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GRASWURZELREVOLUTION/1597: Kapital vor Staat? Die Schiedsgerichte im TTIP-Abkommen


graswurzelrevolution 412, Oktober 2016
für eine gewaltfreie, herrschaftslose gesellschaft

Kapital vor Staat?
Die Schiedsgerichte im TTIP-Abkommen


Neoliberale Investitionsschutz- und Freihandelsabkommen vergrößern den Profit der Großkonzerne und fördern unter anderem Armut, Hunger und Krankheiten. Das wissen nicht nur die, die sich mit NAFTA und anderen bereits existierenden Freihandelsabkommen beschäftigt haben. Deshalb waren am 17. September insgesamt 320.000 Menschen gegen Freihandelsabkommen wie CETA und TTIP bei sieben Demos in Berlin, Frankfurt/M., Leipzig, Hamburg, Köln, München und Stuttgart auf der Straße. Das Spektrum der Demonstrant*innen reichte von Aktivist*innen aus NGOs, DFG-VK, Linkspartei, Gewerkschaften, Grünen, vom Parteikurs abweichenden Sozialdemokrat*innen bis hin zu Anarchist*innen. Die Demonstrant*innen aus vielen Teilen der Gesellschaft "eint der Wille, diese unsozialen und umweltzerstörerischen Abkommen zu Fall zu bringen" (www.ttip-demo.de). In den Medien wurden die Demos klein geredet. Statt antikapitalistischer CETA- und TTIP-Kritiker*innen interviewten die "tagesthemen" am 17. September nur einen Funktionär der neoliberalen "Initiative Freie Soziale Marktwirtschaft". Zu TTIP (Transatlantic Trade and Investment Partnership) und CETA (Comprehensive Economic and Trade Agreement) war in der GWR schon einiges zu lesen. Der folgende Beitrag der "Gruppen gegen Kapital und Nation" beschäftigt sich mit den in diesen konzernfreundlichen Abkommen vorgesehenen "Schiedsgerichten". (GWR-Red.)


Warum sich EU und USA gegenseitig zusichern müssen, weiter kapitalistische Politik im Sinne ihres Allgemeinwohles betreiben zu dürfen, wenn sie sich im TTIP-Abkommen auf Schiedsgerichte für ausländische Kapitale einigen.(1)

Über das umfassende Freihandels- und Investitionsschutzabkommen TTIP führen EU und USA seit 2013 Verhandlungen, abgeschlossen sind diese noch nicht. Auch wenn bei einigen politischen Akteuren in der EU die mit TTIP verbundenen Hoffnungen schwinden, macht der Schutz von Investitionen aus dem Partnerland weiterhin einen zentralen Punkt aus.

Wird dieser Schutz entgegen den TTIP-Regeln gebrochen, können betroffene Kapitale vor Schiedsgerichten auf Schadensersatz klagen. Die Schiedsgerichte bedeuten damit eine Ermächtigung ausländischer Kapitale durch beide Staaten.

Dieser Schiedsgerichtsmechanismus (ISDS) liegt im Fokus vieler TTIP-Kritiker*innen. Allerdings werden die Gerichte und ihre Rechtsgrundlage oft falsch portraitiert und entsprechend falsch kritisiert. Deswegen sei gleich vorweggeschickt, was mit TTIP alles nicht neu ist: USA und EU stehen an der Spitze jener Staaten, die sich zu Hause und in der restlichen Welt für optimale Verwertungsbedingungen von Kapitalen einsetzen - mit oder ohne Schiedsgerichte. Das Neue ist, wie diese Förderung im transatlantischen Verhältnis gestaltet würde. Auch würden die Staaten durch TTIP nicht entmündigt bzw. entmündigen sie sich nicht selbst - wer das behauptet, verkennt die wesentliche Aufgabe kapitalistischer Staaten (noch vor dem Abschluss irgendeines Investitionsschutzabkommen): Sie legen die Spielregeln des kapitalistischen Wirtschaftens fest und verpflichten die Gesellschaft darauf.

Die spannende Frage zu TTIP ist nicht, warum Kapitalinteressen von Staatsseite gefördert werden, sondern wie und warum das etwa durch die Einführung von Schiedsgerichten neu gestaltet wird.

Durch die entsprechenden Regeln sollen Kapitale des Partnerstaates (etwa europäisches Kapital in den USA) gestärkt werden, indem sich beide Staaten darauf verpflichten, von bestimmten Maßnahmen abzusehen, die ausländischem Kapital des Vertragspartnerstaates besonders träfen (wie etwa Diskriminierung oder entschädigungslose Enteignungen). Halten sich USA oder EU nicht daran, können betroffene Kapitale Schadensersatz von ihnen vor Schiedsgerichten erklagen. Auch hier gilt: Entgegen der Behauptungen vieler Kritiker*innen sind die vor diesen Schiedsgerichten geltenden Rechte für ausländische Kapitale kaum neu, fast alles gilt so oder ähnlich bereits heute im Rahmen der nationalen Rechtssysteme.

Ausländische Kapitale dürfen trotzdem durch nationale Gesetzgebung im Resultat besonders geschädigt werden, wenn und solange diese Gesetze im Sinne des dortigen kapitalistischen Allgemeinwohls erlassen werden. Während Kritiker*innen dies als Augenwischerei bezeichnen, soll im Folgenden erklärt werden, was es mit diesem Passus auf sich hat:

Investitionsschutz und kapitalistisches Allgemeinwohl

Es deutet sich an, dass in TTIP ein sog. Regulierungsrecht ("right to regulate") aufgenommen werden könnte.(2)

Die Vertragsparteien sehen offensichtlich eine Notwendigkeit klarzustellen, dass der Staat weiterhin Gesetze erlassen kann und weiterhin das Recht hat, auf seinem Territorium. die Spielregeln aufzustellen. Das ist bemerkenswert, weil Staaten souverän sind und sowieso ihre Gesetze erlassen - aber gerade durch die Ausstattung von externen Kapitalen mit Rechten, die außerhalb dieses Souveräns und seines Rechtsapparates eingeklagt werden können, kann es künftig zu einer Kollision des Regulierungsinteresses des Staates mit diesen TTIP-Rechten kommen.

Die Klarstellung im Vertragstext bedeutet erstmal nur, dass beide, EU und USA, nicht prinzipiell falsch damit liegen, sich weiter für Land und Leute zuständig zu fühlen und die Bedingungen für erfolgreiche Akkumulation zu gestalten.

Gleichzeitig wird durch den Schiedsgerichts-Mechanismus die Frage aufgeworfen, ob Maßnahmen zur Förderung des Allgemeinwohls wirklich diesen Zweck verfolgen. Verbietet ein Staat beispielsweise eine Chemikalie in erster Linie, weil ihm die damit verbundenen Kosten und Schädigungen seiner Bevölkerung zu hoch erscheinen?

Oder ist das nur ein vorgeschobener Grund und geht es ihm bei dem Verbot eigentlich darum, einen unliebsamen ausländischen Konkurrenten seines heimischen Kapitals auszuschalten? Die Gerichte hätten bei der Beurteilung das Allgemeinwohl in zwei Hinsichten einzubeziehen. Die erste Frage wäre, ob es sich bei einer beanstandeten Maßnahme überhaupt um eine allgemeinwohlfördernde handelt. Wird das bejaht, ist der beklagte Staat aber noch nicht aus dem Schneider. Denn die zweite Frage ist, ob die Art, wie der Staat z.B. Umwelt schützen will, das ausländische Kapital auf eine besondere Weise geschädigt hat - also etwa im Ergebnis diskriminiert wurde oder eine indirekte Enteignung stattgefunden hat, ohne dass dafür eine Kompensationszahlung geleistet wurde.(3)

Allgemeiner gesagt: Die zentrale Aufgabe eines derartigen Staates, seine Gesellschaft als gut funktionierende kapitalistische zu erhalten, ist mit dem "Recht auf Regulierung" bestätigt, aber ebenso werden die Interessen von ausländischen, transatlantischem Kapitalen mittels der Schiedsgerichte stärker ins Recht gesetzt.

Erwähnt wird das Recht auf Regulierung in den neueren solcher Investitionsschutzabkommen, weil viel von dem Investitionsschutz-, der in internationalen Verträgen vereinbart wird, mit der Ausgestaltung eines modernen kapitalistischen Staates in anderen Hinsichten in direktem Gegensatz stehen kann. Die Einführung eines Mindestlohns etwa soll zwar sicherstellen, dass Arbeiter*innen von ihrem wenn auch kümmerlichen Lohn leben können. Dieses staatlich festgelegte Niveau soll aber wiederum nicht so kümmerlich ist, dass sie noch staatliche Zuschüsse bräuchten. Nur bedeutet die Einführung des Mindestlohns Mehrkosten für die Kapitale in den entsprechenden Branchen, denn deren Ausgaben für Löhne steigen. Mehr als dass dieser prinzipielle Gegensatz von Betreuungsinteresse des Staates einerseits und damit meist verbundenen Kosten für Kapitale andererseits benannt wird, leistet die Erwähnung des Regulierungsrechts nicht. Es wird an den externen Schiedsgerichten sein, über die Allgemeinwohlmaßnahmen zu entscheiden, bei welcher Maßnahme, die ausländisches, transatlantisches Kapital auf bestimmte Weise geschädigt hat, die Schädigung im Vordergrund stand - und bei welcher eben schlicht der allgemeine Auftrag der nationalen Politik erfüllt wurde und das betroffene Einzelkapital Pech gehabt hat. Mit dem Schiedsgerichtsmechanismus gibt der Staat anderen als den eigenen Rechtsinstitutionen die Lizenz in die Hand, über die Gestaltung des Allgemeinwohls zu urteilen. Daran ist nicht neu - im Gegensatz dazu, was viele Kritiker*innen behaupten -, dass Richter*innen über die Regierungspolitik urteilen und bestimmen, ob sie verfassungsgemäß ist und konform mit anderen Vereinbarungen erlassen wurde.

In den teils 1.000 und mehr Seiten umfassenden Vertragsschriften ist die Grundlage für diese Abwägung denkbar dünn. Dieser Mangel an Klarheit ist leicht zu erklären: Einerseits ist eben jedem Vertragspartner klar, dass er selbst wie auch sein Gegenüber heimische Politik betreibt und die Rahmenbedingungen für das kapitalistische und sonstige bürgerliche Treiben festlegt und gestaltet, also dass jeder Staat reguliert und sich so um sein Allgemeinwohl kümmert. Andererseits stehen staatliche Maßnahmen eines anderen Souveräns, etwa der USA und insbesondere dann, wenn sie europäischem Kapital im Weg sind, unter dem europäischen Generalverdacht, eigentlich nur der US-Industrie einen Vorteil zu verschaffen - und das unter dem Deckmantel der Förderung des amerikanischen Allgemeinwohls.

Dazu kommt, dass jede Ausgestaltung des kapitalistischen Standorts Vorteile für die einen, Nachteile für die anderen Kapitale mit sich bringt. Weiterhin ist es immer eine Frage der Spekulation, ob eine politische Weichenstellung tatsächlich zum gewünschten Kapitalwachstum führt, die Aussicht darauf kann also stets angezweifelt werden.

Der Allgemeinwohl-Titel nationaler Politik ist eine berechtigte Sorge für andere Staaten: Tatsächlich geht es Staaten zuerst einmal um die Förderung ihres heimischen Kapitals.(4)

Da sind sie im Bedarfsfall recht erfinderisch, wie sich z.B. technische Normen oder auch Gesundheitsstandards so einsetzen lassen, dass damit ein unliebsamer Konkurrent aus dem Ausland schlechtere Karten auf dem heimischen Markt gegenüber einem nationalen Kapital hat, welches einem Staat förderwürdig erscheint. Aber das sehen europäische Politiker*innen nur im Ausland als Problem an. Also wacht die EU (bzw. die USA) mit Argusaugen darüber, wie die USA (bzw. die EU) das Recht, im Sinne des Allgemeinwohls zu regulieren, ausüben.

Was Schiedsgerichte leisten

Der Schiedsgerichtsmechanismus gibt ausländischen Kapitalen ein neues Mittel in die Hand gegen jenen Staat, in dem sie investiert haben. Das wirklich Neue an den Schiedsgerichten ist das Angebot eines Staates an ausländisches Kapital, sich dessen Hoffnung auf ein erfolgreiches Geschäft stärker zu Eigen zu machen.

Je größer die Auslandsinvestition, desto stärker würde dann der Anreiz für den Staat, die ins Recht gesetzten Ansprüche des ausländischen Kapitals mit einzubeziehen, diesem also gegenüber anderen nationalen Erwägungen mehr Gewicht zu verleihen, denn entsprechend der Schadensersatzsumme wäre der Haushalt des Staates betroffen. Bei der Durchsetzung der Interessen des ausländischen Kapitales wäre dieses ausländische Kapital mit TTIP beim Klagen nicht mehr abhängig davon, dass sich sein "Heimatstaat" diesem seinem Interesse annimmt.

Es hätte, verankert in diesem Vertrag zwischen EU und USA, ein eigenes Rechtsmittel. Diese Macht des ausländischen Kapitals beruht - wie bei allen Verträgen und damit auch bei allem internationalem Recht - darauf, dass EU und USA ein dauerhaftes Interesse an der Einhaltung des Abkommens haben und deswegen die Schiedssprüche tatsächlich akzeptieren und bei entsprechenden Urteilen Schadensersatz leisten. Es gibt keinen dem staatlichen übergeordneten "Willen", der ihn zur Einhaltung des Vertrages zwingen könnte. Die Subjekte der TTIP-Verhandlungen sind Staaten, die sich gegenseitig und den von ihnen abhängigen Kapitalen Freiheiten gewähren.

ISDS bedeutet damit eine Stärkung des westlichen, transatlantisch engagierten Kapitals und seiner Verwertungsmöglichkeiten. Jede Verbesserung der Bedingungen für die Vermehrung des Kapitals bedeutet eine Zementierung der Unterordnung der Welt unter die Profitmaximierung als oberstem Gebot jeder ökonomischen Tätigkeit.(5)

Das ist der Kern einer vernünftigen Kritik an TTIP und ISDS. Aber der Umkehrschluss könnte falscher nicht sein. Ein verhindertes TTIP oder ein TTIP ohne Schiedsgerichte bedeutet keine bessere Welt und nicht mal das Bewahren eines Zustands des kleineren Übels - dafür ist das Übel Kapitalismus einfach zu groß, dafür die Unterordnung der Welt unter das Primat der Profitmaximierung schon zu erfolgreich.

Gruppen gegen Kapital und Nation


Anmerkungen:

(1) Dies ist ein Ausschnitt aus einem Artikel, der in voller Länge im Herbst 2016 auf
www.gegen-kapital-und-nation/TTlP-schiedsgerichte erscheint. Darin werden die Funktion der Schiedsgerichte und ihre Rechtsgrundlage ausführlich beschrieben und die Kalkulationen sowohl von EU als auch USA hinsichtlich der Schiedsgerichte im TTIP-Vertrag kritisiert.

(2) Das Regulierungsrecht wurde in ähnlichen, frisch unterzeichneten Verträgen wie CETA (fast) nur in der jeweiligen Präambel erwähnt. Kritiker*innen führen diesen Umstand gerne als Beleg dafür an, dass die Formulierung lediglich eine Beruhigungspille für die Protestbewegung sein soll, aber nicht wirklich ernst genommen wird. Es wird vermutet, dass die Regelung für die kommenden Schiedsgerichte-Urteile nicht als Teil Vertragsgrundlage herangezogen werden soll. Allerdings wird etwa im US-amerikanischen Präzedenzrecht ("case law") anhand der Präambel auf die Intention der Vertragsparteien geschlossen, sie ist also durchaus von Bedeutung. - Für TTIP hat die EU-Kommission angekündigt, das Regulierungsrecht als eigenen Artikel in das Abkommen aufnehmen zu wollen, siehe:
http://trade.ec.europa.eu/doclib/docs/2015/may/tradoc153408.PDF S. 6.

(3) Diese Prüfung wird auch vom deutschen Verfassungsgericht so vorgenommen, wenn es eine Klage gegen z.B. Enteignung prüft.

(4) Siehe dazu: www.gegen-kapital-und-nation/TTIP-schiedsgerichte

5) Vgl._Karl Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Bd. 1-3, Dietz Verlag.

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Quelle:
graswurzelrevolution, 45. Jahrgang, Nr. 412, Oktober 2016, S. 1 + 6
Herausgeber: Verlag Graswurzelrevolution e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. November 2016

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