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GRASWURZELREVOLUTION/1774: Stichworte zum Postanarchismus - Neue Linke


graswurzelrevolution Nr. 430, Sommer 2018
für eine gewaltfreie, herrschaftslose gesellschaft

Stichworte zum Postanarchismus 5
Neue Linke. Das Leben ist politisch, Motherfuckers!

von Oskar Lubin


"Wir verkörpern die Nachfrage nach unserem Leben"(1), lässt Rachel Kushner in ihrem Roman Flammenwerfer den Motherfucker Fah-Q sagen. In den USA sei die Nachfrage nach Leben die einzige, die nicht gedeckt werden könne. Also das Leben selbst in die Hand nehmen. Die Gruppe der Motherfuckers, die sich nach dem Polizeibefehl gegenüber rebellischen Jugendlichen "Up Against the Wall, Motherfuckers!" benannte, besteht im Buch aus ein paar ziemlich durchgeknallten und gewaltbegeisterten Typen.

Im weitesten Sinne wohl Linke, die die Rebellion der 1960er Jahre verkörpern wollten. Sie besetzen Häuser, werfen Brandbomben, verprügeln Rocker und reden auch von Anarchie. Neue Linke. Das Leben steht im Mittelpunkt, nicht mehr die Arbeit. Darum ranken sich die Kämpfe. Damit wird auch der Entfremdung in der Theorie mehr Aufmerksamkeit als der Ausbeutung gewidmet. Guerillahafte Aktionsformen lösen Partei- und Gewerkschaftsarbeit als angesagte und dauerhafte Praxis ab. Das Proletariat wird nicht länger als einziges, zwingendes Subjekt der Geschichte begriffen.

Schließlich wird der Leninismus mit seiner Orientierung auf das Ergreifen der Staatsmacht verworfen. Das alles ist mit dem Jahr 1968 verknüpft, es kulminiert dort in verschiedensten Formen, die Motherfuckers sind eine Form von vielen.

Eine andere war die neue Frauenbewegung. Sie war auch eine Reaktion auf den Machismo der linken Genossen. Eine neue Politik in der ersten Person. Die Anarchafeministin Peggy Kornegger schrieb 1975 rückblickend: "Als die zweite Welle des Feminismus in den späten sechziger Jahren das Land überflutete, zeigten die Formen, die die Frauengruppen oft annahmen, ein ausgesprochen freiheitliches Bewußtsein. [...] Wir lernten voneinander, daß Politik sich nicht dort draußen, sondern in unseren Körpern und Köpfen und unter den Individuen abspielt."(2) So gesehen kann "1968" nicht nur als feministischer Aufbruch, sondern auch als eine Erfolgsgeschichte für den Anarchismus gelesen werden. Denn alle fünf Kriterien für das Neue in der linken Politik der Neuen Linken - Leben statt Arbeit, Entfremdung statt Ausbeutung, Guerilla /Spontaneität statt Partei/Organisation, Viele statt Proletariat, Macht von unten statt Staat - kommen aus der libertären Bewegung. Hier wurde die politische Konzentration auf die Fabrikarbeit kritisiert und das sozialistische Beginnen propagiert, hier spiegelte sich die Ablehnung von Hierarchien auch in den eigenen Organisierungsversuchen. Hier wurden neben den ArbeiterInnen auch Bohèmiens und Waschfrauen, Lumpenproletarier und Lehrlinge adressiert. Man muss die Unterscheidung zwischen alter und Neuer Linker nicht überstrapazieren, aber diese fünf Kriterien haben sich als Differenzmarkierungen doch einigermaßen durchgesetzt.

Man sollte sie auch nicht überstrapazieren, weil sich gerade innerhalb der anarchistischen Bewegungen eben oft Elemente beider Kategorien fanden.

Proletarische Ausrichtung und Staatsablehnung, Ausbeutungskritik und Spontaneismus usw. Und dennoch wurde die Differenz von alter und Neuer Linker auch von Zeitzeugen und Zeitzeuginnen als Bruch erfahren. Als beispielsweise alte Gewerkschaftsaktivisten auf junge studentische Rebellen trafen.

Es gab die Motherfuckers tatsächlich, nicht nur im Roman. Der Anarchosyndikalist Sam Dolgoff (1902-1990) traf Ende der 1960er Jahren mit einigen von ihnen zusammen. Er beschreibt sie mit revolutionärem Augenzwinkern als "eigentlich sehr liebenswürdige Leute, absolut unfähig, ihre Drohungen in die Tat umzusetzen".(3) Der gestandene Organisator Dolgoff ist den unklaren Zielen und chaotischen Lebensgewohnheiten der Motherfuckers nicht sehr zugetan und von der "romantischen Glorifizierung von Gewalt"(4) ziemlich angeekelt. Ihnen bei der Prozessekostenbeschaffung zu helfen, hielt er dennoch für seine solidarische Pflicht. Die italienischen Genossen allerdings wollte man zu dieser Solidarität nicht verpflichten - bei ihnen, beschreibt Dolgoff die Bedenken, würden die Mütter sehr verehrt und da wollte man ihnen die positive Bezugnahme auf eine Gruppe namens Motherfuckers nicht zumuten.

An den Geschlechterrollenklischees sollte dann doch nicht gerüttelt werden. Der Umsturz der herrschenden Geschlechterordnung stand offenbar in der "alten", arbeiterbewegten Linken nicht ganz oben auf der Tagesordnung. Das änderte sich 1968 definitiv. Und zwar gleichzeitig als Reaktion auf die Mütterverehrung und auf die machistische Motherfuckerei der jungen Genossen. Wie Kornegger hat auch die Historikerin Christina von Hodenberg in ihrem aktuellen Buch über "Das andere Achtundsechszig" darauf hingewiesen, wie wichtig eigentlich die feministische und frauenbewegte Mobilisierung dieser Zeit war. Das eigene Leben selbst gestalten zu können und es nicht nach Männern und Kindern ausrichten zu müssen, das musste gegen die überwiegende Mehrheit und gegen das dominante Normengefüge erst durchgesetzt werden.

Das Selbstbestimmungsrecht über den eigenen Körper und die Frage der Reproduktionsarbeit waren ganz alltagspraktische Probleme. Sie schienen privat und mussten erst als öffentlich und damit als politisch relevant eingefordert werden.

Der Charakter von 1968 als historisches Ereignis sei anders zu verstehen, schreibt von Hodenberg, "wenn wir das Private gleichwertig neben das Öffentliche stellen".(5)

Der feministische Teil der Bewegung wird nach wie vor "geringgeschätzt und als Nebenprodukt des politischen, männlichen Achtundsechzig betrachtet".(6) Ebenso werden die anarchistischen Elemente unterschätzt, ins Lächerliche gezogen oder, wie vom Historiker Götz Aly, verfälscht dargestellt.

Manche Leute seien um 1968 den Ideen des "obsessiven Antisemiten Michail Bakunin"(7) gefolgt, schrieb Aly 2008 in seinem Abrechnungsbuch - als hätten sie es wegen, nicht trotz des Antisemitismus getan! Die Verleugnungsgeschichte teilen Anarchismus und Feminismus wohl.

In den Effekten allerdings unterscheiden sie sich vehement. Anders als der Anarchismus hat der Feminismus auch langfristig enorme Veränderungen in der Tiefenstruktur der Gesellschaft herbeigeführt. Die totale Orientierung an der Ehe, die gesetzliche Vormundschaft durch Männer, die Scham öffentlich zu sprechen, die unbedingte Festlegung auf Reproduktionsarbeit und Mutterschaft - all das ist bekämpft worden und als Norm gefallen! Wenn auch die sozialistischen, räterepublikanischen, antikapitalistischen Hoffnungen von 1968 im langen Marsch durch die Institutionen auf der Strecke geblieben sind, das Leben vieler, vor allem für Frauen, hat sich zum Besseren hin verändert!

Die Erfolgsgeschichte des Anarchismus muss hingegen viel bescheidener geschrieben werden. Sie findet sich in Impulsen und Motivationen für kleine Minderheiten. (Hier setzt auch der Postanarchismus an. Postanarchismus ist reflexive Minderheitenpolitik. Er tut nicht so, als würde er "das Volk" oder sonst eine Masse repräsentieren oder automatisch auf solch eine Einheit zurückgreifen können. Und er ist sich dessen bewusst, macht den Minderheitenstatus zum Thema. Darin unterscheidet sich der Postanarchismus von anderen Strömungen der alten und Neuen Linken, die, Neoanarchismus inklusive, zwar von Minderheiten getragen wurden - Studierendenbewegung, lokal agierende Gruppen von AnarchosyndikalistInnen etc. -, aber immer davon ausgingen, im Prinzip für die Mehrheit sprechen zu können. Oder zumindest mit ihr, in solidarischer Verbundenheit.) Dass hingegen auch der Anarchismus sich massenhaft durchsetzt, und zwar wie Dolgoff hoffte, "nicht nur als Rebellion gegen den Status Quo, sondern als praktische und notwendige Alternative zu autoritären Institutionen"(8), davon sind wir Lichtjahre entfernt.


ANMERKUNGEN:
(1) Rachel Kushner: Flammenwerfer. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Verlag 2015, S. 265.
(2) Peggy Kornegger: "Der Anarchismus und seine Verbindung zum Feminismus." In: Div.: Anarchafeminismus. Berlin: Libertad Verlag 1982, S. 21-70, S. 53.
(3) Sam Dolgoff: Anarchistische Fragmente. Memoiren eines amerikanischen Anarchosyndikalisten. Lich/Hessen: Verlag Edition AV 2011, S. 112.
(4) Ebd.
(5) Christina von Hodenberg: Das andere Achtundsechszig. Gesellschaftsgeschichte einer Revolte. München: Verlag C.H. Beck 2018, S. 110.
(6) Ebd., S. 107.
(7) Götz Aly: Unser Kampf. 1968 - ein irritierter Blick zurück. Frankfurt am Main 2008, S. 9.
(8) Dolgoff, a.a.O., S. 115.

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Quelle:
graswurzelrevolution, 47. Jahrgang, Nr. 430, Sommer 2018, S. 7
Herausgeber: Verlag Graswurzelrevolution e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 28. Juni 2018

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