise ein Wunder retten.

Auch hat sich die organisierte und nicht organisierte radikale Linke offenbar mit ihrer gesellschaftlichen Randständigkeit abgefunden und sich darin häuslich eingerichtet. Zu diesem mentalen Biedermeier passen dann auch entsprechend pessimistische Einschätzungen der Weltlage und der Situation in Österreich am besten, die mensch sich durch solche Ereignisse wie den weltweit ausstrahlenden StudentInnenstreik oder den Arabischen Frühling nur ungern nehmen lassen will. Als gelernte Linke hat mensch da schnell ein paar kritische Anmerkungen bei der Hand, die es ihr ermöglichen, sich nach einigen kurzen Augenblicken der Irritation wieder in die altgewohnte kritische Distanz und Selbstisolation zurückfallen zu lassen.

Die Ausrichtung der eigenen Aktivitäten bleibt strikt einer absoluten Defensive verpflichtet, erschöpft sich in lauter Antis - Antifa, Antira, Antisexismus -, in denen uns die Gegner und Feinde die Agenda vorspringen und wir ihnen so gut wir es mit unseren schwachen Kräften eben vermögen protestierend nachhoppeln. Das war es dann: Wir haben uns ehrlich bemüht, sind moralisch sauber geblieben, und mehr schaut dabei eben nicht raus. Dabei sollte doch eigentlich klar sein, dass sich Faschismus nicht mit Antifaschismus, Rassismus nicht mit Antirassismus schlagen lässt, sondern nur mit revolutionärer Aktivität. (Beim Sexismus liegt die Sache wahrscheinlich anders, aber da bin ich mir einfach nicht sicher.)

Aber auch wenn mensch die Ziele deutlich tiefer hängt und aus welchen Gründen auch immer revolutionäre Aktivität zumindest derzeit für unmöglich hält, sollte doch zu denken geben, dass bei aller Anti-Aktivität nicht einmal dem vordergründigsten und oberflächlichsten Ziel näher gekommen wird, nämlich dem Aufschwung der populistischen und extremen Rechten Einhalt zu gebieten, der sich in der akuten krisenhaften Entwicklung des Kapitals bei einer solcherart aufgestellten radikalen Linken nur verstärken kann. Auch diese praktische Erfolglosigkeit in der Erreichung der selbst proklamierten Ziele, scheint nicht dazu anzuregen, dieses Faktum einmal gründlich zu diskutieren und die eigene Vorgangsweise vielleicht in Frage zu stellen.

Bei solchen Mysterien des Politischen, die sich logisch nicht mehr erklären lassen, empfiehlt es sich, nach anderen als den geäußerten Motiven für solches Agieren und Ideologisieren Ausschau zu halten. Und es braucht eigentlich auch nicht allzu viel soziologische Phantasie, um ein ganz anderes Anliegen als den in den Vordergrund gerückten Antifaschismus beziehungsweise Antirassismus als wahre Motivationsgrundlage zu decouvrieren, nämlich eine zeitgeistadäquate Modernisierung des guten alten bildungsbürgerlichen Standesdünkels der besser gebildeten Kreise. In den diversen "Salons" lässt es sich gar trefflich und gemütlich über den dumpfen Fremdenhass der Massen, den islamischen Fundamentalismus, das Machogehabe der Prolos und den vorsintflutlichen Patriarchalismus mancher Migranten und die queere Genderdekonstruktion parlieren und, wenn es sein muss oder mensch sich dadurch als bunter Hund beziehungweise Paradiesvogel profilieren kann, auch über den Kommunismus als schöne Idee. Grundbedingung ist nur, dass mensch sich in gebührendem Abstand vom ungebildeten Pöbel und seinen Aktionen und Bewegungen hält und die Distinktion von altmodisch gesprochen Kopfarbeitern und Handarbeitern einzementiert und nicht durchbricht. Die "Prolos" werden der Formatierung durch rechte Agitatoren überlassen, nur um dann dieses Ergebnis einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung mit großer Befriedigung als bereits vor Jahren prognostiziert zur Kenntnis zu nehmen und als Bestätigung der eigenen grenzgenialen theoretischen Potenz zu werten. Wir sind eine kleine, aber feine und sehr radikale kritische Minderheit, und wollen dies unbedingt auch bleiben.

Im deutschen Sprachraum hat sich eine spezielle Variante dieser allgemein in der StudentInnen- und GymnasiastInnen-Linken verbreiteten Tendenzen auf einer spezifischen weltanschaulichen Grundlage herausgebildet und verfestigt, die sogenannten Antideutschen. Wie die neuen Philosophen in Frankreich oder die Neocons in den USA haben sie sich ursprünglich selbst von der Linken herkommend inzwischen dahin entwickelt, dass sie sich in allen geopolitischen Fragen konsequent am äußersten reaktionären Flügel des Empires positionieren. Im Inneren wirken sie als Speerspitze der Konterrevolution auf unserer Seite der Barrikade, weil sie von vielen Linken noch immer als Unseresgleichen angesehen werden, obwohl sie keine andere Aktivität entfalten, als über alle aufkommenden Bewegungen und Initiativen kurz drüberzuscannen, dabei dieses oder jenes Detail aufzuspüren, und sei es auch noch so randständig, und darüber dann ausufernde und eskalierende Debatten loszutreten. Sie gerieren sich dabei als oberste Gralshüter des Anti-Antisemitismus, bedienen sich hemmungslos aller Mittel der Denunziation und auch der persönlichen Diffamierung und schüchtern damit auch wegen der besonderen Bedeutung dieser Fragen in unseren Gesellschaften nicht wenige ein. Auch bei ihnen wird aus den vorgeschobenen Begründungen nicht klar, warum sie den Hauptfeind partout und konsequent in der Linken und in emanzipatorischen Bewegungen auszumachen vermeinen. Sie tun, was in ihren Kräften steht, um die Linke und emanzipatorische Bewegungen zu behindern und zu torpedieren. Das wird dann wohl auch allen anders lautenden Beteuerungen zum Trotz ihre tatsächliche Agenda sein, und dementsprechend sollten sie auch von der Linken behandelt werden.

Die radikale Linke in Österreich ist also zurzeit nicht gerade optimal aufgestellt und auch die Bewegungen kommen nicht recht vom Fleck, was zum Teil auch miteinander zu tun hat. Es scheint aber auch insgesamt der globale revolutionäre Prozess etwas ins Stocken geraten zu sein. Nach den schwungvollen und mitreißenden Ereignissen in Tunesien und Ägypten im Frühling hat im arabischen Raum die Reaktion wieder an Initiative gewonnen, die revolutionäre Bewegung in Bahrein wurde mit saudischen Truppen niedergemetzelt, Kräfte des Empire haben im lybischen Bürgerkrieg interveniert und die Kräfte des Aufstands deformiert. In Syrien und Jemen haben sich für die emanzipatorischen Kräfte äußerst opferreiche Pattsituationen herausentwickelt.

Vielfach wurden die Kämpfe in den arabischen Staaten als Kämpfe um eine Art nachholende Demokratisierung zu charakterisieren versucht, wodurch sich die islamischen beziehungsweise arabischen Staaten erst mal auf das Niveau der entfalteten liberalen Demokratien des Nordens und Westens hocharbeiten müssten. Das sei das Maximum des für sie derzeit Erreichbaren und für die betreffenden Gesellschaften ohnehin schon ein enormer Fortschritt. Das Problem daran: Keines der sozialen Probleme, die den Protest und den Widerstand gegen die langjährigen Herrscher in den arabischen Staaten ausgelöst und motiviert hatten, wird durch die Möglichkeit, den Präsidenten und die Parlamente wählen zu dürfen (was übrigens auch bisher schon möglich gewesen ist, nur wurde eben immer mit 98,6 Prozent Ben Ali beziehungsweise Mubarak und deren Parteien gewählt), gelöst werden können. Die parlamentarisch-repräsentative Demokratie nach nördlichen beziehungsweise westlichem Muster erscheint auch nicht allen in diesen Staaten als der Gipfel des Erstrebenswerten.

Aus der Innenperspektive im Norden und Westen wirkt zusätzlich reichlich skurril, dass international die parlamentarisch-repräsentative Demokratie als Vorbild propagiert wird, obwohl sie sich in den betreffenden Staaten selbst in einer veritablen Krise befindet. Seltsam erscheint aber vor allem auch, dass von den kapitalistischen Staaten mit parlamentarischen System so emphatisch als von den Demokratien gesprochen wird, wo doch die ganze Wählerei und die Alternativen, die sich dabei anbieten, insgesamt nur ein so minimales Moment des Geschehens ausmachen, um das freilich sehr viel Tamtam veranstaltet wird. In den allermeisten Bereichen der vom Kapital geprägten Gesellschaften herrscht nämlich ganz einfach die blanke Diktatur des Besitzes[1]. Und selbst dieses klitzekleine Fleckchen Demokratie ist jetzt in der Wirtschafts-, Finanz- und Staatsschuldenkrise, wo es im Interesse des Kapitals harte Maßnahmen gegen die Habenichtse braucht, so manchem im Establishment noch viel zu viel und im Wege: es werden sogenannte Expertenkabinette eingesetzt, die niemand gewählt hat, wie neulich in Griechenland und jüngst in Italien; beinahe jeden Tag meldet sich irgendein dahergelaufener Wirtschaftsboss und Pleitier zu Wort, um zu verkünden, dass mit dem Herumgezaudere endlich Schluss sein und hart durchgegriffen werden müsse und sogenannte Qualitätszeitungen stellen Überlegungen an über "Die Rettung durch Diktatoren auf Zeit" (Salzburger Nachrichten, 19. November 2011).

Die Zeiten bleiben spannend.

E-Mail: bernhard_dorfer_at@yahoo.de


Anmerkung:

[1] "Bei Locke wird das Private als singuläre Aneignung der durch das Individuum geleisteten Arbeit definiert. Das Private ist das Eigene, das sich über seine rechtliche Form festigt, es ist das Privateigentum. (...) Heute besteht das Privateigentum in der Verweigerung des gemeinsamen Rechts der Menschen über das, was nur ihre Kooperation zu produzieren imstande ist." (Antonio Negri: Auf der Suche nach dem Common Wealth. Übersetzt von Klaus Neundlinger. In: 1/2011, eipcp transversal inventions,
http://eipcp.net/transversal/0811/negri/de) Hochinteressant auch Negris Kritik des Öffentlichen als ebenfalls auf dem Eigenen' beruhender Kategorie und weiterer Form der Entfremdung an dieser Stelle, gegen die er den Begriff des Gemeinsamen in Stellung bringt.

Raute

Paul Pop:

16 Thesen zur Weltrevolution

Als ich vor einem Jahr "16 Thesen zur Weltrevolution" verfasst habe, war die Wahl des Titels nicht frei von Ironie. Im Januar 2011 wurde dann im Zuge der "Jasmin-Revolution" in Tunesien die arabische Welt von einer revolutionären Welle erfasst, die bis heute andauert. Noch ist es offen, ob die Umstürze in Tunesien und Ägypten mehr erreichen werden, als eine Modernisierung des Kapitalismus unter Führung der Armee oder ob die westlichen Mächte wieder die Kontrolle über die Entwicklung herstellen können. Zumindest ist das Wort "Revolution" wieder in aller Munde und die Volksmassen erscheinen (zumindest für einen Moment) als die Triebkräfte der Geschichte. Auch scheint der Nationalstaat nicht in der Lage zu sein, die Ausbreitung der revolutionären Welle einzudämmen. Lange haben wir auf Revolutionen gewartet, nun sind sie da, nur nicht bei uns, und die traditionelle Linke spielt auch in den arabischen Ländern keine entscheidende Rolle. Dies ist nicht nur auf die Repressionen der arabischen Regimes zurückzuführen, sondern auch auf das Scheitern des Sozialismus im 20. Jahrhundert, von dem sich die Linke weltweit noch immer nicht erholt hat. Die Parole "Sozialismus oder Barbarei" können wir heute nicht mehr verkünden, seit wir wissen, dass auch der Sozialismus direkt in die Barbarei führen kann.

Wenn wir uns heute die Frage stellen, wie wir den Kapitalismus überwinden können und wie wir uns organisieren sollen, dann können diese Niederlagen nicht ignoriert werden. Aus Angst, wieder in alte Fraktionskämpfe zu verfallen, wird diese schmerzhafte Geschichte in der Linken heute nur selten thematisiert. Andere Themen wie Migration, Grundeinkommen oder Körper-Politik sind in den Vordergrund gerückt. Fest steht jedoch, dass keine revolutionäre Bewegung, unter welchem Banner sie auch antrat, eine emanzipatorische Gesellschaftsform schaffen und den globalen Kapitalismus überwinden konnte.

In den linken Debatten wird heute nur noch selten von Revolution gesprochen. Die Begriffe Widerstand, Subversion, Exodus, Ungehorsam oder Performance sind beliebter. Sicher wurde in der Vergangenheit ein Fetisch um den Tag X der Revolution betrieben und das Leben künstlich in "vor der Revolution" und "nach der Revolution" eingeteilt. Wie Friedrich Engels sagte, ist der Kommunismus die Bewegung, die die bestehenden Zustände aufhebt. Die Revolution hat weder einen klaren Anfang noch ein Ende. Eine Revolution ist sowohl ein Ereignis als auch ein Prozess. Ich möchte an dem Begriff festhalten, da die kapitalistische Gesellschaftsordnung nicht nur durch Widerstand und Subversion unterwandert und revolutioniert werden, sondern auch abgeschafft werden muss. Außerdem verbinden vielen Menschen mit dem Begriff "Revolution" immer noch positive Dinge, sonst würde er in der Werbung oder bei Beschreibungen von Elitenwechseln (wie z. B. die "orange Revolution" in der Ukraine) nicht so oft gebraucht werden. In der Vergangenheit unterschieden Marxisten-Leninisten oft zwischen der politischen Revolution (also der Machtergreifung durch das Proletariat oder seine Partei) und der sozialen Revolution (Abschaffung des Privateigentums an Produktionsmittel und Bodenform). Der Leninismus konnte das eine nicht oder das andere denken und wurde immer mehr zur Lehre der Machtergreifung bzw. Erhaltung der Macht. Die revolutionäre Umwälzung des Alltags (Familie, Kindererziehung, Sexualität, Arbeitsteilung usw.) verschwand in allen leninistischen Staaten relativ schnell von der Agenda der Kommunistischen Parteien, die sich später stark an kleinbürgerlichen Vorstellungen orientieren.

Positiv an unserer heutigen Schwäche ist, dass niemand, den man ernst nehmen kann, einen fertigen Entwurf für Revolution und Kommunismus vorlegen kann. Noch gibt es Modelle "proletarischer Vaterländer", die man nur kopieren müsste. Für die Niederlage des Sozialismus im 20. Jahrhundert ist bis heute keine überzeugende Erklärung ausgearbeitet worden. Im Wesentlichem dominieren strukturelle Erklärungen, dass Länder wie Russland oder China zu unterentwickelt und arm waren, um mehr als eine alternative Variante nachzuholender Modernisierung ("primitive Akkumulation" oder "Staatskapitalismus") hervorzubringen. Demnach war es auf Grund der strukturellen Ausgangsbedingungen oder internationalen Rahmenbedingungen nicht möglich, eine emanzipatorische Gesellschaft zu schaffen. Orthodoxe Marxisten und Sozialdemokraten warfen den "voluntaristischen" Revolutionären wie Lenin oder Mao Zedong schon damals vor, die objektiven ökonomischen Verhältnisse ignoriert zu haben. Die andere, weit verbreitete Erzählung erklärt die Niederlagen mit Verrat von Führern (Lenin, Stalin, Chruschtschow, Deng Xiaoping usw.), die eine gute Bewegung in die falschen Bahnen lenkten und das Projekt zum Scheitern brachten. Materialistisch unterfuttert werden diese Verrats-Theorien mit Verweisen auf Intellektuelle, Kulaken, Bürokraten oder neue Kapitalisten als soziale Basis. Manchmal werden auch beide Theorien mit einander kombiniert, indem der "Verräter" zum Ausdruck der strukturellen Verhältnisse erklärt wird. Ernsthafte Forschung hat innerhalb der Linken jedoch kaum stattgefunden.[1] Weit davon entfernt die Niederlage der Vergangenheit erklären zu können, möchte ich jedoch einige Schlussfolgerungen aus den geschichtlichen Erfahrungen ziehen und darüber nachdenken, was dies für uns heute bedeutet. Ich beschäftige mich dabei mit drei globalen revolutionären Wellen[2], 1. Proletarische Revolutionen und Aufstände nach dem 1. Weltkrieg (Russland 1917, Deutschland, Österreich/Ungarn 1918/19, Italien 1921), die mit RäteBewegungen verbunden waren 2. Befreiungsbewegungen im Kontext der Dekolonisierung nach 1945 (China, Korea, Kuba, Vietnam usw.), 3. Revolutionäre Unruhen um 1968 (USA, Pariser Mai, Westdeutschland, CSSR, Chile, Japan usw.). Diese globalen Feuer entflammten nur für kurze Zeit. Die revolutionäre-kommunistische Arbeiterbewegung in Westeuropa wurde bis Mitte der 20 Jahre geschlagen und ihr Ende kam spätestens mit der Machtübernahme des Nationalsozialismus 1933 bzw. dem Sieg von Franco in Spanien 1939. Die antikoloniale Revolte sollte länger andauern. Spätestens mit dem Krieg zwischen den sozialistischen Staaten Vietnam, Kambodscha und China 1978/79 zerplatzen die letzten Träume von Asien als Zentrum der Weltrevolution. Die Welle von 1968 zerlief sich ein paar Jahre später in Ländern wie Deutschland und Frankreich, bzw. wurde in Chile und Italien durch massive staatliche Repressionen beendet. Seitdem ist es zur keinen globalen revolutionären Welle im Sinne des Kommunismus mehr bekommen. Die wenigen emanzipatorische Elemente der Bewegungen in Osteuropa und China von 1989 haben die ersten Jahre der post-sozialistischen Gesellschaften kaum überlebt.


Von der Oktoberrevolution zu den Bauernkriegen der 3. Welt

1. These: Die Welle von proletarischen Revolutionen in Europa um 1918 war eine Folge des 1. Weltkrieges. Ohne Massenmobilisierung für den "totalen Krieg" kann die Oktoberrevolution nicht verstanden werden.

Schon die Revolution 1905 brach nach der russischen Kriegsniederlage gegen Japan aus. Zu diesem Zeitpunkt diskutierten die Bolschewiki die Strategie, die Kriegsniederlage der eigenen Regierung in einen Umsturz umzuwandeln. Der 1. Weltkrieg brachte die Verhältnisse zum Tanzen, weil Millionen Menschen als Soldaten in den Krieg eingezogen und aus ihren gewohnten sozialen Zusammenhängen gerissen wurden. Der Staat übernahm im deutschen und russischen Reich Teile der Wirtschaft und die Versorgung von Armee und der (Stadt-)Bevölkerung durch ein Rationierungssystem. Versorgungskrisen verwandelten sich in beiden Staaten im dritten Kriegsjahr in Proteste gegen die Regierungen. Revolutionen wurden möglich, als sich große Teile der Bevölkerung gegen die Fortsetzung des Krieges wandten und Teile der Armee die Befehle verweigerten. Durch den Zusammenbruch der Front lag die Macht auf der Straße, die die Revolutionäre, gestützt auf Teile der Industriearbeiterschaft ergreifen konnten. Außerdem hatten die "Zwangswirtschaft" des Krieges und die ständigen Requirierungen das Bündnis zwischen der alten aristokratischen Elite und den Bauern zerstört. In Russland wurde die städtische Revolution von spontanen Agrarrevolten begleitet, die zur Auflösung der Armee beitrugen, da viele Bauern nach Hause gingen, um an der Neuverteilung des Bodens teilzunehmen. In einer Gesellschaft, die schon durch den Massenmord an Millionen durch den Krieg brutalisiert und traumatisiert war, erschien eine gewaltsam Revolution als einzige folgerichtige Lösung. Die Revolutionen nach dem 1. Weltkrieg sind ohne den Zusammenhang mit dem "totalen Krieg" nicht zu verstehen. Heute stellt sich die Frage, ist eine Revolution ohne eine große Katastrophe überhaupt möglich?


2. These: Die Besonderheiten der russischen Verhältnisse wurden von der internationalen kommunistischen Bewegung unterschätzt. Die russische Bauernschaft der Dorfgemeinde (mir) unterschied sich grundlegenden von den Bauern in Westeuropa.

Das Konzept der russischen Oktoberrevolution, der Machtergreifung auf Grundlage eines Bündnisses zwischen Proletariat und Bauern, konnte nicht auf Westeuropa übertragen werden, da dort ganz andere soziale Verhältnisse auf dem Land herrschten. Wie auch die jüngere akademische Forschung bestätigt, ging die russische Dorfgemeinde mit kollektivem Bodenbesitz Anfang des 20. Jahrhunderts nicht unter und wurde durch die Oktoberrevolution sogar noch gestärkt.[3] Mit dem Gesetz zur Bodenreform von 1917, das auf den Vorstellungen der Sozialrevolutionäre beruhte, wurde der gesamte Boden nationalisiert. In Westeuropa hatte sich hingegen schon lange Privateigentum herausgebildet und die Bauern sahen die Kommunisten in der Regel als Feinde an. Lenin konnte die russischen Bauern nur in westlichen Kategorien fassen und dachte darüber nach, ob die russische Landwirtschaft den amerikanischen oder preußischen Weg gehen würde. Stalin, der die russischen Verhältnisse besser verstand, brachte es später auf den Punkt, warum die Nationalisierung des gesamten Bodens in Russland von den Bauern unterstützt wurde, nicht aber in Westeuropa: "In den kapitalistischen Ländern besteht das Privateigentum an Grund und Boden Hunderte von Jahren, was man von den kapitalistisch weniger entwickelten Ländern, in denen der Bauernschaft das Prinzip des Privateigentums an Grund und Boden noch nicht in Fleisch und Blut übergehen konnte, nicht sagen kann. Bei uns, in Russland, sagten die Bauern sogar eine Zeitlang, dass der Boden niemanden gehöre, dass er Gottes Boden sei."[4] Die Kommunistischen Parteien der Zwischenkriegszeit besaßen nur sehr geringe Kenntnisse von den sozialen Verhältnisse in Russland. Der Traum von einem deutschen oder asturischen "Oktober" war eine Illusion. Die Oktoberrevolution war keine sozialistische Revolution, sondern blieb in den Grenzen einer radikaldemokratischen Revolution unter Führung des Proletariats. Der Versuch, diese Grenzen zu überschreiten, endete während des sogenannten "Kriegskommunismus" (1919-20) im Desaster. Mit der Verkündung der NEP (Neue Ökonomische Politik) mussten die Bolschewiki anerkennen, dass sie nicht in der Lage waren, über das Agrarprogramm des Oktobers hinauszugehen, wollten sie nicht die Unterstützung der Bauernschaft gänzlich verlieren.[5] Erst 1929 mit der Kollektivierung und dem 1. Fünfjahresplan wagte die Partei unter Führung von Stalin eine radikale Umwälzung der sozialen Verhältnisse auf dem Land in Angriff zu nehmen. Zwar gelang es die Dorfgemeinde dem Staat zu unterwerfen und durch einen direkten Zugriff auf das agrarische Mehrprodukt Ressourcen für Urbanisierung und Industrialisierung freizusetzen. Allerdings mussten im Zuge der Hungersnot von 1931-1933 wieder Zugeständnisse an die Bauern in Form von Zulassung von privaten Parzellen und Vieh sowie lokalen Märkten gemacht werden. Bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 blieb diese Patt-Situation zwischen Staat und Bauernschaft erhalten.


3. These: Jede Revolutionsstrategie funktionierte nur ein Mal. Dann zogen die Herrschenden ihre Lehren und konnten eine Wiederholung verhindern.

Revolutionen waren nicht exportierbar.[6] Abgesehen von den besonderen Bedingungen Russlands scheinen Revolutionen nicht wiederholbar zu sein. Der Erfolg der Bolschewiki beruhte auf auch auf einem Überraschungseffekt, da niemand, noch nicht mal Lenin, ein Überleben das Sowjetmacht für wahrscheinlich hielt. In Westeuropa waren die Herrschenden besser vorbereitet, die Revolten zu ersticken. Im 2. Weltkrieg konnte in keinem Land der Krieg in einen Bürgerkrieg umgewandelt werden. Die Nazis zogen aus dem Zusammenbruch der Front im 1. Weltkrieg die Lehre, die Versorgung der Armee und Bevölkerung im Reich um jeden Preis sicherzustellen. Der "Blitzkrieg" war ein Lösungsansatz, innere Widersprüche zu mildern. Als er im Osten scheiterte, wurden die besetzten Gebiete ohne Rücksicht auf das Leben von Millionen "Slawen" ausgebeutet. Zusätzlich zu Repressionen wurden die deutschen Arbeiter durch Sozialpolitik und Privilegien gegenüber den "Fremdarbeitern" in das System eingebunden.[7]

Auch die Guerilla-Strategien von Mao Zedong und Che waren nur ein Mal erfolgreich. Nach dem Sieg der Revolution in Kuba 1959 entwickelten die USA militärische Niederwerfungsstrategien, die ein zweites Kuba unmöglich machten. Zusätzlich wurden Regierungen unter Druck gesetzt wie in Taiwan, Japan, Philippinen den kommunistischen Bewegungen durch Agrarreformen und Infrastrukturprogramme den Boden zu entziehen. Versuche die russische, kubanische oder iranische Revolution von außen durch Gewalt zu ersticken, scheiterten ebenso wie der militärische Export der Revolutionen. Das musste auch Lenin nach dem Desaster des Krieges gegen Polen 1920 schmerzlich anerkennen.


4. These: Erfolgreiche Revolutionäre hatten keine allumfassenden Konzepte, sondern entwickelten im "Trial and Error"-Verfahren Strategien. In der entscheidenden Situation das "Window of Opportunity" zu spüren, war wichtiger als ihre theoretischen Schriften.

Im Nachhinein ließen die siegreichen Parteien die Geschichte ihrer Revolutionen als Triumphe ihrer ideologischen Ideen schreiben. In Russland habe die Revolution nur auf Grund des Leninismus gesiegt und in China auf Grund der Mao Zedong-Ideen. Tatsächlich hatten jedoch weder Lenin noch Mao Zedong klare Konzepte und modifizierten ihre Strategien ununterbrochen. Lenin lehnte das Agrarprogramm der Sozialrevolutionäre, die Rettung der Dorfgemeinde, 20 Jahre lang ab, bis er es nach der Oktoberrevolution schließlich absegnen musste. Auch Mao entwickelte auf den Dörfern in den roten Stützpunktgebieten in den 30er Jahren ein Verständnis für revolutionäre Mikropolitik und experimentierte mit verschiedenen Varianten der Bodenform. Diese Erfahrungen waren für die Siege der Revolutionen wichtiger als die großen Theorien, die versuchten, sie zu begründen. Lenins Imperialismustheorie (Übergang von der Konkurrenz zum Monopol) stand nicht nur im Widerspruch zur Marxschen Werttheorie, sondern sie war und ist auch empirisch unhaltbar.[8] Maos "Bericht zur Bauernbewegung in Hunan" (1927) wurde zu dem zentralen Text der chinesischen Revolution und nicht seine ökonomischen Analysen der Verhältnisse auf dem Land.

Die chinesische Revolution siegte keineswegs auf Grund einer ländlichen Guerilla-Strategie, sondern nach dem Abzug der sowjetischen Truppen aus der Mandschurei 1945 wurde der Rest des Landes durch die Volksbefreiungsarmee in einem konventionellen Krieg mit schwerindustrieller Basis im Rücken erobert. Die Größe von Lenin und Mao besteht vielmehr darin, den richtigen Zeitpunkt für den Umsturz gespürt zu haben. Die Möglichkeit, Herrschaft zum Einsturz zu bringen, ist immer nur in einem kurzen Augenblick vorhanden. Lenins Aufruf zu einer weiteren Revolution im April 1917 wurde von der Mehrheit der bolschewistischen Parteiführung abgelehnt. Zizek schreibt über Lenin im Oktober: "Lenin war deshalb so erfolgreich, weil sein Appell an der Parteinomenklatura vorbei ein Echo in dem fand, was man als revolutionäre Mikropolitik zu bezeichnen versucht ist, nämlich der unglaublichen Zunahme basisdemokratischer Bewegungen und überall in den russischen Städten aus dem Boden schießenden Lokalkomitees, die die Dinge selbst in die Hand nahmen und dabei die Autorität der 'legitimierten' Regierung ignorierten. Dies ist die ungeschriebene Geschichte der Oktoberrevolution, die Kehrseite des Mythos der winzigen Gruppe erbarmungsloser Revolutionäre, die einen coup d'etat durchführten."[9]


5. These: Auch die Revolutionen in der 3. Welt sind nur im Kontext von Kriegen zu verstehen. Die Organisation des Krieges zur nationalen Befreiung fiel (im besten Fall) mit der sozialen Revolution zusammen.

Der Zusammenhang zwischen Krieg und Revolution im 20. Jahrhundert kann nicht überbetont werden. Der 2. Weltkrieg hatte auch die Verhältnisse in den Kolonien zum Tanzen gebracht. In China, Vietnam und Nordkorea fiel die soziale Umwälzung der Gesellschaft mit der Organisierung des Krieges gegen die Besatzer zusammen. Durch die Bodenreform wurden die Bauern in den Aufbau einer "Volksarmee" einbezogen. (Diesen Zusammenhang hatten die Kommunisten im spanischen Bürgerkrieg [1936-39] noch nicht begriffen, da die Führung des Krieges gegen Franco und die soziale Revolution schematisch gegenüber gestellt wurde. In Jugoslawien und Griechenland verfolgten hingegen die Kommunistischen Parteien eine ähnliche Strategie wie ihre chinesischen und vietnamesischen Genossen). Die bäuerlichen Partei-Armeen wurden zur Triebkraft der Revolutionen in Asien. Spontane Bewegungen von unten spielten in diesem Kontext eine viel geringere Rolle als in der russischen Revolution. Nach den Siegen dachten die Revolutionäre weiterhin in militärischen Kategorien, was für die Folgen des Aufbaus einer neuen Gesellschaft negative Folgen hatte. Sie erledigten die Aufgabe der Bourgeoise ("Nation building" und bürgerliche Revolution) mit Bravour, scheiterten aber daran, den Sozialismus aufzubauen.


6. These: Der emanzipatorische Charakter von nationalen Befreiungsbewegungen ist weit überschätzt worden.

Die nationalen Befreiungsbewegungen in Afrika, im Mittleren Osten und in Asien, die in der Regel unter dem Namen "Sozialismus" antraten und Teil der "Blockfreien-Bewegung" waren, sind kläglich geendet. Sie brachten in der Regel die Herrschaft der "eigenen Bourgeoise" oder Militärs hervor, die nicht in der Lage waren, die sozialen Probleme der Massen der Stadt- und Landbevölkerung zu lösen. Die postkolonialen Regimes unterschieden sich nur erschreckend wenig von den kolonialen. Weder die Landfrage konnte gelöst, noch die Armut in den Vorstädten beseitig werden. In den schlimmsten Fällen bildete sich noch nicht mal eine kapitalistische Gesellschaft heraus. Eine Illusion der orthodoxen Marxisten-Leninisten, aber auch der Anti-Imperialisten, war die Annahme, dass die nationale Befreiung eine Vorstufe zur sozialen Befreiung sei. Wenn man erst alle weitgehenden Forderungen und Wünsche der nationalen Sache unterordnen würde, käme dafür später die Belohnung der sozialen Emanzipation. Es würde sich automatisch eine Klassenspaltung der Gesellschaft nach der Unabhängigkeit herausbilden. Stattdessen wurden in der Regel die radikalen Teile der Bewegung verfolgt und unterdrückt (China 1927, Ägypten und Irak). Die Revolutionäre konnten ihren Hals nicht mehr aus der Schlinge der nationalen "Befreiung" ziehen. Durch den Nationalismus wurden neue Gruppen in der Bevölkerung marginalisiert. Ein Kampf gegen Besatzung sollte daher immer auch mit einer schonungslosen Kritik aller Unterdrückungsverhältnisse der eigenen "Nation" einhergehen.


7. These: Das leninistische Parteimodell war relativ erfolgreich zur Eroberung der Staatsmacht, konnte aber keine emanzipatorische Gesellschaft hervorbringen.

Das leninistische Modell einer zentralistisch geführten Avantgardepartei war relativ erfolgreich, wenn es um die Eroberung der Macht oder die Gewinnung eines Bürgerkrieges ging. Das traf für China und Vietnam noch mehr zu als für Russland. In Westeuropa wurde das Modell Mitte der 20er Jahre auf die kommunistischen Parteien übertragen ("Bolschewisierung") und auch nach dem Scheitern der anti-autoritären Phase nach 1968 wieder entdeckt ("Parteiaufbau"). Die Orientierung auf die Eroberung der Staatsmacht hatte jedoch schwerwiegende Folgen für den Alltag der Organisation, auch wenn sie noch so klein und unbedeutend war. John Holloway schreibt: "So wird argumentiert und die Jugendlichen werden in die Bedeutung der Eroberung der Staatsmacht eingeführt: Sie werden entweder zu Soldaten oder zu Bürokraten ausgebildet, je nachdem, wie die Eroberung der Staatsmacht verstanden wird. 'Baut zuerst die Armee auf, baut zuerst die Partei auf, dann können wir uns der Macht, die uns unterdrückt, entledigen'. Der Aufbau der Partei (oder der Aufbau der Armee) überschattet dann bald alles andere. Was ursprünglich negativ war (die Ablehnung des Kapitalismus), wird in etwas Positives verwandelt (Aufbau von Institutionen, Aufbau der Macht). Die Einführung in die Eroberung der Macht wird zwangsweise zu einer Einführung in die Macht selbst. Die Eingeweihten lernen die Sprache, Logik und die Berechnung der Macht; sie lernen mit den vollständig machtfixierten Kategorien der Sozialwissenschaft umzugehen. Differenzen innerhalb der Organisation werden zu Machtkämpfen. Manipulation und Beeinflussung werden zu einem Lebensstill."[10]

Dieses Modell unterdrückt die Wünsche und Bedürfnisse der Revolutionäre, da es ja noch "zu früh" sei und man als Partei-Soldat seine Pflicht bis zum Sieg der Weltrevolution asketisch erfüllen müsse. Später wurde die Abschaffung des Staates auf den Sankt-Nimmerleinstag-Tag vertagt und eine fatale Dialektik propagiert, dass nur die Verstärkung des Staates und der Disziplin eines Tages das Reich der Freiheit bringen würde.


1967-73: Unruhen in den Metropolen


8. These: 1968 wurden die Fragen der Avantgarde und Repräsentation neu gestellt. Den Anspruch auf die Führung der Revolution hatte nicht mehr die kommunistische Partei als Repräsentant der Arbeiterklasse, sondern die Revolutionäre, die am radikalsten das System angriffen.[11]

Die traditionellen kommunistischen Parteien hielten ihren Führungsanspruch für selbstverständlich und hatten in Ländern wie Italien oder Frankreich nach dem 2. Weltkrieg den Frieden mit dem System gemacht. Studenten und radikale Arbeiter stellten durch ihre Streiks und Proteste den Status Quo in Frage und ignorierten die Weisungen von Partei und Gewerkschaften. In Latein-Amerika beanspruchten die Guerillas in vielen Ländern die Führung der Revolution. In Kuba siegten sie sogar gegen die Kommunistische Partei, die mit dem Batista-Regime paktiert hatte. In China griffen die Roten Garden und Rebellen den Herrschaftsanspruch der alten Parteielite an, die ihre Legitimation aus der Teilnahme an der Revolution bezog, die schon lange zurück lag. 1968 stellte somit das alte leninistische Paradigma der Repräsentation der Massen durch die Partei in Frage und auch das Dogma, dass die Revolution erst beginnen könne, wenn man die Mehrheit der Bevölkerung durch reformistische Interessenvertretung gewonnen habe. 1968 verwarf die Hierarchisierung der Politik in revolutionäre Forderungen, Einheitsfrontund Volksfront, Haupt- und Nebenwiderspruch: "Wir wollen alles".


9. These: Mao Zedong versuchte, durch die Kulturrevolution die Krise des leninistischen Repräsentationsmodells zu überwinden. Durch ihr Scheitern blieb allerdings auch der Maoismus weiter im Leninismus behaftet.

In den 1960er Jahre erkannte Mao einige zentrale Probleme des leninistischen Repräsentation-Modells [12]. Er befürchtete, dass Enthusiasmus und Begeisterung für die Revolution im Alltag der bürokratischen Institutionen immer mehr erstickt werden könnten. Außerdem bestünde die Gefahr, dass sich aus den Parteikadern eine neue Klasse bilden könnte, die ihre Macht zur Unterdrückung und Ausbeutung der Massen missbrauchen und China auf einen kapitalistischen Weg führen könnten. Der Versuch dieses Dilemma zu lösen, war die "große proletarische Kulturrevolution", in deren Frühphase (1966-1968) Massenbewegungen von unten zur Kritik an Parteifunktionären losbrachen. Zumindest plante die Parteilinke, neben dem Parteiapparat basisdemokratische Partizipation nach dem Vorbild der Pariser Kommune zu ermöglichen. 1968 eskalierten allerdings die Konflikte zwischen den diversen Gruppen der Rebellen und Rote Garden so, dass Mao die Armee einsetzte und nach 1969 die Herrschaft der Partei in der alten Form Schritt für Schritt wieder hergestellt wurde. Als Revolutionstheorie bleiben jedoch einige Aspekte des Maoismus heute noch interessant, z. B. dass die Rolle des revolutionären Subjektes nicht einer bestimmten sozialen Gruppe zugeschreiben, sondern immer wieder neu definiert werden muss. Zudem erkannte die kulturrevolutionäre Linke, dass staatliche Fabriken oder Universitäten keinen sozialistischen Charakter haben, wenn sie alte Formen der Arbeitsteilung nicht in Frage stellen und die Massen nicht an der Ausübung der Macht partizipieren lassen. Eine institutionelle Lösung für dieses Problem fanden jedoch auch sie nicht. Die "permanente Revolution" Maos überforderte die Energie und Kräfte meisten Menschen und verkam schnell nur Routine.


10. These: Es gibt keinen Zusammenhang zwischen Wirtschaftskrisen und revolutionären Wellen.

Ein Zusammenhang zwischen Massenkriegen und Revolutionen kann festgestellt werden, auf Weltwirtschaftskrisen (1857-59, 1873-79, 1896, 1929, 2008) folgten keine Umstürze. Auch schlimme Hungersnöte brachten in der Regel keine Aufstände hervor, da die Menschen zu sehr mit dem Kampf um das nackte Überleben beschäftigt waren.[13] Vielmehr scheint es, dass Radikalisierungen entstehen können, wenn durch einen Aufschwung oder Reformen in der Bevölkerung Erwartungen geweckt werden, die dann enttäuscht werden. Die Revolten der Studenten und Arbeiter in Frankreich, Italien und Deutschland um 1968 brachen in einer Phase von Stabilität, Wachstum und "Vollbeschäftigung" aus. Der sichere Platz in der fordistischen Gesellschaft, den die Eltern der Kriegsgeneration angestrebt hatten, wurde von vielen ihrer Kinder abgelehnt. Auch die Bewegung vom Platz des Himmlischen Friedens von 1989 in China folgte nach einen erfolgreichen Jahrzehnt der Reformpolitik.


11. These: Die Bewegungen um 1968 sind trotz ihres Scheiterns wichtig, da sie die Revolutionierung und Veränderung des Lebens auf die Tagesordnung gesetzt haben. Die Konzepte eines bewaffneten Kampf (Stadt-Guerilla, Brigate Rosse, Black Panther) waren ohne den Kontext eines "totalen Krieges" zum Scheitern verurteilt.

"Das Private ist politisch." Mit dem Anspruch, den Alltag zu verändern, legten die frühen 68er eine wichtige Grundlage, an die die Zweite Frauenbewegung und die Schwulen- und Queerbewegung anknüpfen konnten. Kommunen, Wohngemeinschaften, Künstler-Kollektive, Kinderläden und alternative Formen von menschlichen Beziehungen sollten neue kollektive Lebensformen und individuelle Emanzipation jenseits von Staat und Kleinfamilie schaffen. Die K-Gruppen, die sich überwiegend an einem kleinbürgerlich-proletarischen Lebensstil orientierten, waren dagegen weniger radikal. Nach dem Scheitern der anti-autoritären Bewegung versuchten marxistisch-leninistische Gruppen oder auch Stadt-Guerilla wie RAF, Wheaterman Underground oder Brigate Rosse, in den Metropolen eine Revolution durchzuführen. Die Mehrheit der Bevölkerung der Friedensgesellschaft wollte einen Zusammenhang zwischen der Gewalt in der 3.Welt und dem Wohlstand in den Metropolen jedoch nicht sehen und stand bewaffneten Konfrontationen linker Gruppen mit der Staatsmacht feindlich gegenüber. Zudem entpolitisierten sich die bewaffneten Gruppierungen zunehmend, indem sie die Gefangengenbefreiung zum Mittelpunkt ihrer Aktionen machte, die sie immer weniger erklärten, und den Kontakt zu den sozialen Bewegungen verloren. Ohne den Kontext des "totalen Krieges", in dem sich eine Massenarmee gegen die eigene Regierung richtet, scheint ein bewaffneter Kampf gegen den Staat in den Metropolen aussichtlos.


Hier und heute


12. These: Heute gibt es kein einheitliches anzurufendes revolutionäres Subjekt mehr. Neuauflagen von "Randgruppen"-Strategien beantworten jedoch die Frage nicht, wie die Mehrheit der Gesellschaft gewonnen werden kann.

Wenig Sinn hat es heute, einheitliche revolutionäre Subjekte wie DIE Arbeiterklasse, DIE unterdrückten Völker oder DIE Frauen anzurufen. Noch können neue Konzepte wie die Multitude diese Leerstelle ersetzen. Es lässt sich nicht durch eine korrekte wissenschaftliche Analyse der gesellschaftlichen Verhältnisse voraus bestimmen, welche Teile der Gesellschaft sich als erstes gegen das System wenden werden. Der frühe Marx ging davon aus, dass sich Klassen nur im Kampf formieren: "Die einzelnen Individuen bilden nur insofern eine Klasse, als sie einen gemeinsamen Kampf gegen eine andre Klasse zu führen haben; im übrigen stehen sie einander selbst in der Konkurrenz wieder feindlich gegenüber."[14] Das Werden einer revolutionären Klasse ist daher Teil unseres Projekts. Leider wurde der alte Fetisch der Arbeiterklasse in Folge der sozialen Bewegungen der 70er und 80er Jahre teilweise durch ein Ignorieren der sozialen Frage und der Bedürfnisse der "weißen" Arbeiter und Arbeiterinnen abgelöst. Auf verschiedene "Randgruppe" (Schwarze in den Ghettos, Bauern in der 3. Welt, Subkultur-Teenager oder Migranten) wurden von Linken eigene Hoffnungen und Wünsche projektiert. Rassismus, Homophobie oder Sexismus können keineswegs mit dem Kapitalverhältnis allein erklärt werden, noch werden sie automatisch mit ihm fallen. Trotz aller Sympathie für die "Randgruppen" muss heute überlegt werden, wie auch die Mehrheitsgesellschaft für radikale linke Politik gewonnen werden kann.


13. These: Die Revolution ist ein Kampf für die Aufhebung von Klasse, Rasse und Geschlecht. Viele Bewegungen entwickelten positive Identitäten (Arbeiter, Frau, Schwarzer, Schwuler usw.), um sich gegen Ausgrenzung und Unterdrückung zu wehren.

Diese positiven Identitäten hatten einen strategischen Nutzen, produzierten aber auch neue Ausschließungen und Grenzen. Negri und Hardt unterscheiden zwischen Emanzipation und Befreiung: "Whereas emancipation strives for the freedom of identity, the freedom to be who you really are, liberation strives for the freedom of self-determination and self-transformation, the freedom to determine what you can become."[15]

Der Kommunismus sei kein Projekt der Emanzipation, sondern der Befreiung. Der Klassenkampf wird zur Aufhebung des Proletariats und damit aller Klassen geführt. Dazu ist die Abschaffung des Privateigentums an Produktionsmittel und Grund und Boden notwendig. Ein revolutionärer anti-rassistischer und feministischer Kampf strebt die Überwindung der Kategorisierung und Hierarchisierung der Menschen nach Rasse und Gender an: "Just as revolutionary class struggle aims at the annihilation not of all bourgeois people but of their 'sociopolitical role and function' (along with, we would add, the sociopolitical role and function of the workers), so too revolutionary feminist and antiracist politics attack not only sexists and racists, or even patriarchy and white supremacy, but the bases of gender and class identities as well."[16]


14. These: Wir müssen uns selbst verändern, ohne zur therapeutischen Selbstbeschäftigungsgruppe zu werden.

Ohne die Idee einer politischen Revolution aufzugeben, müssen wir heute auch damit beginnen, unser Leben und uns selbst zu verändern. Marx schrieb in den "Thesen zu Feuerbach": "Die materialistische Lehre, dass die Menschen Produkte der Umstände und der Erziehung, veränderte Menschen also Produkte anderer Umstände und geänderter Erziehung sind, vergisst, dass die Umstände eben von den Menschen verändert werden und dass der Erzieher selbst erzogen werden muss (Das Zusammenfallen des Änderns der Umstände und der menschlichen Tätigkeit kann nur als umwälzende Praxis gefasst und rationell verstanden werden."[17] Die Arbeit an sich selbst und an Beziehungen hat in der Vergangenheit sowohl in der feministischen als auch der autonomen Bewegungen nicht selten dazu geführt, dass sich Organisationen in therapeutische Selbstbeschäftigungsgruppen verwandelt haben. Besonders zentrale Punkte des Alltags, wo sich Machtverhältnisse konzentrieren, sind unsere Körper, Sexualität, Kinder und Familie. Sex heißt nicht nur Penetration entlang der heterosexuellen Matrix, sondern ein Überschreiten von Identitäten und Normierung. Wir wollen eine Gesellschaft, in der sich der Mensch nicht täglich in die Kategorien "Frau", "Mann", "heterosexuell", "homosexuell", "jung", "alt", "exotisch" oder "behindert" einordnen muss. Liebe, Zärtlichkeit, Leidenschaft, Rausch, Ekstase und Lust sollen nicht in intentionelle Rahmen eingepfercht werden. Wir wollen eine Gesellschaft, in der jede selbstbestimmte Form von Beziehungen zwischen Paaren oder Gruppen, akzeptiert wird.


15. These: Marx und Kropotkin beschließen in den Flitterwochen: Die Revolution zielt auf die Aufhebung des Staates.[18]

Der Staat ist kein Gegensatz zum Kapitalverhältniss, sondern ist zu dessen Aufrechterhaltung unabdingbar. Nicht nur Lohnarbeit, sondern auch der Staat als bürokratisches Monstrum und der Parlamentarismus als Form der Repräsentation produzieren Fremdbestimmung und Entfremdung. Der Staat stirbt nicht eines Tages von alleine ab, (das hat die Geschichte gezeigt), sondern es bedarf aktiver Akte seiner Ersetzung durch selbstorganisierte Strukturen der Gesellschaft. Für Marx richtete sich die Revolution zumindest in "Bürgerkrieg in Frankreich" gegen den modernen Staat als solches. Er schrieb über die Pariser Kommune von 1871: "Die Kommune war eine Revolution gegen den Staat selbst, gegen diese übernatürliche Fehlgeburt der Gesellschaft; sie war eine Rücknahme des eignen gesellschaftlichen Lebens durch das Volk und für das Volk. Sie war nicht eine Revolution, um die Staatsmacht von einer Fraktion der herrschenden Klasse an die andre zu übertragen, sondern eine Revolution, um diese abscheuliche Maschine der Klassenherrschaft selbst zu zerbrechen."[19]


16. These: Die Revolutionen in Tunesien und Ägypten haben gezeigt, dass die Armee der Kern des Staates ist. Der Sturz von politischer Herrschaft muss nicht mit einer sozialen Revolution zusammenfallen.

Für Lenin war die Armee der Kern des Staates, für Max Weber das Gewaltmonopol. Die Umstürze in Ägypten und Tunesien waren nur erfolgreich, weil sich die Armee weigerte, die Volksbewegungen niederzuschlagen. Der Preis für das Bündnis mit Armee ist allerdings, dass es schwierig wird, gegen die Interessen der Offiziere etwas durchzusetzen. Wenn die Armee sich nicht oder nur teilweise gegen die Regierung stellt wie in Syrien oder Libyen, ist es unwahrscheinlich, dass eine friedliche Revolution Erfolg haben kann. In Westeuropa werden in der Linke keine Debatte mehr zur Rolle der bewaffneten Formationen des Staates geführt, auch vielleicht deshalb, weil die Herrschenden nicht gezwungen sind, unmittelbare Gewalt gegen soziale Bewegungen einzusetzen. Was bedeuten jedoch die europaweiten Tendenzen, die Wehrpflicht abzuschaffen und durch Berufsheere zu ersetzen, für die Möglichkeit einer Revolution? Marx schrieb: "Jede Revolution löst die alte Gesellschaft auf; insofern ist sie sozial. Jede Revolution stürzt die alte Gewalt; insofern ist sie politisch." (MEW 1; 409). Politische und soziale Herrschaft fallen in einer modernen bürgerlichen Gesellschaft nicht unbedingt zusammen. Das Kapitalverhältniss ist vor allem eine Form der sozialen Herrschaft. Die politische Herrschaft über den Staat muss die Bourgeoise nicht selbst direkt ausüben. Der Sturz der politischen Herrschaft in Tunesien und Ägypten hat keine soziale Revolution ausgelöst. Die herrschenden Familienclans um Ben Ali und Mubarak scheinen noch nicht einmal mit dem Staatsapparat identisch gewesen zu sein. Künftige sozialitische Revolutionen müssen nicht nur eine Überwindung des Kapitalverhältnisses anstreben, sondern auch die Herrschaft des Staates über die Gesellschaft aufheben.

E-Mail: anton.pam@gmx.net


Anmerkungen:

[1] Ein spannendes "bürgerliches " Werk mit vielen sozialgeschichtlichen Beiträgen zu Bauern, Arbeitern und Frauen ist: Suny, (Ed.), The Cambridge History of Russia, 20th century (New York: Cambridge University Press 2006).

[2] Für eine etwas andere Einteilung siehe: Immanuel Wallerstein, "New Revolts against the System", (2002)
http://www.newleftreview.org/?view=2420

[3] Dorothy Atkinson, The end of the Russian land commune, 1905-1930 (Stanford: Stanford University Press, 1983), 375. Siehe auch Roger Bartlett, ed., Land commune and peasant community in Russia: Commune forms in imperial and early Soviet society (Basingstoke: Macmillan in association with the School of Slavonic and East European Studies, University of London).

[4] Josef Stalin, Gesammelte Werke, Band 11 (Berlin: Dietz Verlag), 132-133

[5] Von daher ist die Oktoberrevolution kein gutes Beispiel für die Richtigkeit von Leo Trotzkis Theorie der "permanenten Revolution", die besagte, dass eine längere demokratische Etappe nicht möglich sei, weil das Proletariat, ein Mal an der Macht, zur Verwirklichung eines sozialistisches Programms schreiten müsse. Die "Heimatfront" hielt bis zum letzten Tag des Krieges. In den Ländern der Alliierten unterstützten die kommunistischen Parteien innerhalb der Volksfront die Regierungen. Nur in Ländern der 3. Welt zog der Weltkrieg revolutionäre Wellen nach sich.

[6] Mehr zu dieser Frage siehe: Stephen M. Walt, "Revolution and War", World Politics, 44 (3), (1992), 321-368.

[7] Zur Lage der Arbeiter im Nationalsozialismus siehe: Kolja Wagner, "Der Nationalsozialismus: Ein Angriff des Kleinbürgertums auf die Moderne" http://www.kommunistische-debatte.de/faschismus/nationalsozialismus2000_5.html

[8] Siehe z.B. Klaus Winter, "Monopolkapitalismus und Finanzkapital: Zur Problematik beider Begriff in Lenins Imperialismusschrift",
http://www.kommunistische-debatte.de/imperialismus/monopol1987.html Zudem wurden in Zug der Strukturreformen des Neo-Liberalismus seit den 1980er Jahre viele Monopole wie Bahn, Post, Strom- und Wassernetz aufgelöst. Eine Ersetzung der Konkurrenz durch Monopole als Charakteristikum der kapitalistischen Wirtschaft fand zu keinem Zeitpunkt statt. Lenin schreibt seine Schrift in einer Phase, wo der deutsche Staat eine starke Rolle in der deutschen Kriegswirtschaft spielte. Winter weist jedoch nach, dass Lenin seine eigenen Quelle sehr manipulativ zitiert. Außerdem gab in anderen kapitalistischen Ländern wie den USA auch keine Verschmelzung von Industrie- und Finanzkapital

[9] Slavoj Zizek, Die Revolution steht bevor: Dreizehn Versuche über Lenin (Frankfurt (M): Suhrkamp 2020), 11.

[10] John Holloway, Die Welt verändern ohne die Macht zu übernehmen (Münster: Verlag Westfälisches Dampfboot, 2004), 26.

[11] Diese Entwicklung wird in dem großartigen Dokumentarfilm von Chris Marker Le Fond de l'air est rouge (1977) stark betont.

[12] Für mehre Details siehe. Felix Wemheuer (Hg.), Maoismus: Ideengeschichte und revolutionärer Geist (Wien: Promedia Verlag, 2008), 7-32.

[13] Cormac O. Grada, Famine: A short history (Princeton University Press: Princeton, 2009), 54-55.

[14] Karl Marx, "Die deutsche Ideologie", in: Ausgewählte Werke, Band 1 (Berlin: Dietz Verlag, 1972), 259.

[15] Antonio Negri und Michal Hardt, Commonwealth (Cambridge, Mass.: The Belknap Press of Harvard University Press, 2009), 321.

[16] Negri und Hardt, Commonwealth, 342.

[17] Karl Marx, "Thesen über Feierbach", http://www.mlwerke.de/me/me03/me03_533.htm

[18] Details siehe Paul Pop, "Schwarz-rote Flitter Wochen: Marx und Kropotkin für das 21. Jahrhundert",
http://www.grundrisse.net/grundrisse14/14paul_pop.ht

[19] Karl Marx, "Bürgerkrieg in Frankreich", Ausgewählte Werke, Band 4 (Berlin: Dietz Verlag, 1972), 22f.

Raute

Pascal Jurt im Gespräch mit Diedrich Diederichsen

Vor gut einem Jahr erschien das gerade mal hundertseitige Pamphlet "Der kommende Aufstand" vom "Unsichtbaren Komitee". Kaum ein Buch sorgte in jüngster Zeit für so einen Wirbel. Der Bestseller war innerhalb kürzester Zeit vergriffen und wurde im deutschs prachigen Feuilleton erstaunlich wohlwollend rezensiert. Die "FAZ" erklärte es zum wichtigsten linksradikalen Statement unserer Zeit erklärt, der "Spiegel" brachte einen dreiseitigen Abdruck aus dem Manifest, und auch in der linksradikalen Szene und im Feld der Kunst wurde es breit rezipiert.


Pascal Jurt: Nun hat es das Büchlein "Der kommende Aufstand" sogar schon unter die Bestseller der Wiener Filiale einer großen Buchhandelskette geschafft und liegt da ein wenig verloren zwischen Elfriede Vavriks "Nacktbadestrand" und Giovanni di Lorenzos "Auf eine Zigarette mit Helmut Schmidt" herum.

Diedrich Diederichsen: Ich habe in Berlin-Schöneberg in einer Buchhandlung die Szene erlebt, dass ein älteres Mütterchen in die Buchhandlung stapfte, das Buch haben wollte und es dann bereits vergriffen war. Die hatte darüber gelesen oder vielleicht ein Radio-Feature gehört. Die war, wie dann im Gespräch mit dem Buchhändler klar wurde, im Grunde genommen eine Stuttgart 21-Mobilisierte, die dachte, dass sie da ihr Buch findet.

Wofür steht dieses Manifest und worauf reagiert es?

Ich denke, der entscheidende Punkt ist, dass das Manifest die politische Kritik - oder wie immer man es nennen will - wieder anbindet an Lebensformen und zudem zwischen richtiger und falscher Lebensform unterscheidet. Im Grunde genommen geht es um das, was ich als Jugendlicher in den 1970er Jahren gemacht habe, wenn ich mit meinen Freunden, auf irgendwelchen Psychedelika, durch die Straßen gegangen bin, und wir höhnisch auf die Spießer gezeigt haben und sie 'Plastikmenschen' genannt haben. Frank Zappa hat in den 1960er Jahren von den "Plastic People" gesungen: Leute, die sozusagen manipuliert und stumpfsinnig und als Konsumidioten durch die Welt trotten. Daneben gibt es die Anderen, die versuchen, ein 'richtiges' Leben zu leben und gründen Kommunen. Und auch damals haben sie Kommunen gegründet! Es ist ja auch was dran. Für jemanden, der in einem bestimmten Alter die Möglichkeit hat, auf verschiedene Weise Lebenserfahrungen zu machen, ist das vielleicht eine sehr evidente Zuspitzung, eine Form des Gefühls, dass wirklich alles falsch ist. Dies ist wieder möglich, seit sich in den empfindsamen Schichten wieder herumgesprochen hat, dass ein kreativer Beruf eben nicht die Lösung ist. Das ist das, wonach es sich am meisten für mich anhört: Man kann wieder existenzialistisch - betroffen - über Politik schreiben und ist sich qua Stil zugleich für Betroffenheit natürlich viel zu fein. Aber: Man hat eine Wahl zwischen verschiedenen Lebensformen und man wählt die richtige. Man kann in seiner Art zu leben, etwas politisch richtig machen.

Dem Versprechen, praktische Vorschläge für Subversion anzubieten, begegnet man heute ja eher selten. Ist es nicht erstaunlich, dass ein radikales Buch sich so gut verkauft?

Radikalität ist doch etwas sehr Attraktives, allein schon weil das Radikale im wirklichen Leben selten ist. Zudem ist es ein simpler, leicht einleuchtender Gedanke, dass man tiefer ansetzen muss, nicht an den Symptomen doktern, das ist intellektuelle Folklore. Das Radikale ist aber nicht zwingend politisch. Wenn es sich nur auf der Ebene der Lebensformen abspielt, ist Otto Mühls Kommune sicher sehr radikal, politisch konntest Du sie eher in der Pfeife rauchen. Ich möchte jetzt nicht nur in überlebten Schmähkategorien reden, aber man kann es fast nicht anders ausdrücken: es ist fast schon kleinbürgerlich, das politische Denken darauf hin zu schneidern, wie man damit bei sich selbst anfangen kann. Das sagt es zwar an keiner Stelle explizit, aber das ist die Attraktivität. Und das klappt oft direkt in einen reaktionären Moralismus um - ganz abgesehen davon, dass es politisch nicht hinhaut. Andererseits aber kann eine Auseinandersetzung, ein Gespräch, das zu Einstellungswechseln führen soll, gar nicht anders geführt werden als über eine solche existenzielle Ansprache. Auf irgendeiner Ebene muss das sowieso passieren. Das wäre dann aber eher Agitation oder Propaganda oder auch Pop als Analyse oder Kritik.

Aber ist das Politische des Buches nicht gerade, dass es sich jeder politischen Beteiligung zwecks Verbesserung der Zustände enthält? Geht es nicht stattdessen um Feindbestimmung?

Ja, das sehe ich auch so. Aber Feindschaft ist ja so eine individuell kleinbürgerliche Lösung des Problems, dass ich nicht weiß wohin mit meinen politischen Leidenschaften. Ich denke mir beim Fahrradfahren auch immer Schauprozesse und Standgerichte gegen SUV-Fahrer aus.

Der Protest findet wieder auf die Straße zurück, Soziale Bewegungs- und ProtestforscherInnen konstatierten für 2010 mehr Aufstände und Unruhen als 1968. Griechenland, die nordafrikanischen Ländern und jüngst auch Spanien wurden von heftigen Revolten erschüttert. Selbst in der schwäbischen Hauptstadt Stuttgart wüteten BürgerInnen angesichts eines Bahnhofabrisses. Der kommende Aufstand bezieht sich zum einen direkt auf die Aufstände in Griechenland, in Oaxaca und in Argentinien, repräsentiert aber zum anderen auch die widersprüchlichen Erfahrungen der Linken, die man auch als Krise der Linken lesen könnte.

Die Tatsache, dass es eine Fülle von Aufständen gibt und diese auch als eine Fülle und Vielfalt von Aufständen wahrgenommen werden, hat meiner Meinung auch damit zu tun, dass diese gerade nicht leicht zu vereinheitlichen sind. Das einzig Gemeinsame ist vielleicht, dass man überall auf der Welt seit 30 Jahren mit der gleichen posthistorischen Propaganda lebt; dass allen - ganz egal, was die wollen oder für Interessen haben - vielleicht nunmehr endgültig lang genug gesagt wurde, dass es keine Alternative gäbe. Das will wirklich niemand mehr hören. Die Alternativen, die die Leute je und je hören wollen, sind aber sehr verschiedene. Ein Begriff für diese Vielheit reicht nicht aus, um der Tatsache Ausdruck zu verleihen, dass unterschiedliche Entwicklungsstadien, auch innerhalb einer globalen Situation, Ausdruck und Anlass für alle Arten von Aufständen liefern. Das ist wirklich ein neues Phänomen, das auch eine andere Vorstellung der Geschichtlichkeit von Aufständen verlangt. Man sollte den Aufstand also nicht mehr gut altmarxistisch als Zuspitzung einer bestimmten Widerspruchssituation sehen, sondern die Gleichzeitigkeit von verschiedenen Aufständen, von historischen Entwicklungsphasen in Betracht ziehen. Man muss nicht nur die Gleichzeitigkeit einer Welt wahrnehmen, in der es eine Erste und eine Dritte Welt gibt, sondern auch die Gegensätze, die im selben Stadtraum aufeinander prallen. Das ist gar nicht hoch genug einzuschätzen als Herausforderung der Beschreibung: die Simultaneität unterschiedlicher Zeitinseln, die ich nicht in eine lineare Entwicklung eintragen will.

Das finde ich einen wichtigen Punkt. Slavoj Zizek wies in einem Gespräch kurz nach dem Rücktritt Mubaraks auf Aljazeera darauf hin, dass die Bilder und Interviews aus Kairo zeigten, dass wir im Moment des Kampfs gegen die Tyrannei unmittelbar solidarisch sind, dass der Kampf um die Freiheit praktischer Universalismus ist.

Ja klar, aber der Gedanke hat auch was Tautologisches. Freiheit ist halt ein Name für erwünschte politische Verhältnisse, auf die sich sogenannte Universalismen einigen können - auf was, wenn nicht auf die Freiheit. Das Problem, dass das schon für Männer und Frauen in Ägypten etwas sehr Unterschiedliches bedeutet, ist dann das Problem dieses Universalismus. Was die sogenannten arabischen Aufstände für mich als inspirierendes Moment haben - so blöde das klingt aus der Distanz - ist eher der Punkt, dass man eben nicht sagen kann, worum es geht. Aber deutlich sagen kann, dass es darum geht, die Bedingungen zu schaffen, um darüber streiten zu können, um was es geht. Das - finde ich - hat eine extrem utopische Note.

Im Sinne von Derridas "democratie à venir"?

Ich würde mich da nicht einmal auf Demokratie festlegen, aber "(à)venir" auf jeden Fall. Man sollte den Rahmen offen halten, indem man einen neuen Rahmen schafft, in welchem man sagt, die Ebene, auf der bisher diskutiert wurde, ist völlig defizitär. Eine kleine Ironie sehe ich auch noch im Titel: ist der kommende Aufstand nicht vielleicht auch eine Antwort auf, oder vielleicht eine sarkastische Antwort auf die kommende Demokratie, also auf Derridas kommende Demokratie?

Und auf die kommende Gemeinschaft von Agaben?

Mit Agamben sind sie wahrscheinlich sogar einverstanden, die kommende Gemeinschaft ist wahrscheinlich ein Endzweck des kommenden Aufstandes, während die kommende Demokratie von Derrida wahrscheinlich ein Problem ist, weil die kommende Demokratie von Derrida - was ich an der kommenden Demokratie ja schätze - eben immanentistisch vorgeht, davon dass, was immer auch passiert, was immer auch sich zum Guten oder Schlechten wendet, sozusagen aus dem Material gemacht ist, das es schon gibt. Und dass es keine Aufstände oder Ereignisse ex machina geben wird. Aber ich glaube, dass das genau der Gegensatz zwischen Agamben und Derrida ist. Jedenfalls kommt - glaube ich - auch das Kommende ein bisschen her. Man kann es ja auch so wenden, dass sie ganz punkig sagen wollen, ob Demokratie oder Gemeinschaft ist völlig egal, uns geht es nur um den Aufstand, nicht um irgendeine Teleologie.

Die Verschränkung der weltweiten Aufstände mit der Diagnose einer entfremdeten Welt ist doch aber eine interessanter Punkt?

Ich finde, das hat das nichts zu tun mit der Diagnose dieses Textes, der eine bestimmte Art von Entfremdung und Sinnverlust, Stumpfsinn und Unterworfenheit beschreibt. Die ist zwar nicht immer komplett falsch, aber sie hat nichts damit zu tun, was zwei U-Bahn-Stationen weiter passiert z.B. in den Banlieues. Ich will da nicht einfach nur auf Bürgerkinder oder Nicht-Bürgerkinder hinaus, das hat auch noch ganz andere Seiten der Unterschiedlichkeit, die nicht mit einem gemeinsam kapitalistisch entfremdeten Leben zu beschreiben sind. Mir wäre doch unter bestimmten Umständen mehr "Entfremdung", wenn man darunter z.B. eine Versachlichung von Arbeitsverhältnissen verstehen würde, durchaus lieber als die Newspeak der sozialen Kompetenz, der soft skills und des Teamgeistes. Auch wer gegen primär patriarchal begründete Verhältnisse aufbegehrt, also u.a. mit der Analogie von Staat und Familie, möchte doch eher mehr Fremdheit - natürlich ist das nicht die Entfremdung im marxistischen Sinne, aber ob Fremdheit für dieses Verhältnis immer noch die richtige Metapher ist, wäre vielleicht auch zu bezweifeln.

Ich denke, auch der Punkt des Selbstverwirklichungs-Elends ist wichtig. Ich glaube, was jetzt auch weitestgehend allen dämmert, ist, dass die Selbstverwirklichung im kreativen Beruf an gewisse Grenzen gestoßen ist. Zum einen fällt ihr die Maske herunter, aber auch da, wo ihr nicht die Maske herunterfällt, ist sie ein knappes Gut geworden und wird durch Risiko und Stress erkauft, durch Selbst-Unternehmertum und so weiter. Das ist also einfach nicht mehr erstrebenswert und das ist natürlich eine Voraussetzung für dieses Buch, dass viele gebildete, etwas auf ihre Coolness haltende Leute sich nicht mehr wie in den letzten 25 Jahren nach dem Ende der großen politischen Hoffnung darauf freuen können, als Künstler und Künstlerinnen ihr Auskommen zu haben - oder als Designer.

Der andere Punkt, die Enttäuschung der Linken, finde ich wiederum eine größere Sache, weil die Generation, die jetzt unmittelbar davon angesprochen ist, nicht mehr - über generelle Gesinnungsfragen hinaus - erlebt hat, dass die Linke eine realpolitische Option ist - anders als der ältere Herr, mit dem ich heute im Wartezimmer ins Gespräch kam, der mir erzählte, wie in seinem Leben die Gewerkschaften bis 1969 jedes Jahr etwas Neues erkämpften, dann bis in die mittleren 80er noch ganz gut im Geschäft waren und seitdem jedes Jahr eine Errungenschaft preisgeben.

Diese Enttäuschungen kennt die aktuelle 20 bis 35jährige Generation gar nicht. Und die, die eine linke Vergangenheit haben, die an irgendwelchen linken Niederlagen lebensgeschichtlich und auch existentiell beteiligt sind, werden - glaube ich - von dem Buch nicht angesprochen.

Das Manifest ist doch für junge Menschen, die trotz ihres akkumulierten kulturellen Kapitals weit von den Privilegien entfernt sind, in deren Genuss ihre Eltern im goldenen Zeitalter der immerwährenden Prosperität noch kamen, sehr attraktiv.

Diese Analyse ist mir fast schon zu triftig, sie stellt das Ganze auf eine zu breite Basis. Attraktiv ist dieser Text doch nur für einen wiederum doch sehr kleinen Teil von Leuten. Nämlich da, wo ein bestimmtes künstlerisches Wissen und eine bestimmte künstlerische Sensibilität in Verbindung mit dem Moralisch-im-Recht-Sein wichtig genommen werden. Also, wo ganz dandyistisch das Recht-Haben ein ganz bestimmtes sprachliches Kleid trägt. Das ist natürlich den meisten politisierten jungen Leuten relativ egal, um nicht zu sagen hinderlich. Das würde sie abstoßen und irritieren, wenn plötzlich jemand auf Stil Wert legte. Wenn sich Studierende an einer Hochschule über den Bologna-Prozess aufregen und zusammentun, gibt es zunächst niemanden, der Stilkritik übt.

Wen adressiert also das Buch letztendlich? Ist das Offene das Erfolgsrezept des Buches?

Wenn man versucht, den Nutzwert zu beschreiben, dann sind es wenige Leute, die so etwas wie dandyistische Linksradikale sind. Ich kann mich in deren Position gut einfühlen, aber das ist eine verschwindende Minderheit und es sind zumeist auch noch Leute, die stolz darauf sind, sich selbst etwas ausgedacht zu haben und sich nicht anderer Leute Aufstände anschließen. Ich glaube, dass eben dieses existenzialistische Denken, das davon ausgeht, dass sich durch Lebensstil oder Lebensformen etwas lösen lässt, einfach so ein wahnsinnig geiles Versprechen ist, dass da sozusagen alle Schranken fallen. Das finden auch Leute gut, die gar nicht unbedingt Revolutionäre werden wollen. Das finden Leute gut, die noch vor zwei Tagen beim Yoga oder beim Kieser-Training ihre Probleme gelöst haben und die auch jetzt nicht Linksradikale oder Revolutionäre werden wollen. Aber die einfach aus dieser Verbindung heraus die Inspiration nehmen, "Ja, da kann man vielleicht auch andere Verbindungen herstellen". So funktioniert auch die Hermann-Hesse-Lektüre. Man bekommt irgendwie gesagt, wenn man nur auf seine innere Stimme höre und das übertrüge ... So funktioniert das, glaube ich. Und außerdem kommt noch dazu, dass diese Art von Linksradikalismus nicht so angstbesetzt ist. Niemand bekommt das Gefühl, morgen muss ich mit einer Kiste Molotow-Cocktails in meinem Transporter irgendwo vorfahren. Sondern, dass es eben eine Sache der Einstellung, der Lebensformen sei. Und das ist einfach jenseits der Zielgruppe "Linke" attraktiv.

Es gibt aber inzwischen in Frankreich und Italien, aber auch in der französichsprachigen Schweiz eine beträchtliche Szene des Insurrektionalismus, die starken Einfluss auf die Szenen in den Krisenländer Portugal, Spanien und Griechenland hat.

Klar, das ist sozusagen der besser informierte Rand der aktuellen Wut. Allerdings reagieren diese Leute ja auf sehr viel massiver materiell spürbare Folgen einer kapitalistischen Großkrise als die eher auf die Verblödung der Plastikmenschen und die Warenförmigkeit des Junge-Mädchen-Verhältnisses reagierenden unsichtbaren Aufständler. Neu ist ja, dass im Moment wirklich angezeigt ist und auch erwartet werden kann, dass etwas Drittes an die Stelle der etablierten Künstler- und Sozialkritiken tritt, die man dann nicht mehr gegeneinander ausspielen können wird.

Das Buch lag auf englisch schon recht früh in den Kunst- und Theoriebuchhandlungen aus. Semiotext(e) brachte das Buch - nach der französischen Orginalausgabe - im August 2009 als erster Verlag auf englisch in einer Reihe des MIT heraus. Gibt es im Feld der Kunstproduktion nun wieder eine positive Bezugnahme auf Handlungsmöglichkeiten jenseits von Projektarbeit?

Kunst, die glaubt, unmittelbar Politik zu sein (statt: politisch zu sein), hat noch nie funktioniert. Wenn man überhaupt mit einer Ontologie der Kunst arbeitet, kauft man die Trennung der Sphären mit ein, was seine Vor- und Nachteile hat. Eine Zeit lang fand ich ja, dass Kunst so wahnsinnig sozialpragmatisch geworden ist, dass der reale Aktivismus keine andere Chance mehr hatte als sie an Radikalität zu überbieten. Manchmal denken Leute, die sich KünstlerInnen nennen, politisch pragmatischer als die AktivistInnen.

Die Tagung The Idea of Communism in London und an der Berliner Volksbühne adressierte vor allem Künstlerinnen. Wird der Begriff Kommunismus neuerdings auch für dieses Milieu interessant?

Man hat wieder vergessen, wie tief dieser Name diskreditiert war, als 1989 in Bukarest gut aussehende RebellInnen riefen, sie wollten nie wieder Kommunismus. Als Denkmöglichkeit des Nicht-Privateigentums, der Nicht-Eigenschaften begrüße ich das, ich denke, es gibt eine reichhaltige intellektuelle Geschichte des Kommunismus, die das erlaubt. Mich stört allerdings an den prominentesten zeitgenössischen Autoren, die sich auf diesen Namen berufen, dass sie das eher um einer Liebe zur Poesie des Schroffen, des Unversöhnlichen heraus tun - als um etwas neues Altes zu denken.

Am Anfang des Manifests steht die fulminante Abrechnung mit dem Individuum, eine fast schon negativ anthropologisch Diagnose des Leidens des Ichs im Hier und Jetzt. Der Text argumentiert aber nicht klassisch kulturpessimistisch, sondern erinnert auch ein wenig an Alain Ehrenburgs Idee vom "erschöpften Selbst".

Ja, wobei es im Fall Ehrenburgs Diagnosen sind, die er ganz sachlich vornimmt. Er macht das geradezu unpolitisch und manchmal erlaubt er sich einen Gedanken in Richtung Kulturpessimismus, aber das ist bei ihm kein zusammenhängendes Programm. Ich finde auch, dass das Manifest nicht klassisch kulturpessimistisch ist, sondern eben, dass es sozusagen die Untergangsvisionen sind, die eher Zappa 1966 hatte. Es kommt mir so vor wie die ersten beiden Alben der Mothers of Invention, was dort geredet wird, auch das in den Sarkasmus immer wieder hinein brechende Pathos. Das ist ein typisches Merkmal. Zappa lässt in der Anklage an die "Plastic People" die Eltern, die unter Schminke ihrem Alkoholismus frönen, ihr falsches Leben leben. Der Ton ist sarkastisch, alles ist Satire und schrille Kleider. Und dann kommen dazwischen so Zeilen, wie "Ever told your kids you´re glad that they can think?" Da gibt es dann plötzlich so ein unglaublich pathetisches Moment. Ich glaube, es handelt sich hier auch um diese Art der Verwünschung des Bestehenden. Das ist in der Tat kein klassischer Kulturpessimismus. Der klassische Kulturpessimismus sitzt ja eher in der Hotelbar und schaut sich das alles an, ist alleine und will keine Kommunen gründen.

Was meinst Du damit?

Ich finde, der klassische Kulturpessimist ist ein Hendrik de Man, ein Ernst Jünger nach '45. Das ist so das Modell, das Lutz Niethammer sehr gut in seinem Posthistoire-Buch beschreibt. Der klassische Kulturpessimist ist jemand, der eine Hoffnung hatte in irgendeine Umwälzung und erlebt hat, wie diese gescheitert ist. Das gibt es bekanntlich auch reichlich bei alten Linken und 68ern. Dieses Wissen um das Scheitern hat er als seine Legitimationsstrategie für sein weiteres Leben entwickelt.

Sicher stand aber Debords Kulturpessimismus auch Pate beim Manifest?

Ja, der späte Debord ist ja auch verdammt kulturpessimistisch. Diesen Kulturpessimismus finde ich auch ein Problem bei diesem Text, vor allem ein stilistisches, da Debords Kulturpessimismus sich ja so in der Sprache widerspiegelt. Dieser Sprache des Imperfektes, dieses zurückschauenden Imperfektes die imitieren sie ja ziemlich genau.

Man hört stark auch den mittleren Debord der Lukács-Phase.

Aber noch mehr - ich kenne ja die klandestinen Verhältnisse hinter diesem Buch nicht, ich kenne nur verschiedene Gerüchte - noch viel mehr in Reinkultur findet man das im Film "Get rid of yourself" von der Bernadette Corporation. Da spricht ein Typ, von dem ich annehme, dass er dieses Buch geschrieben hat, weil er sehr, sehr ähnlich redet. Und der hat 2001 diesen Debord geradezu bauchrednerisch drauf. Das ist der reine Debord. In der Zwischenzeit - das ist meine These - hat er noch etwas erlebt und etwas gelesen und jetzt ist es nicht mehr ganz so nahe dran. Dieses 2001-Manifest ist totaler Debord und hat auch offen kulturpessimistische, über Debord hinaus gehende Passagen, wo von untergehender Zivilisation die Rede ist, wo es dann nicht mehr nur um den Kapitalismus geht, sondern um "das Abendland", um "den Westen". Dort sehe ich dann wieder eine Verbindung zu Alain Badiou. Der geht dann auch wieder zurück bis ins frühe Griechenland. Der Film bringt das miteinander in Verbindung. Auch damals ist schon vom Kommunen-Gründen die Rede. Das ist wirklich schon ziemlich ähnlich. Und der Film bringt dieses Kommune-Gründen in Verbindung mit so Dingen wie der Factory in New York oder eben auch Brandschatzen in Genua.

Das Buch besteht ja aus zwei Teilen. Einem zeitdiagnostischen Teil und einen sehr konkreten praktischen Teil. Was hälst Du vom zweiten Teil, der Anleitung zur Praxis?

Anleitungen zur Praxis werden eh nie gelesen wie Anleitungen zur Praxis. Das ist einfach eine Textform. "Do it! Scenarios of the Revolution" von Jerry Rubin hat auch niemand nachgebaut. Das ist halt nur so eine Textform. Ich finde, dass dieser Aspekt von Texten nicht uninteressant ist und nicht völlig falsch. Ich finde nur, das mit Politik zu verwechseln, ist ein Problem. Und ich finde auch die Empfehlung, wie man zu leben hat, anmaßend und Käse. Woran ich mich auch erinnert fühlte, das war Seth Prices Text "How To Disappear in America", diese Anleitung zu verschwinden. Also wie kann man sich sozusagen aus Datennetzen komplett befreien, wie kann man wirklich unsichtbar werden. Das ist ein toller Text, der das auch als praktische Anleitung beschreibt, aber dem natürlich kein Mensch folgt. 99 von 100 Lesern sind davon fasziniert, aber nicht, um es nachzumachen. Die Textform der Anweisung, die Textform des praktischen Vorschlages ist einfach ein forciertes realistisches Schreiben. Das ist ein weiterer literarischer Trick.

Während im bürgerlichen Feuilleton der glänzende Stil, die poetische Qualität und die konzise Gegenwarts-Beschreibung gerühmt wurde, attestierte die linksliberale (taz) und linke Presse (Jungle World) dem Buch teilweise reaktionäres Gedankengut und ordnete den Kommenden Aufstand als antimoderne Hetzschrift ein.

Es gibt elitäre und aktionistische Komponenten in dem Buch, die ich vielleicht für kompatibel mit rechten Ideen von direkter Aktion halten würde, aber nur wegen Schmitt-Dropping ist man natürlich nicht rechts, da stimme ich der Kritik in der taz nicht zu. Allerdings auch nicht dem Verriss dieser Kritik durch den ansonsten sehr geschätzten Cord Riechelmann in der Jungle World, dem die Bauchschmerzen gegenüber dem Manifest zu "sozialdemokratisch" waren. Aber es gibt natürlich Berge von Linken, auch sozialdemokratischen Linken wie Chantal Mouffe, die produktiv mit Schmitt arbeiten. Dann gibt es aber auch tatsächlich die, da denke ich dann an Autoren wie Agamben, die mit Schmitt arbeiten und mit anderen rechten Autoren und dabei auch nicht unbedingt rechts werden, aber so in einen radikalen Formalismus abdriften, dass es schon problematisch wird. Vor allem, wenn darauf dann eine Gesellschaftskritik aufgebaut wird, die nur bestehen kann, wenn sie sich als Zivilisationskritik geriert, die die Leute überall fundamental falsch leben sieht.

Diese Art der Zivilisationskritik ist ein rechter Topos?

Ich weiß nicht, ob es ein rechter Topos ist, aber ein fieser: wenn sogar Robert Kurz einmal zustimmend Ernst Jünger zitiert mit dem Beispiel, dass er das Rumgerase auf Motorrädern den Gipfel von Entfremdung findet - und wenn anhand von solchen Beobachtungen bildungsbürgerliche Gemütsmenschen den jungen Leuten ihr sinnloses Treiben als Zivilisationsschaden ausreden wollen oder, wie bei Agamben, mit Heidegger die Diagnosemaschine angeworfen wird, da hört's bei mir auf. Mein Zivilisationsschaden gehört mir. Auch und gerade im Kommunismus, bitte!

Ich finde die Bezugnahme auf die Riots in den Banlieues interessant. Die Abgehängten der Banlieues wollen sich nicht eingliedern lassen, genausowenig wollen sie sich den etablierten Instrumenten der Repräsentation beugen. Die Linke ist bisher - was die Aufstände der Banlieues betrifft - ziemlich sprach- und ratlos geblieben.

Ich bin mir nicht so sicher, ob ich diesen Gedanken teile. Mir ist das ein Tick zu spontaneistisch. Ich denke, in der Politik jedweder Art gibt es immer ein Element einer Repräsentation. Natürlich gibt es auch immer eine berechtigte Kritik an Repräsentation und Abschaffung von Repräsentation. Aber das Verhältnis von Repräsentation und Intensität wird man nicht in eine Richtung auflösen können zur reinen Intensität hin. Das funktioniert nicht. Natürlich auch nicht in Richtung reiner Repräsentation. Darauf muss man irgendwie hin arbeiten, aber ich denke, dass die Bezugnahme auf die Banlieues-Aufstände auch ein bisschen parasitär ist.

Wobei ja in diesem Text jetzt nicht nur eine reine Unmittelbarkeit gepredigt wird. Der Mühseligkeit der Herausbildung einer realen Klassenbewegung sind sich die VerfasserInnen des Manifestes durchaus bewusst.

Die Londoner Vorgänge dürften noch eine größere Herausforderung darstellen. Man kann die an ihnen Beteiligten ja nicht als allein rassistisch Verfolgte beschreiben, denen man dann aber wiederum die Bündnisfähigkeit implizit abspricht, weil sie sich eher über ihren Islam als über Ihre politische Position beschreiben. London war anscheinend viel komplexer: obwohl Akteure dabei waren und Begriffe zur Verfügung standen und teilweise auch deren Anwendung versucht wurde, die das Ganze in die Geschichte ähnlicher Ereignisse in London einzuschreiben, haut das nicht hin. Ich finde gerade, das schreit nach Versuchen, die repräsentative Ebene der neuen Unruhen zu entwickeln, die Kämpfe zwischen Athen und Wisconsin auf ihren politischen und kulturellen Punkt zu bringen, der darf nicht ewig bei Wut und Uns reicht's bleiben.

In einem Artikel zur Begriffsbestimmung von Wut in der Jungle World hast Du die linke Option des "metaphysischem Universalismus" kritisiert. An wen oder was hast Du da genau gedacht?

Ich hatte zu dieser Zeit gerade einen Text von Badiou gelesen, wo er davon spricht, inwieweit der Antikapitalismus etwas ganz anderes sein muss als der Kapitalismus, aus fundamental anderem Weltmaterial zusammengesetzt. Dass er ein ganz eigenes Projekt ist und dadurch auch viel stärker. Das war, glaube ich, in diesem Kunst-Manifest von ihm und da habe ich gedacht, Moment mal, das einzige, was es auf der Welt gibt, das alle diese Bedingungen erfüllt, was wirklich komplett aus etwas Anderem gemacht ist als die globale Gegenwart, ist der Jihad. Nicht einmal der wirkliche Jihad, der ja aus unserer Welt stammt und nur eine Variante des globalen Neo-Traditionalismus, sondern der Jihad, wie ihn sich deutsche Blogger und norwegische Massenmörder vorstellen. Und das fand ich interessant, weil Badiou, der auch darüber nachdenkt, ein paar Kriterien für diese fundamentale Alterität nennt: er sagt z.B., es darf nicht westlich sein. Was ist also das Maximale, was den westlichen Demokratien nicht gefällt? Er kommt natürlich auf etwas, was er nicht Jihad nennt, denn für den Jihad will er auch nicht sein, aber das entspricht genau dem Jihad. Das ist interessant, weil es eine reale Existenz des Jihad gibt und nun diese nicht so genannte negative Ableitung des Jihad von den realen Verhältnissen, die sozusagen derselben Logik folgt. Und auch ein guter Grund ist, warum man so eben nicht denken kann.

Wenn Du einen Konnex zwischen Badious antikapitalistischen Positionen und dem Jihad herstellen, muss man nicht auch beachten, dass es in Frankreich ein anti-antizionistische/anti-antisemitische Kritik nicht gegeben hat?

Wenn ich sage, dass Badiou an den Jihad denkt, dann meine ich damit natürlich nicht direkt den Jihad. Ich dachte an die Idee der radikalen Alterität der Gegenbewegung. Das hat nichts zu tun mit Kritik an Badiou als eventuellem Antisemiten, die es auch gibt. Das ist ein anderer Punkt. Auf der anderen Seite ist es natürlich so, dass es diese Diskussionen außerhalb von Deutschland tatsächlich selten in dieser Intensität gibt. Es gibt nur einzelne Personen, die diese Positionen einnehmen.

In Frankreich sind das Nouveaux Philosophes wie Bernard-Henri Lévy, Alain Finkielkraut, oder André Glucksmann, die aber auch alle anti-totalitäre, liberale Positionen vertreten.

Finkielkraut ist in vieler Hinsicht ein Rechter, BHL ist komplizierter. Glucksmann steht für eine Position, die man aus Amerika kennt: Das ist ein Single-Issue-Typ, der sich über die größeren Konsequenzen seiner jeweiligen menschenrechtlichen Issues keine Gedanken macht. Manchmal hat so eine Position Vorteile, aber weit führt sie natürlich nicht. In der politisierten Kunstwelt, die ja viel, viel internationaler ist in ihren Diskussionen als die deutsche Linke, verlaufen die Debatten völlig anders als z.B. in der Jungle World. Positionen, die aus den Debatten über die Realität des Antisemitismus hervorgegangen sind, kann man Leuten, die eher von Judith Butler und anderen Israel-Boykotteuren beeinflusst sind, nur schwer klar machen.

Ein weiterer Kritikpunkt in Deinem Text in der Jungle World war die Option des Exodus. Kannst Du diese erläutern?

Die Sache mit dem Exodus habe ich auch gewählt, weil es ein ganz attraktiver Begriff bei Paolo Virno ist, für den ich normalerweise durchaus Sympathien habe. Ich finde, es ist ein Problem, wenn man sagt, es gibt auf der einen Seite eben diese nicht-zu-etwas-führenden und nicht-vereinheitlichten Aufstände und auf der anderen Seite gibt es gegenüber der Kreativität und dem das Leben selbstverwertenden neoliberalen Kreativ-Kapitalismus nichts anderes als den Exodus.

Das ist Dir zu fundamentalistisch?

Nicht nur, auch zu unpolitisch.

Zu wenig realpolitisch?

Ich finde die Unterscheidung zwischen Realpolitik und anderer Politik problematisch. Also von beiden Seiten aus. Ich finde die Realpolitik macht es sich zu einfach, indem sie sich selbst stark begrenzt und die revolutionäre oder Nicht-Realpolitik macht es sich zu einfach, indem sie die Realität ausblendet. Das ist für mich keine entscheidende Kategorie. Wie generell all diese antiken Kategorien: Revolution vs. Reform, Radikalität. Zum Kreativ-Kapitalismus, zu dem der Exodus der einzige Ausweg ist, gehört ja, dass er auch eine historische Entwicklung ist, die die Kritik, die Negation und die Gegnerschaft zum fordistischen Fabrik-Kapitalismus eingegangen ist.

Das heißt, sich einfach von ihm davon zu machen, würde sozusagen auch die Geschichte der Kritik sabotieren, würde sozusagen sagen: okay, einmal haben wir es mit Kritik versucht, das funktioniert aber auch nicht, also machen wir es jetzt anders und halten uns woanders auf. Und ich denke im Sinne einer historischen Dialektik ist es tatsächlich sinnvoll, genau so weiter zu machen: dieses halbvolle Glas als halbvoll zu verstehen und dafür zu sorgen, dass es wieder voll wird und nicht zu sagen, es ist nur halbvoll, lass es uns wegschütten.

Inzwischen ist ja fast schon ein neues Genre von Empörungsliteratur entstanden. Stéphane Hessels Buch Empört euch wurde gleich ein Interview-Band mit dem Titel Engagiert euch hinterhergeschickt. Jean Ziegler hat nun seine in Salzburg nicht gehaltene Rede in gleichem Format und ähnlich gelayoutet als Aufstand des Gewissens in Buchform herausgegeben.

Ja, es gibt eben einen globalen Konsens, dass es nirgendwo und auf keinem Terrain so weitergehen kann. Was fehlt, ist aber nicht noch mehr Emotionen und noch mehr Entschlossenheit zu irgendwas, denn emotional und entschlossen und von dem Gefühl beseelt, dass es so nicht weiter gehen kann, sind eh alle; auch natürlich die Anhänger der Tea Party oder österreichische Kronenzeitungs-Leser, die den Bürokraten in Brüssel ans Leder wollen. Ich glaube, es fehlt an geteilten Zeichen und Habitus-Elementen der gerade neu überall entstehenden potenziellen globalen Linken der Zukunft, aber auch an Begriffen und Zielen, also eigentlich an Internationalität und Mainstreamfähigkeit, nicht von der Substanz her, aber von der Sprache. Ich hätte nie gedacht, als alter Subkulturalist, so etwas einmal zu fordern. Aber so weit ist es gekommen.

Raute

Stefan Junker:

Die Bolschewiki und die Übernahme der Ministerialbürokratie

Eine noch größere Umwälzung der Weltgeschichte wird der Russischen Revolution des Jahres 1917 nachgesagt. Und doch fühlten sich jene, die diese Revolution verteufelten, ebenso wie diejenigen, die sie in den Himmel hoben, bemüßigt, zuerst den Nachweis zu erbringen, daß es überhaupt eine Revolution gegeben hat.[1] Hätte das allein nicht nachdenklich stimmen müssen, das Neuartige dieser Revolution mit kritischen Verstand zu untersuchen und mit Marx zu fragen: Wie kann eine neue Gesellschaft geboren werden, ohne daß ihre Bedingungen herangereift sind? Der Zusammenbruch der Sowjetunion hat offenbart, daß die Revolution von 1917 den Vergleich mit der Französischen Revolution nicht aushält, daß sie zwar ein Zeitalter geprägt hat, nicht aber eine neue Zeit begründet. Um so berechtigter ist die Frage nach den Kontinuitäten, die den Wandel der revolutionären Zeit überdauerten und ihr gleichsam den Stempel aufdrückten. Nicht wenigen ist eine Ähnlichkeit zwischen der Sowjetunion unter Stalin und dem kaiserlichen Rußland aufgefallen, etwa in der Außenpolitik, in den Gepflogenheiten der Diplomatie, der Rechtlosigkeit seiner Bürger, im Heereswesen[2], im Staat[3], seiner Herrschaftstradition[4], ja sogar in der Allmacht des Staatseigentums[5]. Von einem kommunistischen Blickwinkel aus betrachtet, fühlt man oder frau sich unweigerlich an eine Passage von Marx über Rußland erinnert. "Ein einfacher Austausch von Namen und Daten wird genügen, um zu beweisen, daß zwischen der Politik Iwans II. und der des modernen Rußland nicht nur Ähnlichkeit, sondern Übereinstimmung besteht."[6] Sollte dies auch für die Politik Stalins und der Sowjetunion gelten?

"Der Zusammenbruch des alten Staates bedeutet nicht, daß er dem Regime, das ihm folgte, nicht gewisse Deformierungen weitergegeben hätte. Diese der zaristischen Vergangenheit geschuldete Prägung der Geschehnisse zieht sich tatsächlich bis zum Zusammenbruch des sowjetischen Systems. (Moshe Lewin)"[7]

Die Andeutung einer Kontinuität ersetzt aber keine historische Erklärung, denn diese historische "Prägung aus der Vergangenheit" bedarf selbst einer solchen. Was liegt da näher als zunächst nach dem Charakter des Staatsapparates zu fragen? Während für moderne Historiker die Kontinuität der russischen Ministerialbürokratie aus der Zeit der provisorischen Regierung in die Zeit Lenins eine Selbstverständlichkeit zu werden scheint[8], beharrt das Gros der Autoren, die sich einem Marxismus verpflichtet fühlen, darauf, daß eine revolutionäre Umgestaltung im Sinne von Karl Marx, welcher eine Zerschlagung des Staatsapparates forderte, stattgefunden habe[9]. Daß die Frage einer Kontinutität von dieser Seite weitgehend übersehen wurde, erscheint umso erstaunlicher, wenn die Äußerungen eines berühmten Marxisten der 20er Jahre herangezogen werden, der mehrmals betont hatte, daß der Staatsapparat in Rußland nicht zerschlagen, sondern von den neuen Machthabern übernommen worden war. In seiner Rede zum IV. Kongreß der Kommunistischen Internationale Ende 1922 gesteht Lenin in der Diskussion über die Probleme Rußlands ein, daß "unser Staatsapparat schuld" sei. "Wir haben den alten Staatsapparat übernommen, und das war unser Unglück."[10]

"Oben haben wir, ich weiß nicht wieviel, aber ich glaube sicher, nur einige Tausend, Maximum einige Zehntausend der Unsrigen, unten dagegen haben wir Hunderttausende alter, vom Zaren, aber auch von der bürgerlichen Gesellschaft übernommener Beamter, die teils bewußt, teils unbewußt gegen uns arbeiten."[11]

Lenin hatte diese Kritik am revolutionären Staat vor einem internationalen Publikum ausgebreitet. Daran wird deutlich, welch hohen Stellenwert er dieser Angelegenheit beimaß. In seinen 'letzten Aufzeichnungen', wird er noch deutlicher. Der "Apparat" "ist unter aller Kritik". "Im Grunde genommen wurde er uns vom alten Regime hinterlassen, denn es war völlig unmöglich, ihn in so kurzer Zeit, besonders während des Krieges, der Hungersnot usw. umzugestalten."[12] Daß der alte, mit einem anderen Wort zaristische, Staatsapparat übernommen wurde, ist ein erstaunliches Bekenntnis des großen Revolutionärs, zumal es sich in offenkundigem Widerspruch zu seinen vorrevolutionären Beteuerungen befand. Hatte Lenin nicht 1917 in 'Staat und Revolution', bzw. in 'Werden die Bolschewiki die Staatsmacht behaupten' geschrieben, daß der Staatsapparat zu zerschlagen sei?

"Der Marxsche Gedanke besteht darin, daß die Arbeiterklasse 'die fertige Staatmaschine' zerschlagen, zerbrechen [von Lenin hervorgehoben] muß und sich nicht einfach auf ihre Besitzergreifung beschränken darf."[13]

Lenin definiert dies als die "Hauptlehre des Marxismus".[14] Es tut hier nichts zur Sache, ob Marx einer solchen Wertung zugestimmt haben würde oder nicht. Lenin hat dieses "Zerbrechen", "Zerschlagen" des Staatsapparats in den Mittelpunkt seiner Staatsanalyse und seiner Prinzipien für die sozialistische Revolution gestellt. Er betont dies gegenüber Auffassungen, diesen Staatsapparat nur umzuformen oder den einen Staatsapparat durch einen anderen, aber ähnlichen zu ersetzen. So bestimmte er den Gegenstand im daran anschließenden Kapitel, betitelt: "Wodurch ist die zerschlagene Staatsmaschine zu ersetzen?": "Die zerschlagene Staatsmaschine heißt" "..., daß in riesige[m] Ausmaß die einen Institutionen durch Institutionen prinzipiell anderer Art ersetzt" werden.[15] Und gegen Ende seines berühmten Werkes in der Polemik gegen Karl Kautsky findet sich die Formulierung: "Die Revolution darf nicht darin bestehen, daß die neue Klasse mit Hilfe der alten Staatsmaschinerie kommandiert und regiert, ..."[16]

Was nun? Der revolutionäre Theoretiker bestimmt, daß der Staatsapparat zu zerschlagen sei, der revolutionäre Praktiker gesteht dagegen, daß die Revolution diesen übernommen habe, mit anderen Worten: die Revolution habe die Hauptlehre des Marxismus mit Füßen getreten. Hie die hehre Theorie, dort die schnöde Wirklichkeit. Nun soll uns hier nicht die öde Frage interessieren, ob der praktische Instinkt der russischen Revolutionäre nicht Marx der Utopie überführt habe.[17] Der Staatsapparat in Rußland wurde nicht zerschlagen, wie wir aus Lenins Mund erfahren haben. Warum nicht? Das Problem, erklärt der Führer der Bolschewiki, habe darin gelegen, daß man ihn nicht habe revolutionär "umgestalten" können, nicht, weil dies prinzipiell unmöglich sei, wie er es in 'Staat und Revolution' ausgeführt hat, sondern weil die verfügbare Zeit damals zu kurz gewesen wäre. Lenin entschuldigt dies mit Krieg und Hungersnot.[18] Er verwischt hier Umstände mit Ursachen, denn die Akteure einer Revolution sind nicht Krieg und Hungersnot. Wenn die Aufgabe war, den Staatsapparat zu zerschlagen, so kann dessen Weiterexistenz nicht damit erklärt werden, daß für seine Umgestaltung zu wenig Zeit verblieben sei. Außer wir revidieren die "Hauptlehre des Marxismus" dahingehend, daß wir anstelle von Zerschlagung nur mehr von Umgestaltung sprechen.[19]

Wir stehen vor Lenins bemerkenswertem Eingeständnis, daß der bürokratische Sumpf, in den die russische Revolution geraten war, damit zusammenhänge, daß "man" den "alten Staatsapparat" übernommen habe, wobei "man" ihn selbst und die Führung der Bolschewiki meine.[20] Allerdings schließt er daraus keineswegs auf die fundamentale Frage, warum er und die Führung der Bolschewiki nicht nur die Grundsätze seiner Schriften des Jahres 1917, sondern auch die "Hauptlehre" Marxens mißachteten und ihr entgegengesetzt handelten? Mit dieser Frage hat es noch eine andere und theoretisch hoch brisante Bewandtnis für den Kommunismus. Einmal vorausgesetzt, Lenin habe Recht mit seiner Behauptung, die "Zerschlagung des Staatsapparates" sei die "Hauptlehre des Marxismus", so folgt in Verbindung mit der Feststellung, wonach in Rußland dieser Staatsapparat nicht zerschlagen wurde, was sich durch die strukturelle und personelle Kontinuität der Ministerien und ihrer bestimmenden Rolle im neuen Staat beweisen läßt, daß diesem neuen Staat am bolschewistischen Selbstverständnis gemessen unmöglich sozialistischer oder kommunistischer Charakter zugesprochen werden kann. Alle Diskussion über den Charakter der Sowjetunion, sei es über 'Fehler' und 'Abweichungen', über 'Degeneration' oder 'bürokratische Entartung', erübrigen sich mit dem Nachweis einer Kontinuität der Herrschaftsstruktur, die vom Zarismus in das nachrevolutionäre Rußland reicht. Der grundlegende Widerspruch zwischen Theorie und Praxis, wie er von Kritikern der Sowjetunion formuliert wurde[21], trifft damit ebenso auf den Ursprung des Sowjetstaates zu. Allerdings kann sich eine materialistische Untersuchung nicht mit Lenins halbherziger Kritik am Ursprung des sowjetischen Regierungssystems zufrieden geben.[22] Korrekterweise ist zuerst der Nachweis zu erbringen, daß Lenins Behauptungen zutreffend sind. Hören wir hierzu den bekannten deutschen Sowjet-Historiker Helmut Altrichter: "Die Ergebnisse der historischen Studien zeigen, wie unter neuem Namen das alte System der Fachministerien wieder entstand, neben Partei- und Räteherrschaft an Terrain gewann und als Zentrum der politischen Verwaltung bis zum Anfang der 20er Jahre unverzichtbar wurde."[23]

Und T.H. Rigby in seiner Untersuchung zu Lenins Regierung schreibt: "Even in such institutions as the courts and the armed forces, where change predominated, there were significant continuities of structure, personnel and processes. [H.v.m. S.J.] In most spheres of state activity the field units underwent little change in the aftermath of the October Revolution."[24] Und selbst Richard Pipes, der den Bolschewiki alle Übel der Welt anlastet und für den sie die Inkorporation des Bösen schlechthin sind, entlastet sie hier vor dem historischen Gericht. "Den Bolschewiki blieb somit nichts anderes übrig, als sich auf den alten bürokratischen Apparat und andere 'bürgerliche Spezialisten' zu stützen und sich mit einer Kontrolle der Verwaltungsleute zu begnügen, wenn sie die Verwaltung schon nicht selbst in die Hand nehmen konnten."[25]

Diese Skizze der historischen Prozesse kann nur die Richtung andeuten, wie dieser Gegensatz von politischem Programm und politischer Wirklichkeit erklärt und rational verstanden werden kann. Weiter kann die Frage, weshalb die Bolschewiki den Abgrund nicht sahen, der sich zwischen ihrem Wirken und den kommunistischen Grundsätzen, auf die sie sich beriefen, auftat, erst beantwortet werden, nachdem die geschichtlichen Kräfte begriffen sind, welche die Bolschewiki zu ihrer "falschen Praxis" trieben und treiben ließen. Alle diese Fragen können hier nur gestellt, nicht aber beantwortet werden. Hier müssen eine Skizze des historischen Prozesses, worin die bolschewistische Führung auf den zaristischen Apparat zurückgriff, und ein Anreißen der damit in Zusammenhang stehenden Fragen genügen.


Doppelherrschaft nach dem Oktober

Von der subjektiven Seite der Akteure aus gesehen ist zuerst die irrige Auffassung Lenins über Wesen und Form sozialer Revolutionen hervorzuheben. Er versteht unter sozialer Revolution vor allem einen Regierungswechsel. Die Umwälzung bestehe darin, sagt er am 25.10.1917, "daß wir eine Sowjetregierung, unser eigenes Machtorgan haben werden, ohne jegliche Teilnahme der Bourgeoisie."[26] Was soll "ohne jegliche Teilnahme der Bourgeoisie" heißen? Satzlogisch legt er den Begriff der Arbeiter- und Bauernrevolution in die Sache, daß nunmehr keine Personen an der Regierung beteiligt sind, welche personell mit den Interessen der Bourgeoisie verbunden sind oder aufgrund ihrer sozialen Position dem Bürgertum zugerechnet werden können. Nun bietet die Besetzung von Regierungspositionen mit Arbeitern und Bauern per se keine Gewähr für Arbeiterpolitik, was bereits vor dem 1. Weltkrieg bemerkt wurde.[27] Der Handlungsspielraum einer Regierung ist immer gebunden an den Apparat, über den sie verfügt, und dies ist in der jüngeren Geschichte der moderne Staatsapparat. Lenin sieht nicht, daß der Staat und sein Apparat auf bestimmten sozialökonomischen Verhältnissen ruhen, welche ihrerseits der Freiheit jeder Regierung Grenzen ziehen. Dabei hat Marx gerade hierüber zeit seines Lebens gearbeitet. Dem Staatsapparat fehlt die Macht, seine eigenen Existenzbedingungen hinwegzubefehlen. Völlig unverständlich ist darum Lenins Annahme, daß mit der Regierungsübernahme der alte Staatsapparat zerschlagen werden könne, wie es aus seinen weiteren Ausführungen am Tage der revolutionären Erhebung hervorgeht.[28]

Nun hat Lenin zwar, wie wir wissen, eine Reihe großer Schlachten gewonnen, aber es scheint, als teilte er im entscheidenden Krieg sein Schicksal mit dem Begründer des Mogulreiches, der, angetreten seine Heimat zu erobern, sich schließlich wiederfand, ein fremdes Reich unterworfen zu haben. Nur wußte Fürst Babur stets, daß er sich in Indien, nicht aber in seinem gelobten Land befand. Dem großen Revolutionär aber dämmerte wie Kolumbus sein Lebensirrtum erst auf dem Totenbett.


Der zweite Allrussische Sowjetkongreß

Die neue Regierung bestellte der Sowjetkongreß gegen Ende seiner zweiten und letzten Sitzung, als der Kongreß, wie der Zeitzeuge Suchanow berichtet, bereits auseinanderzufallen drohte. Es wird ihr der Name 'Rat der Volkskommissare' gegeben und, nachdem die linken Sozialrevolutionäre ihre Mitarbeit abgelehnt hatten, fanden sich darin ausschließlich Mitglieder der bolschewistischen Partei. Diese Regierung, bemerkte Suchanow hellsichtig, habe sich in nichts außer dem Namen von ihrer Vorgängerin unterschieden. Es ist diese Kontinuität, die von einigen Historikern bemerkt und zu Recht hervorgehoben wurde. Trotz des Auszuges der menschewistischen Delegierten, der rechten Sozialrevolutionäre und anderer Gruppierungen aus dem 2. Sowjetkongreß wurde ein Gegenantrag eingebracht, welcher verlangte, daß die Regierung aus dem Zentralen Exekutivkomitee des Rätekongresses hervorzugehen hätte.

"Indem der Kongreß "anerkennt, daß für die Rettung der Errungenschaften der Revolution die sofortige Bildung einer Regierung notwendig ist, die sich auf die in den Sowjets der Arbeiter-, Bauern- und Soldatendeputierten organisierte revolutionäre Demokratie stützt, indem er weiterhin anerkennt, daß es Aufgabe dieser Regierung ist, möglichst bald einen demokratischen Frieden zu erwirken, das Land den Landkomitees zu übergeben, die Kontrolle über die Produktion zu organisieren und in der bestimmten Frist die Konstituierende Versammlung einzuberufen, ordnet der Kongreß an: ein vorläufiges Exekutivkomitee zu wählen zur Schaffung einer Regierung in Übereinstimmung mit den Gruppen der revolutionären Demokratie, die auf dem Kongreß wirken."[29]

In diesem Gegenantrag findet sich der Rätegedanke wieder. Die Stufenpyramide der Sowjets schloß jeweils ein Exekutivkomitee oder ein Präsidium an der Spitze ab. Dies läßt sich an den großen Räteorganisationen wie den Sowjets von Petersburg oder Moskau zeigen.[30] Anstatt nun das Präsidium oder Exekutivkomitee des Sowjetkongresses mit der Bildung eines zentralen Vertretungskörpers (Regierungsapparates) zu beauftragen, wurde durch die Gründung des Rates der Volkskommissare eine Parallelinstitution geschaffen. Genaugenommen hat der Sowjetkongreß zwei Regierungen bestellt. Wie sich in den nächsten Tagen zeigte, fühlte sich der Rat der Volkskommissare nicht dem Zentralen Exekutivkomitee unmittelbar verantwortlich, sondern dem Rätekongreß, aus dem er seine Legitimation bezog. Dies machte Lenin bereits in der Auseinandersetzung mit den Parteikräften klar, welche auf eine Regierung unter Einschluß aller sozialistischen Parteien zielte. Der gesamtrussische Rat der Eisenbahnarbeitergewerkschaft (Wikschel)[31] hatte bereits auf dem 2. Sowjetkongreß verdeutlicht, daß er eine rein bolschewistische Regierung mißbillige und für eine Regierung aller sozialistischen Parteien votiere, die in den Sowjets vertreten sind. Um seiner Forderung Nachdruck zu verleihen, drohte er mit allgemeinen Streiks. Die Bedeutung von Wikschel wird daraus ersichtlich, daß diese Vertretung der Eisenbahner tatsächlich Verhandlungen über eine Neubesetzung der Regierung erzwingen konnte. Nicht wenige Mitglieder des bolschewistischen Zentralkomitees unterstützen den Gedanken einer solchen gesamtsozialistischen Regierung, entstammte der Gedanke der an sich richtigen Überlegung, daß das Proletariat nur in seiner Gesamtheit seine Selbstbefreiung durchsetzen könne. Dagegen schleuderte Lenin am 2. November seine Kriegserklärung: "Das Zentralkomitee stellt fest, daß man, ohne Verrat an der Losung der Sowjetmacht zu üben, auf eine rein bolschewistische Regierung nicht verzichten kann, nachdem die Mehrheit des II. Gesamtrussischen Sowjetkongresses, ohne irgend jemanden vom Kongreß auszuschließen, dieser Regierung die Macht übertragen hat."[32]

Und in seinem Ultimatum tags darauf, mit dem er den Abbruch der Verhandlungen mit Wikschel erzwang, schrieb er: "Diese Resolution erklärt jeden Versuch, unserer Partei den Verzicht auf die Macht aufzuzwingen, für Verrat an der Sache des Proletariats, nachdem der Gesamtrussische Sowjetkongreß, auf der Grundlage unseres Programms, diese Macht im Namen der Millionen Arbeiter, Soldaten und Bauern den Vertretern unserer Partei übergeben hat."[33]

Lenins Argumentation - die übrigens hier mit Trotzkis völlig konform geht - besagt, daß die Mehrheit des Sowjetkongresses die Bestellung der Regierung entschieden habe. Darum vertrete die Partei, welche der Kongreß mit der Bildung der Regierung beauftragt hat, bzw. gewählt hat, die Interessen der proletarischen Gesamtheit. Lenin und Trotzki irren. Bürgerliche Politiker des 20. und 21. Jahrhunderts argumentieren in dieser Weise auf der Grundlage des Repräsentationsprinzips. Das Prinzip der Selbstemanzipation des Proletariats hingegen verlangt, daß alle Vertretungen der Arbeiterklasse an den Entscheidungen beteiligt sind. Wie anders könnte die Einheit der Arbeiterklasse verwirklicht werden? "Verrat" an der Sache des Proletariats war darum nicht die Forderung nach einer Regierung aller revolutionärer sozialistischer Parteien, sondern vielmehr die Spaltungsstrategie, die Lenin betrieben hat. Außerdem hatte - ganz im Gegensatz zu seiner Argumentation - das vom Rätekongreß eingesetzte Zentrale Exekutivkomitee (VCIK) jederzeit das Recht, die Zusammensetzung dieser Regierung zu ändern. Der Rätekongreß hatte bestimmt, daß der Rat der Volkskommissare (Sovnarkom) dem Zentralen Exekutivkomitee (VCIK) gegenüber verantwortlich ist und die Kongreßvertretung die Regierung absetzen kann.[34] Nun wurden die Verhandlungen mit den anderen sozialistischen Parteien gerade unter der Ägide des Zentralen Exekutivkomitees (VCIK) geführt, das, legitimatorisch gesehen, sehr wohl über eine Umbesetzung der Regierung befinden konnte - trotz des Votums des Rätekongresses für den bolschewistisch besetzten Rat der Volkskommissare (Sovnarkom). Daß sich an diesen Verhandlungen namhafte Mitglieder des ZKs der Bolschewiki beteiligten, lag in der Natur der Sache, da die Mehrheit der VCIK-Mitglieder selbstredend Bolschewiki waren. Mit der faktischen Weigerung, sich dem VCIK unterzuordnen, stellten sich Lenin und Trotzki explizit gegen das von ihnen verbal vertretene Rätesystem und auch gegen den expliziten Beschluß und Willen des Sowjetkongresses. Dabei stammte die Resolution, die dem Beschluß zugrunde lag, aus Lenins eigener Feder. Was ist daraus zu schließen? Bereits wenige Tage nach seiner Gründung hatte der Rat der Volkskommissare (Sovnarkom) seinen Machtanspruch gegenüber dem Rätesystem erhoben und den historischen Prozeß eingeleitet, worin sich die vom Rätekongreß eingesetzte Regierung ihrer eigenen Voraussetzung entgegensetzt. Es trieb zur Entscheidung der Machtfrage hin, wer an der Spitze des Staates zu stehen habe: der Rat der Volkskommissare (Sovnarkom) oder das Exekutivkomitee des Rätekongresses (VCIK). Bereits am 30. Oktober 1917 hatte der Rat der Volkskommissare in einem denkwürdigen Dekret sich selbst alle Gesetzgebungsgewalt übertragen, wenngleich zunächst befristet bis zur Einberufung der verfassungsgebenden Versammlung.[35] Was aber war dieser Rat der Volkskommissare, der aus dem Rätesystem herausfiel und sich bereits Anfang November gegen die Rätestruktur stellte?

Der Rat der Volkskommissare glich in seiner Ressortaufgliederung den früheren Regierungen, die Lenin als bürgerlich tituliert hatte, obwohl Vertreter der Arbeiterparteien darin wirkten. Lenin übernahm diese Ressortaufteilung ohne zu problematisieren, ob diese für eine proletarische Politik tauglich sei. Aber noch in einem anderen Punkt nähert er sich bürgerlichem Demokratieverständnis. Er gründet das legitimatorische Selbstverständnis der Regierung auf das Mehrheitsvotum des Rätekongresses, nicht aber auf die Feststellung eines Gesamtwillens, wie ihn eine gesamtsozialistische Regierung hätte beanspruchen können. Nicht die Arbeiterklasse in ihrer Gesamtheit ist ihm der Maßstab, sondern das Mehrheitsverhältnis der Arbeiterparteien im Arbeiterparlament. Die Arbeiterregierung vertritt die Arbeiter, sprich ihre Mehrheit, ist aber nicht Ausdruck des Willens der Arbeiterschaft. Durch dieses bürgerliche Repräsentationsprinzip scheidet Lenin die Arbeitervertretung von der Arbeiterschaft und schafft zwei Regierungen mit unterschiedlicher Legitimation: die eine repräsentiert die Arbeiterschaft, während die andere sie vertritt. Was Lenin mit Doppelherrschaft aus der Zeit der Provisorischen Regierungen beschrieben hatte, ist mit dieser Konstruktion in die Zeit nach dem Oktober hinübergerettet worden.[36] Der Kampf war vorprogrammiert. Und in der Tat führte der Rat der Volkskommissare bis Mitte November gegenüber den Sowjetorganisationen und den Resten der alten Staatsmacht nur eine Art Schattendasein. Verweilen wir noch ein wenig bei dieser Konstruktion, die so sehr aus der Logik des Sowjetsystems herausfällt. Der Gegenantrag Glebow-Avilows, der den Gedanken des russischen Sowjetsystems zum Ausdruck brachte, war, wie bereits gesagt, auf dem Sowjetkongreß unterlegen. Daß Sowjetkongresse Beschlüsse fassen, welche dem Rätegedanken zuwiderlaufen oder der Logik eines Rätesystems nicht entsprechen, ist in der Geschichte der modernen Revolutionen nicht ungewöhnlich und Teil eines umfangreichen Erfahrungsprozesses. Dies sollte uns nicht weiter aufhalten, zeugt aber doch von einer mangelnden Durchdringung des Sowjetgedankens innerhalb des russischen Sowjetsystems. Andererseits aber war der Rätegedanke soweit gereift, daß der Widerspruch zur Konstruktion des Rats der Volkskommissare noch während des Kongresses gefühlt, bemerkt und artikuliert wurde.

In der Form, wie der Rat der Volkskommissare bestellt wurde, unterscheidet sich seine Wahl nicht von dem Vorgang, wie eine bürgerliche Versammlung ihre Regierung bestimmt. Selbst die einzelnen Minister wurden nicht jeder für sich durch den Kongreß bestellt, sondern an Hand einer gemeinsamen Liste. Diese Listenwahl entspricht ganz und gar nicht dem Modus einer Rätevorstellung, welche die Kontrolle und ständige Rückrufbarkeit der Delegierten in den Vordergrund stellt. Eine solche Listenwahl würde das Recht der Rückrufbarkeit der Delegierten auf eine Listenabwahl reduzieren und damit ad absurdum führen. Daß die Partei der Sozialrevolutionäre sich der Teilnahme an der Regierung enthalten hatte und darum die bolschewistische Partei als Mehrheitspartei allein die Regierung stellte, ist ein weiteres Merkmal für die Ähnlichkeit zu parlamentarischer Regierungsbildung. Wir stehen hier vor dem Phänomen, daß die bolschewistischen Führer im Rat der Volkskommissare ein abgewandeltes bürgerliches Regierungsmodell vertreten gegenüber einer Rätekonstruktion im Zentralen Exekutivkomitee, das sich seiner Rolle nur bedingt bewußt ist. Warum entsteht unmittelbar nach der Machtkonzentration im Sowjetkongreß an der Spitze Rußlands ein der bürgerlichen Repräsentation entlehntes Regierungsmodell? Dies ist der politische Teil der Frage.

In dem Dekret über die Bildung des Rats der Volkskommissare findet sich der bereits erwähnte Passus. "Die Kontrolle über die Tätigkeit der Volkskommissare sowie das Recht, sie abzusetzen, steht dem gesamtrussischen Kongreß der Arbeiter-, Bauern- und Soldatendeputierten und seinem Zentralexekutivkomitee zu."[37] Das rätedemokratische Geklingel täuscht. Auch die Parlamente bürgerlicher Regierungssysteme beanspruchen für sich das Recht der Regierungskontrolle, unabhängig davon, ob es sich um ein parlamentarisches oder präsidiales Regierungssystem handelt. Ferner werden in dem Beschluß die Kontrollbefugnisse nicht näher bestimmt, über welche der Rätekongreß bzw. sein Exekutivkomitee verfügen. Gerade das Recht, die Regierung abzuberufen, bleibt denkbar unbestimmt. Es geht aus der Formulierung nicht hervor, ob es sich auf die Regierung in ihrer Gesamtheit oder auch auf einzelne Volkskommissare bezieht. Und bedeutsamer noch erwies sich der Mangel einer Bestimmung der Kontrollrechte besagter Organe gegenüber den ministeriellen Apparaten der Volkskommissariate. Eine solche Kontrolle war weder über ihre personelle Besetzung noch über die Arbeitsabläufe vorgesehen. Mit anderen Worten: Aus dem Wortlaut des Beschlusses ergeben sich keinerlei Kontrollrechte, geschweige denn Eingriffsrechte der Räteorgane in die Tätigkeit der Staatsorgane, welche der Regierung unterstellt sind. Allein die Spitzen der Staatsverwaltung werden einer unbestimmten Kontrolle unterworfen. Wollte das Exekutivkomitee gegen eine bestimmte Abteilung der Staatsverwaltung ihr Mißtrauen aussprechen, mußte es der Gesamtregierung ihr Mißtrauen aussprechen, in der Hoffnung, daß eine neue Regierung, die geforderten Veränderungen und Maßnahmen erwirkt.

Die Absurdität einer solchen Konstruktion ist offenbar. Ein direkter Eingriff in die Zentralverwaltung stand dem obersten Kontrollorgan des Rätekongresses nicht zu. Die Teilung zwischen Regierung und Verwaltung, welche Marx in seiner Kommuneschrift für tendenziell aufgehoben bestimmte, blieb hier grundsätzlich erhalten. Weiterhin unterscheidet der Kongreß nicht hinsichtlich der Kontrollrechte zwischen dem Rätekongreß und seinem Exekutivorgan. Letzteres wird darum dem Kongreß gleichgestellt, was darauf hinausläuft, den Rätekongreß gegenüber seinem Exekutivkomitee abzuwerten. Der Rätekongreß wird zu einer Veranstaltung für Personalwahlen degradiert, woraus gefolgert werden könnte, daß nicht ihm das Recht, die Dekrete des 26. Oktober zu beschließen, zugekommen wäre, sondern allein dem von ihm bestellten Exekutivkomitee. In der Logik des Rätegedankens beansprucht der nationale Rätekongreß eine allseitige Kontrolle des von ihm bestellten Exekutivkomitees, das selbst oder in Gestalt eines Präsidiums der Regierung vorsteht. Hier aber wird diese Kompetenz des Rätekongresses auf eine rein personelle Kontrolle seines Exekutivkomitees zurechtgestutzt, weil des Exekutivkomitee (VCIK) als reines Kontrollorgan und nicht als Gesetzgebungsorgan fungiert. Fernerhin ist diese Kontrolle mit dem Auseinandertreten des Sowjetkongresses von ihm auf sein Exekutivorgan übergegangen. Wir stehen vor der eigenartigen Konstruktion eines Rätesystems, das sich an seiner Spitze in eine parlamentsähnliche Kontrollveranstaltung verwandelt. In diesem eigenartigen Zwitterverhältnis zwischen Rätedasein und pseudoparlamentarischer Beziehung zum Rat der Volkskommissare ist das unbestimmte Kontrollrecht des Exekutivkomitees ziemlich bedeutungslos, denn es verbleibt ihm kein positiver Inhalt außer der Möglichkeit, die Regierung abzusetzen. Aber auch diesem Absetzungsrecht kommt keine reale Bedeutung zu, denn weder ist der Modus bestimmt, nachdem eine solche Absetzung vonstatten gehen könnte, noch ist die Rede von einer jederzeitigen Absetzbarkeit einzelner Volkskommissare, wie es rätedemokratische Vorstellungen fordern.

Anscheinend wurde zu diesem Zeitpunkt nicht die Notwendigkeit verspürt, die Kompetenzen und Verantwortlichkeiten gegenseitig zu klären. Aber dieser Mangel sollte nicht überbewertet werden, denn diese Bestimmungen können sich im historischen Prozeß mit Inhalt füllen. Allerdings weist dies darauf hin, daß es eines historischen Prozesses bedarf, mit anderen Worten eines Klärungsprozesses innerhalb divergierender Interessen. Die korrekte historische Frage lautet darum nicht, wieso der Rätekongreß die Klärung und Bestimmung der von ihm bestellten Organe unterlassen habe, sondern warum sich die Klärung dieses Verhältnisses zuungunsten des Rätekongresses und seines Exekutivorgans entwickelt habe. Welche Institution sich in der Konkurrenzsituation durchsetzen und die tatsächliche Regierungsgewalt übernehmen konnte, lag außerhalb der Macht der Partei der Bolschewiki. Darüber entschieden die Fähigkeiten der jeweiligen Institutionen, die wichtigsten aktuellen Aufgaben des Landes und der Revolution zu lösen. Dem aufmerksamen Leser ist bereits die Merkwürdigkeit aufgefallen, daß dieser Kongreß von welthistorischer Bedeutung gerade zwei Mal tagte und noch dazu des Nachts. Die Delegierten waren hungrig, müde und erschöpft, und gerade darum verwundert es, daß sich die Versammlung nicht in Permanenz erklärte. Nur dadurch hätte sie Zeit gewonnen, nicht nur die Müdigkeit ihrer Delegierten zu überwinden, sondern auch die drängenden Fragen und Probleme einer allgemein akzeptierten Lösung zuzuführen und zu erklären, daß sie nicht nur die gesamte politische Macht für sich reklamiere, sondern auch den Willen habe, diese durchzusetzen.

Und noch ein weiteres rätedemokratisches Problemfeld erscheint bei näherer Betrachtung dieser quasiparlamentarischen Gewaltenteilung zwischen Exekutivkomitee und dem Rat der Volksbeauftragten (Regierung). Wenn dem Exekutivkomitee keine Regierungsgewalt zukommt, beschränkt sich das Kontrollrecht des Rätekongresses gegenüber seinem Exekutivorgan auf rein personelle Kontrolle der Regierungskontrolleure. Die Demokratie reduziert sich hier auf die Kontrolle der Kontrolleure. Wie verhält es sich aber mit dem gebundenen Mandat, von dem Marx in seinen Ausführungen zur Pariser Kommune gesprochen hat? Es gibt den Wahlkörpern die Macht, auch auf die Inhalte des Regierungshandelns Einfluß zu nehmen. Hier in der profanen russischen Wirklichkeit der Revolution entbehrt es jeglicher materieller Substanz, weil dem Exekutivkomitee nicht die ausschließliche legislative Kompetenz zukommt. Soweit zur politischen Analyse der obersten Organe des Staates, der sich der erste Sowjetstaat nannte.


Die Übernahme des Vorrevolutionären Staatsapparates

I) Eine der großen Überraschungen, welche die russische Revolution offenbart, ist die Übernahme des alten Staatsapparats durch die Führung der Revolution.

Daß dies, vom ideologischen Standpunkt des 'revolutionären Marxismus' aus gesehen, ein eklatanter Theorieverstoß war, ist bereits gesagt worden. Mit dieser Feststellung ist aber nichts erklärt, außer es wolle behauptet werden, die Bolschewiki seien schuld am Scheitern der sozialen Revolution, sie hätten die Revolution verraten und letztlich dem Stalinschen Terror den Weg geebnet. Ob dies daher rühre, daß sie die Verkörperung des Bösen schlechthin seien oder nur scheinheilige Marxisten, ist einerlei, denn diese Auffassungen basieren auf der falschen Grundannahme, Geschichte könne nach Belieben der Mächtigen geformt werden. Mit der materialistischen Methode, von der Marx und Engels sprechen, haben solche Erklärungen nichts gemein.[38]

Was war geschehen? Die Mitglieder des Rats der Volksbeauftragten standen alle mit Ausnahme von Lenin und dem Komitee für militärische und Marineangelegenheiten einem Ressort vor. Außer des Namens gab es kaum einen Bruch mit der Tradition der Regierungsorganisation. Von 20 vorrevolutionären Ministerien finden sich 16 in der Organisation der bis zum Dezember eingerichteten Volkskommissariate. Vier neue Ministerien schuf der Rat der Volkskommissare: für Gesundheit, für Nationalitätenfragen, für Vermögenswerte und nach dem Eintritt der linken Sozialrevolutionäre in die Regierung das Kommissariat für örtliche Selbstverwaltung. Genaugenommen müßte hier noch die im Dezember gegründete Außerordentliche Kommission (Tscheka) mit hinzugerechnet werden.[39]

Fachbehörden wie das Finanzministerium wurden nahezu vollständig übernommen. Von der höheren Beamtenschaft der Volkskommissariate waren (im August 1918) 80-90% schon vor der Oktoberrevolution im öffentlichen Dienst tätig gewesen, nur 8% von ihnen waren Bolschewiki. Allein im Volkskommissariat für 'Auswärtige Angelegenheiten' und für 'Nationalitätenfragen' sowie der 'Außerordentlichen Kommission' lag es etwas anders.[40] Pipes, in der ihm eigentümlichen Übertreibung, betont: "Das neue Kabinett hatte dieselbe Struktur wie das alte, erweitert lediglich um einen neues Amt, das des 'Volkskommissars für Nationalitätenfragen'."[41] Mit der Übernahme der alten Ministerialbürokratie verkümmerten die Fachabteilungen des Exekutivkomitees (VCIK). Zum Aufbau einer eigenständigen zentralen Räteadministration fehlten ihm wohl die Mittel und das Personal.[42] Das Exekutivkomitee (VCIK) hatte auch nicht versucht, sich den alten Behördenapparat untertan zu machen. Dafür hatte es begonnen, einen eigenen Apparat aufzubauen, aber schließlich im Dezember darauf verzichtet. Es entwickelte sich nicht zu einem Nervenzentrum, in dem die entscheidenden Informationen zusammenliefen und das sich fähig zeigte, diese in Gesetze und Verordnungen zu fassen. Die im Dezember 1917 gegründeten Organisationen Tscheka und Oberster Volkswirtschaftsrat wurden daher nicht mehr der Rätespitze, dem Exekutivkomitee (VCIK), sondern der Regierung (Sovnarkom) unterstellt. Von den 184 Gesetzen und Dekreten, die vom Oktober bis zum Ende des Jahres 1917 erlassen wurden, gingen auf das Konto des VCIK gerade neun, 88 zeichnete Sovnarkom, 62 ergingen aus den Fachministerien. Das VCIK konnte selbst seine Kontrollfunktionen nicht mehr erfüllen, löste konsequenterweise Ende Dezember seine Fachabteilungen auf und stellte sie in den Dienst der Volkskommissariate. Bis dahin hatte es vergeblich versucht, eine eigene, auf die Sowjets gegründete Verwaltung, zu schaffen.

Selbst in den Bereichen der Gerichtshöfe und der bewaffneten Kräfte, wo Veränderungen am stärksten waren, blieb die Kontinuität der Struktur, des Personals und der Abläufe erhalten. Innerhalb von wenigen Monaten verschmolzen die Kommissare mit der alten Verwaltungsmaschinerie und der Rat selbst entwickelte seine Entscheidungsstrukturen entlang traditioneller Linien.[43]

In den meisten Bereichen der Staatsaktivitäten wurden die unteren Fachbereiche kaum einer Veränderung unterzogen. Das Verhältnis der Regierung zu den Ministerien bestimmte ein Dekret vom 9. November. Darin wird das Ministerium für Erziehung als der exekutive Apparat unterhalb der Staatskommission für Erziehung genannt. Mit anderen Worten: das Selbstverständnis der Kommissariate bestand nicht darin, einen eigenen Apparat mittels der Sowjets aufzubauen, sondern sich den alten Apparat untertänig zu machen![44] Mit diesem Konzept im Kopf besuchten die Kommissare, gewöhnlich begleitet von einer Abteilung Rotgardisten, "ihre" Ministerien.[45] Allerdings stießen sie in den Ministerien auf Ablehnung und erbitterte Feindseligkeit. Die Angestellten erkannten nicht die Legitimität der neuen Herren an und verweigerten Ihnen ihre Mitarbeit. Doch gelang es, diesen Widerstand zu brechen. Schließlich übernahmen die Volkskommissariate die alten Ministerien und gingen in ihnen auf. Selbstverständlich brachten die Kommissare auch eigene Leute mit, wie aus dem Militärischen Revolutionskomitee und ab Dezember auch aus dem Apparat des Exekutivkomitees.

Es sind nicht die Sowjets welche die Verwaltung ausüben oder kontrollieren, wie Lenin es wenig vorher geschrieben hatte. Es ist die nämliche Verfahrensweise wie in einem bürgerlichen System, worin die Exekutive, die Regierung, der Staatsverwaltung vorsteht, nachdem jene aus dem Parlament hervorgegangen ist. Allein daß das Parlament legislative Funktionen erfüllt und mehr oder minder kontrollierende Befugnisse gegenüber der Exekutive hat, fehlt im Verhältnis des Zentralen Exekutivkomitees (VCIK) zum Rat der Volkskommissare (Sovnarkom). Andrerseits hat sich der Rat der Volkskommissare einer quasi parlamentarischen Legitimation bedient, darin nicht unähnlich der Plebiszite verschiedener populistischer autoritärer Regime. Der Gedanke, wie das Kommuneprinzip umzusetzen sei, blieb unerwähnt.

Am 15. November hatte der Rat beschlossen, daß sich seine Volkskommissare in die jeweiligen Ministerien begeben sollten. Der Rat selbst tagte weiterhin im Smolny. Nun vergrößerte sich der Bedarf an regulären Treffen, da die informellen Strukturen versiegten. Ab Mitte November hielt Sovnarkom täglich seine Sitzungen, 77 Sitzungen sind es bis zur Verlagerung des Regierungssitzes nach Moskau (zum 10.3.1918), 25 allein im Dezember 17. Die Vielzahl der Aufgaben wurde zum Problem, ad hoc Kommissionen waren zu bilden. Aus diesen wiederum entstand ein Subkomitee für weniger wichtige Angelegenheiten, wohl nicht zufällig nach dem Vorbild einer Einrichtung von 1905, für die auch der damalige Begriff (vermicelli - Vermischtes) Verwendung fand.[46] Zwischen Dezember 1917 und Februar 1918 begann die Staatsmaschine bestehend aus alten Beamten und Angestellten, denen eine Handvoll Bolschewiken vorstand, anzulaufen.[47]

Die strukturellen Veränderungen, so der Historiker Rigby, waren kaum größer als in westlichen Ländern bei einem Regierungswechsel. Selbstredend beeinflußte der hohe Grad der Kontinuität der zentralen Verwaltungsmaschine die Regierungsarbeit und die internen Abläufe der Regierungsmaschinerie. Im März 1918 zog die Regierung mit ihren rudimentären Apparaten nach Moskau. Die revolutionären Führer und die alten Bürokraten fanden angesichts der gemeinsam zu meisternden Situation rascher zueinander. Warum griffen die Bolschewiki auf diesen alten Staatsapparat zurück. Richard Pipes, in seinem Machwerk über die Revolution bezweifelt gar, ob sich den Bolschewiki überhaupt eine Alternative bot, "als sich auf den alten bürokratischen Apparat und andere 'bürgerliche Spezialisten' zu stützen und sich mit einer Kontrolle der Verwaltungsleute zu begnügen, wenn sie [d.h. die Sowjets, S.J.] die Verwaltung schon nicht selbst in die Hand nehmen konnten."[48]

II) Das Personal der zentralen Staatsministerien wies eine überraschende Beharrlichkeit auf. So berichtet der sowjetische Historiker M.P. Irosnikow, daß von der höheren Beamtenschaft im August 1918 80-90% bereits vor der Oktoberrevolution im öffentlichen Dienst tätig gewesen waren.[49] Dieser Prozentsatz überrascht angesichts dessen, daß die Zentralisierung der Staatsverwaltung, sowohl in der nationalisierten Industrie, als auch in Bereichen für welche sich die zaristische Bürokratie nicht zuständig gefühlt hatte, einen wachsenden Personalbedarf entwickelte.

Wie Umfragen zeigten, stammten noch im Frühjahr 1918 über 60 Prozent von circa 1000 Angestellten des Versorgungsressorts, die auf eine entsprechende Anfrage antworteten, aus vorrevolutionären Staatsbehörden, 21,6 Prozent sogar aus dem ehemaligen Ministerium. In anderen Kommissariaten sah es wenig anders aus, wie eine andere Untersuchung zeigte. Für Mitarbeiter im innenpolitischen Ressort konnten neben Arbeitern der Putilov-Werke zwar auch Studenten des elektrotechnischen Instituts in Petrograd und von der Universität herangezogen werden, doch waren im Herbst 1918 von 312 auskunftsbereiten Angestellten noch 14 hohe zaristische Beamte, davon 9 aus dem alten Ministerium, Menschewiki und Sozialrevolutionäre eingeschlossen. Beim Volkskommissariat für Finanzen, das sich auf politisch neutrales 'technisches' Personal der unteren Beschäftigungsränge stützten konnte, arbeiteten sogar 189 ehemals hohe Beamte neben 20 weiteren auskunftsbereiten Angestellten mit Leitungsfunktionen; zu fast 90 Prozent waren sie im Vorgängerministerium tätig gewesen. Das im November gebildete Kommissariat für Verkehrswesen sah sich infolge akuten Personalmangels genötigt, 163 hohe alte Funktionäre (oder gut 53 Prozent von insgesamt mindestens 304 Mitarbeitern), davon 161 aus dem ehemaligen Ministerium, einzustellen. Im personalintensiven Landwirtschaftsressort, dessen gesamtes Führungskollektiv die linken Sozialrevolutionäre stellten, wies die Statistik 1918 bei einer Belegschaft von mindestens 1159 Angestellten 330 Beamte aus dem alten Ministerium nach. Selbst im Marineressort stellten die alten hohen Funktionäre noch 288 von wenigstens insgesamt 397 Mitarbeitern; 254 von ihnen blickten auf eine Tätigkeit im früheren Ministerium zurück. J.W. Stalin, als Kommissar des neugeschaffenen Ressorts für Nationalitätenfragen mußte neben altgedienten Bolschewiki, die zum Teil schon vor der Revolution hohe Parteiposten bekleidet hatten, 81 alte Funktionäre (d.h. gut 36 Prozent der mindestens 222 Mitarbeiter) beschäftigen. General Bontsch-Brujewitsch gelang es bereits in der ersten Hälfte des Jahres 1918 mehrere Tausend ehemaliger zaristischer Offiziere für die Rote Armee zu gewinnen, welche selbstredend bald nicht mehr nach rätedemokratischen Grundsätzen, wie Wählbarkeit der Offiziere oder einem Milizsystem organisiert war.[50]

Das Ministerium der Staatskontrolle wurde völlig vom zaristischen Staat und den Provisorischen Regierungen geerbt. Obwohl seine Arbeit bis Februar 1918 wegen des Streiks der Angestellten brach lag und daraufhin einige Korrekturen vorgenommen wurden, blieb es im Wesentlichen unangetastet. Über 90% der früheren Angestellten waren verblieben. Kein anderes Ministerium genoß solche geringe Veränderungen in der Struktur, der Funktion und der Zusammensetzung während der ersten Revolutionsmonate.[51] Und es war Stalin, der im April 1919 bemerkte, daß allein das Kommissariat für Staatskontrolle die einzige Sowjetbehörde war, welche keiner 'Säuberung' unterzogen wurde.[52]

III) Trotz der verbalen Beteuerungen, einen nichtbürokratischen Apparat aufbauen zu wollen, galt die Hauptsorge der bolschewistischen Führung dem Aufbau einer funktionsfähigen Bürokratie. Dies erforderte, sich den bestehenden Behördenapparat gefügig zu machen und für die eigenen Zwecke in Bewegung zu setzen, sollten sich die Sowjets dieser Aufgabe nicht gewachsen zeigen. Allerdings bedurfte es mehrerer Wochen, bis die öffentlichen Funktionen in Petrograd in die Dienste der Arbeiter- und Bauernregierung gestellt werden konnten. Viele Angestellte verweigerten der neuen Regierung ihre Gefolgschaft und bestritten deren Legitimität. Erst massiver Druck, die Sperrung der Pensionen und die schwindende Aussicht auf die Rückkehr der alten Regierung bewogen das Gros der Staatsangestellten, für die neuen Machthaber tätig zu werden. Die Übernahme des alten Staatsapparates erwies sich als ein hürdenreicher Weg. Es ist darum zweifelhaft, ob vor Dezember 1917 oder Januar 1918 von einer auch nur ansatzweise ordentlichen Staatsverwaltung geredet werden kann: Das öffentliche Leben mußte darum anderweitig organisiert werden: als deren Akteure kommen nur die Selbstorganisationen der Arbeitenden, die verschiedenen Sowjets, Fabrikkomitees etc. in Frage. Damit perpetuierten die Bolschewiki die Zwitterkonstruktion, die Lenin im Frühjahr als Doppelherrschaft bezeichnet hatte. Auf der einen Seite stand der Rätekongreß mit seinem Exekutivkomitee, welches die Spitze eines embryonalen Rätesystems verkörperte. Auf der anderen der Rat der Volkskommissare, welcher anhob, sich der Mitarbeit der alten ministeriellen Exekutive zu bemächtigen. Obwohl der Behördenapparat mit seinem Widerstand gegen die bolschewistische Führung, den Sowjets geradezu die Karten zuspielte, gelang es diesen nicht, eine eigene Verwaltung zu organisieren, welche die Regierung gezwungen hätte, auf den alten, hierarchisch organisierten Behördenapparat zu verzichten. Dieser Apparat war sich seiner Unabkömmlichkeit nur zu sehr bewußt und die Staatsangestellten konnten zuweilen ihre Vorstellungen gegen den Willen der Kommissare durchsetzen. Nehmen wir ein Beispiel. Die Angestellten der Versorgungsbehörden erklärten sich - im Unterschied zu anderen Behörden, welche den Bolschewiki zunächst den Gehorsam verweigerten - für neutral und beschlossen, auf ihrem Posten zu bleiben. Teodorovi aus dem Rat der Volkskommissare billigte diese 'Neutralität'. Die Mitglieder seines Kollegiums aber setzten am 18. November bei Lenin durch, daß er durch A.G. Slichter ersetzt wurde. Zur gleichen Zeit versammelte sich der noch unter der provisorischen Regierung einberufene Allrussische Versorgungskongreß in Moskau und bestimmte einen Versorgungsrat aus 10 Personen mit dem Menschewiken Groman als Vorsitzenden. Dieser neugegründete Versorgungsrat stützte sich vornehmlich auf die örtlichen Versorgungsapparate, worin Menschewiki und Sozialrevolutionäre tonangebend waren, welche dadurch eine für die Machtposition der Bolschewiki bedrohliche Stellung hielten. So berichtete Zelikson, ein Mitglied der Sozial- und Wirtschaftskommission der bereits Ende November 1917 neugewählten und bolschewisierten Stadtduma, daß wegen der Streiks der Angestellten nur mit Hilfe der Soldaten und Verwundeten die Lebensmittelrationen ausgegeben werden konnten. Daher verlangte Slichter, daß sich der Versorgungsrat seinem Willen beuge und die Unterordnung dieses Gremiums unter sein Volkskommissariat. Als der Versorgungsrat sich weigerte, verfügte er dessen Verhaftung. Dieser Konflikt löste eine Boykott- und Sabotagebewegung aus, welche den Rat der Volkskommissare zwang, mit dem Allrussischen Versorgungsrat Verhandlungen aufzunehmen. Schließlich wurde eine Kommission eingesetzt, welche die Frage entscheiden sollte: Übernahme oder Bruch mit dem alten Beamtenapparat. Die Kommission entschied sich für die harte Haltung Slichters, den Lenin am 18. Dezember zur Nachfolge von Teodorovic ernannte.[53] Mit Gewalt aber konnte der Rat der Volkskommissare die Affäre nicht beilegen und mußte am 28. Dezember das Zusammentreten des Allrussischen Versorgungsrates gestatten. Dieser verlangte nichts Geringeres als die Auflösung des Volkskommissariats für Versorgung (Ernährung). Die Verhandlungen zogen sich bis Mitte Januar hin, so daß Lenin einen Kompromißvorschlag erarbeitete. Schließlich mußte Slichter, dem es nicht gelang die alten Kader in seinem Ministerium zu ersetzen, gehen. Dies kam einer Kapitulation vor dem alten Staatsapparat gleich, weil die revolutionäre Führung glaubte, ohne dessen Hilfe nicht die Versorgung der Stadt gewährleisten zu können. Die Spitzenposten des Versorgungsapparates waren zwar von Bolschewiki besetzt, in den niederen Rängen und in den örtlichen Behörden blieb jedoch die alte Beamtenschaft bestimmend und konnte durch ihre Opposition sogar die Entlassung eines Volkskommissars erzwingen.[54] An diesem Beispiel wird deutlich, daß es dem übernommenen Behördenapparat bereits in der Anfangsphase möglich war, seine Personalvorstellungen durchzusetzen und den neuen Machthabern seinen Stempel aufzudrücken. Und dies gelang dem Behördenapparat in einem Konflikt zwischen dem Rat der Volkskommissare und einer Räteorganisation, worin sich die Regierung auf den Behördenapparat stützte, weil ihr die Gefolgschaft der Räteorganisation aufgrund des Parteienkonflikts unsicher erschien. Das ehemalige Kriegsministerium konnte nur mit militärischer Gewalt besetzt werden; die neuen Kommissare für Kriegswesen und Marine fühlten sich genötigt, den zaristischen General Manikovskij unter jeder Bedingung um Unterstützung anzugehen, da sie mit der Versorgung der Armee nicht zurecht kamen.

IV) Es war eine Reihe von Hürden zu überwinden bis es der bolschewistischen Führung gelang, den bürokratischen Widerstand zu brechen. "Der Streik der Regierungsbeamten war glänzend organisiert und von den Banken und Handelshäusern finanziert. Jede Handlung der Bolschewiki zur Übernahme des Regierungsapparates stieß auf Widerstand", berichtet John Reed. Sein Buch wurde bereits 1919 veröffentlicht und in alle wichtigen Sprachen der Welt übersetzt. Er schreibt völlig unbekümmert von der 'Übernahme des Regierungsapparates'.

"Trotzki ging ins Außenministerium; die Beamten weigerten sich, ihn anzuerkennen. Sie schlossen sich ein, und als die Türen gewaltsam geöffnet wurden, legten sie ihre Posten nieder. Trotzki verlangte die Schlüssel zu den Archiven, und erst als Arbeiter herbeigeholt wurden, um die Schlösser mit Gewalt zu öffnen, wurden sie ihm ausgehändigt. Dann stellte man fest, daß Neratow, der ehemalige stellvertretende Außenminister, mit den Geheimabkommen verschwunden war."[55]

Von einem Willen, den 'Staatsapparat zu zerschlagen' kann hier nicht die Rede sein, selbst dann nicht, wenn unter 'Zerschlagung' nur der Austausch von Personen verstanden wird.[56] Nichts lag näher, als daß der Kampf zuerst um die Kontrolle der Regierungsgelder entbrannte. Anfänglich fehlte dem Rat der Volkskommissare sogar das nötige Geld, um die täglichen Staatsausgaben zu begleichen. Mitte November ließen sie leitende Angestellte der Banken verhaften, bzw. zwangen sie mit Gewalt, Tresore und Safes zu öffnen. Dadurch trennten sie die leitenden Angestellten von ihren Untergebenen. Weder Streik, passiver Widerstand, noch der Personalbestand konnte die leitenden Angestellten vor der neuen Gewalt schützen. Dies verfehlte nicht die Wirkung auf die niederen Angestellten für die sich unter den neuen Machthabern auch neue Aufstiegschancen abzeichneten.

Schließlich wird die Petrograder Duma aufgelöst, womit ein organisches Zentrum des Widerstands beseitigt war. In der ersten Januarwoche startete die organisierte Opposition ihren letzten Versuch mittels eines nationalen Streiks der Staatsangestellten. Ende Januar setzte eine große Verhaftungswelle ein, die in Verbindung mit der Auslösung der verfassungsgebenden Versammlung stand, was letzten Hoffnungen ein Ende setzte, die Herrschaft der bolschewistischen Regierung würde in sich zusammenfallen. Die bolschewistische Führung hatte sich auf ganzer Linie als Sieger behauptet.[57]


Der Umzug der Regierung (Sovnarkom) nach Moskau

Um der Gefahr einer deutschen Einnahme Petersburgs zuvorzukommen, welche die Revolution im Verständnis von Lenin und der Bolschewiki gefährdet hätte, verlegte die Regierung im März 1918 ihren Sitz nach Moskau. Sovnarkom hatte sich bereits als Zentrale der Entscheidungen behauptet. Die neue Regierung etablierte sich in den Verwaltungszimmern des 18. Jahrhunderts innerhalb der Kremlmauern. Mit dem Umzug nach Moskau verband Sovnarkom auch die Ausdehnung seiner Macht über die exekutiven Organe der lokalen Sowjets und damit die Konsolidierung des Staatsapparates.[58] Es erforderte einige Zeit, bis die Regierungsmaschine halbwegs ins Laufen kam. Zusätzliches Personal war zu beschaffen. Nun, getrennt von Familie und Freundeskreis, kamen sich Personal von alter Verwaltung und Anhänger der neuen Regierung näher. In dieser Moskauer Zeit liegt vermutlich ein wesentliches Element für die Bewahrung der Kontinuität des russischen Regierungsapparates. Alte und neue Ideen verschmolzen im Getriebe der politischen Alltagsgeschäfte. Dabei sollte nicht der Fehler begangen werden, Kontinuität mit Gleichförmigkeit zu verwechseln. Wie Marx die Kontinuität des russischen Herrschaftssystems seit Ivan Kalita in den geradezu revolutionär anmutenden Perfektionierungen der einmal entwickelten Herrschaftsmethode fand, so bewahrte sich die traditionelle Regierungsstruktur in einem Staatsapparat, der sich über ein bis dahin unbekanntes Maß ausdehnte.[59] In vielen Teilen Rußlands hatten sich in den Wochen, welche dem Oktober folgten, unabhängige Sovnarkoms nach dem Petrograder Vorbild etabliert. Sie in ein gesamtnationales Gebilde einzugliedern und der Regierung unterzuordnen, erwies sich als nicht ganz einfach. "Autarke Bestrebungen und ein bestimmter lokalpatriotischer Geist blieben mächtig, besonders im regionalen Sovnarkom Moskaus"[60] Der Moskauer Sovnarkom lieferte sich über mehrere Wochen heftige Auseinandersetzungen mit Lenins Zentralregierung.[61]

Dzerzhinsky etablierte die Tscheka in Moskau. Im März verbreitete er eine Proklamation, in welcher er die Übergabe aller unlegitimierten Waffen verlangte und bei Zuwiderhandlung mit sofortiger Erschießung drohte. Dies bedeutete das Ende des Milizsystems, eines der Grundelemente des Kommuneprinzips. Die leidenschaftlichen Proteste der lokalen Sowjetautoritäten über diese willkürlichen Akte von Außenstehenden blieben folgenlos. Eine neue Herrschaftsordnung etablierte sich. Im Zuge der Nationalisierung im Frühjahr und Sommer 1918 entwickelte sich der Bedarf nach Tausenden neuer Angestellter. Lenin und Trotzki verteidigten vehement die Inkorporierung von 'Spezialisten' gegen die Opposition innerhalb der Partei. In diesen Monaten wurde über ein Drittel der alten Staatsangestellten wieder in Dienst genommen.[62] Nun mag diese Moskauer Zeit unter vielen Gesichtspunkten diskutiert werden, nie und nimmer aber unter dem Gesichtspunkt der Etablierung eines Sowjetsystems, das sich dem Kommuneprinzip, wie es sich bei Marx findet, verpflichtet fühlt.[63]


Exkurs: Karl Marx und die Zerschlagung des Staatsapparates

Der kurze Überblick veranschaulichte die institutionelle, personelle und strukturelle Kontinuität des vorrevolutionären zentralen Regierungs- und Verwaltungsapparates mit dem Staatsapparat Rußlands nach der Oktoberrevolution. Das Ziel Lenins, einen zentralistischen Regierungsapparat für ganz Rußland zu etablieren, wurde offenbar. Dabei waren sich die Bolschewiki nicht bewußt, daß sie sich hierin im Gegensatz zu den Imperativen einer proletarischen Politik befanden, wie sie Marx insbesondere im Anschluß an seine Auseinandersetzungen mit der Erhebung in Paris 1870/71 formuliert hat. Die Übernahme der Staatsmaschinerie durch das siegreiche Proletariat sei im Anschluß an Marx, dies hatte Lenin in 'Staat und Revolution' mehrmals betont, für eine proletarische Revolution unmöglich.[64] Allein die Praxis der Russischen Revolution nach dem Oktober scheint dies widerlegen zu wollen. Zwei Überlegungen sind hier zu verfolgen: Entweder ist der Marxsche Imperativ, wonach der Staatsapparat zu zerschlagen sei, falsch, oder es ist Sowjetrußland bzw. der 1922 gegründeten Sowjetunion jeglicher sozialistischer Charakter abzusprechen. Auf zwei begriffliche Unklarheiten in Lenins Ausführungen muß trotzdem hingewiesen werden. So reduziert Lenin den Begriff 'Staat' auf 'Staatsapparat', entsprechend dem Verständnis seiner Zeit und erkennt nicht ihren unterschiedlichen Gehalt in Marxens Kommuneschrift. Außerdem unterlegt er dem Begriff der 'Diktatur des Proletariats' einen der Marxschen Konzeption geradezu gegenteiligen Inhalt. Während Marx von einer Klassendiktatur spricht, worin sich die 'Diktatur' auf dem Hintergrund, daß die 'diktatorische' Klasse die Mehrheit der Bevölkerung stellt, in ihr Gegenteil verwandle, versteht Lenin die "Diktatur des Proletariats" gerade in jenem Sinn, gegen den Marx diesen Begriff erschaffen hat, nämlich als Diktatur einer revolutionären Elite.[65] Wir würden heute den Marxschen Begriff mehr als soziologischen, denn als politischen verstehen: Die Interessen der arbeitenden Klassen setzen sich in der sozialistischen Revolution als die herrschenden Interessen der Gesellschaft. Das Ende einer auf Profit und der Ausbeutung der menschlichen Arbeitskraft basierenden Produktionsweise ist eingeläutet. Lenin hingegen versteht 'Diktatur des Proletariats' politisch, d.h. als eine wirkliche Diktatur, die ihm nur als eine Regierungsform erscheinen kann, allerdings mit dem Anspruch im Interesse der Mehrheit zu handeln. Aber welche Regierung heutzutage behauptet dies nicht von sich? Marx verlangte von der Arbeiterrevolution, daß sie jene politischen und sozialen Verhältnisse radikal beseitige, welche es wenigen erlauben, ihren Willen der Gesellschaft aufzuzwingen. Mit anderen Worten: er forderte die Beseitigung des staatlichen Zwangsapparates schlechthin und nicht seine Ersetzung durch einen anderen. Aber was versteht Marx unter diesem Zwangsapparat? Hören wir ihn selbst aus seiner vielzitierten und auch von Lenin herangezogenen Kommuneschrift:

"Die Einheit der Nation sollte nicht gebrochen, sondern im Gegenteil organisiert werden durch die Kommunalverfassung; sie sollte eine Wirklichkeit werden durch die Vernichtung jener Staatsmacht, welche sich für die Verkörperung dieser Einheit ausgab [das ist die Regierung!], aber unabhängig und überlegen sein wollte gegenüber der Nation, an deren Körper sie doch nur ein Schmarotzerauswuchs war."[66]

Die "state power" des Marxschen Entwurfs hat Engels mit 'Staatsmacht' wiedergegeben. In der von Marx selbst durchgesehenen französischen Ausgabe ist diese Stelle mit "destruction du pouvoir central", der Zerstörung der Zentralmacht[67], übersetzt. In seinem ersten Entwurf, der Lenin allerdings nicht vorgelegen hatte, drückt Marx seinen Gedanken noch deutlicher aus und faßt in einer Klammer die Konsequenzen zusammen. Zustimmend zitiert er aus einer Proklamation des Zentralkomitees der Nationalgarde: "'Zum erstenmal seit dem 4. September [1870] ist die Republik von der Regierung ihrer Feinde befreit ... der Stadt eine Nationalmiliz, die die Bürger gegen die Macht (die Regierung) verteidigt, anstatt eines stehenden Heeres, das die Regierung gegen die Bürger verteidigt.' (Das Volk brauchte nur diese Miliz im nationalen Maßstab zu organisieren, um mit dem stehenden Heere Schluß zu machen; das ist die erste ökonomische sine qua non für alle sozialen Verbesserungen, um diese Quelle von Steuern und Staatsschulden und diese ständige Gefahr der Regierungsusurpation durch die Klassenherrschaft - der regulären Klassenherrschaft oder der eines Abenteurers, der vorgibt, alle Klassen zu retten - sofort zu beseitigen.)"[68]

Es ist darum zu tun, jegliche Möglichkeit zu beseitigen, daß eine Regierung mittels eines Herrschaftsapparates der Gesellschaft ihren Willen aufzwingen kann.[69] Aber auch in der Endfassung verdeutlicht Marx mit seiner Wortwahl, daß er an die Regierungsmacht dachte, als er davon sprach, die "bloß unterdrückenden Organe der alten Regierungsmacht abzuschneiden".[70] Und, als wolle er kein Mißverständnis aufkommen lassen, hatte er zuvor angemahnt: "Andrerseits aber konnte nichts dem Geist der Kommune fremder sein, als das allgemeine Stimmrecht durch hierarchische Investitur zu ersetzen."[71] Die kommunalen Selbstregierungen waren für Marx keine Ergänzung zur Zentralmacht wie sie es im Verständnis der heutigen sich föderalistisch nennenden Staatsgebilde sind, sondern jene hatten ihre Stelle zu besetzen. "Das bloße Bestehen der Kommune führte, als etwas Selbstverständliches, die lokale Selbstregierung mit sich, aber nun nicht mehr als Gegengewicht gegen die, jetzt überflüssig gemachte Staatsmacht."[72] Die 'Diktatur des Proletariats' ist für Marx nicht die Ersetzung eines staatlichen Zwangsapparates durch einen anderen Zwangsapparat, sondern die unmittelbare Selbstherrschaft der arbeitenden Gesellschaft.[73] Lenin konfundiert 'proletarischen Staat' mit 'Absterben des Staates': "Wenn aber die Mehrheit des Volkes selbst ihre Bedrücker unterdrückt, so ist eine "besondere Repressionsgewalt" schon nicht mehr nötig! In diesem Sinne beginnt der Staat abzusterben."[74] Falsch: von einem Absterben des Staates, weil seine Repressionsaufgaben überflüssig werden, ist bei Marx keine Rede. Im Gegenteil: Marx unterscheidet zwischen der Staatsmacht einerseits und berechtigten allgemeinen Interessen der Gesellschaft andererseits. Der Staatsapparat der bürgerlichen Gesellschaft hat diese allgemeinen gesellschaftlichen Interessen usurpiert und ihren Herrschaftsinteressen unterworfen. Darum erscheint der Staatsapparat nicht als reines Unterdrückungsinstrument, sondern die Staatsmacht als Vertretung der Gesellschaft. Aber im Verständnis von allgemeinen Interessen der Gesellschaft gibt es einen "Staat" bei Marx auch und gerade nach der politischen Revolution. "Während es galt, die bloß unterdrückenden Organe der alten Regierungsmacht abzuschneiden, sollten ihre berechtigten Funktionen einer Gewalt, die über der Gesellschaft zu stehn beanspruchte, entrissen und den verantwortlichen Dienern der Gesellschaft zurückgegeben werden."[75]

In seiner Kritik des Gothaer Programms macht Marx diesen Gegenstand ähnlich deutlich: "Es ist keineswegs Zweck der Arbeiter, die den beschränkten Untertanenverstand losgeworden, den Staat "frei" zu machen. Im Deutschen Reich ist der "Staat" fast so "frei" wie in Rußland. Die Freiheit besteht darin, den Staat aus einem der Gesellschaft übergeordneten in ein ihr durchaus untergeordnetes Organ zu verwandeln, und auch heutig sind Staatsformen freier und unfreier im Maß, worin sie die "Freiheit des Staats" beschränken."[76]

Es versteht sich von selbst, daß die Existenz eines Regierungsapparates, der es einer Regierung, d.h. der Minderheit der Gesellschaft gestattet, ihren Willen der Gesamtheit aufzuzwingen, diesem Staatsverständnis entgegengesetzt ist. Die Sozialdemokratie, führt Marx weiter aus, verstehe in ihrem Programmentwurf unter Staat gerade die "Regierungsmaschine" oder "den Staat, soweit er einen durch Teilung der Arbeit von der Gesellschaft besonderten, eigenen Organismus bildet". Was in dieser Vorstellung abstirbt, um mit der Formel von Friedrich Engels zu sprechen, ist die besondere politische Form, worin die proletarische Revolution ihren Willen organisiert. Der bürgerliche Staat ist nach Marx eine Reaktion auf die bürgerlichen Produktionsverhältnisse, geht aus ihnen hervor. Dieser Staat ist nicht identisch mit dem Repressionsapparat, den jener sich geschaffen hat - wie es in der französischen Fassung der Kommuneschrift zu lesen ist - sondern er verkörpert das Allgemeininteresse, wie es die bürgerlichen Produktions- und Verkehrsverhältnisse produzieren und der Gesellschaft diktieren. So können sich beispielsweise die arbeitenden Menschen nicht dem Zwang entziehen, mittels ihrer Lohnarbeit ihr Leben zu fristen. Diese Macht des Kapitals ist aber nicht mit der Regierungsmacht zu konfundieren, wiewohl beide Machtverhältnisse miteinander verwoben sind. Für Lenin aber sind Staat und Regierungsapparat das Gleiche. Er bezeugt damit ein modernes, weil bürgerliches Verständnis von Staat, welches Staat gerne auf Regierung und ihre unmittelbare Verwaltung reduziert. Anders bei Marx: Um die Voraussetzungen für das 'Absterben des Staates' zu schaffen, muß der zentralistische Apparat der Regierung beseitigt sein.[77] Daraus ist nicht der falsche Schluß zu ziehen, daß nach der "Zerschlagung" eines bürgerlichen zentralistischen Staatsapparates ein zentralistischer proletarischer Staatsapparat zu errichten sei. Es handelt sich um die "Zerschlagung" des Herrschaftsapparates schlechthin, was Lenin nicht verstanden hat, u.a. weil er "Diktatur des Proletariats" politisch faßt und Diktatur nur in Gestalt von Regierungsgewalt begriff. Allerdings erstreckte sich diese falsche Vorstellung von "Diktatur des Proletariats" auf nahezu alle sozialistischen und sozialdemokratischen Parteien, wie Hal Draper ausgeführt hat.[78]


Zusammenfassung

In diesem Aufsatz wollte ich vor allem eine Frage freilegen: Warum konnte sich das Sowjetsystem nicht gegenüber dem bolschewistisch geführten Staatsapparat durchsetzen? Dazu mußte ich die Kontinuität des russischen Staatsapparates und seiner Herrschaftstradition zeigen. Dies akzeptiert, folgt, daß der nachrevolutionären Gesellschaft Rußlands jeglicher sozialistischer oder kommunistischer Charakter abgesprochen werden muß. Auch dieser Mythos Rußlands, der weit mächtiger war als der Staatsapparat selbst und dem 20. Jahrhundert seinen Stempel aufgedrückt hat, harrt einer Erklärung. Dabei trägt die "Ideologie" des Bolschewismus weit weniger Schuld am Scheitern des russischen Experiments, als viele Kritiker oder Gegner der Sowjetunion glauben machten. Aber sie war ein bestimmender Teil der verheerenden Selbsttäuschung der Bolschewiki, vor allem das falsche Verständnis von "Staat", weshalb die revolutionären Führer nicht bemerkten, daß sie in dieser Revolution weniger die Treibenden als vielmehr die Getriebenen waren.[79] Diese Täuschung übernahm schließlich der große Teil der sozialistischen Strömungen der Welt, und an ihr leidet noch heute jede sozialistische oder kommunistische Theorie einer revolutionären Veränderung der Welt. Daran ist zu arbeiten.

E-Mail: st.junker@gmx.de


Anmerkungen:

[1] Für die sozialistische Seite siehe beispielsweise Mandel, Ernst: Oktober 1917. Staatsstreich oder soziale Revolution. Köln, Neuer ISP Verlag, 1992.

[2] Ritter, Gerhard: Das Kommunemodell und die Begründung der Roten Armee im Jahre 1918. Berlin 1965, S. 112.

[3] Pipes, Richard: Rußland vor der Revolution. München, dtv 1984, Bracher, K.D. Die Krise Europas. FFM, Propyläen 1976. Propyläen Geschichte Europas Band 6, S. 42b.

[4] Silnitzki, Michael: Die gegenwärtige Entwicklung des Sowjetsystems vor dem Hintergrund der russischen Herrschaft- und Verwaltungstradition. Zeitschrift für Politik (ZfP) Jg. 37, Nr. 1/1990 S. 20-36, 20.

[5] Zaitseff, C.: Die Rechtsideologie des russischen Agrarwesens und die russische Agrarrevolution. Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie. Nr. 19, 1925-1926, 44-84. S. 46.

[6] Marx, Karl: Enthüllung zur Geschichte der Geheimdiplomatie. [Hg. von G.L. Dülmen]. Frankfurt a.M., surkamp 1981. Gegen Ende des Kapitels IV, S. 124. Aufgrund einer anderen Vorlage weicht die Übersetzung in der Ausgabe bei Olle & Wolter leicht ab. Marx, Karl. Die Geschichte der Geheimdiplomatie des 18. Jahrhundert. Berlin, Olle & Wolter 1977, am Ende des V. Kapitels S. 90.

[7] Lewin, Moshe: Continuité russe. Le Monde Diplomatique, Novembre 2007, 22.

[8] Pietsch, Walter: Revolution und Staat. Köln, Verlag Wissenschaft und Politik 1969. Rigby, Thomas Henry: Lenin's Government: Sovnarkom. Cambridge, University Press 1979. Altrichter, Helmut: Staat und Revolution in Sowjetrußland 1917-1922/23. Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1981. Nienhaus, Ursula D. Revolution und Bürokratie. Frankfurt a.Main, Rita G. Fischer 1980. Rabinowitsch, Alexander: The Bolsheviks in Power. The First Year of Soviet Rule in Petrograd. Indiana University Press, Bloomington 2007.

[9] Exemplarisch Behruzi, Daniel: Die Sowjetunion 1917-1924. ISP, Köln 2001. Mandel, Ernest: Oktober 1917. ISP, Köln 1992, 27. Instruktiv auch hierzu: Linden, Marcel van der [Hg.]: Was war die Sowjetunion? Wien, Promedia 2007. Eine rühmliche Ausnahme macht Rudi Dutschke in "Versuch, Lenin auf die Füße zu stellen". Berlin, Wagenbach 1974, S. 42, Siehe S. 154, wo er die Sowjetunion als halb-asiatischen Staatskapitalismus des Zarismus bezeichnet.

[10] IV. Kongreß der Kommunistischen Internationale. LW 33, S. 414.

[11] IV. Kongreß der Kommunistischen Internationale. LW 33, S. 415.

[12] Lenin am 24. 12. 1922. LW 36, 579.

[13] Lenin, W.I.: Staat und Revolution. LW 25, S. 427.

[14] Lenin, W.I.: LW 25, S. 428.

[15] Lenin, W.I.: LW 25, S. 432.

[16] Lenin, W.I: LW 25, S. 501.

[17] Siehe beispielsweise Barion, Jakob: Hegel und marxistische Staatslehre. Bonn, H. Bouvier u. Co. 1963.

[18] Brief an den Parteitag III. Niederschrift vom 26.12.1922. LW 36,581.

[19] Tatsächlich ergibt sich eine solche indirekte Revision in Lenins nachrevolutionären Schriften. Man sollte diese Revision der Leninschen Staatstheorie nicht verwechseln mit der falschen Auslegung, wie sie nach 1945 im stalingeprägten Osteuropa Usus wurde, nämlich unter "Zerschlagung" die Beseitigung bürgerlicher und sozialdemokratischer Angestellter zu verstehen und unter Sowjetsystem, die Übernahme dieser Strukturen und deren Anpassung und Modifizierung an die Erfordernisse einer diktatorischen Willkürherrschaft mittels willfähriger Staatsangestellter "kommunistischer" Gesinnung. Siehe hierzu Fejtö, François. Die Geschichte der Volksdemokratien. Wien; Köln, Styria 1972. Überdies sollte diese Leninsche Revision seiner 1916-17 entwickelten Staatstheorie nicht konfundiert werden mit der Frage, inwieweit seine Anschauungsweise in dieser Staatstheorie mit den Darlegungen bei Marx konform gehen.

[20] LW 33,414-415. In Lieber weniger, aber besser spricht Lenin mehrmals von 'unserem Staatsapparat' (LW 33, 474; 477). Er spricht vom Staatsapparat wie vom Eigentum der Partei. Vergleiche auch Lenins Formulierung in seinem Brief an die Partei vom Dezember 1912, Anm. 16. Stalin verlangte bereits im Juli 1917 die Macht im Staate, solle in Hände einer revolutionären Elite gelangen. Stalin Werke 3, 114-115.

[21] Exemplarisch hierzu Rother, Karl-Heinz: Parteiverfahren für Marx. Hier irrten Kurt Hager und andere. Berlin, Dietz 1990. Voslensky, Michael S.: Nomenklatura. Die herrschende Klasse in der Sowjetunion. München, Nymphenburger Verlagshandlung GmbH 1987.

[22] Diese Kritik müßte auch erklären, weshalb dieser Widerspruch in der revolutionären Arbeiterbewegung des 20. Jahrhunderts nicht zu Buche geschlagen ist. Anders formuliert: Wie erklärt sich die 'Gläubigkeit' von Arbeitermassen und Arbeiterparteien gegenüber dem vermeintlichen Sozialismus der Sowjetunion? Diese Frage bezieht sich nicht nur auf die Anhänger des sowjetischen Systems, sondern ebenso auf deren Kritiker, wie etwa aus der Sozialdemokratie, die aus der Realität des realen Sozialismus den Schluß ziehen, sich aus dem Sozialismus zurückzuziehen. Kritikern wie Anhängern der Sowjetunion ist hier eine falsche Anschauung gemein.

[23] Altrichter, 8.

[24] Rigby, T.H.: Lenin's Government: Sovnarkom, 10.

[25] Pipes, Richard: Die Russische Revolution. 3 Bde. Berlin, Rowolt 1992-93, Bd. 2, 291.

[26] Sitzung des Petrograder Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten 25. Oktober (7. November) 1917. In LW 26, 228.

[27] Siehe u.a. Rosa Luxemburg: Die sozialistische Krise in Frankreich. Gesammelte Werke 1,2. Berlin, Dietz 1979, 5-73.

[28] LW 26, S. 228 und Suchanow, N.N.: 1917. Tagebuch der Russischen Revolution. München, R. Piper & Co 1967, 657.

[29] Glebov-Awilow am zweiten Sitzungstag. Zit. aus Pietsch, 49-50.

[30] Zu Petersburg Anweiler, Oskar: Die Rätebewegung in Russland 1905-1921. Leiden, E.J. Brill 1958 u.a. das Kapitel III 3 e, 151-154. Zum 1. Rätekongreß und der Bildung des 1. ZEK Andreyev, A.M.: The Soviets of Workers and Soldiers Deputies on the Eve of the October Revolution. Moskau, History Institute USSR. Academy of Sciences 1971. Kapitel III 5.

[31] Wikschel, das ist das Exekutivkomitee des Verbandes der Allrussischen Gewerkschaften der Eisenbahner.

[32] Resolution des ZK der SDAPR(B) zur Frage der Opposition innerhalb des ZK. LW 26, 272. Dies ist ein grandioser Bruch mit dem Räteprinzip. Selbstverständlich hatte das vom Rätekongreß eingesetzte Zentrale Exekutivkomitee jederzeit das Recht, die Zusammensetzung dieser Regierung zu ändern. Selbst der Rätekongreß hatte bestimmt, daß Sovnarkom dem Exekutivkomitee (VCIK) verantwortlich ist und dieses die Regierung absetzen kann. Und gerade das VCIK führte die Verhandlungen mit den anderen sozialistischen Parteien. Lenin und Trotzki stellen sich hier explizit gegen das Räteprinzip. Siehe die Resolution in LW 26, 254.

[33] Ultimaturm der Mehrheit des ZK der SDAPR(B) an die Minderheit. LW 26, 274.

[34] In der Entschließung über die Bildung des Rates der Volkskommissare heißt es: Die Kontrolle über die Tätigkeit der Volkskommissare und das Recht der Einmischung in diese verbleibt dem Allrussischen Kongreß der Sowjets der Arbeiter-, Bauern- und Soldatendeputierten und seinem Zentralvollzugskomitee." Hellmann, Manfred [Hg.]: Die Russische Revolution 1917. München, dtv 1964, 312.

[35] Nienhaus, 20. Bunyan, James; Fisher, H.H.: The Bolshevik Revolution 1917 - 1918. Documents and Materials. Stanford, California, Standford University Press 1934, 185.

[36] Pietsch, 50.

[37] LW 26, 254.

[38] Siehe hierzu die Äußerungen von Engels in "Revolution und Konterrevolution in Deutschland". MEW 8, 5-6.

[39] Siehe hierzu die Tabellen bei Hedeler, Wladislaw : Schützler, Horst; Striegnitz, Sonja: Die Russische Revolution 1917. Wegweiser oder Sackgasse? Berlin, Dietz 1997, S. 426 und 427.

[40] Altrichter, Staat, 17-18.

[41] Pipes, Russische Revolution. Band 2, S. 277.

[42] Altrichter, Staat, 18.

[43] Rigby, 23-24.

[44] Dekrety Sovetskoi vlasti. Bd. 1, 62. Nach Rigby, 43.

[45] Indem Kommissare in die Ministerien entsandt werden, oder wenn revolutionäre Arbeiter die behördliche Arbeit kontrollieren, so heißt dies noch lange nicht, daß die Behördenapparate in ihren Dienst gestellt werden. Davon kann erst gesprochen werden, wenn über diese Behördenapparate die Entscheidungsstränge laufen.

[46] Rigby, 37.

[47] Rigby, 50.

[48] Pipes 2, 291.

[49] Altrichter, Staat, 17. Im übrigen gebührt Stalin der zweifelhafte Verdienst zuerst die bürokratische Kontinuität bemerkt zu haben. Stalin Werke 4, 321.

[50] Ritter, Gerhard: Das Kommunemodell 36ff. Bereits am 22.4.1918 hatte Trotzki die Abschaffung der Wählbarkeit der Offiziere gefordert. Ebd., 139.

[51] Remington, Thomas. Institution Building in Bolshevik Russia: The Case of "State Kontrol". Slavic Review, Volume 41, Issue 1 (1982) 91-103, 96ff.

[52] Remington, S. 97 Anm. 30.

[53] Pietsch, 59.

[54] Pietsch, 60, Nienhaus, 25.

[55] Reed, John: 10 Tage, die die Welt veränderten. Berlin, Dietz 1982, 330. Nienhaus, S. 25, 28, Reed, 330ff. Philips- Price, Morgan: Die russische Revolution. Berlin, Oberbaumverlag 1977. Kap. 11, 205.

[56] Wie bei Ursula Nienhaus. 28.

[57] Es stellt sich überhaupt die Frage, ob die Auflösung der Konstituante nicht mit der Brechung des Widerstands der Staatsangestellten in Verbindung zu setzen ist.

[58] Ich stütze mich hier auf die Beschreibungen bei Rigby Kapitel 5 The move to Moscow.

[59] Daß sich manche Marxschen Beschreibungen in seiner Artikelreihe über "die Geschichte der Geheimdiplomatie des 18. Jahrhunderts" auch auf die Stalinsche Zeit anwenden lassen, kann keinem aufmerksamen Beobachter entgehen.

[60] Rigby, 58.

[61] Rigby, 58.

[62] Darauf hat Lenin vermutlich gegenüber den Delegierten der III. Internationale angespielt. LW 33, 415.

[63] Hieran änderte auch nichts die Proklamation einer Räteverfassung im Frühjahr 1918. Obwohl sie kaum ihr Papier wert war, trägt sie wesentlichen Prinzipien eines Rätewesens nur ungenügend Rechnung.

[64] Lenin, Staat und Revolution. LW 25, 427 ff. Schließlich widmet Lenin diesem Gegenstand ein ganzes Unterkapitel des III. Abschnittes: "2. Wodurch ist die zerschlagene Staatsmaschinerie zu ersetzen?" LW 25, 430ff.

[65] Siehe hierzu Draper, Hal: The Dictatorship of the Proletariat.

[66] Marx, Karl: Der Bürgerkrieg in Frankreich. MEW 17, 340.

[67] Marx, Karl: La guerre civil en France. MEGA I/22, 500.

[68] Marx, Karl: Erster Entwurf zum Bürgerkrieg in Frankreich, MEW, 17, 543.

[69] Auch dies wird im "Ersten Entwurf" besonders deutlich. "Beseitigung der Staatshierarchie überhaupt und Ersetzung der hochfahrenden Beherrscher des Volkes durch seine jederzeit absetzbaren Diener, der Scheinverantwortlichkeit durch wirkliche Verantwortlichkeit, da sie dauernd unter öffentlicher Kontrolle arbeiten." MEW 17, 544.

[70] MEW 17, 340.

[71] MEW 17, 339.

[72] MEW, 341.

[73] Stalin hat das bereits 1918 auf den Kopf gestellt. Siehe: Reden auf der Beratung vom 10. - 16. Mai 1918. In Stalin Werke 4, 78.

[74] LW 25, 432.

[75] MEW 17, 340.

[76] Marx, Karl: Kritik des Gothaer Programms. MEW 19, 27.

[77] Marx, Bürgerkrieg in Frankreich, MEW 17, 339.

[78] Draper, Hal: The Dictatorship of the Proletariat from Marx to Lenin, New York, Monthly Review Press 1987, 45-46.

[79] Dies gilt auch für bestimmte Kritiker: Wenn der alte Staatsapparat übernommen und wie Lenin sagte, nur mit etwas Sowjetöl gesalbt wurde, dann ist das Problem der Bürokratie nicht ein sozialistisches, denn es wurde mit dem Staatsapparat geerbt. Die sog enannte Degeneration des Arbeiterstaates, wie es Trotzki und viele nach ihm formuliert haben, ist dann keine Degeneration eines Arbeiterstaates mehr, der, mangels der Möglichkeit in die Welt zu treten, nicht in die Verlegenheit kommen konnte, zu degenerieren.

Raute

Philippe Kellermann:

Das Schwere, das schwer zu machen ist Erbauliches zum 10. Geburtstag der Grundrisse[1]

"Im Messen unserer Kräfte erwarten wir die Revolution:
Möge sie über Autoritäre und Anarchisten urteilen."

Rivoluzione Sociale (1872)

"Es ist merkwürdig: die Revolution ist für jedermann eine angenehme Vorstellung, und sie stellt dennoch eine gewisse schreckliche Realität dar. Bedenken Sie, dass die Revolution eine Vorstellung bleiben könnte und man diese Vorstellung herbeisehnen, für diese Vorstellung kämpfen könnte. Doch es ist nicht nur eine Vorstellung, es gibt Verkörperungen der Revolution. Und das, sehen Sie, erschwert immerhin das Problem ­... Die Gesellschaften, in denen die Revolution gesiegt hat, würde ich ohne weiteres als 'entäuschende' Gesellschaften bezeichnen. Sie sind der Ort einer wesentlichen Enttäuschung, unter der viele, ich eingeschlossen, leiden. Diese Gesellschaften sind enttäuschend, weil der Staat nicht abgestorben ist ..."
Roland Barthes (1977)


Die (vor allem) gegen den Marxismus in Form einer Frage gerichtete Kampfansage der Rivoluzione Sociale, Zeitschrift der italienischen Sektion der Ersten Internationale, wurde schon kurze Zeit später von Engels implizit für entschieden erklärt, als er seinen Artikel "Die Bakunisten an der Arbeit", der sich mit den spanischen Aufständen 1873 beschäftigt, folgendermaßen beschließt: "In einem Wort, die Bakunisten in Spanien haben uns ein unübertreffliches Muster davon geliefert, wie man eine Revolution nicht machen muss." (Engels 1873: 493) Knapp fünfzig Jahre später "antwortet" Peter Kropotkin in seinem Aufruf "An die Arbeiter der westlichen Welt", die "Komissarokratie" (Rudolf Rocker) der Bolschewiki vor Augen: "An Russland lernen wir, wie der Kommunismus nicht eingeführt werden kann" (Kropotkin 1920: 284). Haben sich also sowohl die klassisch anarchistische, wie auch die marxistische Revolutionstheorie und praxis historisch erledigt?

Verbleiben wir einen Moment bei der ursprünglichen Auseinandersetzung beider Konzeptionen und hören wir, wie sie, aus anarchistischer Perspektive, beschrieben wurden: "Marx ist autoritärer und zentralistischer Kommunist", heißt es bei Bakunin. "Er will, was wir wollen: den vollständigen Triumph der ökonomischen und sozialen Gleichheit, aber im Staate und durch die Staatsmacht, durch die Diktatur einer sehr starken und sozusagen despotischen provisorischen Regierung, das heißt durch die Negation der Freiheit. Sein ökonomisches Ideal ist der Staat als einziger Besitzer von Grund und Boden und jedem Kapital, das Land bebauend durch gut gezahlte und von seinen Ingenieuren geleitete landwirtschaftliche Assoziationen und mit dem Kapital alle industriellen und Handelsassoziationen kommanditierend. Wir wollen den gleichen Triumph der ökonomischen und sozialen Gleichheit durch die Abschaffung des Staates und von allem, was juridisches Recht genannt wird, und das nach unserer Ansicht die permanente Negation des menschlichen Rechts ist. Wir wollen den Wiederaufbau der Gesellschaft und die Konstituierung der Einheit der Menschheit nicht von oben nach unten, durch irgendwelche Autorität und durch sozialistische Beamte, Ingenieure und andere offizielle Gelehrte - sondern von unten nach oben, durch die freie Föderation der von dem Joch des Staates befreiten Arbeiterassoziationen aller Art." (Bakunin 1872a: 770f.) Man mag darüber streiten, inwieweit Bakunin, der sich hier deutlich am Manifest orientiert, die Marx'sche Konzeption insgesamt getroffen hat. Festzuhalten bleibt, dass damit die Theorie und Praxis der marxistischen Bewegungen, von der klassischen Sozialdemokratie bis hin zu den leninistischen Bewegungen - rätekommunistische Strömungen einmal ausgenommen - im Großen und Ganzen gut skizziert ist, wie im Übrigen auch deren mögliche Konsequenz erstaunlich prägnant vorweggenommen wurde.[2]

Ich denke, dass eine solche Konzeption, von einem emanzipatorischen Standpunkt aus, kaum mehr ernsthaft vertreten werden kann, und erspare es mir deshalb an dieser Stelle, hier weiter darauf einzugehen. Wie aber steht es mit dem Anarchismus? Hat nicht auch dieser versagt? Manche sehen es so: "Die Tragik des Anarchismus war es fast immer, nur Minderheitenbewegung zu sein. Deshalb stand der Anarchismus nie wirklich auf dem Prüfstand (...). (Das Ausnahmebeispiel der Spanischen Revolution (1936-1939) hat gezeigt, dass die theoretischen Postulate des Anarchismus durch die gesellschaftlichen Wirklichkeiten und Zwänge hinweggefegt wurden: In Zeiten von (Teil)Verwirklichungen des Anarchismus bricht dessen zeitbedingtes, oft über den gesellschaftlichen Realitäten schwebendes Theoriegebäude wie ein Kartenhaus zusammen." (Degen 1996: 107) Hatte sich nicht, mit Blick auf den Eintritt der CNT in die spanische Regierung während des Spanischen Bürgerkrieges, das schon von Engels kritisierte Resultat erneut eingestellt, das er 1873 folgendermaßen beschrieb: "Was war nun die Stellung der bakunistischen Internationalen in dieser ganzen Bewegung? Sie hatten ihr den Charakter der föderalistischen Zersplitterung geben helfen, sie hatten ihr Ideal der Anarchie, soweit es möglich war, verwirklicht. Dieselben Bakunisten, die in Córdoba wenige Monate vorher die Errichtung revolutionärer Regierungen für Verrat und Prellerei der Arbeiter erklärt hatten, sie saßen jetzt in allen revolutionären städtischen Regierungen Andalusiens - aber überall in der Minderzahl, so dass die Intransigenten tun konnten, was sie wollten." (Engels 1873: 485f.) Nun kann ich weder Degen völlig zustimmen, noch erkennen, dass Engels seinerzeit gegenüber dem Anarchismus eine - in ihren zu erwartenden Resultaten - emanzipatorisch-tragfähigere Konzeption anzubieten hatte.[3]

Stattdessen möchte ich erstmal mit Guy Debord grundsätzlich festhalten, dass in Spanien unter der Leitung der AnarchistInnen "wirklich eine soziale Revolution" stattgefunden hat, die den vielleicht immer noch "fortgeschrittensten Entwurf einer proletarischen Gewalt" repräsentiert, "den es jemals gegeben hat" (Debord 1967: 80). Um so ärgerlicher, wenn sich, bei aller berechtigten Kritik an einem "Mythos" des Spanischen Bürgerkriegs, mittlerweile kaum mehr jemand an dessen Vorlauf, Verlauf, Ergebnissen und Scheitern abarbeitet und, davon ausgehend, mit der Frage der Revolution in der Gegenwart beschäftigt.[4]

Ich möchte und kann hier keine Diskussion der Spanischen Revolution führen, auch soll nicht der Eindruck erweckt werden, dass jene Bewegung eins zu eins, zu einem überhistorischen Revolutions-"Modell" stilisiert werden soll. Vielmehr möchte ich nur auf einen meines Erachtens aber ganz zentralen Punkt aufmerksam machen, den die Spanische Revolution uns vor Augen führt. Dieser war auch für Karl Korsch ein entscheidender Grund dafür, dass er das "Studium dieser Bewegung, ihrer Konzepte und Methoden, ihrer Erfolge und Fehlschläge und die daraus folgende Erkenntnis ihrer Stärken und Schwächen (...) für den klassenbewussten und revolutionären Teil des internationalen Proletariats" als "von dauernder Bedeutung" erklärte (Korsch 1939: 119f.) - und folgendermaßen beschrieb: "Die für diese Aufgabe seit langen Jahren in einem unablässig erneuerten und von den großen Städten bis in die entlegensten Landwinkel hinausgetragenen unaufhörlichen Gespräch ausgiebig vorbereitete syndikalistische und anarchistische Arbeiterbewegung Spaniens wusste über ihre eigenen ökonomischen Ziele Bescheid und hatte über die ersten praktischen Schritte zur Erreichung dieser Ziele im Ganzen eine viel realistischere Vorstellung als sie die sogenannte 'marxistische' Abeiterbewegung im übrigen Europa in ähnlichen Situationen zeigte." (ebd.121)[5] Ähnlich Korsch, hat auch der spanische Libertäre Gaston Leval diesen Aspekt in Bezug auf die Konstitutionsphase der spanischen ArbeiterInnenbewegung und als deren bestimmenden Zug herausgestellt: "In dieser gesamten [anarchistischen] Presse werden die gleichen Ziele unaufhörlich zum Ausdruck gebracht. Während in anderen Ländern und in anderen Kampfperioden nur die Kritik, die bloßen unmittelbaren Forderungen, die Entlarvung der gesellschaftlichen Überstände - bis hin zu bloßen Schimpfereien - besonders in den Vordergrund gestellt wurden, werden hier immer wieder die Ziele und konstruktiven Ideen wiederholt." (Leval 1971: 27)

Vor diesem Hintergrund ist festzuhalten, dass es mir unabdingbar erscheint, nicht nur ungefähr zu wissen, wohin man wie will, sondern auch zu realisieren, dass der Sozialismus "gelernt und geübt" werden muss (Landauer 1915: 236), ein Punkt, auf den schon Bakunin verwies, wenn er die positive Rolle der Arbeiterassoziationen hervorhebt, in denen man lerne, "sich [zu] helfen" und "gegenseitig [zu] unterstützen" (Bakunin 1869: 136).[6] Im Übrigen eine Vorstellung von solidarischer Praxis, die sich auch in der Organisationsfrage niederschlug, was das sogenannte "Jurazirkular" prägnant auf den Punkt bringt, wenn dort betont wird, dass eine "egalitäre und freie Gesellschaft" "unmöglich" aus einer "autoritären Organisation hervorgehen" könne, deshalb dafür "Sorge" getragen werden müsse, dass unsere Organisation "schon von jetzt an das treue Abbild unserer Grundsätze von Freiheit und Föderation" werden müsse bzw. dass sich diese "so weit wie möglich" diesem annähern (Guillaume 1871: 695).

Es entbehrt jedenfalls nicht einer gewissen Ironie, wenn dem Anarchismus immer wieder eine völlig unklare Vorstellung darüber vorgeworfen wurde und wird, "was das Proletariat" an die Stelle der Staatsmaschinerie setzen soll (Lenin 1917: 246) und was es überhaupt zu tun gilt. Im Gegenteil: Große Teile der anarchistischen Bewegungen haben gerade diese Probleme immer wieder fokussiert und hiervon ausgehend die zeitgenössische, vor allem marxistisch geprägte ArbeiterInnenbewegung kritisiert: "Die Arbeiter, und keine so wie die deutschen, haben wahrhaft irre geleitete und verwahrloste Köpfe. Weil ihre Besonnenheit und Nüchternheit so gar nicht ausgebildet sind, weil sie also gar kein eigenes, zuverlässiges Denken haben, darum erwarten sie alles von der Plötzlichkeit, vom unbekannten Augenblick, vom Wunder. Weil sie wahrhaft gar nicht daran denken, ihre Ideen Schritt für Schritt, Stein um Stein zu verwirklichen, darum gibt es nur zweierlei für sie: das wie ein träges Rinnsal fortschreitende Einerlei ihres gegenwärtigen erbärmlichen Zustands, ihre langsame Wirklichkeit, oder den fieberhaften Traum einer Augenblicksverwandlung, wo aus Nacht Licht, aus Schlamm Gold werden soll. So ist ihr ganzer Sozialismus: wie im Märchen kommt eins, zwei, drei hast du nicht gesehn, der Knüppel aus dem Sack oder der große Kladderadatsch, und dann im Handumdrehn das Tischlein deck dich und das Zauberland des Zukunftsstaats, wo sie selber die staatlich beaufsichtigten Esel sind, denen aus allen Öffnungen eitel Gold herausfällt!" (Landauer 1911a: 271f.) Und Rudolf Rocker erklärt, das Scheitern der Novemberrevolution in Deutschland vor Augen: "Es war ein verhängnisvoller Fehler des Marxismus, jeden Versuch, Pläne und Richtlinien zur Gestaltung einer sozialistischen Gesellschaft zu entwerfen, als utopistisch abzutun, ein Fehler, für den die deutsche Arbeiterklasse am 9. November die Quittung bekommen hat. Man verließ sich darauf, dass der Sozialismus von selbst kommen würde, dass er dem kapitalistischen System entspringen müsse wie der göttliche Funke dem Haupte der Minerva." (Rocker 1919: 33) Diese Probleme leben fort, auch wenn die "Fantasie" mit den bewegten Jahren um 1968 eine neue Stellung in den emanzipatorischen Bewegungen einzunehmen scheint. So erklärt Michel Foucault, selbst kurze Zeit zuvor noch "beinahe orthodox" (Brieler 1998: 270) marxistisch gegen den Anarchisten Noam Chomsky argumentierend,[7] im Jahr 1978: "Das Charakteristische unserer Generation - wahrscheinlich gilt dasselbe für die vorhergehende und die nachfolgende - ist der Mangel an politischer Einbildungskraft."

Was bedeutet das? Beispielsweise besaßen die Menschen des 18. und des 19. Jahrhunderts zumindest die Fähigkeit, sich eine Zukunft der menschlichen Gesellschaft zu erträumen. Ihre Einbildungskraft blieb dieser Art von Fragen nichts schuldig: Was bedeutet es, als Mitglied dieser Gemeinschaft zu leben? Oder: Was sind die sozialen und menschlichen Beziehungen? Tatsächlich kann man von Rousseau bis zu Locke oder zu jenen, die man utopische Sozialisten nennt, sagen, dass in der Menschheit oder vielmehr in der westlichen Gesellschaft ein Überfluss von fruchtbaren Produkten der sozio-politischen Einbildungskraft vorhanden war. Wir können uns über die gegenwärtige Armseligkeit nur wundern. In diesem Sinne stehen wir in völligem Gegensatz zu den Menschen des 18. und 19. Jahrhunderts. Trotzdem ist es möglich, die Vergangenheit durch eine Analyse der Gegenwart zu verstehen. Aber was die politische Einbildungskraft angeht, muss man erkennen, dass wir in einer sehr verarmten Welt leben. Wenn man sich fragt, wo dieser Mangel an Vorstellung auf der sozio-politischen Ebene des 20. Jahrhunderts herkommt, scheint mir trotz allem der Marxismus eine wichtige Rolle zu spielen. Deshalb beschäftige ich mit dem Marxismus. Sie werden also verstehen, dass die Frage: 'Wie soll man mit dem Marxismus fertig werden?', die gewissermaßen als Leitfaden für die Frage diente, die Sie gestellt haben, für meine Überlegungen ebenfalls grundlegend ist. Eine Sache ist dabei bestimmend, nämlich dass der Marxismus zur Verarmung der politischen Einbildungskraft beigetragen hat und immer noch beiträgt." (Foucault 1978: 752f.)[8] Dies greift einen Punkt auf, den der bereits erwähnte Landauer schon Anfang des Jahrhunderts in seinem Aufruf zum Sozialismus erkennen zu können meinte, als er festhielt, dass "nie (...) leerer, trockener geträumt worden" ist und dass, "wenn es je phantasielose Phantasten gegeben hat, (...) es die Marxisten" seien (Landauer 1911b: 59).

Mittlerweile hat sich das dogmatisch verordnete "Bilderverbot" wohl aufgelockert. So heißt es im "Editorial" der Zeitschrift Prokla, das das Schwerpunktheft zum Thema "Sozialismus?" einleitet: "Es ist keine neue Erkenntnis, aber sie gilt weiterhin, dass die Theorie und die Praxis, die im Namen des Sozialismus stattfand der kritischen Untersuchung bedarf. (...) Sie ist (...) vielleicht noch dringlicher als die genaue Kenntnis der Gesetzmäßigkeiten der bürgerlichen Gesellschaftsformation. Denn nur wenn im Vorgriff auf das zukünftige Emanzipationspotential deutlich wird, wie vermieden werden kann, dass sich von neuem autoritäre Kräfte durchsetzen, können die Individuen ihre Wünsche nach einem freien Leben und nach Gestaltung mit einer sozialistischen Zukunft verbinden. Nicht über diese Zukunft nachzudenken, hieße zu erwarten, dass sich der Übergang von der kapitalistischen zur sozialistischen Gesellschaft gleichsam automatisch vollzieht. (...) Manche halten jede modellhafte Konzeptionalisierung von Alternativen für im schlechten Sinne utopisch und plädieren dafür, die Klärung der Probleme einer sozialistischen Alternative der Zukunft zu überlassen. Bei einem linken 'Bilderverbot' kann es freilich nicht bleiben, denn Mehrheiten für eine sozialistische Alternative können nur gewonnen werden, wenn deren Machbarkeit plausibel gemacht werden kann und von Vielen getragene Strategien der Transformation entwickelt werden. Dies gilt erst recht nach dem Scheitern des 'real existierenden Sozialismus'." (Redaktion 2009: 177) Meines Erachtens kann dem nur zugestimmt werden, und vielleicht ist es durchaus sinnvoll, den Akzent der Tätigkeit vor allem auf das eigene Schaffen zu legen. Nun präsentiert sich das "Bilderverbot" oftmals mit anti-autoritärem Gestus und tatsächlich kann es kaum darum gehen, eine Zukunft vollständig zu antizipieren, sie damit in den mehr oder weniger engen Rahmen einer bestimmten, vorgefassten Idee zu zwängen. Aber die oftmals bekräftigte Differenz zwischen idealem System und antiautoritärem Exodus ist schief. Bakunin beispielsweise polemisierte heftig gegen alle Systemdenker, die er genau aus den eben angeführten Gründen als "Autoritäre" brandmarkte (Bakunin 1868: 48), wusste aber zugleich, dass es nicht ausreicht, sich - wie er es selbst in seinen frühen Jahren tat - mit der Behauptung zu begnügen, dass das Werk der Zerstörung eine "schaffende Lust" sei (Bakunin 1842, 96). So erklärte er auch die Niederlage der sozialistischen Bewegung in der 1848er-Revolution wie folgt: "Der Sozialismus verlor diese erste Schlacht aus einem sehr einfachen Grund: Er war reich an Instinkten und subversiven Ideen (...). Aber es fehlte ihm noch völlig an aufbauenden und praktischen Ideen, die notwendig gewesen wären, um auf den Ruinen des bürgerlichen Systems ein neues System zu errichten: das der Gerechtigkeit des Volkes." (Bakunin 1868: 54) Vielleicht ist es in diesem Zusammenhang auch einmal sinnvoll, sich die Resultate einer vermeintlich alles negierenden Haltung anzusehen. Nehmen wir die schon erwähnte Foucault/Chomsky-Debatte und sehen uns an, wohin die scheinbare Radikalität Foucaults führt, wenn er meint: "Im Gegensatz zu dem, was Sie denken, können Sie mich nicht daran hindern zu glauben, dass diese Begriffe der menschlichen Natur, der Gerechtigkeit, der Verwirklichung des Wesens des Menschen Vorstellungen und Begriffe sind, die in unserer Kultur, in unserem Typ von Erkenntnis, in unserer Form von Philosophie gebildet wurden, und dass folglich diese Begriffe zu unserem Klassensystem gehören und dass man, wie bedauerlich das auch sein mag, diese Begriffe nicht geltend machen kann, um einen Kampf zu beschreiben oder zu rechtfertigen, der die eigentlichen Grundlagen unserer Gesellschaft umstürzen sollte bzw. im Prinzip umstürzen muss." (Foucault 1971: 630) Das hört sich radikal an, worin aber besteht der Ausweg aus dieser hermetischen Konstruktion? Foucault erklärt: "Wenn das Proletariat die Macht übernehmen wird, kann es sein, dass es gegenüber den Klassen, über die es gesiegt hat, eine diktatorische und sogar blutige Gewalt ausübt. Ich sehe nicht, welchen Einwand man dagegen erheben kann." (ebd. 626) Gerade in diesem Bezug auf die "Diktatur" erweist sich Foucault selbst als völlig in einer bürgerlichen Konzeption von Politik befangen: "Der Gedanke der Diktatur ist", so Rudolf Rocker, "nicht der sozialistischen Ideenwelt entsprungen. Er ist kein Ergebnis der Arbeiterbewegung, sondern eine verhängnisvolle Erbschaft der Bourgeoisie, mit der man das Proletariat beglückt hat." (Rocker 1921: 106)

Als zweites Beispiel kann auf die Ausführungen Paul Pops verwiesen werden, der sich in den Grundrissen schon vor einiger Zeit mit dem Verhältnis von Anarchismus und Marxismus auseinandergesetzt hat. "Sicher", so nämlich Pop dort, "haben Marx und Engels" in ihrer Polemik gegen das Jurazirkular "Recht, dass es unmöglich ist, eine Organisation im Kapitalismus nach dem Ebenbild der kommunistischen Gesellschaft zu bilden. Die Menschen, die in ihr arbeiten, sind auch als RevolutionärInnen von der bürgerlichen Gesellschaft geprägt. Außerdem wissen wir nicht im Detail, wie eine nachkapitalistische Gesellschaft aussehen wird." (Pop 2005: 40) Nun schreibt das Jurazirkular ja vom Versuch einer Annäherung, was soll man auch anderes machen? Und dass wir "im Detail" nicht wissen können, wie "eine nachkapitalistische Gesellschaft aussehen wird", hilft uns heute auch nicht weiter, außer man zieht daraus - wie Marx und Engels - den Schluss, dass man sich dann eben organisieren könne, wie man wolle. Und was das von Pop zu Recht aufgeworfene Problem nach der Prägekraft der bürgerlichen Gesellschaft angeht, hat diese Frage mit der Marx'/Engels'schen Polemik überhaupt nichts zu tun, sondern wurde vielmehr gerade von den Jurassiern und deren "Verbündeten" aufgeworfen. So schreibt beispielsweise André Léo in ihrem Artikel "Der Geist der Internationale": "[E]s gibt derzeit unter den Menschen einen solchen starken Drang, diesem Weg zu folgen, dem von Tradition, Erziehung und Gewohnheit, dass man nicht merkt, wohin man geht und auf welchem Irrweg man sich befindet. Wir beginnen gerade erst zu verstehen, dass die wahre Einheit der nicht im Verschwinden aller zugunsten eines Einzelnen besteht, seltsame Arithmetik, verhängnisvoller Köder, der die Menschheit seit so vielen Jahrhunderten narrt! (...) Die neue Einheit ist nicht die Einheitlichkeit, sondern ihr Gegenteil; die Entfaltung aller Initiativen, aller Freiheiten, aller Vorstellungen, verbunden allein durch die Tatsache ihrer Wesensgleichheit, die ihr gemeinsames Interesse erzeugt, in dem, von sich aus und auf verschiedenen Wegen, und wären es Umwege, die freien Kräfte zusammenströmen." (Léo 1871: 687)[9] Pop bleibt dann an dieser Stelle auch selbst etwas unklar, wenn er nebenbei erwähnt: "Im Kampf gegen den Kapitalismus kann es unter Umständen nicht immer möglich sein, autoritäre Strukturen, Geheimhaltung und Konspirativität zu vermeiden." (Pop 2005:40)

Festzuhalten bleibt, dass es - gerade auch um die Einbrüche des Autoritären in den Befreiungsprozess zu vermeiden - darum geht, in "großen Linien" eine "neue ... Gesellschaftsordnung" zu antizipieren (Schwitzguébel 1880: 213), die es gerade auch ermöglichen wird, eine freie Entfaltung des Gemeinwesens hin ins Offene zu gewährleisten und zu sichern, also ein "System von Institutionen und Funktionsmechanismen (...) das die Entfaltung des Massenengagements ermöglicht und begünstigt und dazu alles aus dem Weg räumt, was dieses Engagement behindert oder blockiert" (Castoriadis 1957: 103). Wobei eben stets präsent bleiben muss: "Wenn es um die Zukunft geht, sind wir mehr noch als in allen anderen Dingen Gegner absoluter Festlegungen. Deshalb müssen wir begreifen, dass die wahre Konzeption die der historischen Erfahrung ist." (Schwitzguébel 1880: 213)

Der Schlüsselbegriff für diesen Prozess muss daher der der "Freiheit" sein, so phrasenhaft sich das auch anhören mag. Dies gilt meines Erachtens im Übrigen auch für die ökonomische Ausrichtung der Gesellschaft. Der italienische Anarchist Malatesta hat dies wie folgt erläutert: "Ich bezeichne mich als Kommunisten [im Sinne von kommunistischer Anarchist], weil der Kommunismus mir als das Ideal erscheint, dem die Menschheit sich in dem Maße annähern wird, wie die Liebe unter den Menschen und der Überfluss in der Produktion sie von der Angst vor dem Hunger befreien und so das hauptsächliche Hindernis für ihre Verbrüderung zerstören werden." Für die Frage der revolutionären Periode allerdings gelte: "Welche Formen werden Produktion und Handel annehmen? Wird der Kommunismus (assoziierte Produktion und freier Konsum für alle), der Kollektivismus (gemeinsame Produktion und Verteilung der Produkte entsprechend der Arbeit eines jeden) oder der Individualismus (jedem individuellen Besitz der Produktionsmittel und Genuss des vollständigen Produkts der eigenen Arbeit) den Sieg davon tragen oder aber werden sich andere, kombinierte Formen durchsetzen, die individuelles Interesse und gesellschaftliches Bedürfnis auf Erfahrung gestützt nahelegen können? Wahrscheinlich werden alle möglichen Formen des Eigentums und der Nutzung der Produktionsmittel und alle Möglichkeiten der Verteilung der Produkte gleichzeitig an einem oder an verschiedenen Orten erprobt werden, sich miteinander verflechten und vermischen, bis die Praxis gelehrt haben wird, welche die beste oder die besten Formen sind. (...) Man kann dem Kommunismus, dem Individualismus, dem Kollektivismus oder irgendeinem anderen vorstellbaren System den Vorzug geben und mit Propaganda und beispielhaften Taten für den Sieg der eigenen Vorstellungen arbeiten; doch hüte man sich bei Strafe der sicheren Katastrophe vor der Anmaßung, dass das eigene System das einzig mögliche und unfehlbar sei (...) dem anders als mit der aus der tatsächlichen Erfahrung heraus entstehenden Überzeugung zum Sieg verhelfen werden soll. Der wichtige, unabdingbare Ausgangspunkt muss sein, allen die Mittel zu garantieren, frei zu sein." (Malatesta zit. n. Fabbri 1951: 18f.) An diese Haltung, die sich in gewisser Weise im Verlauf der Spanischen Revolution durchaus bewährt hat[10] - im Gegensatz zu den gewaltsam vereinheitlichenden ökonomischen Konzepten der Bolschewiki -, scheint es mir, gilt es anzuknüpfen, und es ist schade, wenn Torsten Bewernitz in den Grundrissen eine "Renaissance des libertären Kommunismus" anscheinend nur unter der Bedingung zulassen möchte, dass man sich die völlige Dummheit des historischen Anarchismus eingesteht und zur Kenntnis nimmt, dass, die "ökonomischen Konzepte Proudhons und Bakunins zu Ende gedacht" uns zu "einem Neoliberalismus" führen würden, "der an sozialer Ungerechtigkeit den aktuellen Zustand bei weitem übertreffen würde" (Bewernitz 2007: 24).[11]

In einem Interview, dass der "Neue Philosoph" Bernard-Henry Lévy mit Foucault im Jahre 1977 geführt hat, findet sich folgender Passus: "In der Wiederkehr der Revolution", meint dort Foucault, "liegt unser Problem. Es ist gewiss, dass ohne dieses Problem die Frage des Stalinismus nur eine Schulfrage wäre - ein einfaches Problem der Organisation von Gesellschaften oder der Gültigkeit des marxistischen Schemas. Nun geht es beim Stalinismus allerdings um etwas anderes. Sie wissen das genau: Die Wünschbarkeit selbst der Revolution wird heute zum Problem ... - Wünschen Sie die Revolution? Wünschen Sie etwas, das über die einfache, ethische Pflicht, hier und jetzt, auf Seiten dieser oder jener, Wahnsinniger oder Gefangener, Unterdrückter und Elender, zu kämpfen hinausgeht? - Ich habe keine Antwort darauf. Aber ich glaube, wenn Sie so möchten, dass anders Politik machen als in der Weise der Politiker heißt zu versuchen, mit größtmöglicher Ehrlichkeit in Erfahrung zu bringen, ob die Revolution wünschbar ist." (Foucault 1977: 350) Ist nun aber die Revolution wünschenswert? Man könnte Foucault den Vorwurf machen, sich einseitig an der bolschewistischen als Negativbeispiel auszurichten und dagegen z. B. das Beispiel Spaniens anführen. Wer beispielsweise das Buch Gaston Levals über Das libertäre Spanien gelesen hat, dürfte von den erstaunlichen Leistungen im Zuge der Kollektivierungen während der Spanischen Revolution beeindruckt sein, und man kann nach der Lektüre den Mann verstehen, den Leval zu Beginn seiner Ausführungen folgendermaßen zitiert (und kommentiert): "'Jetzt kann ich sterben, ich habe gesehen, wie mein Ideal verwirklicht worden ist.' So sprach zu mir in einer der Kollektivitäten der levantinischen Gegend (...) einer dieser Männer, die ihr ganzes Leben lang für den Sieg der sozialen Gerechtigkeit, der wirtschaftlichen Gleichheit, der Freiheit und der Brüderlichkeit unter den Menschen gekämpft hatten." (Leval 1971: 17)

Auch der Erlebnisbericht Kaminskis, selbst kein Anarchist, aber mit diesen sympathisierend, über ein Gefängnis der politischen Polizei, der mehrheitlich AnarchistInnen angehörten, bringt einen zum Staunen: "Ich begebe mich nicht allein in die Höhle des Löwen. Emma Goldman, die mit dem Franzosen Sébastien Faure und dem Deutschen Rudolf Rocker zu den bekanntesten Veteranen der anarchistischen Internationale gehört, begleitet mich. Emma Goldman ist in Russland geboren, hat die meiste Zeit ihres Lebens in den Vereinigten Staaten gelebt, wohnt in Frankreich und ist britische Staatsangehörige. Über alles, was die Polizei betrifft, ist mit ihr nicht zu spaßen. Sie ist sechzig- oder siebzigmal verhaftet worden und weiß genau, was Gefängnisse sind, denn sie war jahrelang in den verschiedensten Gefängnissen eingesperrt. Sie erhält ohne Schwierigkeiten die Adresse der Investigación, die sich unerkannt und geheimnisvoll in einer Vorstadtvilla [von Barcelona] eingerichtet hat. (...) - Die Investigación - sagt man uns - gibt keine Interviews. Wir sind eine anonyme Institution, als Personen sind wir unwichtig, und es gibt nichts zu sagen. Aber vor Emma Goldman und ihren Freunden haben wir keine Geheimnisse. Was wollen Sie wissen? Ich wage kaum, Emma Goldman anzusehen. Ich weiß, sie denkt das gleiche wie ich: Sind diese Männer, die nur Institution sein wollen, bescheiden oder unmenschlich? (...) Behandeln Sie die Gefangenen wirklich gut? (...) Sie können mit den Gefangenen sprechen, wir wollen bei ihrer Unterhaltung nicht einmal dabei sein. Einige von ihnen sind Ausländer, uns ist es gleich, in welcher Sie mit ihnen reden. Hier sind die Protokolle, Sie können sie lesen und nachprüfen. Sie haben also ein Spezialgefängnis? Sie werden es sehen. (...) Nach wenigen Schritten sehen wir die Rückseite des Gefängnisses, die Fenster sind zwar verriegelt, jedoch ganz gewöhnliche Fenster; als wir um das Haus herum sind, stellen wir fest, dass das Gefängnis einfach eine benachbarte Villa ist. Es gibt keine besonderen Sicherheitsvorkehrungen, nicht einmal Wachtposten. Nur die Tür ist abgeschlossen, und am Eingang des Parks stehen Milizsoldaten. Man öffnet uns: In der Eingangshalle sitzen mehrere Männer und Frauen an einem Tisch. Zuerst halte ich sie für Wächter, aber es sind die Gefangenen.

Man lässt uns tatsächlich mit ihnen allein. (...) Beschwerden? Nein, keine einzige. Alle Gefangenen erklären ohne Ausnahme, dass sie sehr gut behandelt werden. Sie bekommen die gleiche Kost wie ihre Bewacher, auch Wein. Und so oft sie wollen, steht ihnen das Bad zur Verfügung. Den Männern hat man sogar ihre Rasiermesser gelassen. (...) Die Investigación lacht, als wir uns verabschieden, und alle zählen uns die Gefängnisse auf, in denen sie selber gewesen sind. Emma Goldman ist glücklich wie nach einer gewonnenen Schlacht, und wir gehen ins Hotel zurück, fröhlich wie Kinder, denen man ein Geschenk gemacht hat." (Kaminski 1937: 170f. und 174)[12]

Kaum aber meint man im vermeintlich sicheren Hafen angekommen zu sein, zerstört ein Brief Simone Weils, datiert auf Anfang 1938, die Idylle: "[I]n einem Dorf, das Rote und Weiße viele Male erobert, verloren, wieder erobert und wieder verloren hatten, fanden die roten Milizen, die es dann endgültig eingenommen hatten, in den Kellern eine Handvoll verstörter, eingeschüchterter, ausgehungerter Wesen, darunter auch drei oder vier junge Männer. Sie stellten folgende Überlegung an: wenn diese jungen Männer dageblieben sind und auf die Faschisten gewartet haben, statt mit uns zu ziehen, als wir uns das letzte Mal zurückzogen, dann sind sie Faschisten. Also erschossen sie sie sofort, gaben dann den übrigen zu essen und dünkten sich dabei sehr human." Weiter: "[Z]wei Anarchisten erzählten mir einmal, wie sie zusammen mit einigen Genossen zwei Geistliche gefangengenommen hatten; den einen töteten sie in Gegenwart des anderen an Ort und Stelle mit einem Pistolenschuss, dem anderen sagten sie, er könne gehen. Als er zwanzig Schritte entfernt war, schossen sie ihn nieder. Der Erzähler war sehr erstaunt, weil ich nicht lachte. (...) Man zieht als Freiwilliger aus, von Idealen und Opfergeist erfüllt, und trifft unversehens auf einen Krieg, der einem Söldnerkrieg ähnelt, nur mit viel mehr Grausamkeit und weniger Achtung vor dem Gegner." (Weil 1938: 124f.) Auch hier befinden wir uns also nicht im Zustand unbefleckter Reinheit und diese "Blutschuld" (Baxmeyer 2004: 28) muss benannt werden, allein schon, damit sich "die revolutionäre Gewalt, soweit sie unvermeidlich ist, sich bisweilen von dem widerwärtigen guten Gewissen verabschiedet", in dem sie sich einrichtet (Camus zit. n. Jacquier 2006: 183)[13]

Gegen Ende seines Lebens erwähnt Foucault die, "vielleicht ein wenig langweilige ... Erfahrung unserer unmittelbarer Zeitgenossen (...), sich nur noch zum Verzicht auf die Revolution zu bekehren" (Foucault 1982: 263) und hatte schon Jahre zuvor, vielleicht um dieser vorzubeugen, angemerkt: "Wenn sie [die Sozialismen] es verdienen wollen, geliebt zu werden und nicht auf Abweisung zu stoßen, wenn sie begehrt sein wollen, dann müssen sie eine Antwort auf die Frage nach der Macht und ihrer Ausübung finden. Sie haben eine Ausübung der Macht zu erfinden, die keine Furcht bereitet. Das wäre es, das Neue." (Foucault 1976a: 98) Was auch immer unter "Macht" genauer zu verstehen ist, es bleibt festzuhalten, dass hier etwas sehr Wichtiges angesprochen ist: Es kann nicht darum gehen, "Furcht" zu verbreiten, sondern vielmehr anziehend zu wirken, Orte und Räume zu schaffen, die dem "Leben" und nicht nur dem "Überleben" Raum geben, um mich mal ein wenig pathetisch in der Sprache Raoul Vaneigems (vgl. Vaneigem 2008) auszudrücken. Ähnlich hatte auch Foucault selbst betont: "Heute ist die Revolution in den Augen der Massen letztlich etwas Unerreichbares oder Schreckliches geworden. Meiner Meinung nach muss die Rolle des Intellektuellen heute die sein, für das Bild der Revolution dieselbe Wünschbarkeitsrate wiederherzustellen, die es im 19. Jahrhundert gab. Und für die Intellektuellen ist es dringend nötig - einmal unterstellt, selbstverständlich, dass die Revolutionäre und eine breite Schicht des Volkes ihnen das Ohr leihen -, die Revolution wieder so anziehend zu machen, wie sie es im 19. Jahrhundert war. Dazu müssen notwendig neue Modi menschlicher Beziehungen, das heißt neue Modi des Wissens, neue Moral der Lust und des Sexuallebens, erfunden werden. Mir scheint, dass die Veränderung dieser Beziehungen sich in eine Revolution verwandeln kann und sie wünschenswert macht. Kurz, die Ausbildung neuer Modi menschlicher Beziehungen birgt ein Thema in sich, um von der Revolution zu sprechen." (Foucault 1976b: 114)

Denn es hilft ja nichts: "Wenn man" - aufgrund der Schwierigkeit eines richtigen Lebens in einer falschen Welt - "sagen würde, es sei darum das moralische Verhalten das, wenn man schlechterdings gar nichts tun und die Hände in den Schoß legen würde, so wäre man auch dadurch nicht besser dran. Denn dadurch würde man ja erst recht jenes fragwürdige Ganze unbeschädigt, in seiner Beschädigung einfach so lassen, wie es ist - und dadurch ihm sich beugen." (Adorno 1965: 366)

Verlieren wir deshalb aber "in all dem Grauen, in all dem Wust, in all der unendlichen Wiederholung die Heiterkeit nicht, die wir brauchen, um aufrecht zu bleiben und zu wachsen" (Landauer 1911c: 120), denn "das ist die Aufgabe: nicht am Volk verzweifeln, aber auch nicht aufs Volk warten" (Landauer 1911b: 138). Und vor allem: Nicht an sich selbst verzweifeln!

P.S.: Der vorliegende Aufsatz mag banal sein, eher pathetisch als analytisch. Jede/r Aktivist/in wird die hier angesprochenen Probleme und Fragen kennen und wissen, wie schwer sich all dies in der gelebten Praxis ausnimmt. Umso problematischer, wenn ich, weder Aktivist noch dazu in der Lage, im Alltag das einzulösen, was hier thematisiert wird, nun große Reden halte.

Vielleicht darf der Text als das genommen werden, was er vielleicht meiner Intention nach ist: Der Versuch einer Bekräftigung und ein Ausdruck des Respekts an alle diejenigen, die sich tagtäglich jenen Fragen ausgesetzt sehen und sie im emanzipatorischen Sinn zu lösen versuchen. Möglicherweise ist ein Geburtstagsfest der passende Moment für eine solche Intervention ...

P.P.S.: Als ich vorliegenden Aufsatz schrieb, hatte ich Michael Seidmans Buch Gegen die Arbeit, auf das ich in Fußnote 4 verweise, noch nicht gelesen. Viele der dort beschriebenen Dinge waren mir neu - beispielsweise die Existenz von Arbeitslagern während des Spanischen Bürgerkriegs - und so war die Lektüre zwar spannend und informativ, aber auch ernüchternd und sehr bedrückend (vgl. Kellermann 2011). Ich erwähne dies, weil ich vor diesem Hintergrund den auch im vorliegenden Aufsatz an manchen Stellen gewiss pathetischen Ton in Bezug auf Spanien wohl nicht mehr anschlagen würde. Für die von mir ins Zentrum gestellten Fragen scheint mir der Bezug auf Spanien grundsätzlich aber dennoch nach wie vor vertretbar.

E-Mail: philippe.kellermann@gmx.de


Anmerkungen:

[1] Vorab an dieser Stelle meinen herzlichen Glückwunsch an die Grundrisse zu ihrem 10. Geburtstag und meinen ganz persönlichen Dank dafür, dass man mir vor Ewigkeiten die Möglichkeit gab, hier zu publizieren, ohne dass gefragt wurde, wer ich denn sei, und ohne den Umstand zu berücksichtigen, dass ich keinen "großen Namen" (nicht mal einen kleinen) vorzuweisen hatte/habe.

[2] "Im Volksstaat des Herrn Marx wird es, sagt man uns, keine privilegierte Klasse geben. Alle werden gleich sein, nicht nur vom juristischen und politischen Standpunkt aus, sondern auch vom ökonomischen. Zumindest wird uns das versprochen, obwohl ich stark daran zweifle, dass mit dieser Vorgehensweise und auf dem Weg, dem man folgen will, dieses Versprechen jemals gehalten werden kann. Es wird also keine Klasse mehr geben, aber eine Regierung und wohlgemerkt, eine äußerst komplizierte Regierung, die sich nicht damit zufrieden geben wird, die Massen politisch zu regieren und zu verwalten, wie es heute alle Regierungen tun, sondern sie auch ökonomisch verwalten wird, indem sie die Produktion und die gerechte Verteilung der Ressourcen, die Bearbeitung des Bodens, die Einrichtung und Entwicklung der Fabriken, die Organisation und Lenkung des Handels und schließlich die Verwendung des Kapitals zur Produktion durch den einzigen Bankier, den Staat, in ihrer Hand hat. Dies alles wird eine ungeheure Wissenschaft und viele überreichlich mit Verstand versehene Köpfe in dieser Regierung erfordern. Das wird die Herrschaft der wissenschaftlichen Intelligenz sein, die aristokratischste, despotischste, arroganteste und herablassendste aller Herrschaftsformen. Es wird eine neue Klasse geben, eine neue Hierarchie von wirklichen und eingebildeten Gelehrten, und die Welt wird sich in eine im Namen der Wissenschaft herrschende Minorität und in eine ungeheure Majorität von vergleichsweise Unwissenden aufteilen. - Und dann wehe der Masse der Unwissenden!" (Bakunin 1872b: 968f.)

[3] Man muss im Zusammenhang mit dem Regierungseintritt der CNT - ein Punkt, der hier nicht diskutiert werden kann - zumindest in Betracht ziehen: "Die CNT (...) missbrauchte nicht ihre Stärke, die sie besonders in Katalonien besaß, um andere soziale Richtungen zu unterdrücken und ihnen ihren Willen aufzuzwingen. Sie tat vielmehr alles, was in ihren Kräften stand, die antifaschistischen Elemente zu vereinigen im Kampf gegen den gemeinsamen Feind und für die Neuschöpfung des gesellschaftlichen Lebens. Sie dachte nicht daran, die Meinungsfreiheit einzuschränken oder auf Grund ihrer faktischen Überlegenheit anderen zu verwehren, was sie selbst beanspruchte." (Rocker zit. n. Saña 2001: 100)

[4] Beispielhaft der Diskussionsband von Raul Zelik und Elmar Altvater, die sich über alles Mögliche unterhalten, aber (nicht nur) in dem ganzen Abschnitt "Der gescheiterte Sozialismus" die Spanische Revolution nicht einmal erwähnen. Stattdessen erfahren wir von Altvater aber, dass den "libertären Sozialisten" anscheinend erst im Stau klar werde, dass wir "gesellschaftliche Wesen" seien (Altvater in Altvater/Zelik 2009: 27). Raul Zelik, der gegen diese Aussage keinen Einspruch erhebt, ignoriert die Spanische Revolution in seinem Aufsatz "Nach dem Kapitalismus: Warum der Staatssozialismus ökonomisch ineffizient war und was das für Alternativen heute bedeutet" ebenfalls (Zelik 2009), um in der überarbeiteten Version dieses Aufsatzes, der in sein neues Buch Nach dem Kapitalismus aufgenommen wurde, in einer hinzugefügten Fußnote lediglich darauf hinzuweisen, dass sich der spanische Anarchismus schnell "von kleineren Bewegungen (...) marginalisieren" lies (Zelik 2011: 32). Dagegen betonte Sam Dolgoff meines Erachtens zu Recht: "Die immer wieder gestellte Frage nach der Rolle der Anarchisten in einer revolutionären Situation ist von dauerhafter Aktualität. Man kann vieles lernen, sowohl aus den Fehlern als auch aus den Errungenschaften unserer Genossen; aus den tragischen Ereignissen in Spanien" (Dolgoff 1986: 137). Während er seine ZeitgenossInnen dafür kritisierte, dass deren Ausführungen zu Spanien leider keine "vernünftige Diskussionsbasis" abgeben würden (ebd.: 137), findet heute allerdings, wie es scheint, nicht einmal irgendeine Diskussion statt. Zu hoffen wäre, dass das soeben erschienene Buch von Seidman (2011) einen neuen Impuls für eine solche Debatte geben kann.

[5] Schon 1931 hatte Korsch auf die Besonderheit der spanischen ArbeiterInnenbewegung verwiesen: "Was sich in Spanien zu der starken, bakunistisch und nicht marxistisch gerichteten Internationale zusammenschloss, das war die Auslese der aktiven Arbeiterrevolutionäre, die sich gerade damals in einer gradlinig fortschreitenden Entwicklung von der bürgerlich-revolutionären föderativ republikanischen Partei lostrennte und die selbständigen Ziele des Proletariats proklamierte. (...) Von diesen sechziger Jahren [des 19. Jahrhunderts] bis zur heutigen revolutionären Arbeiterbewegung führt in Spanien eine einzige, völlig ungebrochene, organische Entwicklungslinie. Diese Entwicklung hat mannigfache Phasen durchlaufen, hat organisatorisch und taktisch vieles erprobt, berichtigt und wieder verworfen, hat auch von außen aus der europäischen und amerikanischen Bewegung manches aufgenommen, das Wichtigste aus der im letzten Vorkriegsjahrzehnt vom revolutionären Syndikalismus in Italien und Frankreich aus über die anarchistische Bewegung der ganzen Welt verbreiteten Erneuerung, hat aber bei alledem ihren eigenen Charakter in erstaunlichem Maße bis zur Gegenwart bewahrt. Infolge dieser Entwicklung ist noch heute in Spanien, anders als im übrigen Europa, die Hauptrichtung der Arbeiterbewegung entschieden antistaatlich, anarchistisch und syndikalistisch. Infolge dieser Entwicklung ist aber auch die andere, die sozialdemokratisch marxisti sche Richtung der modernen Arbeiterbewegung in Spanien früher und entschiedener in die ihr vorgezeichnete Bahn hereingedrängt worden. Viel früher und viel klarer als in den wichtigsten sozialdemokratischen Parteien Europas zeigte sich in der schwachen sozialdemokratischen Partei, die der Engels-Lafargue-Schüler Pablo Iglesias ebenfalls schon seit jenen sechziger Jahren der starken anarchistisch-revolutionären Richtung der spanischen Arbeiterbewegung entgegenzustellen versuchte, jener absolut staatserhaltende Grundzug, den die deutsche Sozialdemokratische Partei erst seit 1914 und 1918 offen darstellte." (Korsch 1931: 242f.)

[6] Die Bedeutung dieser Konzeption in Bezug auf die Gegenwart zeigt die Darstellung Raul Zibechis über die Kämpfe in Al Alto, Bolivien (vgl. Zibechi 2007).

[7] In besagtem Interview plädiert Chomsky für ein "föderatives, dezentralisiertes System freier Vereinigungen, das wirtschaftliche und gesellschaftliche Institutionen beinhaltet" (in: Foucault 1971: 615), was Foucault polemisch unter der Rubrik "Modell des idealen gesellschaftlichen Lebens für unsere wissenschaftliche oder technologische Gesellschaft" abfertigt (Foucault 1971: 616), um dann zu konstatieren: "Wenn das Proletariat die Macht übernehmen wird, kann es sein, dass es gegenüber den Klassen, über die es gesiegt hat, eine diktatorische und sogar blutige Gewalt ausübt. Ich sehe nicht, welchen Einwand man dagegen erheben kann." (ebd.626) Schließlich meint er sogar, Mao folgend, dass es eine "bürgerliche[.]" und eine "proletarische[.] Natur des Menschen" gäbe (ebd. 620), was im Übrigen auf eine wichtige Problematik des seinerzeit recht modischen - und wie man sieht, nicht nur theoretischen - Anti-Humanismus verweist, gegen den sich mit dem Dissidenten Victor Serge festhalten lässt: "Verteidigung des Menschen, Achtung vor dem Menschen. Seine Rechte, seine Sicherheit, sein Wert müssen ihm wiedergegeben werden. Ohne das gibt es keinen Sozialismus. Ohne das ist alles falsch, verdorben. Ein Mensch, wer auch immer er sei, und wäre er der letzte der Menschen, 'Klassenfeind', Sohn oder Enkel von Bürgern, darauf pfeife ich; man darf nie vergessen, dass ein Mensch ein Mensch ist. Hier [in der Sowjetunion] unter meinen Augen, überall, wird das jeden Tag vergessen, das ist das Empörendste, das Antisozialistischste, das es gibt." (Serge 1933: 455)

[8] Nur nebenbei mal ein Beispiel für "kreativen" Umgang mit Texten. So (v)erläutert Michael Fisch in seiner gerade erschienen Foucault-Biografie die hier zitierte Stelle wie folgt: "Wiederholt beklagt Michel Foucault (...) den Verlust an sozialer und politischer Fantasie, eine Utopie oder eine Vision einer humanen Gesellschaft zu denken, zu experimentieren und zu praktizieren. Viele Gesellschaftsentwürfe des 18. und 19. Jahrhunderts scheinen vergessen zu sein, etwa der Gesellschaftsvertrag von Jean-Jacques Rousseau oder der utopische Sozialismus von John Locke. (...) Eine utopische Vorstellung von Politik scheint es nicht mehr zu geben (...) Das erscheint Foucault als Rätsel, darum will er 'eine neue Vorstellung von Politik entstehen lassen', ohne dabei zu vergessen, dass 'trotz allem der Marxismus eine wichtige Rolle spielt'." (Fisch 2011: 194)

[9] Die strategische Ausrichtung von Marx und Engels auf die Parteiform, die anscheinend schon dadurch eine proletarische Politik machen wird, wenn ihr die richtigen Proletarier angehören, ist genau das Gegenteil einer Problematisierung, wie sie Pop in Bezug auf das Jurazirkular unternimmt.

[10] "Einer der auffallendsten Hauptzüge der spanischen Revolution ist ihre Vielgestaltigkeit. Diese Revolution wurde gemäß einigen sehr klaren und genauen Grundsätzen durchgeführt, z. B. die allgemeine Enteignung der Besitzer des sozialen Reichtums, die Übernahme der Organisationsstrukturen der Produktion und der Verteilung durch die Arbeiter, die direkte Verwaltung der öffentlichen Dienste und die Einführung der wirtschaftlichen Gerechtigkeit durch die Anwendung des libertär-kommunistischen Prinzips. Die einstimmige Anwendung dieser Grundsätze schloss aber nicht die Vielfältigkeit der Anwendungsmethoden aus, so dass man von einer 'Vielfältigkeit in der Einheit' und von einem überaus mannigfaltigen Föderalismus sprechen kann." (Leval 1971: 340; vgl. auch ebd. 182ff.)

[11] Max Nettlau kommentierte die Ende des 19. Jahrhunderts sich anbahnenden Auseinandersetzungen zwischen "kollektivistischen" und "kommunistischen" AnarchistInnen wie folgt: "In allen Bewegungen gibt es leider zwei Arten Leute - solche, die eine um eine Nuance, geschweige denn etwas mehr, von der ihrigen verschiedene Auffassung bereits in den Tod hinein hassen und zu vernichten suchen und solche, die sich freuen, dass auf dem ihnen lieben Gebiet Verschiedenheit der Auffassung besteht, wodurch die Aussicht, dass eine derselben sich der Wahrheit nähert, doch nur vermehrt wird. (...) Es war 1880 eine Trennung von der Realität. Nicht damals gleich, aber recht bald entstand die Vorstellung, dass nur der sofortige Übergang zum freien Kommunismus Anarchie sei, das jede, absolut jede andere Auffassung des Anarchismus ins alte Eisen gehöre, reaktionäre Keime enthalte usw. (...) In der Internationale von 1864 hatten auf die natürlichste Weise, ihres inneren Werts wegen, die den einseitigen Proudhonismus überwindenden kollektivistischen Ideen die erste Stelle gewonnen und die Beherrschungsversuche der Marxisten, der Blanquisten und der Politiker abgeschlagen. Musste dieser weite und freie Rahmen aufgegeben werden zu Gunsten einer sehr wertvollen, glänzend verteidigten besonderen Theorie, die, da es sich um die Zukunft handelt, doch nur eine Hypothese unter andern Hypothesen ist? Musste dies sein? Für mich liegt hierin die Tragödie des modernen Anarchismus." (Nettlau 1927: 231; 233; 236)

[12] Den Hinweis auf diese Stelle verdanke ich Martin Baxmeyer.

[13] Zur Diskussion und Kontextualisierung der Äußerungen Weils, siehe Canciani (1990); Mercier-Vega (1975); Jacquier (2006). Ich möchte an dieser Stelle die Gelegenheit zu einer Selbstkritik nutzen, habe ich doch unlängst geschrieben, dass sich die spanischen AnarchistInnen "nicht brutalisieren ließen" (Kellermann 2011a: 11). Bei aller zu Recht von mir angemerkten Differenz zu den Bolschewiki, wird hier doch ein problematisches Bild transportiert, dass den Ereignissen nicht gerecht wird.


Literatur:

Adorno, Theodor W. (1965): Zur Lehre von der Freiheit und der Geschichte. Frankfurt am Main 2006.

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Zibechi, Raul (2007): Bolivien. Die Zersplitterung der Macht. Hamburg 2009.

Raute

Peter Fleissner und Andreas Exner:

Peak Oil: Wirtschaftliche Folgen und politische Folgerungen

Schon seit mindestens 40 Jahren weisen Arbeiten von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern darauf hin, dass der Welt das Erdöl ausgehen wird. Darüber gibt es keinen Zweifel, denn eine wachsende oder auch nur gleichbleibende Förderung von Erdöl ist in einer Welt mit endlichen Ölvorräten unmöglich.

Bestärkt durch die Ölpreissteigerung der letzten Jahre hat sich inzwischen die Debatte um ein globales Öl-Fördermaximum, Peak Oil, konsolidiert und damit früheren Annahmen von einem nahen Ende des fossilen Zeitalters zu einem Aufschwung verholfen. In diesem Artikel werden wir in groben Umrissen aufzeigen, welche Folgen das globale Fördermaximum bei Erdöl, der Peak Oil haben könnte und welche Reaktionsmöglichkeiten es angesichts der kommenden Ölknappheit gibt.

Betrachtet man die globale Ölförderung von der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis heute, so sind alle bisherigen Ölkrisen gesellschaftlich und nicht durch Ressourcenmangel verursacht. Engpässe wurden nach einer exponentiellen Steigerung der Ölförderung in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg bis in die erste Hälfte der 1970er Jahre durch Kriege, Revolutionen, Wirtschafts- oder Finanzkrisen hervorgerufen.[1]

In den letzten Jahren stieg die globale Förderung stark an, vor allem durch das hohe Wirtschaftswachstum in China und Indien. Ab Mitte 2004 stagnierte die Förderung, was mit einem starken Preisanstieg verbunden war. Erst seit Ende 2007 erhöhte sich das Fördervolumen wieder, bis es im Februar 2008 mit 85,8 Millionen Fass pro Tag den bisherigen Höchststand erreichte. Die Bankenkrise und die dadurch ausgelöste weltweite Rezession führten 2009 zu einem Nachfragerückgang. Manche Fachleute schlossen daraus, Peak Oil wäre bereits 2008 erreicht worden. Die Daten von Juni 2011 [2] mit einer Fördermenge von durchschnittlich 88,3 Millionen Fass pro Tag zeigen jedoch, dass die Werte von 2008 zumindest in einem Monat deutlich überschritten wurden. Es bleibt abzuwarten, ob die Fördermengen in Zukunft das Niveau von 2011 übersteigen, ob sie auf hohem Niveau stagnieren oder ab nun tatsächlich rückläufig sein werden. Die Daten der Internationalen Energieagentur (IEA) sind allerdings nur mit größter Vorsicht zu genießen, sie sind alles andere als exakt. Darüber hinaus enthalten sie auch die Produktionsvolumina von Biokraftstoffen und Raffineriegewinne - beides Größen, die sicher nichts mit der Erdölförderung zu tun haben (Zittel 2011).

Da der Förderhöhepunkt nicht unbedingt ein fixes Datum bedeuten muss, sondern sinnvoller als eine Situation beschrieben werden kann, in der die Förderung von Erdöl ein länger andauerndes Plateau mit einer gewissen Schwankungsbreite erreicht, lässt sich erst im Rückblick sagen, in welchem Jahr Peak Oil eingetreten ist. Auf dem Plateau selbst lässt sich die geologische Förderbeschränkung durch die beschleunigte Ausbeutung von Ölfeldern für eine gewisse Zeit dämpfen und der Produktionsabfall nach dem Peak hinauszögern, allerdings um den Preis, dass er dann vermutlich deutlich stärker ist.

Unabhängig davon, ob der Höhepunkt der Erdölförderung bereits erreicht worden ist oder in den kommenden Jahren erreicht werden wird, sollten wir Peak Oil als ein Signal verstehen, unsere Anstrengungen noch zu verstärken, um eine rasche Transformation in ein post-fossiles Zeitalter zustande zu bringen. Dazu bleiben uns nur noch wenige Jahrzehnte. So geht ein Bericht von British Petrol davon aus, dass die bekannten Weltölreserven aus dem Jahr 2010 noch für 46 Jahre reichen würden. Die Rechnung hat aber eine unrealistische Annahme zur Grundlage. Sie beruht auf dem Verhältnis von Reserven am Ende des Jahres 2010 zur Produktionsmenge im selben Jahr und nimmt stillschweigend an, dass die Produktion die nächsten 50 Jahre auf gleichem Niveau bleiben würde.

Wann auch immer Peak Oil tatsächlich eintritt - wir müssen uns damit auseinandersetzen, dass das Wirtschaftswachstum, das wir aufgrund des reichlich sprudelnden Öls in den letzten 60 Jahren in Europa erlebt haben, wahrscheinlich nicht beliebig lange fortgesetzt werden kann.

Welche Folgen wird eine Verknappung der Rohölproduktion aller Voraussicht nach haben? Um einige Antworten zu skizzieren, gehen wir zunächst auf die Veränderungen in der Machtverteilung ein, die sich zugunsten der Erdölförderländer ergeben werden. Danach wird kurz der Diskurs der Energiesicherheit in Deutschland und Österreich behandelt. Schließlich beschreiben wir die wahrscheinlichen Entwicklungsmöglichkeiten der kapitalistischen Ökonomie und verschiedener Rahmenverhältnisse infolge einer langfristigen Verknappung von Erdöl. Das soll als Basis für kurz gefasste politische Schlussfolgerungen dienen.


Die Geopolitik von Peak Oil: was sich ein militärischer Think Tank dazu denkt

Wird Erdöl in den nächsten Jahren immer knapper, so ist eine Konsequenz mit großer Sicherheit zu erwarten: die erdölproduzierenden Länder werden Überschüsse erwirtschaften, während jene Staaten, die Erdöl netto importieren, einen immer höheren Anteil ihres Bruttoinlandsprodukts dafür aufwenden müssen. Öl wird also zu einem noch wichtigeren Faktor der Gestaltung der internationalen Beziehungen als es dies schon seit dem Zweiten Weltkrieg war.

Die Öl-Förderländer können diesen Vorteil für sich nützen, um ihre innen- und außenpolitischen Gestaltungsräume auszuweiten und sich gegebenenfalls als regionale oder globale Führungsmächte zu positionieren. Die Importländer werden dagegen nur noch mit wachsenden Kosten ihren bisherigen Ölverbrauch finanzieren können und daher eine Reihe ökonomischer Aktivitäten zurückschrauben müssen.

Im Jänner 2011 genehmigte das Deutsche Bundesministerium der Verteidigung eine schon vor ihrer offiziellen Veröffentlichung viel diskutierte Studie zu Peak Oil, die sich mit den sicherheitspolitischen Implikationen knapper Ressourcen auseinandersetzt (ZfTdB, 2011). Der Bericht ist ein Ergebnis des Dezernats Zukunftsanalyse, einem Think Tank, der dem Zentrum für Transformation der Bundeswehr zugeordnet ist. Es ist nicht anzunehmen, dass dieser politisch brisante Bericht von der Bundeswehr veröffentlicht worden wäre, hätte seine Thematik nicht einen ernsten Hintergrund. So bezeichnet etwa auch die Europäische Sicherheitsstrategie (ESS) von 2003 die absehbare steigende Abhängigkeit der EU von Energieimporten als besorgniserregend: "Die Energieabhängigkeit gibt Europa in besonderem Maße Anlass zur Besorgnis. Europa ist der größte Erdöl- und Erdgasimporteur der Welt. Unser derzeitiger Energieverbrauch wird zu 50 % durch Einfuhren gedeckt. Im Jahr 2030 wird dieser Anteil 70% erreicht haben. Die Energieeinfuhren stammen zum größten Teil aus der Golfregion, aus Russland und aus Nordafrika."[3]

Und im neuen Entwurf einer Strategie der inneren Sicherheit der Europäischen Union "Hin zu einem europäischen Sicherheitsmodell" aus 2010 heißt es, dass Risikoanalysen auch auf den Energiebereich ausgedehnt werden sollen: "Neue Risiken und Bedrohungen wie Energieknappheit, IKT Ausfälle und Pandemien müssen ermittelt werden. Die Widerstandsfähigkeit der Bürger und des öffentlichen und des privaten Sektors gegenüber den Auswirkungen von Katastrophen sind in die Präventionsmaßnahmen einzubeziehen." Die Entschließung des Europäischen Parlaments vom 10. März 2010 zur Umsetzung der Europäischen Sicherheitsstrategie und der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik "räumt in Ziffer 9 ein, dass die Energiesicherheit von ausschlaggebender Bedeutung für das Funktionieren der EU-Mitgliedstaaten ist, und fordert die Mitgliedstaaten deshalb auf, in Bezug auf diesen Aspekt der Sicherheitspolitik eng zusammenzuarbeiten".

Sorgen um die Energiesicherheit machen sich nicht nur die Regierungen in Europa. Auch die USA, Russland, Indien und China beziehen die Energieversorgung verstärkt in ihre strategischen Pläne ein. Nach Meinung der Bundeswehrstudie "ist die zunehmende Integration von Aspekten der Energieversorgung in Strategiedokumente zur nationalen Sicherheit ein Indiz für die zunehmende 'Versicherheitlichung' (securitization) dieses Bereiches [...]" (ZfTdB 2011: 16).

In diesem Kontext setzt sich die Studie der Bundeswehr zum Ziel, erstens das Ausmaß der Abhängigkeit von Erdöl umfassend zu analysieren, zweitens auf dieser Grundlage mögliche Risiken rechtzeitig zu erkennen und drittens Alternativen für die Nutzung von Erdöl zu diskutieren (ebd.: 11). Zugleich warnt sie allerdings davor, die darin beschriebenen Wirkungszusammenhänge als zwangsläufig zu verstehen. Im Folgenden stellen wir die wesentlichen Aussagen der Bundeswehrstudie dar und diskutieren sie kritisch: erstens im Lichte der Ergebnisse des vom Österreichischen Klima- und Energiefonds geförderten Forschungsprojekts "Save our Surface" (siehe Exner u.a. 2011), zweitens vor dem Hintergrund einer emanzipatorischen, gegen die Herrschaft von Menschen über Menschen ausgerichteten Sicht auf Peak Oil - was militärische Aktionen zur Sicherung der Energieversorgung des globalen Nordens von vornherein ausschließt.

Geopolitisch ist für die Bundeswehr das Konzept der "Strategischen Ellipse" wesentlich. Darunter ist ein Gebiet zu verstehen, das den Nahen Osten, den Kaspischen Raum und Russland bis zum Hohen Norden umfasst. In der Strategischen Ellipse liegen etwa zwei Drittel der weltweit vorhandenen Erdölund Erdgaslager, die unter heutigen Bedingungen rentabel ausgebeutet werden können - sofern die Statistiken belastbar sind, woran es freilich erhebliche Zweifel gibt. Im Einzelnen wären das laut Annahmen der Bundeswehr die Länder Saudi-Arabien, Russland, Iran, Vereinigte Arabische Emirate, Katar, Irak, Kuwait und Kasachstan. Weitere bekannte größere Lagerstätten befinden sich in Nord- und Zentralamerika sowie in Venezuela und Brasilien und in einzelnen Regionen Afrikas.

Je knapper das Erdöl, desto höher ist die Gefahr von Konflikten um seine Aneignung, meint die Bundeswehr. Tatsächlich waren in der Vergangenheit, stellt die Bundeswehrstudie fest, "Konflikte in Erdölexportländern [...] die häufigste Konfliktform im Zusammenhang mit Erdöl" (ZfTdB 2011: 17). Wahrscheinlich, so ist plausibel, treten sie auch in Zukunft vor allem in fragilen Staaten, die vom Ölexport abhängen, vermehrt auf. Die Exporteinnahmen ließen sich freilich - wie etwa in Venezuela unter Chávez und im Gegensatz zu seinen Vorgängern - auch für den Ausbau von Sozialmaßnahmen und eine verbesserte Nahrungsmittel- und Gesundheitsversorgung der Bevölkerung verwenden (Buttkereit 2010: 40).

Das Beispiel Venezuelas legt nahe, dass Erdöl nicht mit einer vermeintlichen Naturnotwendigkeit Konflikte hervorruft, wie die Bundeswehr nahezulegen scheint, sondern im Zusammenspiel mit einer verteilungsgerechten Sozialpolitik oder mittels Besteuerungsmaßnahmen soziale Konflikte gerade dämpfen kann. Mit dieser Feststellung ist freilich nicht auch schon der venezolanischen Umweltpolitik ein positives Zeugnis ausgestellt. Der Widerspruch zwischen der Einbindung (eines jeden Staates) in den Weltmarkt und der (kapitalistischen) Erfordernis von Deviseneinnahmen einerseits und dem sozialistischen Anspruch einer Regierung andererseits zeigt sich übrigens auch in Bolivien und Ecuador (Buttkereit 2010).


Deutschland und Österreich: Energiesicherheit für wen, womit und wofür?

Der Begriff der Energiesicherheit bedeutet in verschiedenen Kontexten Unterschiedliches. In der Studie der Bundeswehr wird darunter eine "sichere, nachhaltige und wettbewerbsfähige Energieversorgung" verstanden (ZfTdB 2011: 19). Es werden also Versorgungssicherheit, Rentabilität und Umweltverträglichkeit angestrebt. Die Rentabilität einer bestimmten Form der Energieversorung für ein nationales Gesamtkapital ist freilich nicht ein für allemal gegeben, sondern hängt von der jeweiligen wirtschaftlichen Situation ab, vor allem von der Preisgestaltung und der Möglichkeit auf konkurrierende Energieträger zurückzugreifen.

Es ist bezeichnend, dass unter kapitalistischen Bedingungen, in Gesellschaften also, worin Lohnarbeit und Profitorientierung vorherrschen, soziale Sicherheit klein geschrieben wird. Das ist heute bekanntlich weltweit der Fall. Demgegenüber feiert der Begriff der Energiesicherheit eine eigentümliche Konjunktur, die viele vergessen lässt, dass die Versorgung mit Energie keineswegs machtneutral ist: Wer bezieht wieviel Energie zu welchem Zweck und von wem? - Diese Fragen werden im Begriff der Energiesicherheit ausgelöscht.

Tatsächlich besteht unter dem Diktat von Profitorientierung und Kapitalwachstum der Hauptzweck der Produktion nicht in der Befriedigung konkreter menschlicher Bedürfnisse wie etwa nach Energie. Vielmehr zwingt es zur Produktion eines wirtschaftlichen Überschusses, zuerst einmal als Differenz zwischen notwendiger Arbeit für den Lebensunterhalt der Lohnabhängigen und Mehrarbeit für das Kapital (Profit), schließlich als Differenz zwischen dem Output eines Basisjahres und dem Output der darauf folgenden Wirtschaftsperiode (Wachstum).[4]

Die Produktion dieses zweifachen Überschusses erfordert Energie zum Betrieb der Maschinen, die das Kapital einsetzt, um die Produktivität der Arbeit und damit seine Profitrate zu steigern. Diese Energie muss kontinuierlich und im Rhythmus der Zyklen der Kapitalverwertung zur Verfügung stehen. Die Versorgung der kapitalistischen Wirtschaft mit Energie bedeutet folglich nicht unbedingt die Versorgung der Menschen als Menschen. Allerdings darf dies aus herrschaftstechnischen Gründen auch nicht gänzlich ausgeblendet werden. Der Diskurs der Versorgungssicherheit sorgt sich folglich auch um die politische Stabilität des Kapitals und den es beschützenden Staat. Das erfordert, die Belieferung der mittelständischen Autoflotten nicht aus dem Blick zu verlieren: "Die Hegemonie beginnt an der Zapfsäule", so lautet ein Bonmot aus einer Debatte um das Ende der fossilen Ära und seine politischen Folgen. Eine gleiche Energieversorgung aller Menschen ist damit jedoch keineswegs impliziert, es genügt eine kritische Masse durch eine solche Politik einzubinden oder die Mehrheit durch die glaubwürdige Aussicht auf Energie ruhigzustellen.

Ginge es tatsächlich um die Sicherheit der Versorgung im Sinne der Sorge um konkrete menschliche Bedürfnisse nach warmer Behausung und allgemeiner Mobilität, so wäre die kapitalistische Gesellschaft keine mehr. Wie die Verhältnisse liegen, verwundert es jedoch nicht im Geringsten, dass es sich in Österreich 330.000 Menschen nicht leisten können, ihre Wohnung im Winter warm zu halten, wie die Armutskonferenz mit Berufung auf Zahlen der Statistik Austria mitteilt[5]. Tatsächlich fahren etwa in Deutschland inzwischen viele Menschen im Winter mit den öffentlichen Verkehrsmitteln, um der Eiseskälte ihrer Wohnungen zu entfliehen. Sie bleiben tagsüber in Kaffeehäusern oder pendeln von Lokal zu Lokal, um ihrer äußersten Energieunsicherheit zu entkommen, wie eine Umfrage im Winter 2011 ergab: "Von den 40 Prozent, die sagten, sie würden harte Maßnahmen ergreifen, um die Heizkosten zu senken, gaben hochgerechnet 6,2 Mio. Deutsche an, sie würden in der Wohnung Stiefel oder gar Moonboots tragen, um sich warm zu halten und weniger heizen zu müssen."

Und weiters: "Schon 1,3 Mio. Deutsche geben zu, öfters mit öffentlichen geheizten Verkehrsmitteln, wie Bussen, U- oder S-Bahnen, länger herumzufahren, um den kalten privaten Räumen zu entkommen. Darunter sind rund 650.000 Personen älter als 50 Jahre. In Cafés oder Kneipen sitzen mittlerweile 770.000 Deutsche länger als üblich, um dort beim stundenlangen Latte-Macchiato- oder Bier-Trinken ebenfalls der kühlen privaten Spar-Wohnung zu entgehen. Etwas höher ist die Anzahl jener Deutschen, nämlich 1 Mio., die sich in sonstigen beheizten öffentlichen Räumlichkeiten aufhalten - wie Kaufhäusern, Banken oder Ämtern, obwohl es dort eigentlich für sie nichts zu tun gibt."[6]

Aus einer emanzipatorischen Sicht kann es folglich nicht um Energiesicherheit zu Nutzen und Frommen des Kapitals gehen. Not tut vielmehr Energiesouveränität: die Möglichkeit aller Menschen, über ihre Energieversorgung gleichberechtigt selbst zu bestimmen. Ein emanzipatorischer Begriff von Energiesouveränität wird nicht nur die technischen, sondern gleichermaßen die sozialen Rahmenbedingungen für die Transformation von fossilen zu postfossilen Gesellschaften einbeziehen müssen: die Technologie im eigentlichen Sinne also, die spezifische Verbindung aus technischen und sozialen Bedingungen. Ebenso sind freilich die Risiken im Auge zu behalten, die mit der Energieversorgung unter den Verhältnissen der Vielfachkrise verbunden sind. An diesem Punkt haben Krisenpläne einen Sinn. Diese müssen jedoch, sollen sie nicht die bisherigen Ungleichheit und autoritäre Gesellschaftsordnung unter härteren Bedingungen fortschreiben, demokratisch erstellt werden. Die Transition Town-Bewegung in England bietet dafür gute Anknüpfungspunkte[7].

Energiesouveränität ist eine Zielbestimmung, keine unmittelbare Zukunft. Verhältnisse, worin die Energieproduktion und -verteilung dem Zweck des Kapitalwachstums unterworfen sind, und so die Energieversorgung der von ihr Abhängigen gleich mit, sind keine Verhältnisse, worin eine "Souveränität" der Menschen verwirklicht wäre. Das Problem stellt sich also folgendermaßen: Wie kann aus diesen Verhältnissen heraus ein Energiewendepfad führen, der die gegebene Gesellschaft als seinen Startpunkt nehmen muss? Ein solcher Pfad müsste Energiesouveränität in der raschen Ausweitung erneuerbarer Energien finden und dürfte die Fossilen nur als die notwendige Anschubenergie für deren Ausbau verwenden. Ähnlich wie die Bolivarianische Revolution in Venezuela mit Erdöl Sozialprogramme befeuert (Buttkereit 2010) - jedoch mit einer noch viel vernünftigeren Ausrichtung: die Energiebasis zu dezentralisieren und zu demokratisieren.

Da weder Deutschland noch Österreich mit der heimischen Ölförderung das Auslangen findet und erneuerbare Energien erst in relativ geringem Ausmaß verfügbar sind, könnten in solchen Ländern Importe die Wende hin zu einer Energiesouveränität auf erneuerbarer Grundlage erleichtern - sofern Erdöl auch bewusst in die Verwirklichung der Energiewende gelenkt würde.[8] In Österreich ist der Grad der Eigenversorgung mit Fossilen etwas höher als in Deutschland. Immerhin 7% seines jährlichen Öl- und ein Fünftel seines Gasverbrauchs können aus eigener Produktion bereitgestellt werden. 2010 wurde erstmals seit 2007 wieder mehr Erdöl und Erdgas gefördert.

Aus den drei Ländern Russland (35,3%), Norwegen (14,1%) und Großbritannien (10,7%) bezog Deutschland 2009 mehr als 60% der Erdölimporte (ZfTdB 2011: 21). Der Rest ist breit gestreut, er verteilt sich auf weitere 25 Länder. Es ist interessant festzustellen, dass in den 10 größten Förderländern das nationale Fördermaximum bereits vor 2011 erreicht wurde. Nur in Saudi-Arabien, Angola und Brasilien könnte der Peak erst in der Zukunft erfolgen, meint die Bundeswehr. Die bisherige Förderdaten auch der IEA allerdings belegen, dass Saudi-Arabien 2005 die höchste Förderung hatte und Angola 2008. Dies bedeutet für Deutschland, dass die Wahrscheinlichkeit für eine Expansion, aber auch nur für die Aufrechterhaltung der derzeitigen Liefermengen immer geringer wird.

Die Rohölimporte nach Österreich beliefen sich im Jahr 2010 auf etwa 6,8 Mio. Tonnen (2009: 7,4 Mio. t). Österreichs wichtigste Rohöllieferanten waren Kasachstan (1,8 Mio. t), Libyen (1,6 Mio. t) und Russland (0,7 Mio. t). Diese drei Länder decken 60% aller Rohölimporte ab. Insgesamt wurde Rohöl in sehr unterschiedlichem Umfang aus 16 verschiedenen Ländern bezogen. Die Anlieferungen erfolgten fast gänzlich vom Ölhafen Triest zur Raffinerie Schwechat über die Transalpine Ölleitung (TAL) und ab Kärnten über die Adria-Wien-Pipeline (AWP). Neben den Rohölimporten sind für die heimische Versorgung auch jährlich Importe von Mineralöl-Fertigprodukten erforderlich.[9]


Mögliche Folgen des Ölrückgangs

Für die ölexportierenden Länder ist eine Situation abnehmender Reserven und rückläufiger Fördermengen ein "Window of Opportunity" für die offensive Durchsetzung ihrer politischen und wirtschaftlichen Ziele, meint die Bundeswehr. Sie setzt damit freilich voraus, dass kapitalistische Produktionsweise dominiert beziehungsweise die politische Vorherrschaft innehat. In der Tat ist das im Kreis der großen Erdölexporteure nur in Venezuela anders. Dort zielen soziale Kämpfe im Staat, um den Staat und außerhalb davon auf seinen Abbau. Und sie zielen auf eine Abschaffung der kapitalistischen Produktionsweise durch den Ausbau Solidarischer Ökonomien (Azzellini 2009, 2010; Buttkereit 2010). Am Beispiel Russlands lässt sich im Kontrast dazu die dominante Tendenz illustrieren.

In den Gaskonflikten mit der Ukraine, die auch Auswirkungen auf Gaslieferungen an EU-Länder hatten, ließ Moskau bereits seine Muskeln spielen (ZfTdB 2011: 26). Da die Ukraine durch das bisher billige Gas Staaten wie Rumänien zu niedrigeren Preisen beliefern konnte als es in Russland selbst kostete, störte es den russischen Exportmarkt. Außerdem werden derzeit etwa 80% des russischen Erdgases für Europa über die ukrainischen Pipelines transportiert. Russland stoppte im Jänner 2006 daher vorübergehend die Gaslieferungen an die Ukraine und speiste nur Gas für die EU-Länder ein, das sie jedoch nicht in vollem Ausmaß erreichte. Österreich meldete einen Rückgang um ein Drittel.

Die Bundeswehr will noch einige weitere Tendenzen nach Peak Oil erkennen, die wir im Folgenden auf Basis der Ergebnisse von "Save our Surface" (siehe Exner u.a. 2011) und mit einer herrschaftskritischen Orientierung diskutieren:


Erste Tendenz: Zusätzliche Verknappung nach Peak Oil

Je mehr sich das Bewusstsein festsetzt, dass das Fördermaximum bereits überschritten ist, in desto stärkerem Ausmaß können die Ölexportländer eine gezielte Einschränkung des Angebots im Sinne eines "Political Peaking" realisieren und höhere Preise verlangen, meint die Bundeswehr.


Zweite Tendenz: Wertschöpfungsketten werden erneut vertikal integriert

Durch die zunehmende Verlagerung des Ölexports auf jene Länder, wo das Fördermaximum erst in etwas weiter entfernter Zukunft eintritt, könnten die neuen zentralen Exportländer über die durchwegs in Staatseigentum befindlichen so genannten Six Sisters - CNPC/Petrochina, Gazprom, Petrobras, Petronas Petróleos de Venezuela, National Oil Company of Iran und Saudi Aramco - versuchen, die gesamte Wertschöpfungskette von der Förderung über die Raffinerien bis zum Vertrieb und das Tankstellennetz in die eigene Hand zu bekommen.

Dadurch, so fürchtet die Bundeswehr, könnte die politische Abhängigkeit der Import- gegenüber den Exportländern, des globalen Nordens gegenüber dem Süden wieder wachsen, die ja nach den Krisen der 1970er Jahre infolge der neoliberalen "Konterrevolution" mit den Mitteln der zwangsweisen Liberalisierung, Diversifizierung und der Ausrichtung auf Deviseneinnahme für den enorm gestiegenen Schuldendienst deutlich gesunken war.

Die Auflistung der laut Bundeswehr von dieser Verschiebung begünstigten Länder ist allerdings durchaus zu hinterfragen. So steigen in Brasilien die Ölimporte seit 2007, weil der Verbrauch schneller wächst als die Förderung. Die derzeitige Vorzeigefirma der Ölbranche, die brasilianische Petrobras ist zudem hoch verschuldet, wie neuerdings bekannt wurde. Enorme Investitionen seien notwendig, weil die Förderung immer schwieriger wird, so das Magazin Wallstreet Online[10].


Dritte Tendenz: Schwierigere Diversifizierung für Ölimportländer

Durch die wachsende Konzentration der wesentlichen Ölreserven in der "Strategischen Ellipse" und in wenigen anderen außerhalb davon gelegenen Ländern würde es für die Importländer schwierig, die Abhängigkeit von einem einzelnen oder einer geringen Anzahl von Ölexportländern zu vermeiden und stattdessen die Lieferantenländer möglichst breit zu streuen. Ein wichtiger Konkurrent der EU um das Öl der "Strategischen Ellipse" sei zunehmend China, bringt die Bundeswehr ihr Koordinatensystem einer militärisch unterlegten Konkurrenz zum Nutzen des Wachstums deutschen Kapitals zum Ausdruck.


Vierte Tendenz: Wachsende Bedeutung der importabhängigen Schwellenländer als Käufer von Rohöl

Die Schwellenländer, der aufstrebende Teil des globalen Südens, werden in Zukunft mit den verschiedensten Strategien versuchen, ihren durch das Kapitalwachstum induzierten Ölhunger zu stillen, meint die Bundeswehr. Die tägliche Erdölgewinnung in der Welt soll laut dem Weltenergiebericht der Internationalen Energieagentur (IEA) bis 2035 in der Tat auf 96 Millionen Barrel steigen, der Anteil der OPEC-Länder mehr als die Hälfte der weltweiten Ölproduktion betragen. Es sind jedoch erhebliche Zweifel angebracht, ob diese Förderkapazität im Jahre 2035 zur Verfügung steht. Ist dies der Fall, so wäre es für die EU-Länder eher noch schwieriger, für ihre Kapitalien hinreichende Ölmengen zu einem relativ niedrigen Preis zu importieren.


Fünfte Tendenz: Umgestaltung von Lieferbeziehungen nach Peak Oil

Die Bundeswehr erwartet die Ausweitung bilateraler Ölkontrakte, wodurch die Menge des frei am Markt gehandelten Öls abnimmt (ZfTdB 2011: 32). Gegenleistungen zum Abschluss von bilateralen Kontrakten sind in Form konditionierter Lieferbeziehungen und Koppelgeschäfte nötig. Sie umfassen jene Wirtschaftsgüter und Leistungen, die ähnlich wie Erdöl die Wirtschaftskraft oder die Macht des Ölförderlands stärken würden (zum Beispiel spaltbares Material), aber es wären auch politische Gegenleistungen der Importländer (zum Beispiel in den Foren der Vereinten Nationen bzw. im Sicherheitsrat) denkbar.


Sechste Tendenz: Neue strategische Bündnisse und Machtverschiebungen

Die Bildung von Gegenmacht zu westlichen Bündnissen und in Konfrontation mit den USA kann sich die Bundeswehr vorstellen und hält eine veränderte Zusammensetzung der OPEC für möglich. Russland könnte seinen Einfluss auf der Grundlage seines großen Ressourcenreichtums weiter ausdehnen. Nach Peak Oil wird Erdgas, das in Russland in großen Mengen zur Verfügung steht einen Nachfrageboom erleben, vermutet sie.

Nicht alle Autorinnen und Autoren teilen indes diese Ansicht, denn die großen russischen Gasfelder befinden sich im Förderrückgang und neue Felder nördlich des Polarkreises sind nur unter schwierigsten Bedingungen zu erschließen (Seltmann & Zittel 2009, Zittel 2010).


Siebte Tendenz: Neues Verhältnis zwischen privaten und staatlichen Akteuren

Ein teilweiser Rollenwechsel staatlicher und privater Akteure wäre für die Bundeswehr denkbar. Der heutige Anteil der staatlichen Erdölunternehmen (National Oil Companies - NOCs) von rund 80% an den Weltölreserven könnte weiter steigen, für die IOCs (International Oil Companies) würde es daher zunehmend schwieriger, Zugang zu leicht und preiswert erschließbarem Erdöl zu erhalten. Da die staatlichen Ölfirmen bestrebt seien, sich zu internationalisieren, würden sie zu potenteren Konkurrenten um Förderlizenzen. Das könne sich, fürchtet die Bundeswehr, in drastischen Preisspiralen nach oben niederschlagen.

Im Fall fragiler und dysfunktionaler Staaten könnte es zu der Übernahme der bisherigen staatlichen Funktionen durch private Unternehmen kommen, vermutet die Bundeswehr. Schon heute gäbe es "Maßnahmen zur Herstellung der Legitimität und Beruhigung der Lage", was bis zur "Eindämmung und Bewältigung von Aufständen" reichen könne, worauf das Schlagwort der Corporate Counterinsurgency verweise (ZfTdB 2011: 40).

Die Bundeswehr zieht ganz richtig die Möglichkeit eines Szenarios in Betracht, das manche mit einer "Refeudalisierung" - angesichts der nach wie vor schlagenden Bedeutung von Kapital, Staat und Weltmarkt freilich unzureichend - beschrieben haben und das sich seit der neoliberalen Strukturanpassung der 1980er Jahre immer deutlicher abzuzeichnen scheint.


Achte Tendenz: Öl-Infrastrukturen werden wichtiger

Eine zusehendes wichtigere Rolle spielt nach Peak Oil eine zuverlässige und sichere Transportinfrastruktur. Gerade bei den langen Transportwegen des Erdöls ist der Schutz der Infrastruktur unter politisch zusehends instabilen Bedingungen jedoch keine leichte Aufgabe. Der Anreiz zur Sabotage und zu Anschlägen auf Pipelines, Häfen oder Raffinerien wird wachsen, noch dazu da der Aufwand relativ gering ist. Diversifizierte Transportwege mit netzförmigen Strukturen könnten zwar zu einer verbesserten Versorgungssicherheit beitragen, ein vollständiger Schutz sei jedoch unmöglich, hält die Bundeswehr zutreffend fest.


Neunte Tendenz: Erschließung alternativer Energie-Ressourcen

Durch einen mittel- bis längerfristig gestiegenen Ölpreis wird die Exploration nicht-konventioneller Ölvorkommen (zum Beispiel von Teersanden) rentabel. Allerdings sind auch die dadurch verursachten Umweltschäden erheblich, wie etwa der Unfall der Deepwater-Horizon-Ölbohrplattform im Golf von Mexiko am 20. April 2010 zeigte.[11]

Eine buchstäblich naheliegende Alternative zum Erdöl wäre Erdgas, dessen Lagerstätten oft in der Nähe von Erdöl zu finden sind. Die zeitliche Reichweite von Erdgas ist größer als die von Erdöl. Erdgas kann jedoch nicht unmittelbar verschifft werden, sondern muss entweder über Pipelines als Gas oder nach der Komprimierung und Verflüssigung mit der Hilfe von Spezialtankern transportiert werden. Bei Erdgas gibt es wegen der örtlichen Fixierung von Pipelines keinen Weltmarkt im eigentlichen Sinn, sondern mehrere regionale Märkte. Dies begrenzt die Möglichkeiten einer Diversifizierung von Lieferbeziehungen.

Schließlich sind die Möglichkeiten erneuerbarer Energieversorgung als Alternative zum gegenwärtigen Energiemix zu nennen. Dass die Erneuerbaren nicht notwendigerweise auch ein gutes Leben für alle Menschen auf dieser Erde ermöglichen werden, wenn sich die Nutzung dieser Energiequellen nicht vom Profitmotiv entkoppeln lässt, sollte angesichts der mitunter naiven Vorstellungen einer Energiewende allerdings betont werden (dazu ausführlicher Exner u.a. 2008, Exner u.a. 2011).


Zehnte Tendenz: Binnenwirtschaftliche Risiken nach Peak Oil

Nach Peak Oil wird der Import von Erdöl teurer, schwieriger und letztlich unmöglich. Dies würde die betroffenen Länder tendenziell zur Energieautarkie zwingen - früher als die bisherigen Exportregionen von Rohöl. Energieautarkie bedeutet, dass ein Land oder eine Region die Energieversorgung nicht durch Importe aufrechterhält, sondern mit jenen Ressourcen sichert, die direkt auf eigenem Territorium zugänglich sind.

Für die Länder der EU würde dies laut Bundeswehr bedeuten, mit Kohle und alternativen Energieträgern auszukommen, sollte man auf die Nuklearenergie wirklich verzichten. Der Einsatz von Kohle ist freilich sehr klimaschädlich und kann das gegenwärtige Niveau des fossilen Energiekonsums grundsätzlich nur zum geringen Teil und zeitlich begrenzt ersetzen. Wird die fossile Energiebasis also nicht rechtzeitig auf Erneuerbare umgestellt, ist mit weitreichenden Folgen zu rechnen: Einschränkungen im Individual- und Güterverkehr, eine Gefährdung der Nahrungsmittelversorgung bis hin zu einer systemischen Krise der gesamten Wirtschaft im Verein mit einem Verlust des Vertrauens in bestehende Institutionen.

Die Schwere der Krise wird einerseits davon abhängen, wie weit Erdöl nach Peak Oil noch physisch verfügbar ist und zu welchem Preis. Andererseits ist nicht vorherzusehen, welche Eigendynamik der Komplex von Normen, Erwartungen und Regeln zeigen wird, der die fossile Gesellschaft auszeichnet. David Korowicz von der NGO Feasta[12] betont: Die heutige Form der Gesellschaft, ihre Wirtschaftsweise, alle Institutionen und die alltäglichen Gewohnheiten der Menschen haben sich zusammen mit einer steigenden Zufuhr von billiger fossiler Energie entwickelt. Wir haben es mit einer systemischen Ko-Evolution im planetarischen Ausmaß zu tun, deren wichtigste Kontextbedingung wegbricht.

Zwei wirtschaftliche Szenarien sind wahrscheinlich: Entweder es kommt zu einer oszillierenden Abnahme der Wirtschaftsleistung und der Förderung (siehe Exner u.a. 2008). Oder es ereignet sich ein Kollaps, den Korowicz für die wahrscheinlichere Konsequenz hält, das heißt eine rasche Kontraktion des Weltmarkts, die nicht mehr rückgängig gemacht werden kann, weil damit die heute global integrierten Zuliefer- und Wertschöpfungsketten zerbrechen. Ein Kollaps bedeutete eine rasche Abnahme gesellschaftlicher Komplexität, deren heutige Dichte sich nicht mehr im Weltmaßstab aufrecht erhalten lassen würde.

Die Bundeswehr-Studie stützt sich unter anderem auf das Krisenszenario von Korowicz und skizziert: Eine durch Treibstoffknappheit verursachte "Mobilitätskrise" könnte nach der bereits schwelenden Finanzkrise eine weitere Ausprägung der Wirtschaftskrise werden. Die vorherrschenden Lebensgewohnheiten und die Funktionsmechanismen unserer Gesellschaft würden dann drastisch in Frage gestellt. Während kurzfristigen Engpässen durch staatliche Eingriffe oder freiwillige Maßnahmen (Mobilitätsgutscheine, autofreier Tag) begegnet werden könne, habe eine langfriste Rohölverknappung, die sich in entsprechenden Treibstoffengpässen niederschlägt, einschneidende Auswirkungen auf die Wirtschaft insgesamt.

Nicht nur die Automobil- und Transportfahrzeugindustrie würden einen Wachstumseinbruch erleben, sondern auch der Tourismus - was eine für die Einkommen von Haushalten und Betrieben insbesondere in Österreich sehr problematische Entwicklung wäre. Die Verteuerung des Güterverkehrs, der mit seinen globalen Prozess- und Transportketten auf der Grundlage einer ausgedehnten und von fossilen Energien fast vollständig abhängigen Infrastruktur aus Containerschiffen, Lastkraftwagen, Kühlsystemen und dem Flugverkehr bisher ein Rückgrat des Wirtschaftswachstums darstellte, würde Lieferbeziehungen einschränken oder überhaupt unterbrechen. Tatsächlich bewirkten die hohen Ölpreise 2008, dass aufgrund der hohen Transportkosten in den USA die heimische Stahlproduktion wieder attraktiver wurde als der Import aus China (Rubin 2010), Containerschiffe fahren mit deutlich reduzierten Geschwindigkeiten um Treibstoff und damit Kosten einzusparen und der schienengebundene Güterverkehr von China nach Europa wird interessant.

Fast vollständig im toten Winkel selbst der akademischen Debatte zu den Erneuerbaren - von der öffentlichen Diskussion ganz zu schweigen - befindet sich allerdings die Frage, wie eine großteils von fossilen Ressourcen abhängige Wirtschaft des Kapitalwachstums denn eine rasche Umstellung auf erneuerbare Energieträger in einem Umfeld wirtschaftlicher Stagnation oder Rezession zu bewerkstelligen vermag. Schon der laufende Betrieb der gesellschaftlichen Infrastrukturen wird teurer als zuvor sein. Woher sollen die energetischen und finanziellen Investitionen in einer Situation kapitalistischer Vielfachkrise kommen?

Es verwundert daher nicht, dass viele Autorinnen und Autoren in der Peak Oil-Debatte Versorgungsengpässe bei existenziell wichtigen Gütern nicht mehr auf den globalen Süden beschränkt sehen - wo dies für Milliarden von Menschen den Alltag ihres Überlebenskampfs unter den Bedingungen des Imperialismus bildet - sondern auch im Norden. Den wähnte man von derlei Unglück bislang wie von einer unsichtbaren Hand geschützt.

Zu den von einer Versorgungskrise potenziell betroffenen Gütern gehören Nahrungsmittel. Zwar weist etwa Österreich in der Grundversorgung mit Nahrungsmitteln derzeit einen relativ hohen Eigenversorgungsgrad auf. So erreichte der Grad der Selbstversorgung laut Statistik Austria[13] 2009/10 bei Getreide 93%, bei Obst 69%, bei Gemüse 60% und bei pflanzlichen Ölen 27% sowie bei Fleisch 109%, bei Käse (einschließlich Schmelzkäse) 105%, bei Eiern 74% und bei Butter 72%. Auch Deutschland hat zum Beispiel bei Getreide einen hohen Selbstversorgungsgrad, so etwa gemäß Daten des Statistischen Bundesamts[14] 2008/9 bei Weichweizen 278% und bei Weizen insgesamt 236%.

Doch bei einem länger andauernden Engpass bei Dünger und Sprit für landwirtschaftliche Maschinen und Transportmittel wird ein solcher Eigenversorgungsgrad nur mit Mühe aufrecht zu erhalten sein. Einschränkungen beim "Fernfraß", bei allen Nahrungsmitteln also, die über größere Entfernungen angeliefert werden, liegen auf der Hand. Weitaus bedenklicher und für viele tatsächlich lebensgefährlich wäre eine rückläufige Entwicklung der Ernteerträge. Der plötzliche Verzicht auf öl- und gasbasierten Dünger, petrochemisch hergestellte Pestizide und ein deutlich verminderter Maschineneinsatz würde die Erntemenge drastisch absenken.

Nahrungsmittel würden unter kapitalistischen Bedingungen, die eine vernünftige gesellschaftliche Verteilung von Ressourcen zwischen den Produktionsbereichen und zwischen Stadt und Land ausschließen, auf Dauer teurer. Eine unter eben diesen Bedingungen weiter wachsende Flächenkonkurrenz zwischen Energie- und Nahrungspflanzen, womöglich noch durch Ernteausfälle aufgrund des Klimawandels verschärft, würde insbesondere bei weltweit integrierten Agrarmärkten weiteren Druck in Richtung höherer Nahrungsmittelpreise ausüben - sollte Peak Oil zu einem teilweisen Einbruch des Weltmarktes führen, so wären allerdings auch die Agrarmärkte von Deglobalisierung betroffen, jedenfalls parziell.

Bei einer Schrumpfung von wirtschaftlichen Kernbereichen steigt mit Sicherheit die Zahl der Erwerbslosen. Neue Arbeitsplätze, die durch Erfordernisse der post-fossilen Transformation entstehen und mit entsprechenden Profiterwartungen einher gehen könnten - ohne die in einer kapitalistischen Wirtschaft überhaupt nichts geschieht -, würden die Lage etwas mildern. Dennoch wäre unter diesen Voraussetzungen mit einer erheblichen Transformationsarbeitslosigkeit zu rechnen. Ebenso ist ein Prozess der Entwertung von Qualifikationen absehbar. Fähigkeiten, die im fossilen Kontext als Qualifikationen gelten, würden zum Teil nicht mehr benötigt, neue Kompetenzen wären erst wieder zu erwerben. Diese könnten durchaus eine Reihe geschichtlich älterer Fähigkeiten handwerklicher und landwirtschaftlicher Produktion umfassen, die der fossile Kapitalismus verdrängt hat.


Elfte Tendenz: Vertrauensverlust in staatliche Institutionen und das bestehende Parteiensystem

Abschließend ist noch einmal die politische Dimension der voraussichtlichen Krisenentwicklung unmittelbar nach Peak Oil hervorzuheben, die auch die Bundeswehr-Studie in der ihr eigenen Weise anspricht. Tatsächlich sind zwei miteinander vermittelte ungünstige Entwicklungen zeitgleich zu erwarten: Durch eine erhöhte Arbeitslosigkeit und steigende Mobilitätskosten reduziert sich der Zugang zum gesellschaftlichen Gesamtprodukt in Form von Gütern und Diensten. Immer mehr Menschen scheitern an der kapitalistischen Stoffwechsel-Form und -Schranke, dem Geld. Trifft das Produktionssystem - und dies gilt auch für eine wünschenswerte nicht-kapitalistische Alternative - zusätzlich eine harte energetische Beschränkung seines Outputpotenzials, so sinkt zugleich die Anzahl von Gütern und Diensten, die überhaupt angeboten bzw. hergestellt werden könnten.

Dies muss keineswegs ein Verzicht sein, wie einseitig auf den materiellen Konsum fixierte Ökologen suggerieren wollen. Doch soll dies hier nicht das Thema sein. Festzuhalten ist, dass in einer kapitalistischen Gesellschaft die Absenkung des Gesamtoutputs an Dingen und Diensten, bei gleichzeitiger Reduktion des Zugangs dazu, der die Geldschranke passieren, sich also in zahlungsfähige Nachfrage umsetzen muss, katastrophale Folgen hat. Der Passierschein für die Geldschranke, der Produzierende von Konsumierenden trennt (die Klasse der Lohnabhängigen also in absurder Weise von sich selbst), dieser Passierschein ist ja immer nur das Resultat der Arbeitskraftnachfrage und ergo der Geldeinkommen. Diese werden von Profiterwartungen und diesem Ziel folgende Herstellungsprozesse generiert. Wo diese Erwartungen unter Depressionen leiden, sieht es auch mit dem Leben der daran gefesselten Menschen ziemlich düster aus.

Unter solchen Umständen liegt ein massiver Verlust des Vertrauens insbesondere der Lohnabhängigen in die Institutionen des Staates nahe. Die Herrschaft des Staates gründet sich ja nicht nur auf purer Gewalt, sondern ebenso auf der stillschweigenden oder aktiven Zustimmung der Lohnabhängigen zu ihrer Unterordnung. Die freilich entsteht auf einer materiellen Basis (im Verein mit einer ausgeklügelten Form der emotionellen Zurichtung, der insbesondere das System von Schulen, Medien und Ausbildungswegen dient).

Die Fortentwicklung einer solchen Herrschaftskrise verläuft häufig im Widerstreit zweier Tendenzen. Einerseits entstehen selbstorganisierte Bewegungen, die in verschiedener Weise für einen Ausbau gesellschaftlicher (anstelle staatlicher) Kontrolle und eine partizipative Gestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft eintreten. Einer solchen teils spontanen, jedenfalls durch einen hohen Grad organisationeller Autonomie ausgezeichneten Strömung steht in aller Regel eine Strömung gegenüber, die sich im Gegensatz dazu die Stärkung der kriselnden Herrschaftsstrukturen zum Ziel setzt.

Aus einer solchen Herrschaftskrise rührt der seit 2008 immer stärker anschwellende Ruf nach "Führung" in Europa. Die Krise auf eine Führungsschwäche zurückzuführen zeigt die autoritäre Grundorientierung der dominierenden politischen Kräfte in der EU von Rechts bis weit in die Sozialdemokratie. Sie verkoppelt sich mit einer voranschreitenden Spaltung der Zivilgesellschaft in autonomistische und autoritäre Strömungen, mit einer schweigenden und vermutlich die Mehrheit umfassenden Mitte. Die politischen Orientierungen dieser Mitte schwanken, sie ist ebenso leicht korrumpierbar wie auf die Seite emanzipatorischer Strömungen zu ziehen, sobald sich der politische Wind dreht.


Systemisches Chaos und emanzipatorische Alternativen

Die Geschichte folgt keinem vorgefertigten Schema menschlicher Entwicklung, schon gar nicht folgt sie irgendeinem Naturgesetz oder geologischen Tatbeständen. Solange es sich um eine Geschichte herrschaftlich verfasster Gesellschaften handelt, ist dies eine Geschichte sozialer Kämpfe. Mehr als alles andere sind soziale Kämpfe unvorhersehbar und von Unsicherheit geprägt. Die geschichtliche Realität ist daher eine gänzlich andere als die herrschaftliche Geschichtsschreibung mit ihren Modelle der Evolution, ihren Schemata des überhistorischen und linearen Fort- oder Rückschritts glauben machen will. Das spontane Aufeinanderwirken von Akteuren mit teils bloß unterschiedlichen, teils hart gegensätzlichen Interessen, die sich im Wechselspiel von Kontrolle und Subversion befinden, das keine Instanz in irgendeiner Weise zentral lenkt oder gar steuert (noch je lenken oder steuern könnte), eröffnet ebenso viele Möglichkeiten der Wirklichkeit, wie da soziale Bewegungen entstehen und um emanzipatorische Perspektiven ringen.

Klar ist, dass das ökonomische und politische System nach Peak Oil qualitativen Veränderungen von großer Tragweite unterworfen sein wird.

Was diese ganz allgemeine Aussage angeht, so decken sich frühere Szenarien der Entwicklung der Gesellschaft nach Peak Oil wie etwa in Exner u.a. (2008) mit der aktuellen Bundeswehrstudie. Sie sieht die bevorstehende Entwicklung in den Grundlinien ähnlich. Die Weltwirtschaft würde bei Rückgang des Ölangebots kurzfristig mit steigenden Ölpreisen reagieren, was zu einem sinkenden Konsum und zu einem verringerten Output führt. Das Güterangebot würde sich verteuern, die Handelsvolumina schrumpfen. Die Staatshaushalte werden durch die Sicherstellung der Nahrungsmittelversorgung und durch wachsende Sozialausgaben in vermehrten Maße und stark belastet. Notwendige Investitionen in Green Tech und Erdölsubstitute stünden dazu in Konkurrenz (ZfTdB 2011: 63).

Aus heutiger Sicht (2011) kann man ergänzen, dass sich dadurch die Schwierigkeiten vor allem der von der weltweiten Finanzkrise schwer angeschlagenen GIPS-Länder potenzieren würden, das Budgetdefizit in finanzierbarer Höhe zu halten. Das betrifft Griechenland, Irland, Portugal, Spanien. Weitere Kandidaten wie Italien und Belgien mit Staatsschulden in der Höhe ihres Bruttoinlandsprodukts sind in Sicht. Ein Staatsbankrott ist nicht mehr auszuschließen, wenn die Mittel der wohlhabenden Länder der Eurozone sich erschöpfen würden. Die Folge könnte ein Bankensterben in großem Ausmaß sein, mit allen Folgen für die Einlagen der Lohnabhängigen bei den Geldinstituten. Die Chance auf eine so genannte Erholung der Dynamik des Kapitalwachstums, das ja von Profiterwartungen in gesamtgesellschaftlichem Ausmaß getrieben wird, würde sehr gering. Ebenso sind in den USA für die nächsten Jahre zunehmende Finanzierungsprobleme des Staatshaushaltes zu erwarten.

Was man folglich durchaus ins Auge fassen muss, sofern eine emanzipatorische Alternative ausbleibt (dazu Exner u.a. 2008), zeichnet die Bundeswehrstudie ganz affirmativ in dunklen Farben und meint, "das globale Wirtschaftssystem und jede marktwirtschaftlich organisierte Volkswirtschaft (bräche) zusammen" (ZfTdB 2001: 64). Der Umschlagspunkt wäre erreicht, wenn "in einer auf unbestimmte Zeit schrumpfende Volkswirtschaft die Ersparnisse nicht investiert (würden), weil Unternehmen keine Gewinne machten." Unternehmen könnten ihre Kredite nicht mehr bedienen, das Bankensystem, die Börsen und die Finanzmärkte könnten insgesamt zusammenbrechen. "Es würde sich ein völlig neuer Systemzustand einstellen" (ebd.), heißt es.

Konkret gesprochen: Die Banken könnten Einlagen nicht mehr verzinsen, da sie keine kreditwürdigen Schuldnerinnen und Schuldner finden. Hyperinflation und Schwarzmärkte entstünden, dem folge der Übergang "zu einer tauschwirtschaftlichen Organisation auf lokalem Level", meint die Bundeswehr. Die Abwicklung des Einkaufs von Vorprodukten wäre bei Kredit- und folglich Geldknappheit extrem schwierig. So müssten die bestehenden (vor allem die globalen) Wertschöpfungsketten kollabieren. Es drohten Massenarbeitslosigkeit und Hungersnöte. Kritische Infrastrukturen brächen zusammen, Staaten würden insolvent.

In diesen Passagen deckt sich die Studie der Bundeswehr jedenfalls mit dem kapitalistischen Alltagsverstand, der keinen Zweifel daran lässt, dass ohne Profit nichts geht. Das ist ein Niveau an Einsicht in den absurden und - nicht nur - angesichts Peak Oil nachgerade lebensgefährlichen Zwang dieser Verhältnisse, die der Mainstream der Debatte um Nachhaltigkeit, Steady State, Degrowth und Postwachstum bislang noch nicht erklimmen wollte. So floriert dort anstelle einer nüchternen Analyse der Systemwirkungen von Peak Oil und der realistischen Erfordernisse einer tragfähigen Alternative etwa der Glaube an wundersam sprießende Regionalwährungen, die global ein fortwesender Weltmarkt und lokal, bei halbem Lohn und halber Arbeitszeit (für jene, die dann noch Arbeitsplätze haben), eine unbezahlte Care-Ökonomie lieblicher Kleingärten und privatisierter sozialer Dienste umsorgen soll. Auf dem Rücken der Frauen, so steht zu befürchten. Unerschrockene, die ihren Glauben an eine ebenso allmächtige wie segensreiche Lenkungswirkung des Staates auch 1989 nicht abgeben wollten, plädieren dagegen für ein ökologisches Generaldiktat. All dies und noch Schlimmeres umweht der dumpfe Geruch moralischer Verzichtsaufrufe.

Worin ein neuer Systemzustand nach einem möglichen Teilzusammenbruch gesellschaftlicher Infrastrukturen bestehen soll, darüber macht die Studie der Bundeswehr, die solchen Perspektiven schon von Berufs wegen abhold sein muss, indes keine Aussagen. Dabei ist diese Visionslosigkeit in gewissem Sinn beinah erfrischend. So bringt gerade die kommentarlose Skizze der schlechten Realität auf einen Punkt, was einer möglichen Zukunft dräut, in der das Kapital als Herrschaftsverhältnis fortwest, während ihm seine energetischen und finanziellen Mittel zusehends abhanden kommen.

Wider besseres Wissen und zum Erstaunen der Leserinnen und Leser, die ihr bis hierher folgen durften, ruft die Bundeswehrstudie schließlich nach "positivem Wirtschaftswachstum", das durch "die Energieversorgung des Wirtschaftskreislaufs gesichert werden [...] muss" (ZfTdB 2011: 65). "Eine auf unbestimmte Zeit schrumpfende Wirtschaftsleistung stellt einen höchst instabilen Zustand dar, der zu einem Systemkollaps führen würde. Die Sicherheitsrisiken einer solchen Entwicklung sind kaum abzuschätzen", meint sie.

Dies gilt allerdings auch für die Möglichkeiten der Emanzipation. Matthias Schmelzer und Alexis Passadakis (2011) haben mit dem Begriff der Solidarischen Postwachstumsökonomie einen konzeptionellen Rahmen dafür vorgeschlagen. Darin wird reflektiert, dass die Gesellschaft erstens ihren Energie- und Stoffdurchsatz reduzieren und dann zweitens auf niedrigem Niveau konstant halten muss und dass dies drittens eine gesellschaftliche Regelung erfordert, die der chaotischen und von sozialen Interessensgegensätzen bestimmten kapitalistischen Produktionsweise fremd ist: Überschüsse dürfen nur für den stetigen Ersatz von Maschinerie oder die Verbesserung der Ressourceneffizienz verwendet werden; allen muss gleichermaßen und bedingungslos der Zugang zu den Ressourcen eines guten Lebens gewährleistet sein.

Der Umbau der kapitalistischen Wirtschaftsweise zu einer Solidarischen Postwachstumsökonomie auf Basis von Gemeingütern und mit einem zunehmenden Gewicht demonetarisierter sozialer Beziehungen ist daher entscheidend. Man kann sich diesen Umbau als eine Diffusion sozialer Basisinnovationen vorstellen, die in Nischen entstehen, geschützt vor dem Markt und vor der Intervention des Staates. Solche Nischen verbinden gleichberechtigte Kooperation und eine solidarische Ausrichtung auf die Bedürfnisse der Gesellschaft mit Selbstverwaltung.

Im Wissen um die vielen Schwächen und Defizite aller bestehenden Ansätze, sich der kapitalistischen Produktionsweise zu entziehen, kann man dafür durchaus einige Beispiele nennen: so etwa die in vielen Ländern und in großer Zahl existierenden Energiegenossenschaften, die häufig zitierte baskische Megakooperative Mondragón, genossenschaftlich geprägte Regionalökonomien wie in der italienischen Region Emilia Romagna oder der brasilianische Solidarökonomiesektor.

Soziale Basisinnovationen sind zum Teil notwendig, um technische Maßnahmen der Energieverbrauchsreduktion überhaupt wirksam zu machen. Sie sind jedoch selbst ein wesentliches Ziel: durch mehr Befriedigung in der Arbeit - was kompensatorischen Warenkonsum reduziert; durch eine demokratische, nicht am Profit und an der Konkurrenzfähigkeit, sondern an den konkreten Bedürfnissen orientierte Steuerung der Produktion - was den Zwang, ständige Überschüsse und damit wachsende Energieverbräuche zu generieren, aufhebt und eine Postwachstumsökonomie ermöglicht; durch den Ausbau kollektiven Konsums - was mehr Lebensqualität schafft bei weniger Energieverbrauch; durch eine Einschränkung des Statuswettbewerbs, der nach individuellem materiellen Zugewinn verlangt - was in größerer gesellschaftlicher Gleichheit resultiert.

Der Strukturumbau zu einer Solidarischen Postwachstumsökonomie erfordert das selbstorganisierte Engagement der Menschen und nach allem, was wir über soziale Kämpfe und den Aufbau von Perspektiven wissen, sind dafür Pioniergruppen und mutige Vorstöße von Minderheiten entscheidend. Der Staat kann den Umbau unterstützen, etwa indem er rechtliche Rahmenbedingungen schafft, damit Belegschaften Produktionsbereiche in demokratische und bedarfsorientierte Unternehmensformen überführen und sie in kooperative Netze der Steuerung von Produktion und Konsum einbetten können. Auf jeden Fall muss selbst unter günstigen Voraussetzungen, das heißt bei einer raschen Verbreitung sozialer Basisinnovationen mit der Gefahr einer Konterrevolution gerechnet werden. Ihr kann nur durch Brückenköpfe im Staatsapparat, von wo aus seine Integration in die Gesellschaft voranzutreiben wäre, vorgebaut werden. Dafür scheinen Erfahrungen in lateinamerikanischen Staaten, namentlich Venezuela, relevant.

Für einen solchen Strukturumbau wären Instrumente der demokratischen Wirtschaftslenkung hilfreich, die hier nur mit Stichworten angedeutet werden können und von Investitionsräten über Formen der Losdemokratie und demokratischer Banken bis hin zu partizipativen Budgets auf kommunaler Ebene reichen würden.

Unmittelbar scheint der Aufbau demonetarisierter, solidarischer Beziehungen vordringlich und die Stärkung der im globalen Norden fast nicht mehr vorhandenen Nischen der Autonomie, etwa was die Produktion von Nahrungsmitteln angeht. In einer multiplen Versorgungskrise, die man nach Peak Oil nicht ausschließen kann und die unter gewissen Annahmen sogar wahrscheinlich ist, steht das Leben vieler Menschen auf dem Spiel und breite Schichten würden von Verelendung erfasst. Will man in einer solchen Situation nicht die prekären und ganz unzureichenden Experimente mit Tauschkreisen wiederholen, die etwa in Argentinien nach der Krise 2000/2001 explodierten und die Marktwirtschaft auf äußerst niedrigem Kooperationsniveau und ohne jede soziale Sicherheit reproduzierten, so wird eine Alternative auf Basis umfassender Kooperation notwendig.

E-mail: andreas.exner@chello.at
fleissner@transform.or.at


Anmerkungen:

[1] http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Datei:Weltweite-Erd%C3%B6lproduktion-Grafik.png&filetimestamp=20070916131913

[2] http://omrpublic.iea.org/

[3] http://www.ag-friedensforschung.de/themen/Europa/strategie.html

[4] http://register.consilium.europa.eu/pdf/de/10/st05/st05842-re02.de10.pdf

[5] 2009/2198(INI), siehe
http://www.europarl.europa.eu/sides/getDoc.do?pubRef=-//EP//TEXT+TA+P7-TA-20100061+0+DOC+XML+V0//DE

[6] Wachstum des Kapitals ergibt sich, wenn der Überschuss erster Art (Profit) in die Erweiterung des Gesamtkapitals einer Nation reinvestiert wird. Eine weitere Möglichkeit des Wachstums - alternativ oder zusätzlich - besteht darin, mehr Output (Waren) pro Kapitaleinheit zu produzieren. Das ist auch bei gleichbleibendem Gesamtkapital möglich, indem man produktivere Ersatzinvestitionen tätigt.

[7] http://oe1.orf.at/artikel/264739

[8] http://www.pressetext.com/news/20110127010?source=js; Umfrage mit einer Stichprobe von 1.000 Personen, durchgeführt von TNS Emnid im Auftrag von partnersuche.de; PR-Mitteilung vom 27.01.2011

[9] http://www.transitionnetwork.org/

[10] http://de.wikipedia.org/wiki/Erd%C3%B6lf%C3%B6rderung_in_Deutschland

[11] http://portal.wko.at/wk/format_detail.wk?angid=1&stid=315875&dstid=308&cbtyp=1&titel=Die%2cMineral%C3%B6lindustrie%2cim%2cJahr%2c2010

[12] http://portal.wko.at/wk/format_detail.wk?angid=1&stid=315875&dstid=308&cbtyp=1&titel=Die%2cMineral%C3%B6lindustrie%2cim%2cJahr%2c2010

[13] http://www.wallstreet-online.de/nachricht/3201005-petrobras-erhoeht-verschuldung-enorm

[14] http://de.wikipedia.org/wiki/Deepwater_Horizon

[15] http://www.feasta.org/documents/risk_resilience/Tipping_Point.pdf

[16] http://www.stat.at/web_de/statistiken/land_und_forstwirtschaft/preise_bilanzen/versorgungsbilanzen/index.html

[17] http://www.ble.de/cln_099/nn_467972/SharedDocs/Downloads/06__Aktuelles/07__Publikationen/Broschueren/RegionaleGetreidebilanz,templateId=raw,property=publicationFile.pdf/RegionaleGetreidebilanz.pdf


Literatur:

Azzelini D. (2009): Venezuelas Solidarity Economy: Collective Ownership, Expropriation and Worker's Self-Management. WorkingUSA. The Journal of Labour and Society, 12: 171-191.

Azzelini D. (2010): Venezuela: Die konstituierende Macht in Bewegung. 10 Jahre Bolivarianischer Prozess an der Regierung. Arranca! #41
http://arranca.org/ausgabe/41/venezuela-die-konstituierende-macht-in-bewegung

Buttkereit, H. (2010): Utopische Realpolitik. Die Neue Linke in Lateinamerika. Pahl-Rugenstein.

Exner, A.; Lauk, C.; Kulterer, K. (2008): Die Grenzen des Kapitalismus. Wie wir am Wachstum scheitern. Ueberreuter, Wien.

Exner, A.; Fleissner, P; Kranzl, L.; Zittel, W. (Hg., 2011): Kämpfe um Land. Gutes Leben im post-fossilen Zeitalter. mandelbaum verlag (kritik & utopie).

Rubin, J. (2010): Warum die Welt immer kleiner wird. Hanser Verlag.

Schmelzer, M.; Passadakis, A. (2011): Postwachstumsökonomie. Krise, ökologische Grenzen und soziale Rechte. AttacBasisTexte 36, VSA-Verlag.

Seltmann, T.; Zittel, W. (2009): Trügerische Hoffnung. Sonne, Wind und Wärme 12/2009: 12-15.
http://www.energywatchgroup.org/fileadmin/global/pdf/2009_SWW_12_Erdgas_Seltmann.pdf

Zentrum für Transformation der Bundeswehr, Dezernat Zukunftsanalyse (ZfTdB, 2011): Streitkräfte, Fähigkeiten und Technologien im 21. Jahrhundert. Umweltdimensionen von Sicherheit. Teilstudie 1: Peak Oil. Sicherheitspolitische Implikationen knapper Ressourcen.
http://www.zentrum-transformation.bundeswehr.de/portal/a/ztransfbw

Zittel, W. (2010): Ressourcen. Assessment der Verfügbarkeit fossiler Energieträger (Erdöl, Erdgas, Kohle) sowie von Phosphor und Kalium. Teilbericht 1, Arbeitspaket 2 - Globale und regionale Rahmenbedingungen. Studie "Save our Surface", im Auftrag des Österreichischen Klima- und Energiefonds.
http://www.umweltbuero-klagenfurt.at/sos/wp-content/uploads/Teilbericht%201_SOS_Zittel_11012011.pdf

Zittel, W. (2011): Peak Oil and its Implications on Future Energy Availability, Kolloquiumsvortrag am Max Planck Institut für Plasmaphysik, Garching, 8. Juli 2011.
http://www.ipp.mpg.de/cgi-bin/vortrag?searchType=0&timeWarn=0&reverse=1&searchStart=1.1.1970&searchEnd=now&template=/afs/ipp/www/ippdata/vortraege/for_ver_back_con.template

Raute

Henning Fischer:

Erinnerung, Vergessen und das linke Geschichtsbewusstsein

"Lebe wohl für immer und behalte mich Unglückseligen nicht in schlechter Erinnerung."
Nikolai Bucharin an Stalin, 10. Dezember 1937


"Alles frühere ist historisch zu durchdringen."[1] Liest man diesen Satz von Walter Benjamin als Aufruf und nicht als Zustandsbeschreibung, formuliert er auch die Herausforderung, vor der eine kritische Beschäftigung der politischen Linken mit der Geschichte im Allgemeinen und der Geschichte der politischen Linken im Besonderen steht. In ganz grundlegendem Sinne gilt es, alles zu durchdringen, also beispielsweise auch zu verstehen, wieso Nikolai Bucharin während seines Prozesses, der am 13. März 1938 mit seiner Erschießung endete, an Stalin den berühmten Brief schrieb, aus dem das oben genannte Zitat stammt - und es gilt zu verstehen, warum er hoffte, dass Stalin ihn in guter Erinnerung behielt. Diese beiden Fragen werden hier nicht beantwortet werden können, sie sollen aber als Einstieg dienen für einige Überlegungen zu den politischen Phänomenen Erinnerung und Vergessen und zu ihrem Verhältnis zum Geschichtsbewusstsein der politischen Linken. Es wird im Folgenden um die Geschichte des Kapitalismus gehen, um dessen tagtägliche Reproduktion und um die nationale Geschichte, die Vergangenheit in Tradition verwandelt und entsprechend präsentiert. Zuletzt will ich fragen, wie sich vor diesem Hintergrund ein emanzipatorischer Bezug auf die Geschichte formulieren lässt, der der Falle entgeht, sich ihre Fragmente im Moment des Entreissens aus den Händen des herrschenden "Konformismus"[2] instrumentell anzueignen und damit ein romantisierendes Verständnis von der Vergangenheit zu entwickeln. Denn dies wäre ein Verständnis, das Erkenntnis weder über die Vergangenheit noch über die Gegenwart ermöglicht. Die Überlegungen unter 3.) sind vage und unfertig, ein Angebot zur Diskussion.[3]


1. Die Erinnerung an die ursprüngliche Gewalt[4]

Erinnern und Vergessen sind als individuelle und kollektive Vorgänge in der Reproduktion des Kapitalismus stets präsent - und auch für eine Kritik des Kapitalismus, die an seiner Überwindung interessiert ist, spielen sie als Zustandsformen des (politischen) Bewusstseins eine wichtige Rolle. So kritisiert Karl Marx im ersten Band des Kapital den bürgerlichen Ursprungsmythos des Kapitalismus, demzufolge das unternehmerische Geschick eine "sogenannte ursprüngliche Akkumulation" und damit den Aufstieg des Bürgertums auslöste.[5] Marx stellt dagegen die Beschreibung der gewalttätigen Transformation der englischen Gesellschaft von einer feudalistischen zur kapitalistischen. Die herrschaftlich organisierte Gewaltaktion, die auf ökonomische Veränderungen reagierte und dafür Menschen brutal entrechtete und dem Kommando des Kapitals unterordnete, wird vergessen in der interessierten Erinnerung der ErbInnen der GewinnerInnen dieser Entwicklung zur Erfolgsgeschichte der sparsamen Elite und zur Mär von der selbstverschuldeten Armut der FaulenzerInnen.

Dieselbe Form des Vergessens der Gewalt findet sich im kolonialen Kontext. Marx beschrieb für seine Zeit, wie in der globalen Zirkulation von Kapital die Gewalt seiner Herstellung unsichtbar wurde: "Manch Kapital, das heute in den Vereinigten Staaten ohne Geburtsschein auftritt, ist erst gestern in England kapitalisiertes Kinderblut."[6] Die Verwandlung von Gewalttat in Kapital spielte sich auch in entgegengesetzter transkontinentaler Richtung ab. Die brutale koloniale Gewalt, die in Mittel- und Südamerika den Massenmord mit der Ausbeutung von Rohstoffen verband, wird bis heute als glänzende Trophäe der genialen europäischen Entdecker erinnert. Sie hat ihre Symbole in Orten wie der Silbermine von Potosí im heutigen Bolivien, in der ab dem 16. Jahrhundert Millionen von Indigenen bei der Förderung des Silbers starben, das dann in das verschuldete Spanien verschifft wurde.

An Beispielen wie dem von Potosí wird deutlich, dass bereits im Begriff des Handels dieser Zeit zweierlei vergessen wird: Erstens, dass dieses Silber nicht "entdeckt", sondern durch tödliche Zwangsarbeit der Erde entrissen wurde. Zweitens, dass es gerade dieses Silber als kapitalisiertes Blut war, das den Entwicklungsschub des europäischen Frühkapitalismus möglich machte.[7] Die (Nicht-)Erinnerung der genozidalen Rohstoffgewinnung ist hier nur ein Beispiel für eine grundlegende Struktur des Selbstbewusstseins im Kapitalismus: Im kapitalistischen Alltagsverfahren wie in der herrschenden Präsentation seiner Vergangenheit verschwindet die menschliche Gewalt und entsteht das Bild der kapitalistischen Gegenwart als Naturnotwendigkeit, in deren Rahmen Menschen selbstverantwortlich gut leben oder selbstverschuldet früh sterben.


Der Fetisch als Verdrängung der Erinnerung

Auf das Vergessen der geschichtlichen Gewalt des Kapitalismus folgt seitdem eine ständige doppelte Reproduktion: die Wiederherstellung des Kapitalismus und des Vergessens. "Vergessen" ist hier, ebenso wie "Erinnerung", eine Metapher, die aus der Welt des Individuums stammt. Konkret ist damit zum Einen die strukturelle und reproduzierte Weltwahrnehmung (der Fetischcharakter) gemeint, zum Anderen das politische Unsichtbarmachen durch politische Fraktionen, abhängig von politischen Dynamiken. Gesellschaftliches Vergessen ist ein Vorgang, der meist nur das Licht löscht, nicht den Gegenstand selbst. 'Erinnerung' und 'Vergessen' sind in diesem Sinne nur verschiedene Namen für die Benennung desselben Dings: des Bilds, das sich die Gegenwart von der Vergangenheit macht. In diesem Bild ist das Eine unsichtbar, weil das Andere zu sehen ist: Vergessen ist "ein Produkt der Erinnerung."[8]

Die Stars der glamourösen Welt der kapitalistischen Selbstrepräsentation: die Ware, das Geld, der Profit, sie alle unterdrücken "the memory of the labor and suffering that made capitalism possible"[9]. Im Zentrum dieser Welt steht die Ware, die als natürliches Vehikel menschlicher Bedürfnisbefriedigung erscheint[10] und deren spezifischer Entstehungsprozess in der kapitalistischen Produktion nicht angeschaut wird: "[T]he forgetting of these social relations in the commodity is thus the origin of [...] reification."[11] Es ist kein Orwell'sches Ministerium der Erinnerung, das das Vergessen organisiert, sondern die Subjektform der kapitalistischen Vergesellschaftung, die für alle Individuen ein Alltagsbewusstsein herstellt, das Erinnerung in den toten Winkel des Blicks auf die Welt verschiebt. Wir sind die Subjekte des Vergessens: "By forgetting that exchange value is ething purely social' [...], we forget that objects have their power of amortization and capitalization only if labor power is invested in them."[12] Das Vergessen heute beruht also auf einer Denkform, die in den Subjekten des Vergessens liegt, und die selbst eine ständige Wiederherstellung des Vergessens ist. In Gestalt dieser Subjekte kommt das Vergessen des Kapitalismus und, wie wir gleich sehen werden, das nationale Vergessen zusammen.

Die Naturalisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse erfolgt, weil der historische Prozess ihrer Entstehung vergessen ist - in diesem Sinne ist die Verschleierung also ein Vorgang des Vergessens, sowohl der historischen Entstehung des Kapitalismus, als auch seiner tagtäglichen Reproduktion.[13] Der Fetisch als naturalisiertes Alltags-Bewusstsein übereignet seinen gewalttätigen Ursprung dem gesellschaftlichen Vergessen und verhindert dadurch ein Verständnis sowohl der historischen Entstehung des Kapitalismus als auch von dessen Gegenwart. Diese unverstandene, weil in diesem Verständnis vergessene Gegenwart ist auch unsere. (Die Rettung liegt folglich in der Erinnerung - dazu später mehr. Denn gleichzeitig liegt sie dort auch gerade nicht.)

Die Sicht auf die kapitalistischen Dinge, die diesen ihren realen Schein abkauft, etwa den, dass aus Kapital im Zins ohne Weiteres mehr Kapital werden kann, macht den Kapitalismus zur Natur, indem sie "die Erinnerung an seinen Ursprung"[14] auslöscht. Ohne diese Erinnerung an den Ursprung erscheint der Kapitalismus als frei getroffene und ewig währende vertragliche Übereinkunft zwischen ArbeitgeberIn und ArbeitnehmerIn und nicht als endlos reproduziertes Ergebnis einer ursprünglichen brutalen Verwandlung von Bauern und Bäuerinnen in ArbeiterInnen. An diesem Punkt könnte der Blick zurück schon als ausreichende politische Antwort auf die Produktion des Vergessens im Kapitalismus erscheinen. Denn die Behauptung dieser Welt, sie sei natürlich und notwendig, sollte durch den Verweis auf ihre geschichtliche Entstehung und durch die Erinnerung an den alltäglichen gewalttätigen Prozess schon erschüttert sein. So einfach ist es aber leider nicht, wie unter anderem die Beschäftigung mit der nationalen Nutzbarmachung der Erinnerung zeigt.[15]


2. Vergessen im Kapitalismus und die Tradition der Nation

Das Vergessen im kapitalistischen Alltagsbewusstsein und in der Sicht der bürgerlichen Gesellschaft auf ihre Geschichte sind eng miteinander verwandt und darüberhinaus über ihre historische Entstehungsgeschichte verbunden. Dies bedeutet keine mystische Wesensgleichheit, sondern eine Strukturanalogie, die hermeneutisch und politisch aufgegriffen werden kann.[16]

Wie das Kapitalverhältnis die konkrete Arbeit und ihre konkreten Produkte im Warentausch gewaltsam gleichsetzt und damit in ihrer Besonderheit unsichtbar macht (es bleibt das Kapital als Ursprung seiner eigenen Vermehrung), beraubt auch die klassisch historistische Sicht auf die Geschichte den einzelnen Moment seiner Besonderheit und seiner Möglichkeiten und homogenisiert ihn in die leer voranschreitende Zeit seiner bürgerlichen Geschichtsvorstellung. Dies trifft ebenso zu auf die gegenwärtige Alltagssicht auf die Geschichte, in die der Historismus vulgarisiert eingesunken ist. Der Historismus hat seine Zeitvorstellung blind vom Kapitalverhältnis übernommen: So wie die vorgebliche Objektivität des historistischen Blicks auf die Vergangenheit die einzelnen Geschehnisse durch die Linearität einebnet und ihrer Möglichkeiten beraubt, zum gleichförmigen Ding auf der nationalstaatlichen Zeitleiste macht, so unterstellt die kapitalistische Produktion durch den Tausch das Leben der Menschen der verdinglichenden Warenproduktion - macht sie vergleichbar und die Entfaltung ihrer Unterschiedlichkeiten und Potenzen unmöglich.[17] Das Einschmelzen der Besonderheit des Gegenstands markiert die strukurelle und historische Verbindung von Kapitalverhältnis und nationalem Historismus: Unsichtbar ist der Prozess, der die Nation und die Ware in der Vergangenheit erst herstellte und unsichtbar ist die zukünftige Möglichkeit, dass alles anders wird.

Folglich erfordert eine Kritik des Kapitalismus und der Herrschaft in Gegenwart wie Vergangenheit die Erinnerung an die Gewalt, die die ursprüngliche Herstellung der kapitalistischen Welt bedeutet hat, ebenso wie die 'Erinnerung' an den gesellschaftlichen Prozess, der als kapitalistisches Ding erscheint, "to remember the labor and the laborers invested in the product"[18]. In diesem Sinne hat historische Erkenntnis das Potenzial, das gesellschaftliche "Gestrüpp [...] des Mythos"[19] zu lichten und so den historischen Gegenstand deutbar zu machen. Historische Erkenntnis als Erinnerung an die geschichtliche Entstehung des Kapitalismus und den kapitalistischen Prozess, der dem Resultat vorgängig ist, ist eine Bedingung der Befreiung in einer Welt, die das Wissen um ihren Entstehungsprozess dem Vergessen überlassen hat.

Es scheint, als säße der Gegenstand in der Ecke, unbeweglich weil bereits geschehen, kauernd, und wartend auf den Lichteinfall.[20] Wenn Vergessen das Unsichtbarmachen als Ablehnung des Gegenstands meint, muss sich Erinnerung also als entgegengerichtete Annahme verstehen. Es geht um das Drehen, Wenden und Deuten, das den Gegenstand, der bereits geschehen ist, politisch im Heute aufbewahrt und wirkmächtig macht in einer Gegenwart, die auch durch seine Wirkung Geschichte werden soll. Dabei ist klar, dass, auch wenn "[i]m Zeitalter der Industriekultur [...] das Bewusstsein in einem mythischen, einem Traumzustand [existiert], dem nur durch die historische Erkenntnis als einzigem Gegenmittel abgeholfen werden kann"[21], die historische Erkenntnis die Zutat der theoretisch-systematischen Durchdringung benötigt. Keine Gegenwart erklärt sich nur durch die Beschreibung ihres Werden.

Die kritische Erinnerung ist das wichtigste Instrument, um der "geheimen Waffe des Kapitalismus - der Massenproduktion des Vergessens"[22] entgegenzuwirken. Sie ist als Betrachtung der Geschichte notwendig, weil sie das Vergangene anschaut und damit das dem Resultat Vorgängige; was in der Selbstrepräsentation der kapitalistischen Gesellschaft und in der Geschichte der Nation ausgelöscht wird ist jeweils der Prozess, der den Zustand herstellte. Ist dieser Charakter der sozialen Konstruktion aber erkannt, ist ein wichtiger Schritt zur Auflösung von Fetisch und Mythos getan. Angebliche geschichtslose Natur kann nur dann als prozesshafte Kultur kritisiert werden, wenn sie als diese benannt wird. Gefragt ist im Sinne von verbundener Kritik von Gestern und Heute, von ursprünglicher Akkumulation und aktuellstem Produktionsprozess die Rekonstruktion des vergessenen Geschehens im Hier und Jetzt, also die Erinnerung der Gegenwart. Allerdings ist mit der Erinnerung als Aufheben des geschichtlichen Gegenstands noch längst nicht alles getan. Denn gerade die nationale Geschichte arbeitet nicht nur mit der Organisierung des Vergessens, sondern auch mit der Erinnerung als einem Vehikel der Nationalisierung.


Nationale Präsentation der Geschichte: Erinnern im Dienste des Vergessens

Eine einträgliche Sparte in der kapitalistischen Massenproduktion des Vergessens firmiert unter dem Namen Nation. Nationale Geschichte ist als einund ausschließender Bezugsrahmen, innerhalb dessen die Vergangenheit präsentiert wird, nicht nur zentral für die Art und Weise, wie Geschichte uns (als nationale) vorkommt, sondern in dieser Eigenschaft auch ein wichtiger Teil nationaler Tagespolitik. Die nationale Präsentation der Geschichte interpretiert das Vergangene unter den Vorzeichen von Vorgeschichte, Aufstieg, Fall und Wiedergeburt der Nation und sortiert nach diesen Maßgaben geschichtliche Ereignisse. Die Nation gilt als konstitutive Interpretationsgrundlage und Rahmen der sozialen Prozesse, die in der Gegenwart der jeweils aktuellen Nationalgeschichte ihr Ziel gefunden haben. Was in dieses Schema nicht passt oder in diesem nicht umdeutbar ist, fällt heraus oder wird zur Fußnote der Erzählung, die mit der "natural and total unity"[23] der Nation endet. Über das Schema der Katharsis können in diese Verwandlung der Vergangenheit in die nationale Tradition auch negative Episoden integriert werden: "the moment of rupture" gilt dann als "moment of national awakening"[24]. Das, was als soziales Problem der Gegenwart des Kapitalismus beschrieben werden müsste, wird in die voranschreitende Zeitlichkeit der Nation verschoben, in der auch deren Lösung versprochen ist.

Diese Form der Ignoranz gegenüber der 'nichtnationalen Vergangenheit' ist allerdings nur eine Variante nationalen Vergessens. Die sozialen Konflikte, die aus sich selbst heraus deutlich gegen das Heilsversprechen der Nation Einspruch erheben, werden nicht nur unter den Teppich gekehrt, sondern auch als Problem der Unvollständigkeit der Nation reformuliert. "National history cannot simply erase such nonnational aspects of the past"[25], weil diese in ihrer Wiederkehr die historische Zufälligkeit der Nation allzu grell herausstreichen, würden. Deswegen erfolgt die nationale Repräsentation des potenziell Widerständigen, eine diskursive Umarmung, die nationalisiert.[26]

So ist das Vergessen in der kapitalistischen Nation nicht nur eines der Abwesenheit. Alternativ kann das jeweilige Ereignis in den Triumphzug der herrschenden Repräsentation der Vergangenheit eingebettet werden. Dieser Vorgang, darauf hat unter anderem Walter Benjamin hingewiesen, ist gefährlich: "Die Art, in der es als 'Erbe' gewürdigt wird, ist unheilvoller als seine Verschollenheit es sein könnte."[27] Unheilvoller ist die Würdigung, weil das Bestehende von der produktiven Indienstnahme einen zusätzlichen Nutzen hat, der außerdem der Kritik im Gegenstand, der gewürdigt wird, einen potentiellen Alliierten stiehlt. In der Form der Würdigung ist "selbst das Vergangene [...] nicht mehr sicher vor der Gegenwart, die es nochmals dem Vergessen weiht, indem sie es erinnert."[28] Das bedeutet: Der einzige Ausweg aus der Zwickmühle von totalem Vergessen und vergessender Würdigung ist das Aufheben des verschollenen Moments der Vergangenheit, das diesen gleichzeitig auf seine letzten Endes revolutionäre Bedeutung hin befragt, auf seine Möglichkeiten zur Sprengung des Kontinuums, die verhindern, dass er in das Museum der Nation integriert wird.[29] Das letzte Ziel sollte also nicht das Auffinden einer bis dahin übersehenen Quelle sein, das muss eine kritische Geschichtsauffassung sowieso, von Kindesbeinen an machen. Im Sinne von Walter Benjamins "Jetzt der Erkennbarkeit"[30] geht es vielmehr um die aufblitzende Bedeutung der Vergangenheit für die jeweilige Gegenwart, die, sofern sie erhascht werden kann, dann der revolutionären Politik zugute kommt.[31]


3. Was tun - Erinnerung und Eingedenken

Hannah Arendt ruft in ihrem 'Besuch in Deutschland' aus: "Aber das ist doch alles nicht wirklich - wirklich sind die Ruinen; wirklich ist das vergangene Grauen, wirklich sind die Toten, die ihr vergessen habt."[32]

Wirklich sind die Toten, die ihr vergessen habt: Dies gilt insbesondere vor dem oben beschriebenen Hintergrund einer fetischisierten Weltwahrnehmung, die den Schein kapitalistischer und nationaler Vergesellschaftung für wirklich hält und (deswegen) die Ruinen und die Toten vergisst - und zwar sowohl diejenigen, für die der Nationalsozialismus verantwortlich zeichnet und von denen Arendt spricht, als auch diejenigen, die sich vor Benjamins Engel der Geschichte auftürmen und die Ergebnis der "kontinuierlichen Katastrophe"[33] der kapitalistischen Moderne sind. Das Vergessen ist also der Vorgang, in dem der "landläufigen Darstellung" die Momente des Unvollendeten und damit die Momente der Möglichkeit des Anderen "entgehen"[34]: Die 'Vegesslichkeit' der Nationalgeschichte in einer Welt der Nationen.

Vielleicht bietet sich in Walter Benjamins Begriff des Eingedenkens eine Möglichkeit, eine Sicht auf die Vergangenheit, der nichts "entgeht", weil sie aus der blinden Kontinuität ausbricht, zu verbinden mit einer politischen Praxis der Gegenwart, die von der Geschichte weiß, sie aber nicht instrumentalisiert. Eingedenken ist eine "die Gegenwart transformierende Erinnerung", es komplettiert als politische Praxis die wissenschaftliche Forschung: was die letztere als Resultat der Untersuchung festhält, kann die erstere verändern. Entscheidend ist allerdings auch hier, das noch nicht viel gewonnen ist, sollte es auch gelungen sein, einen zuvor verschütteten Aspekt der Vergangenheit gegen den Konformismus sichtbar zu machen. Es ist nach Benjamin nämlich gerade nicht "die Aufgabe des Historikers, das Vergangene zu 'vergegenwärtigen'", sondern, darüber hinaus gehend, aus der Verbindung des Gewesenen und des Aktuellen den Charakter der Herrschaft zu erkennen und damit auch die Möglichkeit auf gesellschaftliche Befreiung.[35] Eine kritische Geschichtsbetrachtung müsste also immer auf das Kontinuum selbst und die aktuelle Herrschaft verweisen, gegen die das Bruchstück ausgegraben werden musste. So wären im Eingedenken "die Befreiungsmöglichkeiten der Gegenwart mit denen der Vergangenheit" zusammengebracht.

Es scheint, als müsse gegen einen Zustand der organisierten Bewusstlosigkeit die Erinnerung erst erobert werden. Sie ist als (nationaler) Mythos, der zwar herrschaftlich orchestriert, aber auch vielen aus der Zielgruppe willkommen ist, "Opium des Volkes"[36], aber potenziell - als Eingedenken der Unterdrückten - Munition im Arsenal der Befreiung. Weitere Probleme, die bei diesem Vorhaben anzutreffen sind, will ich im Folgenden skizzieren.


3.1) Erster Einwand: Gegen die "eigene Geschichte" der Linken

Die allgemeine linke Sicht der Geschichte lässt sich in etwa so beschreiben: Die Herrschenden schreiben die Geschichte in ihrem Interesse und wenden sie gegen die sozialen Kämpfe; zu diesem Zweck lassen sie bestimmte Geschehnisse der Vergangenheit aus, überbewerten andere und denunzieren das, was ihnen nicht passt. Dagegen müsse eine linke Geschichte ihre "eigene" Vergangenheit in den Blick nehmen und so die "verdrehte" Geschichte geraderücken. "Gegen das Vergessen" muss also die tatsächliche Geschichte hervorgeholt, erinnert werden.

Diese binäre Positionierung zeigt sich in der Sprache des linken Geschichtsbewusstseins: "Geschichte von unten" gegen die "Geschichte der Sieger", "Remembering means fighting", "A people's history", "Gegen das Vergessen", "Gegen jeden Geschichtsrevisionismus", und so weiter. Es geht stets darum, ein tatsächliches Bild der Geschichte der herrschenden Bildproduktion, "dem Konformismus abzugewinnen"[37], und sich damit die "eigene[...] Geschichte"[38] anzueignen. Allzu oft gestaltet sich diese Rückbesinnung als linke Geschichtsromantik, die sich strukturell nicht vom üblichen Vergangenheitskitsch unterscheidet: gegen die Kontinuität des Bestehenden wird schlicht eine eigene Kontinuität behauptet.

Es stellt sich nun die Frage, in welches Verhältnis man zur "eigenen" Geschichte tritt, sobald man sie der herrschenden Repräsentation abgerungen hat - und damit sich selbst angeeignet hat. Denn im Grunde tritt eine solche Geschichtsbetrachtung in das gleiche Gewaltverhältnis, das eine nationale Erzählung zur Vergangenheit hat: sie wird in die eigene Tradition verwandelt. Dazu kommt, dass sich derart die eigene Exklusivität derer reproduziert, die über die linke Geschichte sprechen, z.B. die einer männlichen, weißen Perspektive.[39]

Zwischen dem gegenwärtigen politischen Selbst und dem geschichtlichen Ereignis (den Revolutionen von 1918 oder 1936, dem 1. Mai 1987, Rosa Luxemburg, "Che" Guevara, Benno Ohnesorg, ...) wird eine geschichtliche Wesensgleichheit erkannt, die im Kern ein imperiales Verhältnis zwischen Gegenwart und Vergangenheit begründet.[40] Die Gefahr lauert dort, wo eine historische Identität hergestellt wird. Dies ist der Fall, um ein Beispiel unter vielen herauszugreifen, wenn von der "ersten Jugendantifa" gesprochen wird, die zwischen 1930 und 1933 in Berlin aktiv gewesen sei, wenn Walter Neumann, der in dieser Zeit in Kreuzberg von der SA erschossen wurde, als "Silvio Meier der Weimarer Republik" bezeichnet wird und in Hans Hoffmann, einem SA-Mann, der 1931 an den Folgen einer Auseinandersetzung "mit der Antifa" starb, der 1992 zu Tode gekommene DLVH-Funktionär Gerhard Kaindl in der Vergangenheit wiederaufersteht.[41] Die geschichtliche Eigenständigkeit des Ereignisses wird vom politischen Ziel der Operation der Gegenwart gestutzt, um so in handlicher Form dienstbar zu sein. Das ist einerseits ein Gewaltverhältnis, und andererseits eines, das im Akt des Identisch-Machens die Analyse der Gegenwart vernachlässigt und sich auf die schlichte Macht der historischen Assoziation verlässt.[42] Der Kurzschluss mit der Geschichte, in der "was ging", ist umso verlockender, wenn diejenige Vergangenheit, mit der die Gegenwart identifiziert wird, im Ruf steht, in bestimmten Aspekten aufregender, also mehr von Tat und Handlung geprägt gewesen zu sein; wenn es heißt, sie sei Geschichte gewesen, die gemacht wurde, ein geschichtlicher Moment, in dem es voran ging. (Entsprechend die jüngste Begeisterung von einigen antifaschistischen Gruppen in Berlin und Umgebung, sich mit der heroischen (und militärischen) Begleitmusik des historischen Slogans "Rotfront!" zu schmücken.)

Die Identifizierung von Silvio Meier und Walter Neumann bringt aber tatsächlich keine politische Erkenntnis, sondern schießt 60 Jahre historische Entwicklung aus dem Bild, entfernt sie aus dem Material, mit dem wir versuchen können, die Welt zu verstehen. Dazu kommt, dass es hier nicht heißt: "Silvio Meier - der Walter Neumann der Berliner Republik", wodurch schlicht eine Kontinuität, eine fortschreitende Gleichheit behauptet würde. Es wird durch die umgekehrte Variante noch eine geschichtsverzerrende Schippe draufgelegt. Denn dadurch, dass Silvio Meier hier auf eine Zeitreise in die Vergangenheit zurückgeschickt wird, ist das Berlin von heute nicht nur im Wesentlichen eine verlängerte Version des Berlins der 1930er, sondern andersherum das Berlin der 1930er auch nur eine alte Version der Gegenwart - und entsprechend in gleicher Weise zu verstehen.

Es wurde schon oft festgestellt, dass die GegnerInnen des Bestehenden im Versuch, in den herrschaftlichen Prozess des "Geschichte-Machens" einzugreifen, seine Verfahren übernahmen und nur eine andere Version der katastrophalen Geschichte hervorbrachten. Dies gilt aber auch für das Feld des "Geschichte-Schreibens".[43] Es genügt nicht, den geschichtlichen Gegenstand aus der bürgerlichen Repräsentationsmaschine zu entnehmen und ihn dem Prokrustesbett "eigene Geschichte" zu überlassen. Der Zugriff erfolgt auf einen anderen Inhalt, die Form der Geschichtsaneignung bleibt aber die gleiche, nämlich eine, die die Gegenwart durch die behauptete Kontinuität an die Vergangenheit kettet. "Auch damals wurde gekämpft!" - schon die (Jugendantifa in der) Vergangenheit wollte, so heißt es dann, die andere Gegenwart, für die heute ungebrochen in der im Grunde gleich eingerichteten Welt weitergefochten wird. Auch die Gegen-Konstruktion der linken Sinnhaftigkeit der Geschichte[44] ist eine Aneignung der Geschichte - und im Wort 'Aneignung' liegt hier schon die Gewalt, die von der Gegenwart ausgeht.

Vielleicht macht es Sinn, den instrumentellen Bezug auf die "eigene Geschichte" und ihre 'Lehren' aufzugeben und sich eher zu beziehen auf die "Solidarität", die nach Walter Benjamin zwischen der jeweiligen geschichtlichen Epoche und der Gegenwart der Zurückblickenden bestehen sollte.[45] Eine solche Solidarität wäre ein Verhältnis der Kooperation, kein gewaltsam hergestelltes; es beruhte auf der durch Eingedenken ermöglichten Verbindung zweier unterschiedlicher geschichtlicher Subjekte - dem "wahrgenommenen Gegenstand" und dem "wahrnehmenden Organ"[46]. Unterschiedlichkeit statt Identität - Kooperation statt Aneignung - Distanz statt Nähe.


3.2) Zweiter Einwand: Geschichte ist immer die der Anderen

Was könnte es geben anstelle einer linken Aneignung der Geschichte, die der Linken vom Bestehenden scheinbar aufgezwungen ist? Ein Gedanke von Emmanuel Levinas könnte helfen, einen solidarischen Umgang mit der Vergangenheit zu formulieren. Die Kritik an der ontologischen Identifizierung der Welt mit dem westlichen "Ich" führte Levinas dazu, seine Ethik des "Anderen" auch in die Vergangenheit zu wenden. Als Instanz der Selbstreflexion ist der "Andere" nicht nur auch in der Vergangenheit präsent, sondern darüberhinaus ist Vergangenheit selbst niemals die eigene, sondern immer die des "Anderen".[47]

Der Ursprung dieser Distanz, durch die Geschichte eine andere ist, liegt in der Spaltung, die der "geschichtlichen Tat"[48] im Moment ihrer sprachlichen Repräsentation widerfährt. Das Verhältnis von Ereignis und seiner Narration ist eines der Verbundenheit in der Verschiedenheit. Sie können zusammenkommen (z.B. in der bewussten Erinnerung), dies allerdings aus vollständig getrennten Sphären: dem Geschehen und der ständigen "Wiedergeburt" in Erinnerung und politischer Aktion. Diese Trennung ist sicherlich keine neue Erkenntnis, wichtig scheint mir aber ihre Übersetzung in die politische Aneignung der Geschichte.[49] Denn ihr entsprechen die getrennten Sphären der linken Geschichte und ihrer Gegenwart, die fatalerweise oftmals in der Überreaktion auf das herrschende Vergessen mit der Identifizierung des tatsächlich kategorial Unterschiedlichen überbrückt werden. Statt solcher Identifizierung könnte stattdessen das Konzept der historischen Solidarität Verbundenheit in der Verschiedenheit heißen; so würde die 'Spaltung', die auch zwischen (dem Ereignis) der 'linken Geschichte' und der linken Rückerinnerung besteht, anerkannt. Ein Geschichtsbewusstsein, dass von dieser Verschiedenheit weiß, artikuliert das Vergangene im Versuch, es selbst sprechen zu lassen.[50]

Es geht also um eine linke Bezugnahme auf Geschichte, die von der Autonomie des geschichtlichen Ereignisses ausgeht, anstatt sich der vergessenen Geschichte zu bemächtigen, damit sie einen politischen Zweck erfüllt, "denn Herrschaft und Benutzung ist ein Begriff, hier wie überall."[51] Sie sollte sich nicht nur nicht mit der Geschichte identifizieren, ihr gleich sein; sie kann auch keine Geschichte als die ihre beanspruchen. Geschichte wird immer eine andere sein und bleiben. Es sollte also heißen: "Keine Versöhnung mit der Geschichte!" - und das trifft auch auf die von der bürgerlichen Geschichtsschreibung ausgeschlossenen Ebenen der Vergangenheit zu. Die historische Solidarität als Kooperation mit der Vergangenheit ließe dagegen Vakanzen für die Weiterentwicklung linker Geschichte auch im Bewusstsein der eigenen Ausschlüsse des 'linken Mainstreams'.

Anders als der Geschichtsnationalismus, der die geschichtlichen Fragmente zur kontemplativen Herstellung nationaler Kontinuität nutzt (negativ als "Mahnung" oder positiv als "Würdigung" inszeniert), müsste ein kritisches Geschichtsbewusstsein die kritisch erzählte Geschichte von sich selbst trennen und eine instrumentelle Eingemeindung vermeiden. Es ist gegen die politische-philosophische Praxis der Identifizierung auf die grundsätzliche Verschiedenheit zu verweisen: die Verschiedenheit der Individuen und ihrer Taten (die beide eben nicht auf eins zu bringen, austauschbar, kommensurabel sind), die Verschiedenheit von vergangenem und gegenwärtigen Moment, die Verschiedenheit des Selbstbewusstseins von "wahrgenommenem Gegenstand" und "wahrnehmenem Organ" (Horkheimer).

In diesem Sinne mit der geschichtlichen Epoche "solidarisch" zu sein, bedeutet allerdings nicht, die Vergangenheit sich selbst zu überlassen, sie im Grunde ebenfalls zu vergessen. Die Solidarität muss intensiv sein, aber dabei vermeiden, der Geschichte Gewalt anzutun, um sie in Anschlag zu bringen. Denn dies wäre gleichzeitig ein Vorgang, der das Verständnis der Vergangenheit unmöglich macht, weil er sie nur verkürzt wahrnimmt; ein Vorgang, der die notwendige Distanz eben nicht hat, weil er einen historischen short cut festlegt - z.B. 1918 zu 2011 -, der das historische Fragment herauslöst und zum Heute in Verbindung bringt, ohne auch dessen Umgebung und die historische Entwicklung zwischen den beiden Daten zu betrachten. Dies wäre ein Benjamin'sches "Heraussprengen" der Geschichte der Unterdrückten aus dem bürgerlichen "Kontinuum" im schlechtesten Sinne. Das Herauslösen aus der herrschenden Erzählung kann selbst nur 'Sinn machen', wenn es auch die "Schichten", die dabei "vorher zu durchstoßen waren"[52] angibt und damit das Andere, das zwischen Vergangenem und Aktuellem besteht.

Beschäftigung mit Geschichte ist immer das Nachzeichnen der verlustreichen Bahnen von ZeugInnenschaft zu Zeugnis, von verlorenem Moment zu Erinnerung. Mit Levinas' Ethik, die eine der fundamentalen Unterschiedlichkeit ist, sowohl im Hinblick auf das Subjekt als auch auf die Geschichte, wird betont, dass "the individual's engagement with other and the individual's representation of those engagements (events and the memory of events) cannot be made commensurate, but that their relation produces a kind of void."[53] Entsprechend und ins konkret Politische übetrragen, steht zwischen der Linken und ihrer Geschichte, die ihr eine Andere sein muss, also immer die Leere, der Raum des Bruchs zwischen dem Geschehnis (und dessen Subjekten) und der Erzählung (und dessen Subjekten). Statt eine neue Herrschaft über die Geschichte zu etablieren sollte also versucht werden, mit ihr als solidarischem Subjekt kooperativ umzugehen. Zur Illustration dieser Überlegungen sei an dieser Stelle ein altbekanntes Zitat von Karl Marx in die Überlegungen eingebracht.


3.3) Dritter Einwand: Die Kritik der Nachfolge

Auch die linke Variante der Zurichtung der Vergangenheit läuft in ihrem geschichtlichen Abgleich also erstens Gefahr, die Vergangenheit sich anzueignen und damit politisch zu verzerren,[54] und zweitens, durch romantische Gleichsetzungen 'Lehren' aus der Geschichte zu ziehen, die nichts als Unheil bringen. Im 18. Brumaire des Napoleon Bonaparte heißt es nun: "Die soziale Revolution des neunzehnten Jahrhunderts [...] kann nicht mit sich selbst beginnen, bevor sie allen Aberglauben an die Vergangenheit abgestreift hat." Und weiter: "Die Revolution des neunzehnten Jahrhunderts muß die Toten ihre Toten begraben lassen, um bei ihrem eigenen Inhalt anzukommen."[55]

Das Bild der Toten, die ihre Toten begraben, ist aus der christlichen Vorstellungswelt entnommen. Jesus begegnet an einer Stelle im Neuen Testament einem Mann, der ihm als Jünger folgen will, ihn aber bittet, zuvor seinen Vater begraben zu dürfen. Jesus antwortet: "Lass die Toten ihre Toten begraben; du aber gehe hin und verkündige das Reich Gottes!" (Matthäus 8,22, Lukas 9,60) Marx scheint diese Figur aus der Bibel in besonderem Maße beschäftigt zu haben.[56] Sie steht für eine vollständige Trennung von Vergangenheit und weltlicher Normalität auf der einen und Zukunft und utopischem Reich auf der anderen Seite. Um das eine zu erreichen, muss das andere aufgegeben werden. Marx verbindet diese rücksichtslose Aktivität mit den Revolutionen seines Jahrhunderts - wo die bürgerlichen Revolutionen den vollständigen Bruch nicht machen konnten, muss die proletarische Revolution den "Aberglauben an die Vergangenheit" endgültig abstreifen, die Toten also ihr eigenes Begräbnis begehen lassen, um das ganz Neue errichten zu können: die proletarische Revolution als Agent der letzten historischen Aufgabe. Die erwähnte Bibelstelle ist überschrieben mit dem Titel "Preis der Nachfolge" - und diese Formulierung umreißt auch das Problem des linken Geschichtsbewusstseins.

Jesus und der Marx des 18. Brumaire geben ihren Jüngern den Befehl, die Brücken zu ihrer persönlichen, bzw. gesellschaftlichen Vergangenheit abzubrechen, weil sie Ballast darstellen, der den Weg in das Paradies (auf Erden) verhindert. Der Preis der Nachfolge in das Paradies ist es, mit der Vergangenheit aufzuräumen und auf ihrem Platz stattdessen die paradiesische Zukunft zu erfahren. Der Befehl Christi an seine Jünger entspricht dem Befehl der Linken an ihre eigene Geschichte, in deren Nachfolge sie sich sehen. Zwar unterscheiden sich diese beiden Befehle dahingehend, dass Jesus (und Marx an dieser Stelle) den Bruch mit der Vergangenheit und damit das Vergessen fordern, während die Linke der Geschichte den Befehl erteilt, ihr zu dienen und sich damit die Erinnerung nutzbar macht.

An diesem Punkt könnte jedoch eine Kritik der Nachfolge darauf hinweisen, dass der linke Befehl an die Geschichte, selbst dann, wenn er nicht das Vergessen als Opfer fordert, ein autoritärer ist. Es ist der Befehl an die Geschichte, als die "eigene" der jeweiligen Aktualität zu gelten. Dadurch wird die Gefahr heraufbeschworen, die scharfsinnige Analyse der Gegenwart gegen die unscharfe Assoziation mit vage ähnlichen Situationen in der Vergangenheit einzutauschen. Die linke Geschichtsromantik bindet sich so an die dramatisch heroischen oder katastrophalen Episoden der Geschichte und beraubt sich ihrer Urteilskraft in der Gegenwart. Es herrscht an diesem Punkt tatsächlich ein Zuviel an Geschichte: "Statt 'folge mir nach' müsste es [...] vielmehr heißen: 'Folge dir selbst nach'"[57]. Erinnerung, die auf ein politisches Ziel ausgerichtet ist, thematisiert vor allem dieses und weniger von dem eigentlich aufzubewahrenden Gegenstand. Dagegen sollte stehen: die "bestimmte Distanz"[58] der historischen Solidarität als Anerkennung des Unterschieds zwischen Gestern und Heute. Denn es sind unterschiedliche geschichtliche Bedingungen, in denen der gewalttätige Zugriff die eigene Tradition erkennt. Ohne die Herrschaft der linken Tradition bliebe eine kritische Durchforschung der Vergangenheit, die diese ordnet und deutet, ohne sie sich unterzuordnen, sich von ihr speisen lässt auf dem Weg in eine offene Zukunft. Es geht um das Verfolgen einer solchen Grundidee, die "sich selbst" (Hegel) folgt, nicht einem mehr oder weniger verzerrt hergestelltem Bild der Vergangenheit. Geschichte kann in diesem Sinn nur 'lehren, dass die Gegenwart anders hätte werden können - nicht, wie man sich verhalten kann.[59]

Die Aneignung der 'eigenen Geschichte' ist gewalttätig, und sie verhindert Erkenntnis, weil sie ihre Hoffnung auf die pure Assoziation im Wiedererkennen der Gegenwart in der Vergangenheit legt, ohne weitere Analyse von Gegenwart (in ihrer Form als Gegenwart und als aktueller gewordener Zustand der Vergangenheit). Sie ist nicht nur ethisch als instrumentelle Gewalt der Vergangenheit gegenüber schädlich, sondern auch in der Gegenwart. Denn es wird schlicht der angenommenen revolutionären Kontinuität und ihren Höhepunkten nachgetrauert und die Gegenwart dadurch völlig verengt durch die Brille der revolutionären Höhepunkte angeschaut; sie ist eine linke Version der sonst bürgerlich üblichen "Verewigung von zeitlich Gültigem"[60]. Der Blick auf die Gegenwart geht ins Leere. Geschichte sollte deswegen nicht aus der bürgerlichen Indienstnahme in die eigene überführt, sondern tatsächlich herausgesprengt, in die solidarische Zeitlosigkeit entlassen werden.[61]

E-Mail: henningfischer@rocketmail.com


Anmerkungen:

[1] Benjamin, Walter: Das Passagen-Werk, hg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt/Main 1983, 1006 (F, 6).

[2] "In jeder Epoche muß versucht werden, die Überlieferung von neuem dem Konformismus abzugewinnen, der im Begriff ist, sie zu çberwältigen." These V der Thesen Über den Begriff der Geschichte. Schöttker, Detlev; Wizisla, Erdmut (Hg.): Arendt und Benjamin, Frankfurt/Main 2006, 99-121, hier: 105.

[3] Zu danken ist im Übrigen dem "Redaktionskollektiv zum Zerpflücken des nationalen Mythos-Gestrüpps", in dessen Kreis und in dessen kollektiven Diskussionsprozessen einige der hier vorgestellten Gedanken entstanden sind und das im Frühjahr 2012 im Verlag Westfälisches Dampfboot das Buch "Zwischen Ignoranz und Inszenierung. Zur Bedeutung des Mythos für die Politik der Nation" herausgeben wird. Es ist eben nicht unnötig zu betonen, dass Textproduktionen wie diese immer das Ergebnis von bewussten und unbewussten kollektiven Prozessen und Diskussionen sind, auch wenn wie in diesem Fall nur ein Name darunter steht.

[4] Fritsch, Matthias: The Promise of Memory. History and Politics in Marx, Benjamin, and Derrida, New York 2005, erstes Kapitel: Remembering the Instituting Violence of Capitalism, 15.

[5] "In einer längst verfloßnen Zeit gab es auf der einen Seite eine fleißige, intelligente und vor allem sparsame Elite und auf der anderen faulenzende, ihr alles und mehr verjubelnde Lumpen. [...] So kam es, daß die ersten Reichtum akkumulierten und die letztren schließlich nichts zu verkaufen hatten als ihre eigne Haut." Beide Marx, Karl: Das Kapital, Erster Band (=MEW 23), Berlin 2007, 741. Es überrascht nicht, dass die Reproduktion dieses Mythos in den denunziatorischen Sozialdebatten à la Westerwelle und Sarrazin nahezu wortgleich abläuft.

[6] Ebd., 784.

[7] Marx benutzt die Erinnerung an Potosí im Kapital im Übrigen nicht zufällig zweimal dazu, die brutalen Eigentumsverhältnisse des kapitalistischen Normalbetriebs deutlich zu machen. Im ersten Band stellt Marx fest, "daß die Minen des Elends von Häuserspekulanten mit mehr Profit und weniger Kosten ausgebeutet werden als jemals die Minen von Potosi". MEW 23, 687. Im dritten Band bemerkt er, dass "das Elend [...] für die Hausrente eine ergiebigere Quelle [ist], als die Minen von Potosi je für Spanien waren". Marx, Karl: Das Kapital, Dritter Band (=MEW 25), Berlin 2003, 781.

[8] Emrich, Hinderk M.; Smith, Gary: Über den Nutzen des Vergessens. Ein Caputher Gespräch, 265-288, in: dies. (Hg): Vom Nutzen des Vergessens, Berlin 1996, 267.

[9] Fritsch 2005, 168, Hervorhebung H.F.

[10] In dieser Funktion hat sie in der bürgerlichen Vorstellung der Liebe eine kongeniale Partnerin, die als Container für denjenigen Rest der Bedürfnisse funktioniert, von dem sich nicht mal die naivsten Fans dieser Welt vorstellen können, dass sie Warenform annehmen können: das kann man von Geld nicht kaufen. Gleichzeitig ist die Liebe der privat abgeschlossene Ort, an den die Hoffnung auf gesellschaftliches Glück hauptsächlich verschoben und vergessen wird. Vgl.: Marcuse, Herbert: Über den affirmativen Charakter der Kultur, in: ders.: Kultur und Gesellschaft 1, Frankfurt/Main 1980, 56-101, hier: 79.

[11] Beide Fritsch 2005, 163.

[12] Ebd., 164, meine Hervorhebung.

[13] Fritsch fasst diesen Umstand geschichtswissenschaftlich so: "[F]etishism - as the forgetting of social origins of exchange value and its amortization processes - blocks the understanding of the historical origins of capital formation" Fritsch 2005, 163.

[14] MEW 25, 837.

[15] Siehe die Ingetration des Holocaust in den deutschen Nationalstolz. Ein weiteres Beispiel für den Sinn und Unsinn von Geschichte als Argument ist die Debatte um die linksradikale Mobilisierung zum 3. Oktober 2011 in der BRD. Die historische Spezifik ist hier tendenziell entweder zugunsten einer formalistischen Kapitalableitung ausgeschaltet (Aufruf "The only PIIG's the System") oder zum isolierten und alleinigen Inhalt der Analyse überstrapaziert (Aufruf "Imagine there's no Deutschland").

[16] Entsprechend betonte auch Walter Benjamin das hermeneutische Erschaffen der Vergangenheit im Akt der Geschichtsschreibung. "Geschichte schreiben heißt nicht die Vergangenheit wiederfinden, es heißt sie erschaffen von unserer eigenen Gegenwart her." Benjamin, Walter: Gesammelte Schriften, hg. von Rolf Tiedemann und Gerhard Schweppenhäuser, Bd. I/1, Frankfurt/Main 1974, 222.

[17] "Historicism's 'objective' time line then reifies singular events and robs them of their specificity in the way that the uniform and linear temporality, risen to dominance with the modern form of production, commensurates labor and its products." Fritsch 2005, 168.

[18] Ebd.

[19] Benjamin, Passagen-Werk, 571 (N 1, 4).

[20] Es scheint nur so, denn tatsächlich ist der Moment der historischen Erkenntnis einer, in dem Gegenwart und vergangener Moment beidseitig aktiv in einer Konstellation zusammenkommen. "Nicht so ist es, dass das Vergangene sein Licht auf das Gegenwärtige oder das Gegenwärtige sein Licht auf das Vergangene wirft, sondern Bild ist dasjenige, worin das Gewesene mit dem Jetzt blitzhaft zu einer Konstellation zusammentritt." Benjamin, Passagen-Werk, 576f (N 2a, 3).

[21] Buck-Morss, Susan: Dialektik des Sehens. Walter Benjamin und das Passagen-Werk, Frankfurt/Main 1993, 8.

[22] Wohlfarth, Irving: Die Passagenarbeit, in: Lindner, Burckhardt: Benjamin-Handbuch, Stuttgart 2006, 254.

[23] "National history narrates the origin, progress, and setbacks of this process of coming together into natural and total unity." Hill, Christopher L.: National History and the World of Nations, Durham/London 2008, 73.

[24] Beide Hill 2008, 158.

[25] Ebd., 156.

[26] "The diverse, sedimented forms of identity, community and social practice [nd the new possibilities that appear in the interstices of nationalized society, all of which expose the contingent face of the nation form, must be unrecognizable as such." Ebd., 156, Hervorhebung H.F.

[27] Benjamin, GS I/3, 1242.

[28] Adorno, Theodor W.: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt/Main 2003, 52.

[29] Benjamins historischer Materialist "wendet sich an ein Bewusstsein der Gegenwart, welches das Kontinuum der Geschichte aufsprengt." Benjamin, Walter (1996): Eduard Fuchs, der Sammler und der Historiker, in: Opitz, Michael: Walter Benjamin. Ein Lesebuch, Frankfurt/Main, 627.

[30] Benjamin, GS I/3, 1243.

[31] Es geht um "das geschichtliche Bewußtsein eines Heute, in dem die Erinnerung an vergangene Generationen zusammenfließt und das zugleich bereits als radikale Neuheit erscheint". Moses, Stéphane: Eingedenken und Jetztzeit. Geschichtliches Bewußtsein im Spätwerk Walter Benjamins, in: Haverkamp, Anselm; Lachmann, Renate (Hg): Memoria. Vergessen und Erinnern, München 1993, 390.

[32] Arendt, Hannah: Zur Zeit. Politische Essays, Berlin 1986, 50.

[33] Notiz Walter Benjamins im Passagen-Werk: "Die Rettung hält sich an den Sprung in der kontinuierlichen Katastrophe." GS I/2, 683.

[34] "Der landläufigen Darstellung der Geschichte liegt die Herstellung einer Kontinuität am Herzen. Sie legt auf diejenigen Elemente des Gewesenen Wert, die schon in seine Nachwirkung eingegangen sind. Ihr entgehen die Stellen, an denen die Überlieferung abbricht und damit ihre Schroffen und Zacken, die dem einen Halt bieten, der über sie hinausgelangen will." Benjamin, GS I/3, 1242.

[35] Gagnebin, Jeanne Marie: "Über den Begriff der Geschichte", in: Lindner 2006, 284-300, hier: 299.

[36] Benjamin in einer Notiz nach einer harschen Kritik von Max Horkheimer: "Das Korrektiv dieser Gedankengänge liegt in der Überlegung, dass die Geschichte nicht allein eine Wissenschaft sondern nicht minder eine Form des Eingedenkens ist. Was die Wissenschaft "festgestellt" hat, kann das Eingedenken modifizieren." Benjamin, Passagen-Werk, 589 (N 8, 1).

[37] Benjamin, GS I/3, 1231.

[38] 'Befreiung' ist hier so diffus gemeint, wie Befreiung heute eben verstanden wird und verstanden werden kann.

[39] Thielen, Helmut: Eingedenken und Erlösung. Walter Benjamin, Würzburg 2005, 211. Vgl. hier auch: "Nicht um die Konservierung der Vergangenheit, sondern um die Einlösung der vergangenen Hoffnung ist es zu tun." Horkheimer, Max; Adorno Theodor W.: Dialektik der Aufklärung, Frankfurt/Main 2009, 5.

[40] Marx, Karl: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung, in: MEW 1, 378-391, hier: 378.

[41] Schöttker/Wizisla 2006, 105.

[42] "DIE LiNKE lernt aus der Geschichte. Anspruch linker, emanzipatorischer Politik ist es immer, aus der Vergangenheit, aus der eigenen Geschichte Schlussfolgerungen für Gegenwart und Zukunft zu ziehen, aus Erfolgen wie aus den Niederlagen."
http://www.die-linke.de/.../geschichte/071008_auseinandersetzung_geschichte.pdf, Hervorhebung H.F.

[43] Vgl. hier unter vielen die Kritik von Gayatri Spivak an der linken indischen Geschichtsschreibung der 1980er Jahre, den Subaltern Studies. Das Eigene der eigenen Geschichte war hier: der linke Mann, bzw. der aufständische Bauer und Landarbeiter.

[44] Matthias Fritsch beschreibt seine kritischen Überlegungen zu Erinnerung und Geschichte als "an attempt to overcome the idea of the imperial purview of the historian over the past". Fritsch 2005, 28, Hervorhebung H.F.

[45] So geschehen in einem Bericht über eine Veranstaltung zu Auseinandersetzungen von jungen Antifaschisten mit SA und Nationalsozialisten in Berlin in den frühen 1930er Jahren im September 2011 in Berlin: "Jugendantifa in Berlin der Weimarer Republik" [sic] http://de.indymedia.org/2011/09/315689.shtml. Silvio Meier war ein Aktivist der Ost-Berliner Häuserszene und wurde 1992 auf dem U-Bahnhof Samariterstraße von einem Neonazi erstochen. An ihn erinnert eine jährliche antifaschistische Demonstration. Ein halbes Jahr zuvor wurde der Funktionär der DLVH (Deutsche Liga für Volk und Heimat) Kaindl in einem Restaurant in Berlin-Neukölln bei einer Auseinandersetzung mit Antifas tödlich verletzt.

[46] Dazu noch einmal Benjamin: "Der geschichtliche Gegenstand, der der puren Faktizität enthoben ist, bedarf keiner 'Würdigung'. Denn er bietet nicht vage Analogien zur Aktualität, sondern konstituiert sich in der präzisen dialektischen Aufgabe, die ihr zu lösen obliegt." Benjamin, Walter: Eduard Fuchs, der Sammler und der Historiker, in: GS II/2, 479. Die Aufgabe im Hier und Jetzt liegt also in der Lösung des politischen Rätsels, wie in der Gegenwart mit dieser umzugehen ist, nicht im Aufmalen rührender Analogien zur Geschichte.

[47] "The call to responsibility in relation to a 'tradition of the oppressed' is not to be opposed to the victory in a binary fashion, but must precisely be seen as produced and carried along by this history" Fritsch 2005, 158.

[48] Es trifft also auf sie zu, was über die bürgerliche Geschichtsphilosophie gesagt wurde: "Indem Geschichtsphilosophie zeigen will, was mehr als der Fall sei, liegt darin der Form nach schon der Sinn, - noch ohne daß Geschichtsphilosophie ihn erst explizierte." Adorno, Theodor W.: Zur Lehre von der Geschichte und von der Freiheit, Frankfurt/Main 2001, 15.

[49] "In kraft dieser Konfrontation wird die jeweils abgehandelte Epoche mit der aktualen Gegenwart des Geschichtsschreibers solidarisch." Benjamin, GS I/3, 1233, Hervorhebung dort.

[50] Horkheimer, Max: Traditionelle und kritische Theorie, in: ders.: GS 4, Frankfurt/Main 1988, 162 - 216, hier: 174.

[51] Levinas "also attempts to establish that the past itself, in its most originary sense, 'is not my past, but the other's past'". Bernard-Donals, Michael: Forgetful Memory. Representation and remembrance in the wake of the Holocaust, New York 2009, 89.

[52] Marx, Karl; Engels, Friedrich: Die deutsche Ideologie (= MEW 3), Berlin 1969, 28.

[53] Ich danke an dieser Stelle der Redaktion der grundrisse für diese und weitere hilfreiche Anmerkungen.

[54] "Die Toten zum Sprechen bringen, darum ginge es, vorsichtig und ohne den Trick der Jahrmarktbudenbesitzerinnen, der Geisterbeschwörer, ihnen unsere eigenen Worte in den Mund zu legen." adamczak, bini: gestern morgen. über die einsamkeit kommunistischer gespenster und die rekonstruktion der zukunft. Münster 2007, 111, Hervorhebung H.F.

[55] Marx, Karl: Briefe aus den "Deutsch-Französischen Jahrbüchern", in: MEW 1, Berlin 1970, 337-346, hier: 339.

[56] Benjamin formulierte, dass der kritische "Forscher" von der Geschichte "nicht nur die Schichten angeben muß, aus denen seine Fundobjekte stammen, sondern jene andern vor allem, welche vorher zu durchstoßen waren." Benjamin, Walter: Ausgraben und Erinnern, in: Opitz, Michael: Walter Benjamin. Ein Lesebuch, Frankfurt/Main 1996, 17.

[57] Bernard-Donals 2009, 4.

[58] Die Qualifizierung politisch dient hier dazu, deutlich zu machen, dass eine narrative Verzerrung der Vergangenheit im Akt des Redens über sie unvermeidlich ist. Die politische Verzerrung aber geht darüber hinaus und richtet das Vergangene am Nutzen für die Gegenwart aus.

[59] Marx, Karl: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, in: MEW 8, Berlin 1978, 111-207, hier: 117.

[60] Marx schreibt im Mai 1843 an Arnold Ruge: "Laßt die Toten ihre Toten begraben und beklagen. Dagegen ist es beneidenswert, die ersten zu sein, die lebendig ins neue Leben eingehen; dies soll unser Los sein." Marx, Karl: Briefe aus den 'Deutsch-Französischen Jahrbüchern', in: MEW 1 337-346, hier: 338.

[61] So zitiert Horkheimer Hegel. Zit. n.: Horkheimer, Max: Anfänge der bürgerlichen Geschichtsphilosophie, Frankfurt/Main 1971, 53f.

Raute

Gerald Raunig:

Molekulare Revolution

[Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Der Beitrag wurde nicht in den Schattenblick übernommen.]

Raute

Thomas Seibert:

Ontologie der Revolution

Elf Thesen zum PRAXIS-Zirkel - heute*

Der folgende Text basiert auf einem Vortrag für die Konferenz zur jugoslawischen PRAXIS-Philosophie, zu der die Rosa Luxemburg Stiftung in diesem Oktober nach Korcula geladen hatte. Auf dieser Insel vor der kroatischen Küste fanden zwischen 1963 und 1974 die berühmten "Sommerschulen" der Zeitschrift "Praxis" statt, deren erste Nummer 1964 und deren letzte Nummer ebenfalls 1974 erschien. Beide, die Zeitschrift wie die Sommerschule, waren eine eigentümlich jugoslawische - und mehr als eine jugoslawische Angelegenheit: sie waren ein zentraler Bezugspunkt der Möglichkeit einer emanzipatorischen Wende im damals noch real existierenden Sozialismus und damit zugleich Anhaltspunkt der globalen Revolten der 1960er und 1970er Jahre. Jugoslawien hielt sich gleichermaßen von Moskau wie von Peking fern und verpflichtete sich zumindest programmatisch auf ein Gesellschaftsexperiment, das im Auf- und Ausbau von "Arbeiterselbstverwaltung" mit dem langandauernden Absterben des Staates ernst machen wollte. Um seinen "Dritten Weg" auch theoretisch abzusichern, ließ der regierende Bund der Kommunisten Jugoslawiens (BDKJ) einem Zirkel von Philosoph_innen und Soziolog_innen relativ freie Hand, die zu dieser Zeit an den Universitäten Belgrad, Zagreb und Ljubljana lehrten und ihre Positionen in der gleichnamigen Zeitschrift wie auf der alljährlichen Sommerschule zur nationalen und internationalen Debatte stellen durften.

Tatsächlich fand die auch in englischer Sprache publizierte Zeitschrift bald weltweit regelmäßige Leser_innen, zu den bis zu 250 Teilnehmer_innen der Debatten im kleinen Kulturzentrum am Hafen Korculas gehörten u.a. Herbert Marcuse, Ernst Bloch, Henri Lefebvre, Richard J. Bernstein, Shlomo Avineri und Agnes Heller. Der erste Grund dieser unerhörten Resonanz lag in der Aktualität der Sache selbst: der Mai 1968 war im Kommen, und die PRAXIS-Philosophie lag ganz im Trend des Ereignisses. Der zweite Grund war hausgemacht: Was anderswo "nur" erst theoretisches Neuland war - die Bearbeitung der "Krise des Marxismus" durch existenzial- und psychoanalytisch akzentuierte Bestimmungen des subjektiven Faktors aller Emanzipation - schien in Jugoslawien nah an gesamtgesellschaftlicher Erprobung und damit mehr als nur ein "philosophischer Entwurf" zu sein. Mit dem Ausbruch der globalen Mai-Revolten formiert sich auch in Jugoslawien eine linke studentische Opposition. Nach der Besetzung der Belgrader Universität im Juni 1968 gab der "Prager Frühling" weiteren Auftrieb und verstetigte damit eine Bewegung, die bald auch auf die Betriebe übergriff und in der so genannten "Schwarzen Welle" eine eigenständige Artikulation im Film und in der Literatur hervorbrachte. Als es 1971 erneut zu offenen Unruhen kam, schaltete der BDKJ endgültig auf Repression um. Da sich die PRAXIS-Philosoph_innen offen an den Protesten beteiligten und ihnen zugleich internationale Aufmerksamkeit verschufen, wurden Zeitschrift und Sommerschule 1974 verboten; im Januar 1975 verloren acht Mitglieder der Redaktion ihre Lehrstühle an der Belgrader Universität.

Sein eigenes Scheitern konnte der jugoslawische Realsozialismus damit nicht abwenden, im Gegenteil: das katastrophische Ende der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien quittierte nicht zuletzt die Unfähigkeit des Regimes, die Chancen zu nutzen, die sich ihm 1968 öffneten. Es gehört zum Elend des Zusammenbruchs, dass sich einzelne Mitglieder des PRAXIS-Zirkels - am prominentesten sicherlich der im Folgenden wiederholt zitierte Mihailo Markovic und mit ihm Svetozar Stojanovic - an der nationalistischen Regression beteiligten, in der das "jugoslawische Modell" schon vor der militärischen und ökonomischen Intervention des Westens ausgelöscht wurde. Allerdings haben die wichtigsten PRAXIS-Philosophen, Gajo Petrovic und Milan Kangrga, durch ihre Stellungnahmen keinen Zweifel daran gelassen, dass diese Korruption nur im Bruch mit der eigenen Geschichte und dem Denken selbst möglich war.

Die Debatten der Korcula-Konferenz dieses Jahres nahmen beides in den Blick: das Scheitern und die unerfüllt gebliebenen Möglichkeiten einer mittlerweile abgeschlossenen Epoche. Die folgenden elf Thesen gehen der Frage nach, inwiefern das uneingelöste Versprechen radikaler Praxis auch heute noch als Möglichkeit zu fassen wäre, die zu erproben sich lohnt.

1. Philosophie und Politik des PRAXIS-Zirkels sind für uns Geschichte geworden. Die Politik, sofern sie Teil der kommunistischen Bewegung des 20. Jahrhunderts war, die ihren Abbruch auch im Zerfall der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien 1991 erfuhr. Die Philosophie, sofern sie Teil der langen "Krise des Marxismus" war, die bekanntlich keine Lösung fand und deshalb ebenfalls nur in einem Abbruch endete. Doch sind mit diesen beiden Abbrüchen weder die politischen noch die philosophischen Kämpfe zu Ende gegangen, die sich in ihnen verdichtet haben. Deshalb stehen wir am Anfang des 21. Jahrhunderts längst im Neubeginn einer kommunistischen Bewegung und einer inmitten dieser Bewegung neu zu beginnenden Philosophie der Revolution.[1] Deshalb stehen unsere Politik und unsere Philosophie heute unter dem Titel des Postmarxismus, von dem Jacques Derrida sagt, dass er nur als eine "Radikalisierung des Marxismus" verstanden werden kann, die als solche "immer an das verschuldet" bleibt, "was von ihr radikalisiert wird." In dieser Radikalisierung kann es allerdings gerade nicht darum gehen, "noch weiter in die Tiefe der Radikalität, des Fundamentalen oder des Ursprünglichen (Ursache, Prinzip, arche) fortzuschreiten, noch einen Schritt mehr in dieselbe Richtung zu tun. Wir würden eher versuchen, uns dorthin zu begeben, wo das Schema des Fundamentalen, des Ursprünglichen oder des Radikalen in seiner ontologischen Einheit, wie es immer noch die marxistische Kritik beherrscht, Fragen erfordert, wo es Formalisierungsverfahren und genealogische Interpretationen braucht, die in dem, was die sich marxistisch nennenden Diskurse beherrscht, nicht oder nicht hinreichend ins Werk gesetzt werden." (Derrida 1995: 149f.) Diesen Fragen, Formalisierungen und Genealogien wird PRAXIS auch deshalb auszusetzen sein, weil es in der Befragung des "Schemas des Fundamentalen, des Ursprünglichen oder des Radikalen in seiner ontologischen Einheit" um den transhistorischen Gründungsakt der Philosophie selbst und damit notwendig um den Punkt geht, von dem aus die Philosophie die Politik denkt und darin selbst politisch wird. Die außerordentliche Bedeutung von PRAXIS liegt darin, sich diesem Abenteuer der Dialektik vorab schon in fünf Zügen genähert zu haben:

(a) Sie richtete sich schon zu ihrer Zeit auf einen Neubeginn kommunistischer Bewegung und revolutionärer Philosophie aus.

(b) Sie folgte dabei einer Dialektik von Politik und Philosophie, die den Neubeginn kommunistischer Bewegung ausdrücklich zur Sache einer Philosophie erhob, die in diesem Neubeginn ihre eigene "Aufhebung" finden und darin das Erbe Marx' antreten sollte.

(c) Sie verstand diese Philosophie selbst schon als eine postmarxistische, in dem sie das "Denken von Marx" kategorisch von den Marxismen der II. und III. Internationale, also von den Generallinien des "wissenschaftlichen Sozialismus" unterschied.

(d) Sie vollzog diese Unterscheidung durch ihre Weigerung, das Paradox umstandslos hinzunehmen, von dem Michael Hardt und Toni Negri in einem der ersten Dokumente heutiger kommunistischer Bewegung festhalten, dass es "schon im Denken von Marx" anzutreffen war: "das Paradox, die Befreiung der revolutionären Subjektivität einem zess ohne Subjekt' anzuvertrauen." (Hardt/Negri 1997: 17)

(e) Sie setzte sich den von Derrida eingeforderten Fragen, Formalisierungen und Genealogien nicht nur der Sache nach, sondern auch in programmatischer Ausdrücklichkeit aus, indem sie die postmarxistische Philosophie der Revolution als eine Ontologie der Revolution entwarf, die im "Schema des Fundamentalen, des Ursprünglichen oder des Radikalen in seiner ontologischen Einheit" erproben sollte, was Marx als Aufhebung der Entfremdung des menschlichen "Gattungswesens" in den Blick nahm.

Bleibt anzumerken, dass das im Folgenden entfaltete Abenteuer der Dialektik zunächst wortwörtlich zu nehmen ist: als offene Folge von Rede und Widerrede in einer Phänomenologie des kommunistischen Neubeginns.

2. Die von PRAXIS eröffnete Dialektik von Politik und Philosophie muss in ihrer Herkunft aus einer besonderen politischen Erfahrung verstanden werden: der Teilnahme nicht weniger der PRAXIS-Gründer am Partisanenkampf der jugoslawischen Volksbefreiungsarmee einerseits und der folgenden Korruption der revolutionären Subjektivität vieler Militanter dieser Armee und ihrer Partei in der Herausbildung einer bürokratischen Staats- und Parteiherrschaft andererseits.[2] Aus dieser Erfahrung analysiert PRAXIS den inneren Zusammenhang der marxistischen These eines gesetzmäßig determinierten Geschichtsprozesses mit dem ethisch-politischen Voluntarismus bürokratischer Herrschaft. Den Kern dieses Zusammenhangs macht PRAXIS im Vorrang des "wissenschaftlichen Sozialismus" auch vor seinem eigenen "subjektiven Faktor" aus, mit dem viele Marxist_innen bzw. Kommunist_innen des 20. Jahrhunderts einem folgenschweren Missverständnis des Begriffs wie der Sache selbst der Subjektivität verfielen. Den logischen Grund dafür erkennt PRAXIS in dem Umstand, dass die Bestimmung der Subjektivität meist erst im "ideologischen" Gegenzug zu den zuvor "wissenschaftlich" ausgewiesenen objektiven Determinationsverhältnissen erfolgte; das beileibe nicht nur Marxist_innen zuzuschreibende Missverständnis selbst kann in Abwandlung einer berühmten Formel Michel Foucaults als "deterministisch-voluntaristische Dublette" bezeichnet werden. (vgl. Foucault 1971: 384) Dabei ist im Begriff des Voluntarismus weniger die Bestimmung des Subjekts durch seine Bedürfnisse, seine Begierde oder Begehren und derart durch seinen Willen gemeint als vielmehr die Trennung dieses Willens von einer Vernunft, die im selben Zug auf die wissenschaftliche Positivierung von Determinationsverhältnissen reduziert wird.

3. Dass PRAXIS die deterministisch-voluntaristische Dublette als notwendige Folge einer falschen Verwissenschaftlichung von Philosophie und Politik verstand, lässt sich der Polemik entnehmen, in der Gajo Petrovic sogar der Kritischen Theorie vorwarf, die gemeinsam angestrebte Aufhebung der Philosophie mit einer "positivistischen Auflösung der Philosophie in die Wissenschaften" verwechselt zu haben. (Petrovic 1984: 3) Wenn Petrovic die tatsächliche Aufhebung der Philosophie demgegenüber einem "wahren (wesentlichen) Denken" vorbehält, "das die Revolution (nicht die Revolution im Sinne einer gesellschaftlichen Veränderung, sondern die Revolution im Sinn von wahrem Sein) zu denken imstande ist", verortet er die Dublette im Sein selbst und entwirft ihre philosophische und politische Aufhebung als einen polit-ontologischen Prozess, in dem die politische Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse mit der ontologischen (Selbst-)Veränderung ihrer Subjektivierungspraktiken zusammenfällt.

4. Natürlich beruft sich Petrovic in dieser Polemik auf die Thesen zu Feuerbach, in denen Marx dem "bisherigen Materialismus" ein grundlegendes Vergessen attestiert: "Die materialistische Lehre von der Veränderung der Umstände und der Erziehung vergisst, dass die Umstände von den Menschen verändert und der Erzieher selbst erzogen werden muss. Sie muss daher die Gesellschaft in zwei Teile - von denen der eine über ihr erhaben ist - sondieren." Das erste Vergessen schließt ein zweites ein, in dem vergessen wird, dass das "Zusammenfallen des Änderns der Umstände und der menschlichen Tätigkeit oder Selbstveränderung" selbst wieder "nur als revolutionäre Praxis gefasst und rationell verstanden werden" kann. Marx zufolge artikuliert dieses Vergessen nicht weniger als den "Hauptmangel alles bisherigen Materialismus", nach dem "der Gegenstand, die Wirklichkeit, Sinnlichkeit nur unter der Form des Objekts oder der Anschauung gefasst wird; nicht aber als sinnlich menschliche Tätigkeit, Praxis; nicht subjektiv. Daher die tätige Seite abstrakt im Gegensatz zu dem Materialismus von dem Idealismus - der natürlich die wirkliche, sinnliche Tätigkeit als solche nicht kennt - entwickelt." (Marx/Engels 1969: 5-7)

Tatsächlich "sondieren" im Bann dieses Vergessens und Versäumnisses nicht nur der Marx vorausgehende, sondern auch der Marx folgende Materialismus die Gesellschaft in "zwei Teile": Beide spalten dabei das "theoretische Verhalten" vom Ganzen der Praxis ab und liefern sich so der deterministisch-voluntaristischen Dublette aus (eine Operation, die ihre entschiedenste Fassung weniger in der Kritischen Theorie als vielmehr in Althussers "Sondierung" der Wissenschaft von der Ideologie und der Subordination sowohl der Ideologie wie der Philosophie unter die Wissenschaft gefunden hat).[3] Gegen diese Mystifikation gleichermaßen der Wissenschaft wie der Ideologie und des vergessenen Zusammenhangs beider in der "menschlichen Praxis" beharrt PRAXIS auf der strategischen Einsicht der Thesen über Feuerbach, nach der "alle Mysterien, welche die Theorie zum Mystizismus veranlassen, ihre rationelle Lösung in der menschlichen Praxis und in dem Begreifen dieser Praxis" finden. Der entscheidende Punkt liegt dabei im Zirkel der Praxis und des "Begreifens dieser Praxis", in dem "die Frage, ob dem menschlichen Denken gegenständliche Wahrheit zukomme", zuerst und zuletzt "keine Frage der Theorie, sondern eine praktische Frage" ist. (Marx/Engels a.a.O.)

Eine solche praktische Frage ist dann aber auch die Frage nach dem Kommunismus als einer "Revolution im Sinn von wahrem Sein", die PRAXIS immer wieder mit dem Marx-Zitat beantwortet, nach dem der Kommunismus "als vollendeter Naturalismus = Humanismus, als vollendeter Humanismus = Naturalismus" sei: "wahrhafte Auflösung des Widerstreits zwischen dem Menschen mit der Natur und mit dem Menschen, (...) wahrhafte Auflösung des Streits zwischen Existenz und Wesen, zwischen Vergegenständlichung und Selbstbetätigung, zwischen Freiheit und Notwendigkeit, zwischen Individuum und Gattung. Er ist das aufgelöste Rätsel der Geschichte und weiß sich als diese Lösung." (Marx/Engels 1968: 536; zur Bedeutung dieser Marx-Passage für PRAXIS vgl. exemplarisch die Diskussion bei Petrovic 1971: 211-224 bzw. 224-234)

5. Die Emphase, mit der PRAXIS die "ontologische Einheit" des Seins selbst im Sein der "menschlichen Praxis" und damit im "Sein des Menschen" finden wollte, ruft heute und für uns allerdings zunächst nur den "Zeitenabstand" (Gadamer 1986: 303) auf, der uns von ihr trennt. In diesem Zeitenabstand gründen Derridas Vorbehalt gegen das "Schema des Fundamentalen, des Ursprünglichen oder des Radikalen in seiner ontologischen Einheit" wie Foucaults Auflösung der "ontologischen Einheit" des Kollektivsingulars "Mensch" in den Transzendentalien des Lebens, der Arbeit und der Sprache. Dabei fasst Foucault den berüchtigten "Tod des Menschen" seinerseits in Frage-Form: "Wie kann der Mensch dieses Leben sein, dessen Netz, dessen Pulsieren, dessen verborgene Kraft unendlich die Erfahrung überschreiten, die ihm davon gegeben ist? Wie kann er jene Arbeit sein, deren Erfordernisse und Gesetze sich ihm als ein fremder Zwang auferlegen? Wie kann er das Subjekt einer Sprache sein, die seit Jahrtausenden ohne ihn gebildet worden ist, deren System ihm entgeht, (...) die er einen Augenblick durch seinen Diskurs aufblitzen lässt und innerhalb deren er von Anfang an sein Sprechen und sein Denken platzieren muss?" (Foucault 1971: 390)

Liegt einerseits auf der Hand, dass PRAXIS diese Fragen nicht zureichend beantwortet hat, gilt doch zugleich, dass der fortwirkende Zeitenabstand "den wahren Sinn, der in einer Sache liegt, erst voll herauskommen" lässt: "es werden nicht nur immer neue Fehlerquellen ausgeschaltet, so dass der wahre Sinn aus allerlei Trübungen herausgefiltert wird, sondern es entspringen stets neue Quellen des Verständnisses, die ungeahnte Sinnbezüge offenbaren." (Gadamer, a.a.O.)

6. Ein solcher Sinnbezug kann in der noch lange nicht ausgedeuteten Übereinkunft gefunden werden, in der sich nicht nur PRAXIS, sondern auch Derrida, Foucault und der heutige Postmarxismus Hardt/Negris, Alain Badious und Slavoj Zizeks neben der Ontologie Marx' auch auf die Heideggers beziehen.[4] Diese alle ihre Differenzen untereinander durchwirkende Übereinkunft eröffnet die Möglichkeit, den jeweiligen Zeitenabstand aufeinander im doppelten Blick auf Marx und Heidegger auszumessen. Letzterer bestimmt sein eigenes Verhältnis zu Marx im Brief über den Humanismus bekanntlich in der Auszeichnung, nach der Marx, "indem er die Entfremdung erfährt, in eine wesentliche Dimension der Geschichte hineinreicht", deshalb in seiner "Anschauung von der Geschichte der übrigen Historie überlegen" sei und die existenziale Ontologie dadurch zum "produktiven Gespräch mit dem Marxismus" verpflichte. (Heidegger 1967: 340)

7. Obwohl Heidegger selbst dieses Gespräch nirgendwo zureichend geführt hat, können wir im Blick auf PRAXIS und den Postmarxismus wenigstens drei Punkte wechselnder Übereinstimmung wie wechselnden Widerstreits nennen:

a.) PRAXIS und der Postmarxismus folgen Heidegger zunächst darin, Ontologie nicht als klassischmetaphysische Seins- oder Wesenslehre, sondern als selbst post-metaphysische "Wiederholung der Frage nach dem Sinn von Sein" (Heidegger 1984: 3) zu fassen. Wenn das "Sein" in dieser "Seinsfrage" primär als "Sinn" entschlüsselt werden soll, folgt dies daraus, dass es vorab als der quasi-transzendentale Horizont der Welt-Erschlossenheit und damit als Horizont aller gesellschaftlichen Praxis verstanden wird. Im Stellen der Seinsfrage wird Ontologie bei Heidegger wie bei PRAXIS zu einer ent-grenzten Hermeneutik, die sich von Anfang an jenseits der Opposition von Wissenschaft und Ideologie platziert: ein Schritt, der im Postmarxismus im Prinzip nachvollzogen, wenn auch in unterschiedlich tiefgreifender Weise modifiziert wird. Ent-grenzt ist diese Hermeneutik insoweit, als es ihr nicht einfach um das Auslegen von Texten geht, sondern um das Auslegen dessen, was Heidegger und Marx je auf ihre Weise als "faktisches Leben" fassen. Der ontologische Eigensinn dieser Hermeneutik liegt darin, die deterministisch-voluntaristische Dublette von Objekt und Subjekt in Konstellationen von Praxis und Welt aufzuheben, in denen menschliche Praxis immer schon menschliches In-der-Welt-sein ist: ein zugleich theoretisches wie praktisches Verhalten, das im Vollzug je einem "Sinn von Sein" folgt. Ihr methodischer Eigensinn liegt dann darin, dass die ausdrücklich theoretische Auslegungstätigkeit der Ontologie zum kritischen Nachvollzug der alltäglichen Auslegungstätigkeit der Praxis selbst wird. Deren verschiedene Formen (Wissenschaft wie Ideologie und mit beiden Politik, Recht, Religion, Kultur, Technik, Architektur, Bildung, Medizin, Kunst, Sport, Mode, Lebensstile und -weisen etc.) werden dabei anthropo- bzw. existenzialontologisch als Formen verstanden, in denen diese Praxis sich je schon selbst versteht. Ihrem immanenten Ziel nach ist so verstandene Hermeneutik kritisches Sich-Verhalten zum alltäglichen Sich-zu-sich-Verhalten, dem es um die Aufhebung der eigenen Entfremdung geht: um eine "Revolution im Sinn von wahrem Sein."

b.) Erkennt PRAXIS den Grund der deterministisch-voluntaristischen Dublette des "wissenschaftlichen Sozialismus" wie der europäischen Wissenschaftsgeschichte überhaupt mit Marx in einem "Vergessen" der emphatisch verstandenen "menschlichen Praxis", so weitet sich dieses Vergessen mit Heidegger zur "Seinsvergessenheit" aus, die ihrerseits überhaupt erst zur "Wiederholung der Frage nach dem Sinn von Sein" nötigt. Von dieser Seinsvergessenheit sagt Heidegger, dass sie einerseits in den Ursprung der europäischen Wissenschaftsgeschichte zurückreicht und andererseits, vermittelt über die Verwissenschaftlichung und Durchtechnisierung aller gesellschaftlichen Verhältnisse, das Alltagsleben wie die Verfassung entwickelter moderner Gesellschaften in quasi-transzendentaler Weise lenkt. Der Sache nach ist unter dieser Seinsvergessenheit die alle gesellschaftliche Praxis durchherrschende Verdinglichung (Objektivierung, Positivierung) des Seins in einem "höchsten" und zugleich "allgemeinsten" Seienden (Idee, Gott, Subjekt, Vernunft, Geist, Wille, Mensch) zu verstehen, im Bezug auf das der Staat die Vielheiten des Seienden durchzählt und zu einem geschlossenen Ganzen zu versammeln sucht. In der Folge solcher Seinsvergessenheit gerät die europäische Wissenschaftsgeschichte unter den Bann einer "Onto-theologie", die sich in der wissenschaftlich-technischen Verdinglichung und Vernutzung der Welt vollendet: eine "Weltordnung", die Heidegger "Gestell", Foucault "Biomacht" und Hardt/Negri "Empire" nennen.

c.) PRAXIS und Heidegger trennen sich dann allerdings im konkreten Begriff der ontologisch (d.h. im Denken des Seins und im Sein selbst) aufzuhebenden Entfremdung. Richtet sich PRAXIS auf eine letztendliche Aufhebung der Entfremdung im Vollzug kommunistischer Bewegung aus, geht es Heidegger um die immer neu zu wiederholende Aufhebung einer sich immer neu und immer anders einstellenden Entfremdung. Dem entspricht, dass Heidegger die gesellschaftliche Praxis durch die (selbst wieder gesellschaftlich vermittelte) "Sorge um sich" bestimmt, während PRAXIS umgekehrt die (je von einzelnen Subjekten zu vollziehende) "Sorge um sich" durch die gesellschaftliche Praxis bestimmt. Derrida, Foucault, Badiou und Zizek folgen in diesem Punkt eher Heidegger, Hardt/Negri eher PRAXIS.

8. Ein ähnliches Verhältnis von Widerspruch und Übereinkunft ergibt sich dann allerdings auch in der hier mit Derrida gestellten Frage eines "Schemas des Fundamentalen, des Ursprünglichen oder des Radikalen in seiner ontologischen Einheit." Stellte Heidegger seine Seinsfrage anfangs unter den missverständlichen Titel einer "Fundamental-Ontologie", setzte er dieses "Schema" in der Entfaltung der ontologischen Differenz von Sein und Seiendem einer immer tiefgreifenderen Befragung aus. Dabei stieß er auf den auch für den gesamten Postmarxismus maßgeblichen Begriff einer Geschichtlichkeit, deren mögliche ontologische Einheit am Einbruch eines Ereignisses hängt und sich in der Augenblicklichkeit eines solchen Ereignisses sogleich wieder entzieht. Wenn der Begriff des Ereignisses PRAXIS fremd geblieben ist, liegt dies maßgeblich an einem Humanismusbegriff, den alle anderen Autoren so nicht teilen, weil sie ihn zumindest der Tendenz nach als selbst "onto-theo-logischen" Begriff deuten. Es spricht zumindest für Ansätze einer selbstkritischen Einholung dieser Differenz, dass z.B. Mihailo Markovic die größte Gefahr der PRAXIS in einem "abstrakten Humanismus" und in der "Gefahr einer Kritik" ausgemacht hat, "die keinen Sinn für die Geschichte hat und die alle Grundbegriffe (Mensch, menschliche Natur, Praxis, Freiheit, Entfremdung usw.) als apriorische, abstrakte Gemeinplätze behandelt, indem sie sie unmittelbar mit dem Bestehenden konfrontiert, statt sie durch besondere Bestimmungen der konkreten historischen Situation zu vermitteln." (Markovic 1968: 12, vgl. ebd.: 160, wo PRAXIS selbstkritisch vorgeworfen wird, "bei den Kategorien des jungen Marx stehengeblieben zu sein.")[5]

Allerdings heißt das nicht, sich in der von Althusser aufgestellten Opposition von Humanismus und Antihumanismus auf die Seite des zweiten Pols stellen zu müssen: wie überall, kommt es auch hier auf die dritte Möglichkeit an. Analog zum Begriff des Postmarxismus haben Hardt/Negri dazu den Begriff des Posthumanismus gebildet und sich dabei auf die weitreichende Relativierung der Rede vom "Tod des Menschen" bezogen, die Foucault in der subjekthermeneutischen Kehre seiner späten Ontologie vorgenommen hat. (Hardt/Negri 2002: 104ff.; Foucault 2005: 700ff.) In dieser Linie wäre dann auch den untergründigen Korrespondenzen zwischen dem Humanismus der PRAXIS-Philosophie und dem Antihumanismus Deleuze/Guattaris nachzugehen: haben beide doch in der entschiedenen Zustimmung zu Marx' spekulativem Ausgriff auf eine "wahrhafte Auflösung des Widerstreits zwischen dem Menschen mit der Natur und mit dem Menschen" einen trotz allem gemeinsamen politontologischen Fluchtpunkt (vgl. Deleuze/Guattari 1974).

9. Mit einem so verstandenen Posthumanismus und insbesondere mit Badiou käme PRAXIS zuletzt darin überein, die jenseits von Wissenschaft und Ideologie platzierte Philosophie auf einen "Formalismus der Existenz" zuzuspitzen. Badiou zufolge kommt in diesem (zugleich metaethischen wie metapolitischen) Formalismus auf den Punkt, dass "die Philosophie sich vornimmt, zu zeigen, dass es Formen der Existenz gibt, die kohärent und gerechtfertigt sind, und andere, die dies nicht sind. Die Frage des Universellen hat keinen anderen Sinn, als zu versuchen, durch singuläre diskursive Mittel einen Formalismus der Existenz zu definieren, der derart ist, dass man im Ausgang von ihm unterscheiden kann, was ein wirklich subjektives und erfülltes Leben ist, soweit es dies sein kann, und was ein Leben ist, das in der Animalität verharrt." (Badiou 2009: 18).

Allerdings: Gegen Badious abstrakte Opposition von Animalität und Subjektivität wäre die Unterscheidung des subjektiven und des animalischen Lebens in der Subjektivität selbst zu vollziehen, die sich dabei in ein animalisches und in ein in sich gespaltenes Leben spaltet. Es ist in dieser Hinsicht kein Zufall, dass sich der aktuell reifste Begriff dieser Spaltung des "faktischen Lebens" in sich dann aber weder bei Foucault, noch bei Hardt/Negri und auch nicht bei Badiou, sondern bei Zizek findet, der sein eigenes theoretisches Projekt als Schüler der PRAXIS-Philosophie begann. Dabei hat Zizek die für PRAXIS noch kennzeichnende anthropologische Einhegung des Begriffs des subjektiven Seins überschritten und zugleich den Sinn für dessen abgründige Negativität gerettet, der von Foucault, Deleuze/Guattari, Hardt/Negri und Badiou je auf ihre Weise verfehlt wird. Gelungen ist ihm das, weil er die Weisung wörtlich zu nehmen wusste, die Marx in der ersten seiner Feuerbach-Thesen allen ihm folgenden Materialist_innen auf den Weg gab: dass ein zureichender Begriff der Praxis paradoxerweise den Rückgang auf die idealistische Spekulation einschließt - obwohl diese "die wirkliche, sinnliche Tätigkeit als solche" natürlich nicht kennt (vgl. hier These 4).[6]

10. Im Rückblick auf PRAXIS sind abschließend die beiden Punkte zu nennen, in denen ihr noch heute eine unmittelbare ethisch-politische Aktualität zukommt. Der erste Punkt hat natürlich mit der jugoslawischen "Arbeiterselbstverwaltung" zu tun und führt von dort auf den nicht zu unterschätzenden Umstand, dass sich die heutige kommunistische Bewegung - und das besonders in diesem Jahr (2011) - primär als Demokratisierungsbewegung formiert. Strategische Relevanz kommt dabei sowohl der im "jugoslawischen Modell" leitenden Suche nach einer dritten Möglichkeit jenseits der Opposition von Markt und Plan wie der für PRAXIS leitenden Auffassung des "Absterbens des Staates" als eines langfristigen und in sich notwendig konfliktiven Prozesses zu. Dabei greift die PRAXIS-Diskussion des Begriffs der "unmittelbaren Demokratie" als einerseits eines theoretisch aufzulösenden "ideologischen Mythos" und andererseits einer praktisch einzuholenden "Tendenz des historischen Fortschritts" (Markovic 1968: 146ff und passim) auf die Dialektik konstituierender und konstituierter Macht vor, in der aktuell die staatstheoretische Problematik der postmarxistischen Philosophie gründet (Hardt/Negri 2010: 125ff. und passim).[7]

11. Der Demokratiefrage eng verbunden ist dann der zweite Punkt, der sich in der Frage nach dem Ethos der kommunistischen Militanten erschließt. Sie war die Ursprungsfrage des PRAXIS-Zirkels und wird aktuell vor allem von Hardt/Negri und Badiou gestellt (für PRAXIS vgl. exemplarisch Grlic 1969). Posthumanistisch wiederholt, führt diese Frage zunächst auf die Differenz des Marx'schen und des Heideggerschen Entfremdungsbegriffs zurück, die PRAXIS zu ihrer Zeit eindeutig im Sinne Marx' beantwortete. Im Zeitenabstand auf ihr abgeschlossenes Abenteuer wie auf ihre Nachgeschichte im Zerfallsprozess Jugoslawiens ist dazu ein kritischer Selbstvorbehalt Markovics aufzugreifen. In diesem Selbstvorbehalt macht er in der "modernen wissenschaftlichen und technischen Revolution, der Entdeckung der dunklen, irrationalen Seite der menschlichen Natur durch die Psychoanalyse, den anthropologischen Untersuchungen primitiver Kulturen, dem Surrealismus und anderen Richtungen der modernen Kunst und des modernen philosophischen Irrationalismus (der Lebens- und Existenzphilosophie) und schließlich der brutalen Erfahrung der Kriege und Konterrevolutionen unseres Jahrhunderts" ebenso viele Motive einer "neuen kritischen Konzeption der dialektischen Rationalität" aus, denen PRAXIS nicht gerecht geworden sei. (Markovic 1968: 14) Um zum Schluss auf diesen Punkt zurückzukommen: Nach dem 20. Jahrhundert liegt der turning point einer solchen Konzeption dort, wo sich Marx infolge des "Hauptmangels alles bisherigen Materialismus" behelfsweise an idealistische Bestimmungen der "tätigen Seite" zurückverwiesen sah: in der Frage, wie sich das Individuum - und insbesondere die kommunistische Militante - zu dem "wirklichen individuellen Gemeinwesen" machen kann, um sich so "sein allseitiges Wesen auf eine allseitige Art" in einer Weise anzueignen, in der "Denken und Sein zwar unterschieden, doch zugleich in Einheit zueinander" sein können. (Marx 1968: 539) Diese Frage führt nicht zufällig auf die Aufgabe einer kritischen Befragung des "Schemas des Fundamentalen, des Ursprünglichen oder des Radikalen in seiner ontologischen Einheit" zurück, mit der wir hier angefangen haben. Eine Frage zugleich, die in keiner einfachen Antwort stillzustellen sein wird, weil das Schema selbst dabei in stets veränderter Weise aktiviert wird.

E-Mail: seibert@medico.de


Anmerkungen:

* Die in den grundrissen verwendete Schriftart verfügt leider nicht über jene Sonderzeichen, die für die korrekte Schreibweise der jugoslawischen Namen nötig ist. Wir ersuchen um Entschuldigung und Verständnis.

[1] Den Aufschlag machten Toni Negri und Félix Guattari schon 1985, indem sie in ihrem Manifest Communists like us Positionen des italienischen Operaismus und des französischen Poststrukturalismus zusammenführten (engl. Ausgabe New York 1990). Ihnen folgte 1989 Alain Badiou mit seinem Manifest für die Philosophie (dt. Ausgabe Wien 1997). 1993 dokumentiert Jacques Derridas Marx' Gespenster die Parteinahme der französischen Dekonstruktion für den kommunistischen Neubeginn; 1995 gelingt es Jacques Rancières Das Unvernehmen, den philosophischen und politischen Einsatz zu erneuern, den Marx zu seiner Zeit im Begriff des Proletariats ausgespielt, doch im klassistischen Selbstmissverständnis zugleich wieder verdunkelt hatte. Den Durchbruch zum Bestseller schaffen Michael Hardt und wieder Toni Negri 2000 mit Empire (dt. Ausgabe Frankfurt am Main 2002). 2002 erscheint Slavoj Zizeks Die Revolution steht bevor. Dreizehn Versuche über Lenin und 2007 setzt das anonyme Unsichtbare Komitee mit Der kommende Aufstand einen ganz eigenen Punkt.

[2] Zu nennen sind hier wenigstens: Veljko Korac, Andrija Kresic, Mihailo Markovic, Rudi Supek, Ljubomir Tadic und Predrag Vranicki; vgl. Petrovic 1969: 275ff. Ich danke Manfred Lauermann für unser Gespräch zu dieser und einigen anderen Fragen.

[3] Ohne Althussers Problematik darauf reduzieren zu wollen, sei doch die Bemerkung Petrovics angeführt, nach der es in ihr vor allem darum gehe, "den Stalinismus zu retten, und zwar dadurch, dass man ihm einen gelehrteren und westlicheren Anstrich gibt." (Petrovic 1971: 26; vgl. dazu Althusser 2011). Von einer Subordination auch der Philosophie unter die Wissenschaft kann bei Althusser insofern gesprochen werden, als er ihr zwar das Richteramt im "Klassenkampf in der Theorie" zuspricht, sie aber gerade dadurch der Wissenschaft nachordnet.

[4] Die verschlungene Geschichte des "Heideggermarxismus" beginnt unmittelbar nach der Veröffentlichung von Sein und Zeit mit Herbert Marcuses Entwurf einer marxistisch gewendeten Existenzialontologie (vgl. Marcuse/Schmidt 1973) und setzt sich später in der marxistischen Wende des französischen Existenzialismus (Sartre 1964), aber auch in enger bei Heidegger verbleibenden Philosophien u.a. von Kostas Axelos (1966) und Cornelius Castoriadis (1984) fort. Mit der Zusammenstellung von Marx und Heidegger verbindet schon Marcuse (1968) eine existenzialontologische Hegel-Lektüre, deren prominenteste Ausarbeitung sich bei Alexandre Kojève (1975) findet. Die Abkehr Derridas und Foucaults, aber auch Gilles Deleuzes und Félix Guattaris vom französischen Existenzialismus findet im Zug eines noch einmal vertieften Rückgangs auf Heidegger (und Nietzsche) statt, ähnliches geschieht im Feminismus etwa bei Luce Irigaray (1980). Im Vorfeld des Mai 1968 verbreiteten sich heideggermarxistische Positionen unter dissidenten kommunistischen Intellektuellen auch in der CSSR, in Polen und Rumänien, exemplarisch beim tschechischen Philosophen Karel Kosìk (1967). Für eine kurze Übersicht vgl. Philosophie Marx/Heidegger: Freiheit in Prag, Der Spiegel 11/1967.

[5] Dass der Begriff des Ereignisses PRAXIS fremd geblieben sei, gilt allerdings nur für die Positionen des Zirkels bis zu seinem Verbot 1974, nicht für das Buch, das als sein kollektives Vermächtnis gelesen werden muss: Milan Kangrgas Praxis Zeit Welt (Erstveröffentlichung 1984). Obwohl Kangrga dieses Buch während eines längeren Aufenthalts in Deutschland und in deutscher Sprache geschrieben hat, wurde es hier erst 2004 veröffentlicht.

[6] Vgl. Zizek 2001: 20f. und passim. Zur aktuellen Debatte des subjektiven Faktors vgl. meinen Aufsatz Potenzialitäten. Poststrukturalismus, Philosophie, Politik. In: Lorey u.a. 2011: 110-128.

[7] Die von Zizek a.a.O. aufgeworfene Frage, ob PRAXIS mit der kritisch-solidarischen Verpflichtung auf das "jugoslawische Modell" einem im schlechten Sinn des Worts philosophischen Fehler verfiel, könnte erst dann beantwortet werden, wenn definitiv gesichert wäre, dass die anfängliche Bereitschaft von Teilen des BDKJ, die Revolte der Student_innen politisch anzuerkennen, in Wahrheit nur dem Ziel folgte, ihre Bewegung zu sabotieren. Da feststeht, dass die Partei fünf Tage nach Beginn der Revolte von niemand anderem als Marschall Tito selbst wieder "auf Kurs" gebracht wurde, geht es dabei also um das Möglichkeitspotenzial eben dieser fünf Tage: in sich ein Beitrag zu den praktischen Implikationen des Begriffs wie der Sache selbst des Ereignisses. Vgl. dazu Kanzleiter 2011, besonders 189-300.


Literatur:

Althusser, Louis 2011: Für Marx, Frankfurt am Main.

Axelos, Kostas 1966: Einführung in ein künftiges Denken. Marx und Heidegger, Tübingen

Badiou, Alain 1997: Manifest für die Philosophie, Wien

Badiou, Alain 2003: Ethik. Versuch über das Bewusstsein des Bösen, Wien

Badiou, Alain 2009: Das Konzept des Modells. Einführung in eine materialistische Epistemologie der Mathematik, Wien

Castoriadis, Cornelius 1984: Gesellschaft als imaginäre Struktur. Eintwurf einer politischen Philosophie, Frankfurt am Main

Deleuze, Gilles/Guattari, Fèlix 1974: Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie 1, Frankfurt am Main

Derrida, Jacques 1995: Marx' Gespenster. Der Staat der Schuld, die Trauerarbeit und die neue Internationale, Frankfurt am Main

Foucault, Michel 1971: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt am Main

Foucault, Michel 2005: Was ist Aufklärung? In: Schriften Bd. 4, Frankfurt am Main

Gadamer, Hans-Georg 1986: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen

Grlic, Danko 1969: Aktion und Kreation, in: Petrovic, Gajo (Hg.) 1969: Revolutionäre Praxis, 174-191

Guattari, Félix/Negri, Toni 1985: Communists like us, New York

Heidegger, Martin 1984: Sein und Zeit, Tübingen

Hardt, Michael/Negri, Toni 1997: Die Arbeit des Dionysos. Materialistische Staatskritik in der Postmoderne, Berlin/Amsterdam

Hardt, Michael/Negri, Toni 2002: Empire. Die neue Weltordnung, Frankfurt am Main

Hardt, Michael/Negri, Toni 2010: Commonwealth. Das Ende des Eigentums, Frankfurt am Main

Heidegger, Martin 1967: Brief über den Humanismus. In: Wegmarken, Frankfurt am Main

Heidegger, Martin 1984: Sein und Zeit, Tübingen

Irigaray, Luce 1980: Speculum. Spiegel des anderen Geschlechts, Frankfurt am Main

Kangrga, Milan 2004: Praxis Zeit Welt, Würzburg

Kanzleiter, Boris 2011: Die Rote Universität. Studentenbewegung und Linksopposition in Belgrad 1964-1975, Hamburg

Kojève, Alexandre 1975: Hegel. Kommentar zur Phänomenologie des Geistes, Frankfurt am Main

Kosìk, Karel 1967: Die Dialektik des Konkreten. Eine Studie zur Problematik des Menschen und der Welt, Frankfurt am Main

Marcuse, Herbert 1968: Hegels Ontologie und die Theorie der Geschichtlichkeit, Frankfurt am Main

Marcuse, Herbert/Schmidt, Alfred 1973: Existenzialistische Marx-Interpretation, Frankfurt am Main

Marx, Karl 1968: Ökonomisch-Philosophische Manuskripte aus dem Jahr 1844. In: Marx-Engels-Werke, Ergänzungsband, 1. Teil, Berlin (DDR)

Marx, Karl 1969: Thesen über Feuerbach. In: Marx-Engels-Werke Band 3, Berlin (DDR)

Markovic, Mihailo 1968: Dialektik der Praxis, Frankfurt am Main

Petrovic, Gajo (Hg.) 1969: Revolutionäre Praxis, Freiburg i. Breisgau

Petrovic, Gajo 1971: Philosophie und Revolution. Modelle für eine Marx-Interpretation. Mit Quellentexten, Reinbek bei Hamburg

Petrovic, Gajo 1984: Die Bedeutung der Frankfurter Schule heute. In: Honneth, Axel/Wellmer, Albrecht (Hg.) 1986: Die Frankfurter Schule und die Folgen, Berlin/New York. Hier zitiert nach: http://www.praxisphilosophie.de/petrovor.pdf

Rancière, Jacques 2002: Das Unvernehmen. Politik und Philosophie, Frankfurt am Main

Sartre, Jean-Paul 1964: Existenzialismus und Marxismus. Versuch einer Methodik, Reinbek bei Hamburg

Seibert, Thomas 2011: Potenzialitäten. Poststrukturalismus, Philosophie, Politik. In: Lorey, Isabell/Nigro, Roberto/Raunig, Gerald (Hg.) 2011: Inventionen, Zürich.

Unsichtbares Komitee 2007: Der kommende Aufstand, Hamburg

Zizek, Slavoj 2001: Die Tücke des Subjekts, Frankfurt am Main

Zizek, Slavoj 2002: Die Revolution steht bevor. Dreizehn Versuch über Lenin, Frankfurt am Main

Raute

Buchbesprechung von Karl Reitter

Werner Bonefeld, Michael Heinrich (Hg.): Kapital & Kritik. Nach der "neuen" Marx-Lektüre

Hamburg: VSA Verlag 2011, 358 Seiten, Euro 29,80

Vorweg das Positive: Fast jeder Beitrag in diesem von Bonefeld und Heinrich herausgegebenen Sammelband ist wirklich lesenswert. Und nun das Ärgerliche: Der Untertitel Nach der "neuen" Marx-Lektüre suggeriert, die Beiträge würden sich mit einer sogenannten neuen Marxlektüre auseinandersetzen. Von einer derartigen Lektüre ist in den Beiträgen nicht die Rede. Der gemeinsame Bezugspunkt ist das Marxsche Werk selbst und sonst nichts.

Anne Strecker formuliert in Von Chemielaboren, Zoomobjekten und Affenanatomie feine Überlegungen bezüglich der Mühe, sich die Marxschen Texte anzueignen. Urs Lindner greift in Philosophie, Wissenschaft und Weltveränderung erneut die Frage des Bruchs beziehungsweise der Kontinuität im Marx'schen Werk auf und kommt zur Schlussfolgerung, dass die Momente der Kontinuität überwiegen. Marx habe mitnichten den Schritt von der Philosophie zur Wissenschaft vollzogen und dadurch das Konzept der Entfremdung fallen gelassen, sondern wir fänden zwei Weisen der Philosophiekritik bei Marx. Marx habe die inhaltlichen Motive seiner Frühschriften keineswegs aufgegeben: "Dass diese ethische Position (die Marx vor allem in den Pariser Manuskripten entwickelte, K.R.) allerdings keineswegs notwendig an ihren diskursiven Entstehungskontext gekoppelt ist, das zeigt sich deutlich an der weiteren Entwicklung des Marx'schen Werkes." (S. 47) Ein ähnliches Thema diskutiert Joseph Fracchia in seinem Beitrag Verwertung der Sachenwelt - Entwertung der Menschenwelt. Er konstatiert richtig, dass Marx den "Ort der Entfremdung" (S. 75) nicht am Menschen, sondern am Arbeitsbegriff festmacht. Somit ergebe sich eine, in den Augen des Autors wohl schwache aber trotzdem klar erkennbare, Kontinuität des Entfremdungsbegriffs von den Frühschriften bis in das Kapital. Kolja Lindner kommt in Eurozentrismus bei Marx zum Schluss, dass Marx seinen ursprünglichen Eurozentrismus nach und nach überwunden hätte. Der Beitrag von Marcello Musto Marx und die Kritik der politischen Ökonomie hat einen starken philologisch-biographischen Fokus und beschreibt sowohl die reale Lebenssituation von Marx in den 50er Jahren im Londoner Exil, als auch dessen Revolutionshoffnungen. Joachim Bischof und Christopf Lieber diskutieren in Konkurrenz und Gesellschaftskritik den Begriff der Konkurrenz und seine Rolle im Marx'schen Denken. Helmut Reichelt handelt in Zur Konstitution ökonomischer Gegenständlichkeit erneut über sein zentrales Thema der Geltung der Werteigenschaft der Ware. Wenn ein Beitrag in die Kategorie der neuen Marx-Lektüre fällt, so wie sie von den Herausgebern offenbar verstanden wird, dann dieser. Im Kontext der neuen Marx-Lektüre zu schreiben, reklamiert auch Michael Heinrich für sich. In seinem Beitrag Entstehungs- und Auflösungsgeschichte des Marxschen Kapital vermeint der Autor, mehrfache Versuche Marxens das Kapital zu verfassen erkennen zu können. Versuche, die allesamt nicht zu Ende geführt worden wären. Diese Auffassung lässt sich nur vor dem Hintergrund der These Heinrichs verstehen, Marx hätte die kapitalistische Produktionsweise in ihrem idealen Durchschnitt analysiert.[1] Sofort erhebt sich die Frage: Durchschnitt wovon? Von dem vergangenen, gegenwärtigen und jedem zukünftig möglichen Kapitalismus? Wenn ich jeden möglichen zukünftigen Kapitalismus in den Durchschnitt einbeziehe, so behaupte ich zugleich, die Zukunft könne uns nichts Substanzielles über den Kapitalismus lehren, zumindest nicht so viel, dass ich eine Analyse des idealen Durchschnitt nicht tatsächlich zu Ende führen könnte! Wenn ich den Begriff des Kapitals eben nicht radikal von der Geschichte des Klassenverhältnisses abkopple, dann ist so etwas wie ein endgültiger Abschluss der Analyse eine methodisch höchst problematische Konzeption.

Oliver Schlaudt diskutiert Marx als Messtheoretiker, wobei der Titel bereits über den Inhalt informiert. Nicht vorenthalten möchte ich sein Resümee, dass "Marx ein wichtiges messtheoretisches Problem stellt und löst". (S 278) Ich betone dies auch deshalb, weil es - man verzieh mir etwas Süffisanz - so wunderbar mit der Behauptung im Vorwort harmoniert, Marx hätte uns ein "Fragment" (S. 8) hinterlassen. Von Fragmenten bei Marx ist auch im Beitrag von Riccardo Bellofiore Ein Geist verwandelt sich in einen Vampir: Kapital und lebendige Arbeit wenig zu merken. Im Gegenteil, Bellofiore greift eine ganze Reihe von umstrittenen Themen, wie die Kategorie der abstrakten Arbeit, den Ausgleich der Profitrate sowie das Geldproblem, unter dem Gesichtspunkt eines Nichtwarengeldes auf und führt alle diese Problematiken immer wieder auf den Gegensatz von Kapital und lebendiger Arbeit, genauer, auf die Unterwerfung der lebendigen Arbeit im Kapitalverhältnis zurück. Seinen Beitrag und den Text von Urs Lindner halte ich persönlich für die interessantesten im vorliegenden Sammelband.

Die Beiträge von Werner Bonefeld Praxis und Kritik: Bemerkungen zu Adorno sowie jenen von Christopher J. Arthur Arbeit, Zeit und Negativität kann ich insofern gemeinsam skizzieren, als beide einen stark hegelmarxistischen Einschlag besitzen. Unter Hegelmarxismus verstehe ich die Methode, Marxsche Aussagen als Anwendung von bei Hegel entwickelten dialektischen Begriffsfiguren zu interpretieren. Wobei der argumentative Kern - ob ausgesprochen oder nicht - des Hegelmarxismus darin besteht, Marx hätte ohne Rekurs auf diese dialektischen Figuren, die Hegel insbesondere in seiner großen Logik entfaltet, seine inhaltlichen Aussagen und Positionen nicht oder nicht in dieser Form entwickeln können. Ich teile diese Auffassung nicht. Wie dem auch sei, der Hegelmarxismus kann unmöglich als Ergebnis einer neuen Marx-Lektüre, wie sie von Heinrich, Hoff und Elbe für sich reklamiert wird, behauptetet werden.

Zusammenfassend lässt sich sagen: In keinem der Beträge (Reichelt und Heinrich können als Protagonisten ausgenommen werden) wird auf diese fiktive Marx-Lektüre Bezug genommen, in irgendeiner Form Bilanz gezogen oder deren vorgebliche Ergebnisse und Erkenntnisse gewürdigt. Das ist keineswegs verwunderlich. So etwas wie eine neue Marx-Lektüre, die zudem bereits insofern Ideengeschichte sein soll, als wir von einem "nach" sprechen können, existiert als einheitliche und bedeutende Strömung nicht. Die neue Marx-Lektüre ist ein Label, welches letztlich nur Heinrich und seine Schüler begehrlich für sich reklamieren. Der Untertitel ist Kalkül, er soll dieser hoch spezifischen, auf einen schmalen Kreis von PublizistInnen beschränkten Marxrezeption Reputation und Dimension verleihen, die sie keineswegs besitzt. (Johann-Friedrich Anders hat in seinem, in den grundrissen Nr. 37 publizierten Artikel Wie Marx nicht gelesen werden sollte - Zur Kritik der neuen Marx-Lektüre sowohl die Dürftigkeit der Ergebnisse als auch indirekt die dünne personelle Decke dieser Strömung aufgezeigt.) Nicht uninteressant dürfte in diesem Zusammenhang die Information sein, dass zwischen Backhaus und Reichelt auf der einen und Heinrich auf der anderen Seite zudem bedeutende Differenzen bestehen.[2] Warum Bonefeld, der doch eher einer Strömung zugerechnet werden kann, die als Open Marxism bezeichnet vom Klassenkampf ausgeht, sich an diesem Unternehmen beteiligte, ist eine Frage, die nur er beantworten kann. Aber möglicherweise ist mir das eigentliche Verständnis der neuen Marx-Lektüre deshalb entgangen, weil ich zu wenig auf die Anführungsstrichen geachtet habe, mit dem die Herausgeber den Ausdruck "neuen" im Buchtitel versehen haben. Irgendeinen Grund dafür muss es ja geben.


Anmerkungen:

[1] De facto unterstellt Heinrich dem Marx, er hätte gewissermaßen ein platonisches Eidos (Musterbild) des Kapitalismus zu analysieren versucht, wäre dabei aber nicht all zu weit gekommen. Wenn wir aber erkennen, dass die Analyse des Kapitalverhältnisses nicht von Klassenkampf und Dynamik zu trennen ist, dann ist die Analyse erst abschließbar, wenn das Kapitalverhältnis welt weit Geschichte ist. Und selbst dann ist es fraglich, ob das Nachdenken über den Kapitalismus jemals zu einem endgültigen Abschluss gebracht werden kann. Dass die Entwicklung des Kapitalismus bereits Marx zu dessen Lebzeiten zu immer neuen Studien veranlasst hat, kann keinesfalls als Scheitern einer fiktiven synchronen Analyse interpretiert werden. Und wenn Heinrich eine Stelle gefunden hat, in der Marx vom idealen Durchschnitt spricht, so wäre es korrekt gewesen die gesamte Passage zu zitieren. Marx spricht nämlich davon, die innere Organisation der kapitalistischen Produktionsweise "so zu sagen in ihrem idealen Durchschnitt darzustellen". (MEGA II 4.2 853, Hervorhebung K.R.) Und ebenso wäre es korrekt gewesen, hinzuzusetzen, dass es sich dabei um die einzige Passage im bisher veröffentlichenden Werk von Marx handelt, in der diese Wendung vorkommt.

[2] Backhaus, Hans-Georg; Reichelt, Helmut, (1995) "Wie ist der Wertbegriff in der Ökonomie zu konzipieren? Zu Michael Heinrich: Die Wissenschaft vom Wert.", in: Beiträge zur Marx-Engels-Forschung, Neue Folge 1995. Hamburg, Seite 60-94

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Buchbesprechung von Martin Birkner

Bernhard Schmid: Die arabische Revolution? Soziale Elemente und Jugendprotest in den nordafrikanischen Revolten

Münster: edition assemblage 2011, 120 Seiten, 12,80 EUR

Bernhard Schmid, in Paris ansässiger Journalist und politischer Aktivist ist ein exzellenter Kenner des arabischen Raums. In dem bei der neu gegründeten edition assemblage erschienenen schmalen Bändchen liefert Schmid sowohl eine dichte Beschreibung der Ereignisse des sogenannten "Arabischen Frühlings" als auch die Verstrickung der westlichen bzw. vielmehr nördlichen Staaten in die Machtverhältnisse und deren zum Teil radikale Transformation durch die Volksbewegungen von 2011. Quer durch mehr (Ägypten, Tunesien) und weniger bekannte (Quatar, Marokko) Beispiele des beispiellosen Umwälzungsprozesses macht Schmid die Vieldimensionalität des "Arabischen Frühlings" deutlich. Er unterzieht die Rolle islamistischer Bewegungen einer materialistischen Analyse, weit abseits neokonservativer und linksliberaler Panikmache, er zeichnet den Einfluss von Facebook und anderen sozialen Medien als Werkzeuge der Organisation von Protesten nach, um gleichzeitig den medialen Hype und den Reduktionismus der bürgerlichen Presse ("Facebookrevolution") in die Schranken zu weisen, und er nähert sich der sozialen Zusammensetzung der Revoltierenden in den verschiedenen Ländern, dem regional äußerst unterschiedlichen Einfluss der Gewerkschafts- und ArbeiterInnenbewegung.

Akribisch werden sowohl die Daten der revolutionären Ereignisse miteinander in Beziehung gesetzt als auch die - meist gescheiterten - Versuche der jeweiligen Regierungen nachgezeichnet, sich den sozialen Frieden durch Geld bzw. (neue) Sozialleistungen quasi zu erkaufen. Ein wichtiger Abschnitt ist der Rolle des Westens bzw. "Nordens" gewidmet. Die LeserIn erfährt so die Details der von Sarkozy ins Leben gerufenen "Mittelmeerunion" (Ex-Co-Präsident: Hosni Mubarak), die damit verbundenen geostrategischen Interessen und ökonomischen Verflechtungen - selbstverständlich stets zu Lasten der breiten Bevölkerungsmehrheit. Auch Israel & Palästina ist ein Kapitel gewidmet, der sozialen Protestbewegung in Israel, aber auch der politischen Nähe vieler autokratischer Herrscher zum israelischen Regime - und last not least der Sonderrolle des reaktionären "neuen" "Philosophen" Bernard-Henri Levi, der plötzlich als Mittelsmann zwischen der französischen Regierung und den lybischen RebellInnen auftritt und - bar jeder Realität - ein pro-israelisches und selbstredend kapitalistisches Regime in Lybien herbeiverhandeln wollte. Gegen Ende des Buches weist Schmid auf den Einfluss der revolutionären Umwälzungen auf die Migrationsbewegungen aus den betroffenen Ländern hin und damit verbunden auf die erbärmliche Rolle der europäischen Staaten, denen wohl ein willfähriger Diktator wie Qadhafi (so gehört der nämlich geschrieben!), der mit EU-Geldern Flüchtlingslager gegen afrikanische MigrantInnen bauen lässt, lieber ist als eine instabile oder gar eine "unkontrollierbare" Lage, die nicht zuletzt durch die Ströme der Migration die reichen Staaten des Nordens auf die postkolonialen Ungleichheiten ökonomischer und sozialer Natur beständig erinnert. Last not least in aller Kürze ein paar Wermutströpfchen: Über die (Veränderung der) Rolle der Frauen in den Revolten hätte ich gerne mehr erfahren, ebenso über die soziale und politische Zusammensetzung der lybischen RebellInnen (was Schmid allerdings nur schwer vorzuwerfen ist, gibt es doch meines Wissens nach kaum brauchbare Analysen dazu). Auch steht eine intensive Auseinandersetzung mit dem Verhältnis zwischen politischer und sozialer Revolution noch aus - besonders wichtig angesichts der Gefahr, dass sich die durch die Bewegungen veränderten Regierungen dem neoliberalen Projekt noch zugänglicher zeigen könnten als die verblichenen Potentaten der Vergangenheit. Im knapp gehaltenen Schlusskapitel beklagt Schmid die mangelnde Ausstrahlung bzw. vielmehr Aufnahme der arabischen Revolten in Europa - was meines Erachtens sowohl angesichts der "Occupy"-Bewegungen als auch der massiven Widerstände gegen die Zerstörung von Sozialsystemen in einigen europäischen Staaten nicht ganz gerechtfertigt ist. Immerhin stürzen auch europäische Regierungen mittlerweile im Wochentakt. Von der Massivität der Proteste, der Neuzusammensetzung kollektiver politischer Subjekte und der Mobilisierungsfähigkeit unter oft widerlichsten Bedingungen her haben wir jedenfalls vom Süden viel zu lernen. Dem Text ist die unmittelbare Nähe zu den Ereignissen anzumerken. Schmid betont die Prozesshaftigkeit der arabischen Revolutionen, die Darstellung endet mit der Abgabe des Manuskripts Ende August 2011. Allein deshalb kann der Band nicht als endgültige Analyse gelten. Und obwohl "Die arabische Revolution?" somit eine relativ kurze Halbwertszeit beschert sein wird, ist es nachdrücklich zu empfehlen: als Darstellung der historischen Fakten wie auch einer materialistischen Einschätzung der Bewegung in ihrer sozialen und (geo)politischen Verschränktheit - des hoffentlich ersten Schritts einer wirklichen revolutionären sozialen und politischen Umwälzung des arabischen Raumes. Und nicht nur dieses.

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Buchbesprechungen von Robert Foltin

Leo Kühberger / Samuel Stuhlpfarrer (Hg.): Angekommen: Krise & Proteste in der Steiermark

Graz: Forum Stadtpark Verlag 2011, 102 Seiten, Euro 12

Anna Leder (Hg.): Arbeitskämpfe im Zeichen der Selbstermächtigung. Kollektive Gegenwehr in Frankreich, Deutschland, der Schweiz, Österreich und Serbien

Wien: Promedia 2011, 224 Seiten, Euro 17,90

Im Schatten der internationalen Ereignisse - vom arabischen Frühling bis zu Occupy Wall Street - passierte dieses Frühjahr in der Steiermark ganz erstaunliches. Zehntausende protestierten gegen ein angekündigtes Sparpaket. Dabei handelt es sich um den schwersten Angriff auf die sozialen Lebensbedingungen unterer Einkommensschichten, aber auch die stärkste Bewegung in der Steiermark seit Jahrzehnten. Organisiert wurde sie von der Plattform 25, einem Zusammenschluss von 600 Organisationen, die sich gegen die angekündigten Einsparungen von 25% richtete. Am 25. März 2011 demonstrierten erstaunliche 10.000, während der ÖGB eine Woche zuvor nur 600 Betriebsrät_innen mobilisieren konnte. Am 11. April protestierten noch einmal tTusende, die größte Demonstration am 26. April 2011 mit Unterstützung der Gewerkschaften wurde schon auf eine brave Ebene gelenkt. Wieder einmal - wie so oft - ist es den Gewerkschaften gelungen, einen "faulen Kompromiss" (S. 7) zu "erzielen" (Einsparungen von 67 Mio statt 72 Mio Euro).

Aus dem Umfeld der Plattform 25 wurde jetzt eine Broschüre erstellt. Sie beginnt mit der Einschätzung der aktuellen Krise und der speziellen Situation in der Steiermark (Leo Kühberger, S. 10f) und wird durch ein Gespräch mit Vertreterinnen der KPÖ und den Grünen ergänzt, die die Bewegung als parlamentarische Gruppierungen unterstützten (Claudia Klimt-Weithaler, Ingrid Lechner Sonnek, S. 15f). Sie zeigen auf, dass das Geld nicht unbedingt im Sozial- und Bildungsbereich geholt werden muss, sondern bei einer Reihe teurer Prestigeprojekte und bei der privatisierten Pflege (S. 17), die unverschämt hoch finanziert werden. Neben der Beschreibung der Ereignisse, insbesondere einer Chronologie, sind im Kernteil unterschiedliche Beiträge abgedruckt, die das Spektrum repräsentieren, das sich an dieser Bewegung beteiligte. Er beginnt mit der Entwicklung der Bewegung (Georg Fuchs, Anita Hofer, S. 20f), in einem zweiten Teil geht es um den Widerstand gegen das Bettelverbot (im Februar demonstrierten bereits an die tausend Menschen in Graz gegen diese Einschränkung des öffentlichen Raumes (Anton Lederer, Margarethe Makovec, Thomas Wolkinger, S. 25f). In verschiedenen Aufrufen werden die Positionen der Betroffenen aus dem Blickwinkel sozialer und feministischer Projekte beschrieben (Steiermärkische Frühförderstellen, S. 30f, Grazer Frauenrat, S. 32f). Neben einem ersten Aufruf der Plattform (S. 28) wird auch eine "alternative Budgetrede" dokumentiert (Yvonne Seidler und Gerhard Zückert sind die Sprecher_innen der Plattform 25, S. 38f). An letzterer zeigt sich auch, dass nicht allein dem ÖGB die Schuld am Abwürgen der Bewegung zugeschrieben werden kann. Diese Budgetrede bietet Alternativen an, die ein gegenseitiges Ausspielen von Interessen erlauben, allerdings in einem nachfolgenden Beitrag kritisiert werden (Samuel Stuhlpfarrer, S. 43f).

Ergänzt wird die Dokumentation durch eine Analyse der Sozialwirtschaft als notwendigen und wertvollen Teil des Kapitalismus (Nausner & Nausner, S. 60f). Ein wichtiger Beitrag von Leo Kühberger (S. 68f) erklärt die Problematik der zunehmend bezahlt geleisteten Care-Arbeit im Kapitalismus: diese Arbeit ist nicht "produktiv" ist im Sinne der Mehrwertproduktion, zugleich ist sie zentral, weil sie die (Wieder)Herstellung der Arbeitskraft bedeutet. Sie soll in Zukunft als (meist weibliche) Arbeit wieder unbezahlt für das Kapital geleistet werden.

In weiteren Beiträgen wird gewagt, einen Blick über den Tellerrand zu werfen, indem neben anderen Widerstandsaktionen Streiks propagiert werden (Andreas Exner, S. 46f). Eine solche Perspektive wird am Streik bei Sozial Arbeitenden in Oberösterreich ("pro mente", Exit Sozial", "Arcus-Sozialnetzwerk") im Herbst 2010 aufgezeigt, der mit Unterstützung der Klient_innen weitgehend erfolgreich war - ein Großteil der geplanten Entlassungen wurde zurückgenommen (Selma Schacht, S. 78f).

Nach der Niederlage der Bewegung bleibt die Frage, ob das Doppelbudget 2013 neuerlich auf so großen Widerstand stößt oder ob es gelingt, wieder tiefe Einschnitte bei sozialen Absicherungen zu machen (S. 29). Bei der Bewegung im Frühling 2011 handelte es sich um ein Aufbäumen von Teilen der Bevölkerung im Zeichen der Selbstermächtigung. Diese Selbstermächtigung neben und gegen die Gewerkschaften und die Rolle der Disziplinierung durch letztere - auch durch die Übernahme der Führung von Widerstandaktionen - ist das Thema des zweiten hier zu besprechenden Buches.

Ausgehend von einer Rundreise durch die Schweiz, Deutschland und Österreich zur Unterstützung von Streikenden in Serbien entstand eine Koordination von Aktivist_innen, die selbst ermächtigende Streik international unterstützen wollen. Dieses Buch ist ein erstes Ergebnis. Der Beitrag von Christian Frings (Autonome Klassenkämpfe in Deutschland - mit Blick auf Frankreich, S.15f) beschreibt den Aufschwung der teilweise autonomen Arbeiter_innenkämpfe zwischen 2004 und 2008, beginnend mit einem dreitägigen wilden Streik bei Opel-Bochum. Ergänzt wird dieser Beitrag durch einen und Rückblick auf die Geschichte der Sozialpartner_innenschaft in Deutschland seit 1945. Im zweiten Beitrag wird der Kampf gegen die Schließung eines Reifenwerkes in Frankreich beschrieben (Rainer Thomann: "Continental: Die Löwen von Clairox"). Entscheidend ist dabei der Satz: "Wenn die Angst die Seite wechselt". Die Arbeiter_innen haben aufgehört, sich zu fürchten und zu kämpfen begonnen.

Die österreichische Geschichte ist eine der überraschenden Ausbrüche, besonders aber eine der Befriedung (Peter Haumer: "Selbstermächtigung in Österreich: Zwischen Befriedung und Revolte). Gerade in den letzten Jahren ist es gewerkschaftlichen Funktionär_innen gelungen, jeden Hauch von Selbstermächtigung abzuwürgen (mit Ausnahme der Kindergartenpädagog_innen im "Kindergartenaufstand"). Hervorheben möchte ich die versuchte Selbstorganisation des Pflegepersonals in der zweiten Hälfte der 1980er, die eine erstaunliche Dynamik entwickelte, teilweise der gewerkschaftlichen Kontrolle entglitt und dadurch bessere Arbeitsbedingungen erkämpfen konnte. Auch die Schweizer Geschichte der Arbeitskämpfe ist eine des Arbeitsfriedens mit Ausbrüchen (Rainer Thomann: Schweiz Arbeiterwiderstand im "Land des Arbeitsfriedens"). Besonders hervorzuheben ist der Widerstand in den Eisenbahnwerkstätten in Bellinzona im Jahr 2008, wo sich die Arbeiter_innen von den Gewerkschaften emanzipierten und mit Unterstützung der Bevölkerung im Tessin erfolgreich die Schließung verhindern konnten. Ganz anders ein neueres Beispiel: In der Kartonfabrik in Deisswil verhinderte die Gewerkschaft Streiks und Besetzungen und machte dadurch einen Erfolg unmöglich. Das Resümee der bisherigen Beiträge ist, dass das Abwürgen von Kämpfen durch beamtete Funktionär_innen verhindert werden kann, wenn eine Kerngruppe von Aktivist_innen die Gewerkschaft dazu zwingt, kämpferischer aufzutreten, weil sie sonst Angst haben müssen, ihren Führungsanspruch zu verlieren. Wenn sich eine solche informelle Struktur erst während der Auseinandersetzungen bildet - was praktisch immer passiert - ist die Niederlage meist vorprogrammiert.

Dabei handelt es sich allerdings nicht nur um ein Problem des "Verrats" durch die sozialpartnerschaftlich agierenden Gewerkschaften, sondern es ist auch die abwartende Haltung der Belegschaften, die zu einem wenig kämpferischen Verhalten führt und dadurch schon die Niederlage vorweg nimmt. "Wer sein Leben lang Entscheide anderen überlassen und auf Anweisungen gewartet hat, kann auch im Fall einer Bedrohung der wirtschaftlichen Existenz nicht plötzlich ganz anders reagieren." (S. 191)

Im Beitrag zu Serbien (Milenko Sreckovic, Ivan Zlatic: Deindustrialisierung und ArbeiterInnenwiderstand in Serbien) wird klar, dass die Situation dort eine andere ist: Einerseits existiert zwar die Geschichte der Arbeiter_innenselbstverwaltung im ehemaligen Jugoslawien, andererseits haben aber die kapitalistischen Angriffe durch Kriege und Deindustrialisierung eine noch ungünstigere Situation geschaffen: Die Angst braucht erst gar nicht die Seite wechseln, weil es bei den entsprechenden Lebensumständen ohnehin nichts mehr zu verlieren gibt. So fanden und finden immer wieder militante und radikale Kämpfe und Widerstandsaktionen statt, die in ihren Versuchen, Selbstorganisationsformen trotz widriger Bedingungen zu konstituieren, weiter gehen als die meisten Kämpfe in Westeuropa.

Eines ist aber klar, das gilt für die Schweiz, Österreich und Deutschland wie für Serbien und Frankreich: die Organisationsform im 21. Jahrhundert muss eine andere sein als jene der Parteien und Gewerkschaften. In unterschiedlichen sozialen Sektoren haben in den letzten Jahren die Auseinandersetzungen und Klassenkämpfe zugenommen. Diese beiden Bücher bedeuten eine Reflexionen darüber und sind ein wichtiger Ansatz einer notwendigen Internationalisierung der Diskussion im Widerstand gegen den kapitalistischen Krisenangriff.

Raute

IMPRESSUM

Erscheinungsdatum dieser Ausgabe: 12.12.2011,
Redaktionsschluss der Nr. 41: 15.2.2012,

Die Redaktionstreffen der Grundrisse finden jeden 2. und 4. Montag im Monat um 19 Uhr im "Amerlinghaus",
1070 Wien, Stiftgasse 8 statt. Interessierte LeserInnen sind herzlich eingeladen.

Weitere Infos unter: www.grundrisse.net und unter redaktion@grundrisse.net

Ein Jahresabo kostet für 4 Nummern Euro 20,-, das 2-Jahres-Abo nur 35,- Euro!
Bestellungen entweder an grundrisse@gmx.net oder an K. Reitter, Antonigasse 100/8, A-1180 Wien

Bankverbindung: Österreich: BAWAG Konto Nr. 03010 324 172 (K. Reitter), Bankleitzahl 14000.
International: BIC = BAWAATWW, IBAN = AT641400003010324172, Empfänger = K. Reitter

Medieninhaberin: Partei "grundrisse" Antonigasse 100/8, 1180 Wien
Herausgeberin: Redaktion "grundrisse"

MitarbeiterInnen dieser Nummer: Martin Birkner, Bernhard Dorfer,
Robert Foltin, Markus Grass, Birgit Mennel, Wolfgang Neulinger,
Minimol, Franz Naetar, Anton Pam, Mario Plaschke, Karl Reitter,
Georg Wallner

Layout: Karl Reitter

Erscheinungsort: Wien. Herstellerin: Digidruck, 1100 Wien

Offenlegung: Die Partei "grundrisse" ist zu 100% Eigentümerin der Zeitschrift "grundrisse".

Grundlegende Richtung: Förderung gesellschaftskritischer Diskussionen und Debatten.

Copyleft: Der Inhalt der "grundrisse" steht unter der GNU-Lizenz für freie Dokumentation, außer wenn anders angegeben.

ISSN: 1814-3156, Key title: Grundrisse (Wien, Print)


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Quelle:
grundrisse - zeitschrift für linke theorie & debatte
winter 2011, nr. 40
Herausgeberin: Redaktion "grundrisse"
Antonigasse 100/8, 1180 Wien
E-Mail: grundrisse@gmx.net
Internet: www.grundrisse.net


veröffentlicht im Schattenblick zum 15. Februar 2012