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GRASWURZELREVOLUTION/1945: Geschichte wird gemacht - wir machen mit!


graswurzelrevolution Nr. 445, Januar 2020

Geschichte wird gemacht - wir machen mit!
Das Tierbefreiungsarchiv in Döbeln als Bewegungsarchiv und Teil der freien Archivszene

von Renate Brucker


Freie Archive gehen auf die oppositionellen Bewegungen seit den Sechzigerjahren zurück, sie wurden zuerst parallel zur politischen Arbeit als "Handapparate" der jeweiligen Gruppen aufgebaut.(1)

Staatliche bzw. öffentlich-rechtliche Archive hatten (und haben) kaum Interesse an Materialien von Alternativbewegungen. Schließlich geht es dort darum, das Handeln offizieller Stellen zu dokumentieren - nicht um das alternativer, kritischer oder gar widerständiger Akteure. Für soziale Bewegungen ist es wichtig, sich ihrer eigenen Geschichte zu vergewissern, ein umfassendes Bild zu erarbeiten, auch verdrängte und nicht mehr aktuelle Strömungen zu beschreiben, um aus früher gewonnenen Erfahrungen lernen zu können. Dies sollte in möglichst großer Unabhängigkeit, OffXnheit und Transparenz durch Angehörige der jeweiligen sozialen Bewegungen geschehen.

In Döbeln - einer kleinen Stadt in Sachsen (knapp 24.000 Einwohner) - ist solch ein freies, alternatives Archiv entstanden. Das mag verwundern, tatsächlich gehört aber eine Veranstaltung im "Treibhaus", auch "Haus der Demokratie", in Döbeln seit etwa 15 Jahren sehr oft zu einer Buchvorstellungsreise von Autor*innen des Verlags Graswurzelrevolution. Im Jahr 2019 z.B. wurden dort die Veröffentlichungen des Verlages über Amparo Poch y Gascon, über Clara Wichmann und über Gandhi vorgestellt.

Das "Haus der Demokratie" ist ein von dem gleichnamigen Verein und dem Verein "Treibhaus" selbstverwaltetes Zentrum in der Döbelner Innenstadt und zugleich auch Sitz des Archivs. Der Verein "Treibhaus" wurde 1997 hauptsächlich von Jugendlichen gegründet, die einen Freiraum für eigene Aktivitäten, vor allem Musik, wünschten und rechten Tendenzen in der Stadt und Region entgegentreten wollten.(2)

Um 2006 erkannten einige aktive Mitglieder des Vereins, dass das Thema "Ökologie" bisher vernachlässigt worden war. Um sich damit intensiver zu beschäftigen, gründeten sie innerhalb des Treibhauses die autonome Gruppe "Grüne Toleranz". Als erste Veranstaltung wurde ein Film- und Diskussionsabend zum Thema "Grüne Gentechnik" durchgeführt. Die "Grüne Toleranz". vertrat ein anderes - emanzipatorisches - Verständnis von Ökologie als die bisher im Raum Döbeln etablierten Naturschützerinnen, d.h. sie vernetzte sich auch mit antifaschistischen Gruppen und mit der Tierrechtsbewegung. Etwa zehn Jahre lang organisierte die "Grüne Toleranz" Vorträge, Buchvorstellungen, u.a. des Verlags Graswurzelrevolution, beteiligte sich an einer Kampagne gegen eine Pelzfarm und baute eine KüFA, eine Küche für Alle, auf. So wurde also auch schon praktisch gearbeitet, im Hause gilt das "Café Courage" als allgemeiner Treffpunkt und man versorgte auch die Besucher*innen von alternativen Veranstaltungen oder Konzerten in der Region mit veganen Speisen. Für die Jahre 2012 und 2013 hatte die Gruppe mit dem Projekt "greenhouse education" ein besonders interessantes und abwechslungsreich gestaltetes Programm entwickelt. Je einen Monat lang wurden ökologische und soziale Themen wie Klimawandel, Urban Gardening, die Problematik von Staudammbauten(3), kritische Psychiatrie, kritische Erinnerungskultur, Tierversuche, Veganismus und seine politischen Aspekte behandelt. Hierzu gab es jeweils themenbezogene Stadtrundgänge in Döbeln und im benachbarten Freiberg, Workshops, Buchlesungen und Vorträge, also ein äußerst attraktives Programm. Weiter beteiligte sich die Gruppe über die Jahre hinweg an den La Libertad Festivals(4), die in einem nahe Döbeln gelegenen früheren Schlosspark stattfanden. Auch hier ging es um ein vielfältiges Vortragsprogramm, aber auch um praktische Übungen, u.a. zum sparsamen Ressourcenverbrauch und Recycling.

Allerdings hatte sich im Laufe der Zeit die Gruppe "Grüne Toleranz" verändert, hauptsächlich durch den Fortzug von Aktiven in größere Städte - ein Problem, mit dem alternative Zusammenhänge in der Provinz immer wieder konfrontiert sind. Für die in Döbeln Verbliebenen war die Tierrechtsfrage im Laufe der Zeit besonders wichtig geworden und sie begannen, hierauf ihre Aktivitäten und auch ihre Theoriearbeit zu konzentrieren, ohne sich darauf im Sinne eines single-issue-Ansatzes zu beschränken. So wurde 2011 im Treibhaus u.a. das Buch "Das Schlachten beenden" aus dem Verlag Graswurzelrevolution vorgestellt und die - bis dahin unbekannten - historischen Zusammenhänge von gewaltfreiem Anarchismus und Tierbefreiung erläutert. In einem anderen Vortrag ging es unter anderem um das - seinerzeit nur in virtueller Form bestehende - Magnus Schwantje Archiv, in dem die Schriften dieses Tierrechtlers und Pazifisten zusammen mit anderen Materialien der Tierrechtsbewegung und des Vegetarismus im Internet veröffentlicht sind.(5)

Zuvor hatte es schon die Idee einer Tierrechtsbibliothek gegeben, aber die Gruppe, die inzwischen von einer Ökogruppe zu einer Tierrechtsgruppe und als Konsequenz daraus zu einer Ortsgruppe des deutschlandweit arbeitenden Vereins "Die Tierbefreier" geworden war, erkannte die Notwendigkeit, die historischen und zeitgenössischen Quellen der Bewegung an einem zentralen Ort zu sammeln. Ein wichtiger Impuls zur schließlich 2013 erfolgten Gründung des Tierrechtsarchivs kam also auch durch den Verlag Graswurzelrevolution.

Einen ständigen und unkomplizierten Zugang zu den Quellen zu ermöglichen, und der Bewegung selbst sowie Wissenschaftler*innen, Journalist*innen oder anderen Interessierten zur Verfügung stellen zu können, ist für die Entwicklung einer Bewegung entscheidend. Gerade in der Tierrechtsbewegung sind emanzipatorische Positionen, wie z.B. die Magnus Schwantjes, nicht angemessen zur Geltung gekommen, u.a. weil die entsprechenden Quellenbestände irgendwo verschlossen lagerten, falls sie überhaupt vor der Vernichtung bewahrt worden waren. Erben, Nachlassverwalter oder "Entrümpler" sind sich oft der Bedeutung des vorgefundenen Materials nicht bewusst und vernichten es, teilweise auch, weil sie keine geeignete Anlaufstelle kennen. Die Gruppe verfügte bereits im Haus der Demokratie über ein eigenes Büro, das sie 2014 aus Mitteln des "Tierrechtstopfes" (einer einmaligen Spende an verschiedene Initiativen aus diesem Bereich) renovierte und als Magazin ausstattete. Nach einer ersten Erwähnung des Projektes im Magazin "Tierbefreiung" (2013) gingen bald Materialien ein, dann im Jahre 2015 der Nachlass der Sozialwissenschaftlerin und Aktivistin Birgit Mütherich (1959-2011), die das Mensch-Tier-Verhältnis als wichtigen Schlüssel für die Analyse symbolischer Ordnungen und sozialer Handlungssysteme verstanden und analysiert hatte.(6) Auch begannen die Aktiven, sich mit den Arbeitsweisen und Organisationsformen, d.h. mit der praktischen Seite freier Archive zu beschäftigen, um sich das für ihre Arbeit notwendige Wissen anzueignen. So absolvierte auch ein Mitarbeiter aus Döbeln im Rahmen seines Geschichtsstudiums ein Praktikum bei dem bekannten und sehr viel größeren AFAS (Archiv für alternatives Schrifttum) in Duisburg und konnte seine dort gewonnenen Erfahrungen im Tierbefreiungsarchiv einbringen. Ebenso wie im Archiv in Duisburg werden auch in Döbeln Flyer, Flugblätter, Manuskripte, Broschüren, Korrespondenzen, Zeitschriften und Zeitungsbeiträge, Bücher, Leserbriefe, Filme, Fernsehbeiträge, Sticker, T-Shirts mit Slogans, Plakate, Transparente - oder zumindest Fotos von solchen Sachüberresten gesammelt und mittlerweile auch ganze Bestände übernommen. Eine dieser Sammlungen stammte aus dem Keller eines "Projekthauses" in Berlin, an der Universität Bochum bestand ein Tierrechtsarchiv, das aufgelöst werden musste, weil die Universität dessen Räume wieder für eigene Zwecke benötigte. Nicht nur für die Döbelner Gruppe ist dies ein Beweis, wie wichtig die Unabhängigkeit von staatlichen Institutionen ist.

Auf der Internationalen Animal Rights Conference in Luxemburg wurde 2018 die Arbeit des Archivs vorgestellt und aufgerufen, auch in anderen Ländern Archive zu gründen, denn die Tierbefreiungsbewegung war schon relativ früh - zu Beginn des 20. Jahrhunderts - international angelegt. In Vorträgen und Workshops, - auch in Zusammenarbeit mit anderen Tierrechtsgruppen wie dem Verein ARIWA (Animal Rights Watch), - wurden 2017/18 rechte Strukturen als mögliche Gefahr für die Bewegung kritisch beleuchtet.

Neben den oben erwähnten Vorträgen zum Thema der Beziehungen zwischen Anarchie und Tierbefreiung veröffentlichte die Gruppe im Magazin "Tierbefreiung" (Nr. 102, 2019) Beiträge über Élisée Reclus und Louise Michel sowie eine Rezension eines Essays von Brian A. Dominik zu "Tierbefreiung und Soziale Revolution". Ein Vortrag mit dem Titel "Tierbefreiung und Anarchie - Schwestern im Geiste?" wurde mehrfach in verschiedenen Städten gehalten. Um ihre unabhängige Archivarbeit weiter fortsetzen und ausbauen zu können, hat die Gruppe eine Crowdfunding Aktion gestartet, die seit Oktober 2019 auf der Plattform www.leetchi. com/c/tbarchiv läuft. Sie möchte den "großen Erzählungen" von Krieg und Konkurrenz eine andere Geschichte "von Mitgefühl und Solidarität über Speziesgrenzen hinaus" entgegensetzen - ein Ziel, das gewaltfreie Anarchisten und Anarchistinnen doch teilen.


Anmerkungen:

(1) Bacia, Jürgen u.a.: Zur Zukunft der Archive von Protest-, Freiheits- und Emanzipationsbewegungen. Positionspapier des VdA zu den Überlieferungen der Neuen Sozialen Bewegungen. 2016, S. 5.

(2) Weitere Informationen über das vielfältige Programm in: Es hat sich alles gelohnt. 20 Jahre Treibhaus EV. Döbeln 2017.

(3) Bürger, Ulrike: Staudamm oder Leben! Indien: Der Widerstand an der Narmada. Verlag Graswurzelrevolution 2011 - wurde von der Autorin vorgestellt.

(4) https://lalibertadfestival.wordpress.com

(5) www.magnus-schwantje-archiv.de

(6) Mütherich, Birgit: Die Problematik der Mensch-Tier-Beziehung in der Soziologie: Weber, Marx und die Frankfurter Schule. Dortmunder Beiträge zur Sozial- und Gesellschaftspolitik Bd. 28. 2. Aufl. Lit Verlag, Münster 2004. Dies.: Die soziale Konstruktion des Anderen - Die soziologische Frage nach dem Tier.
https://www.rootsofcompassion.org.

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Quelle:
Graswurzelrevolution, 49. Jahrgang, Nr. 445, Januar 2020, S. 22+23
Herausgeber: Verlag Graswurzelrevolution e.V.
Koordinationsredaktion Graswurzelrevolution:
Breul 43, D-48143 Münster
Telefon: 0251/482 90-57, Fax: 0251/482 90-32
E-Mail: redaktion@graswurzel.net
Internet: www.graswurzel.net
 
Die "graswurzelrevolution" erscheint monatlich mit
einer Sommerpause im Juli/August.
Der Preis für eine GWR-Einzelausgabe beträgt 3,80 Euro.
Ein GWR-Jahresabo kostet 38 Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 26. Februar 2020

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