Schattenblick → INFOPOOL → MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE


GRASWURZELREVOLUTION/1667: Die Naturwissenschaftler haben die Welt nur erklärt ...


graswurzelrevolution 419, Mai 2017
für eine gewaltfreie, herrschaftslose gesellschaft

Die Naturwissenschaftler haben die Welt nur erklärt ... es kommt aber darauf an, sie zu interpretieren!
Eine Replik auf Josef Steinbeiß' Zurück zur Natur des Menschen", in: GWR 417, März 2017, S. 11 (*)

von Teodor Webin


Josef Steinbeiß' Diagnose, dass heute viele Anarchist*innen einem Naturbegriff ablehnend gegenüberständen und sich statt dessen auf poststrukturalistische Ideen bezögen, widerspricht unseren Beobachtungen des zeitgenössischen Anarchismus. Wir sind schockiert von einem neuen anarchistischen Antimarxismus, der sich darin zeigt. dass eine Determinierung durch historische Ereignisse radikal geleugnet wird. aber dafür anthropologische Grundannahmen verabsolutiert und sich bemüht wird. diese neurobiologisch, genetisch und statistisch zu belegen.


Dabei ist nicht die Ablehnung eines Marxismus zu kritisieren, sondern die Verweigerung, sozialhistorische Entwicklungen als relevant für heutige Veränderungsmöglichkeiten anzuerkennen und sich einen Ersatz-Determinismus zusammenzubasteln, der den Fehler der historischen Arbeiter*innenbewegung wiederholt: Sich "wissenschaftlich" auf der richtigen Seite zu sehen und schon mal zu Sieger*innen zu erklären, zumindest aber darauf zu beharren, unwiderruflich recht zu haben.

Uns verwirrt diese neue Wissenschaftsgläubigkeit. Es gibt ein neues Sicherheitsdispositiv, dass vor der Linken nicht Halt macht, sondern diese bereits infiltriert hat: Wo die Konservativen ihre Religion wieder entdecken, entdecken die Linken in radikalem Widerspruch (und damit im selben Diskurs) die Absolutheit der Wissenschaft als "Heilsbringer".

Exemplarisch dafür stehen die sogenannten "Humanist*innen" um Michael Schmidt-Salomon, die gegen einen religiösen Fundamentalismus einen atheistischen Fundamentalismus ins Spiel bringen und die faktische Evolution sozial überhöhen. Damit stehen sie in der Tradition von Anarchisten wie Kropotkin und Reclus. Und sie bereiten gleichzeitig einem neuen Sozialdarwinismus das Feld. Zu sehen ist dies etwa daran, wie sich die Wiederveröffentlichungen der Texte von Kropotkin in den vergangenen Jahrzehnten verändert haben: Im Vorwort zu Kropotkins "Die Eroberung des Brotes" in der Ausgabe von 1989 warnt Herausgeber Wolfgang Haug vor den sozialdarwinistischen Implikationen, ebenso Henning Ritter im Nachwort zur 1993er Veröffentlichung von "Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt". In der 2013er Veröffentlichung von Kropotkins "Ethik" dagegen besorgt eben besagter Michael Schmidt-Salomon das Vorwort und lobt es als "Grundlage eines evolutionären Humanismus". Kropotkins "Menschen- und Weltbild" gilt ihm als "zeitgemäß".

Wir sehen hier eine Gegenbewegung gegen den US-amerikanischen Kreationismus und die Evangelikalen. Wissenschaftlich wird dieser u.a. präsentiert von Richard Dawkins (und Greg Graffin, dem Biologieprofessor und Sänger der Punkband Bad Religion). Der ursprüngliche Anti-Kreationismus mit Bezug auf Darwin ist dabei nicht falsch, er wird aber verabsolutiert. Das wäre nicht das erste Mal in der Geschichte linker Bewegung: Der Marxismus als reine Fortschrittsgläubigkeit war weniger von Marx inspiriert (dessen Schriften waren zum Großteil nicht mal gedruckt erhältlich, Ausnahme, neben dem "Manifest", bezeichnenderweise das Kapital) als vielmehr von naturwissenschaftlicher Literatur (in den Ausleihlisten der Arbeiterbibliotheken des ausgehenden 19. Jahrhunderts waren in den "Top 10" ausschließlich populistisch-naturwissenschaftliche Werke zu finden, die sich auf Darwin und Mendel bezogen, Ausnahme ist Platz 1: Bebels "Die Frau im Sozialismus"). Beim "historischen Materialismus" handelt es sich also um eine Unterart des Sozialdarwinismus, der nunmehr ungeahnte Urstände feiert. Diese neue Wissenschaftsgläubigkeit basiert auf dem Irrtum, dass die Naturwissenschaften das fundamentale Gegenteil der abgelehnten Religion(en) repräsentieren würden.

Nun positioniert sich - zumindest vordergründig - Josef Steinbeiß auf dieser Position, die wir nicht nur ablehnen, sondern als bedrohlich empfinden. Bei genauerem Hinsehen wird sich allerdings zeigen, dass Steinbeiß etwas anderes meint - und dabei nicht so weit von einer poststrukturalistischen Anarchismus-Interpretation weg ist, als er selber vielleicht annimmt.

Alte Wissenschaftsgläubigkeit

Auch im historischen Anarchismus - Steinbeiß nennt exemplarisch Kropotkin und Reclus - basiert die Wissenschaftsgläubigkeit u.a. auf Säkularisierungsbestrebungen. Mit einer biologistischen Begründung des Materialismus trat ein weiterer vermeintlich unvereinbarer Gegensatz zur Religion auf. "Theorien über die Evolution", so Hobsbawm, übten "eine dramatische, oder, besser gesagt, traumatische Wirkung aus, weil sie erstmals in einen bewussten und kämpferischen Konflikt mit den Kräften der Tradition, mit Konservativismus und vor allem mit der Religion hineinführten."

Der Marxismus, wie wir ihn heute kennen, entstand in den 1890er Jahren, nach dem Tode Karl Marx' 1883. Das, was "Marxismus" ist, wurde hauptsächlich definiert, durch die "Propheten" des Marxismus, an erster Stelle Friedrich Engels und Karl Kautsky, aber auch August Bebel. Diesen drei Evangelisten war gemeinsam, dass sie, stärker als Marx selber, in vereinfachten Erklärungen auf biologische und evolutionistische Gleichnisse zurückgriffen. Gerade "die deutschen Sozialdemokraten wurden eingefleischte - manche Schüler von Karl Marx wie beispielsweise Kautsky sogar zu eingefleischte - Darwinisten", so Hobsbawm.

Betrachtet man genauer, was Arbeiter und evtl. auch Arbeiterinnen in den 1890ern - 1910er Jahren lasen, so findet man, abgesehen von Bebels "Die Frau und der Sozialismus", nahezu ausschließlich naturwissenschaftliche Werke wie etwa Ludwig Büchners "Kraft und Stoff", Arnold Dodels "Moses oder Darwin", mehrfach Ernst Haeckel, der 1906 den deutschen Monistenbund begründete und sich beim Gründungsakt gar zum "Gegenpapst" ausrufen ließ. Auch bei Anarchist*innen gehört es zum Zeitgeist, die politischen Argumentationen naturwissenschaftlich zu fundieren. Das bekannteste Beispiel ist Kropotkins "Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt", ähnlich zu finden bei &Eachte;lisée Reclus, von Johann Most stammt aus dieser Zeit die Broschüre "Stammt der Mensch vom Affen ab?" (1887). Insbesondere Kropotkins "Gegenseitige Hilfe" gehört in den Kanon oben gelisteter naturwissenschaftlicher Bestseller und wurde laut Koechlin "weit mehr gelesen" als Schriften von Marx, nicht nur von Anarchist*innen, sondern auch von Sozialdemokrat*innen. Zu Darwins Ehrenrettung muss an dieser Stelle betont werden, dass Kropotkins "Gegenseitige Hilfe" keineswegs anti-darwinistisch war, denn sowohl waren Darwin die kooperativen Formen des "Kampfs ums Dasein" bekannt. Ebenso wie Kropotkin lehnte er die sozialdarwinistische Interpretation dieses "Kampfes" ab.

Nichtsdestotrotz ging es Kropotkin, ebenso wie den kautskianischen "naturalistischen Materialisten", um eine naturwissenschaftlich belegbare Fortschrittsbewegung, die gesetzesmäßige "Kontinuitäten zwischen Natur und Gesellschaft" voraussetzt und auf dem "Evolutionsschema des 19. Jahrhunderts" basierte. "Daß in einem [...] eindimensionalen, vom Kausalgesetz total beherrschten Weltbild, das allein naturwissenschaftlich gefaßt werden kann", so Koechlin, "für den Begriff der Freiheit gar kein Platz ist, wird ihm nicht bewußt".

Der Anarchismus ist daher, obwohl - oder gerade weil - sich Kropotkins Studien als Fortsetzung der Darwinschen Studien verstehen, immuner gegen einen Sozialdarwinismus, den es durchaus auch von links gab. Einer seiner prominentesten Kritiker war Rudolf Rocker.

Sämtliche Arbeiterbewegungen - anarchistische, marxistische, sozialdemokratische - haben also die Religion großenteils verworfen, weil sie miteinander übereinstimmend eine andere für sich entdeckt hatten: Die Wissenschaft. "Es ist also eine neue Religion, die die Arbeiter sich aneignen, und zwar Religion in ihrer autoritären, eine Priesterschaft erzeugenden Erscheinungsform. [...] Wieder ist es ja ein übergeordneter Plan und damit eine höhere Instanz, denen die Arbeiter sich unterordnen", fasst Petra Weber zusammen.

Der Einsatz des Poststrukturalismus

Es sind nicht erst die Poststrukturalist*innen oder Postanarchist*innen, die diese Entwicklung problematisierten, sondern diese Kritik hat eine lange sozialhistorische Tradition. Auch Josef Steinbeiß sieht diese Probleme, wie im ersten Teil seines Beitrags festzustellen ist. Der Einsatz des Poststrukturalismus ist dabei nicht nur eine Ablehnung der Begründung des Sozialen aus dem vermeintlich "Natürlichen", sondern auch eine Kritik des linearen Fortschrittsverständnisses, dass die Strömungen des Sozialismus der Evolutionstheorie entnehmen.

Dass der Poststrukturalismus "wissenschaftsfeindlich" sei und Erkenntnisse der Naturwissenschaften ablehne, ist ein Vorurteil. Judith Butler schrieb bereits 1993 in "Körper von Gewicht": "Es ging nie darum, dass 'alles diskursiv konstruiert ist'". Judith Butler reagiert mit "Körper von Gewicht" auf Kritiken, die jener von Steinbeiß gleichen. Sie negiert Natur nicht, sondern betont, dass Natur ebenso wie das Soziale eine Geschichte hat - und dies gilt erst recht für die Naturwissenschaften. Letztlich geht es darum, dass es schwer bis unmöglich ist, festzustellen, wo die Natur aufhört und das Soziale oder Kulturelle beginnt: Sobald Menschen über Natur sprechen, handeln sie sozial/kulturell und geben der Natur damit eine soziokulturelle Bedeutung.

Dass diese politisch oder sozial veränderbar und vor allem regierbar sind, hat Michel Foucault mit dem Begriff der "Biopolitik" ausgedrückt: Regiert wird zunehmend das Leben (und der Tod), und zwar nicht nur der Einzelnen, sondern ganzer Bevölkerungen. Vermessung, Volkszählungen, Demographie, Geburtenkontrolle usw. gehören dazu. Die Naturwissenschaften sind zunehmend Dienstleistungen in dieser Biopolitik und bestehen somit nicht im luftleeren Raum, sondern haben eine soziale Funktion: Sie sind eben nicht "wertfrei" und präsentieren einfach nur "Fakten", gegenüber z.B. religiösen Mutmaßungen.

Das "Biopolitik" auch andersrum geht, wird in dem in den vergangenen Jahren aufgekommenen Begriff des "Biosyndikalismus" deutlich. Protagonist*innen dieses Begriffs waren z.B. die precarias a la deriva, die in ihren Konzepten anarchistisch-gewerkschaftliche, situationistische und operaistische Ideen kombinierten. Aufgrund der Wirkweise von Prekarität müsse eben nicht nur die Arbeit fokussiert werden, sondern das ganze Leben - daher Biosyndikalismus. Der traditionelle Anarchosyndikalismus argumentiert, durchaus berechtigt, dass dies schon immer der syndikalistische Ansatz war. Diesem Begriff von Prekarität folgt auch die poststrukturalistisch orientierte Prekaritätsforschung, namentlich Isabell Loreys und Judith Butlers. Wenn Josef Steinbeiß eine linke Politik fordert, die das Recht auf ausreichend Nahrung, Trinkwasser, Wohn-, Ruhe- und Schlafraum, Atemluft und Pissen, Kacken und Sterben fordert und durchsetzt, dann könnte das fast ein indirektes Butler-Zitat sein. Die deutschen Übersetzungen der letzten Bücher Butlers sprechen von Gefährdung oder Gefährdet-Sein, wenn es um Prekarität geht, also um die Bedrohungen, die die Abhängigkeit von Wirtschaft, anderen Menschen, Umwelt und auch Technik auslösen. Aber: Die Abhängigkeit von anderen Menschen (die Unmöglichkeit von Autonomie also) in eine gemeinsame Politik und solidarisches Handeln umzusetzen, Lebensrechte, oder, wie Butler es in ihren "Anmerkungen zu einer performativen Theorie der Versammlung" nach Hannah Arendt formuliert, "das Recht, Rechte zu haben" zu fordern und durchzusetzen, sind vollständig soziale Prozesse. Fürs Essen, Trinken und Schlafen zu kämpfen, ist nicht natürlich. Schon deswegen, weil es nicht um Essen, Trinken und Schlafen an sich geht, sondern darum, dass das Recht darauf oder die Möglichkeit dazu verwehrt wird - ebenfalls ein sozialer Prozess.

Dass wir essen, trinken, schlafen und atmen müssen, sind natürliche Prozesse, das hat auch kein*e Poststrukturalist*in jemals bezweifelt. Sich politisch darauf oder auf die Wissenschaft, die diese Natur erforscht, zu berufen, ist aber in jede Richtung möglich. "Bio" heißt "Leben" und menschliches Leben ist immer sozial konstruiert. Deswegen ist es nicht weniger real und erst recht nicht weniger gefährdet, und deswegen braucht es auch die Interpretation der Philosoph*innen, es kommt aber letztlich darauf an, die Verhältnisse zu ändern. Die Grundbedürfnisse der Menschen sind den Poststrukturalist*innen keineswegs zu profan, sie sind im Gegenteil Kern ihrer kritischen Fragestellungen und bei nicht wenigen von ihnen auch ihres politischen Aktivismus.


(*) Anmerkung der Schattenblick-Redaktion:
siehe im Schattenblick unter www.schattenblick.de → Medien → Alternativ-Presse: GRASWURZELREVOLUTION/1644: Zurück zur Natur des Menschen

*

Quelle:
graswurzelrevolution, 46. Jahrgang, Nr. 419, Mai 2017, S. 21 - 22
Herausgeber: Verlag Graswurzelrevolution e.V.
Koordinationsredaktion Graswurzelrevolution:
Breul 43, D-48143 Münster
Telefon: 0251/482 90-57, Fax: 0251/482 90-32
E-Mail: redaktion@graswurzel.net
Internet: www.graswurzel.net
 
Die "graswurzelrevolution" erscheint monatlich mit
einer Sommerpause im Juli/August.
Der Preis für eine GWR-Einzelausgabe beträgt 3,80 Euro.
Ein GWR-Jahresabo kostet 38 Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 7. Juni 2017

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang