Schattenblick → INFOPOOL → MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE


GRASWURZELREVOLUTION/1506: Crash mit Ansage


graswurzelrevolution 402, Oktober 2015
für eine gewaltfreie, herrschaftslose gesellschaft

Crash mit Ansage

Von Nicolai Hagedorn


Mit dem Einbruch der weltweiten Aktienmärkte kommt die latente Krise der Weltwirtschaft auch in der öffentlichen Wahrnehmung wieder an. In den Analysen werden wie gehabt Symptome für Ursachen gehalten.


Schließlich war von Panik die Rede. Der wichtige chinesische Aktienindex SSE Composite verzeichnete Ende August einen Rückgang von rund 8,5 Prozent, den größten Tagesverlust seit knapp 20 Jahren. Der japanische Nikkei gab um über 5 Prozent nach und auch der deutsche DAX brach um rund 3,7 Prozentpunkte ein, der amerikanische Dow Jones um rund 3,6. Und das nachdem auch in den Wochen und Monaten zuvor bereits zum Teil horrende Verluste eingefahren worden waren. Der DAX hatte seit April 2015 bereits knapp 20 Prozent verloren. Damit war das Thema wieder angesagt. Die ARD sah die "Börsen am Abgrund", auf Stern.de war von einem schwarzen Montag die Rede und allgemein herrschte bald Einigkeit darüber, dass der Einbruch der Aktien in China die übrigen Aktienindizes mitgerissen hätte. Auf allen Kanälen wurde darüber spekuliert, wie es dazu kommen konnte. "Wie kann das sein?" hatte der Ökonomieprofessor und Wirtschaftsjournalist Henrik Müller bereits einen Tag zuvor im manager-magazin gefragt. "Weltweit stürzen die Börsen ab, obwohl die Notenbanken immer noch Billionen in die Märkte pumpen", wunderte er sich und konstatierte, die "kapitalistische Geldumwälzpumpe" habe sich "im Leerlauf überhitzt" und scheine nicht mehr zu funktionieren. In der "Zeit" warnte indessen Roman Pletter: "Im behaglichen Deutschland könnte es bald ungemütlich werden."

Dabei ist die Erkenntnis, dass sich trotz weltweit gigantischer staatlicher Konjunkturprogramme, einer Nullzinspolitik der Notenbanken, massenhaftem Aufkauf von Staatsanleihen und sinkender Rohstoffpreise keine hohen und nachhaltigen Wachstumsraten in den entwickelten Industrienationen und auch nicht mehr in den Schwellenländern einstellen wollen, beileibe keine neue. Dieser historisch einmalige Vorgang ist schon lange zu beobachten, allerdings berauschten sich Politik und Medien offenbar ebenso an den dauernd steigenden Aktienkursen wie die Akteure an den Märkten selbst.

Nun wird überall gerätselt, worin eigentlich das Problem der Kapitalismusmaschine bestehen könnte, Antworten findet man aber nach wie vor kaum. Fehlendes Vertrauen, falsche geldpolitische Anreize oder - besonders hübsch - automatische Verkaufsaufträge der Wallstreet-Computer (n-tv-Börsenreporter Markus Koch) werden angeführt, obwohl diese angeblichen Gründe tatsächlich nur Symptome einer Krise sind, die von der Realwirtschaft ausgeht.

Das jahrzehntelange weltweite Wettrennen um die niedrigsten Lohnstückkosten fordert dabei längst ihren Tribut. Dem kapitalistischen Wissenschafts- und Medienbetrieb bleiben zentrale Begründungszusammenhänge - wie schon zu Marx' Lebzeiten - bis heute verborgen. Marx stellte das Problem im dritten Band des Kapital nämlich schon recht anschaulich dar: "Was der Kapitalist sieht, ist, dass der Teil der bezahlten Arbeit, der auf die Ware per Stück fällt, sich mit der Produktivität der Arbeit ändert, (...); er sieht nicht, dass dies ebenfalls der Fall ist mit der in jedem Stück enthaltenen unbezahlten Arbeit (...)". Die unbezahlte Arbeit stellt aber den von der Kapitalseite einbehaltenen Mehrwert und damit die Möglichkeit dar, Profite zu realisieren. Demnach müssen immer größere Mengen von Waren abgesetzt werden, um bei fortschreitender Entwicklung der Produktivkräfte den Mehrwertrückgang pro einzelner Ware auszugleichen - bei möglichst niedrigen Arbeitskosten, versteht sich. Die mithin produzierte Arbeitslosigkeit, stagnierende oder sinkende Löhne und massenhafte Teilzeit- und Minijobs verursachen aber gleichzeitig eine latente Nachfrageschwäche. Dazu kommt, dass die ebenfalls aus diesem Zusammenhang resultierende Erosion der Mittelschichten zu Zukunftsängsten bei breiten Teilen der Bevölkerungen führt. Mit dem Ergebnis, dass selbst vorhandene Einkommen lieber gespart und gehortet werden, als konsumwirksam ausgegeben. Die Warenmassen können nicht mehr zu hinlänglichen Preisen abgesetzt werden. So stranguliert sich das Kapital letztlich selbst.

Für den Kapitalisten, oder wie man heute sagt, Investor, wird es immer schwieriger, innerhalb der Waren produzierenden Wirtschaft sein Kapital gewinnbringend einzusetzen. Die Wirtschaftswissenschaft registriert schließlich zurückgehende Investitionen, steigende Dividendenzahlungen bei großen Konzernen sowie groß angelegte Aktienrückkaufprogramme, während sich die Zentralbanken darüber wundern, dass von ihren gigantischen Geldmengen kaum etwas in der Realwirtschaft ankommt. Aus China wurde folgerichtig zuletzt ein Einbruch der Produzentenpreise vermeldet, ein typisches Zeichen für industrielle Überkapazitäten.

Dieser Zusammenhang manifestiert sich insbesondere in den vergangenen Jahrzehnten mit der immer vernetzteren und digitalisierteren weltweiten Arbeitsteilung und dem mit der Globalisierung härter werdenden nationalen Konkurrenzkampf um Standortvorteile und niedrige Lohnstückkosten.

Die Rechnung, wonach dieses gegenseitige Niederkonkurrieren irgendwie Wachstum und Wohlstand produziert, kann auf Dauer nicht aufgehen und bringt stattdessen immer neue Krisenschübe hervor. Die Geldschwemme der Notenbanken kam zwar in der Realwirtschaft nicht an, als Spekulationskapital wurde sie aber ausgiebig genutzt, um etwa Aktienkurse auf immer neue Höchststände zu treiben. Die Anleger spekulieren in letzter Instanz aber immer auf tatsächlich anfallende Profite innerhalb der real produzierenden Wirtschaft. Wenn sich, wie derzeit absehbar, diese Wetten auf einen Wirtschaftsboom wieder einmal als völlig überzogen herausstellen, fallen die Kurse, manchmal ins Bodenlose.

Nach der letzten großen Krise reagierten viele Staaten und Notenbanken mit der bekannten Niedrigzinspolitik und weltweiten Konjunkturprogrammen in Billionenhöhe. Diese Politik, bei der sich die Notenbanken jeder geldpolitischer "Manövriermasse", wie WamS-Autor Stocker es nennt, für kommende Crashs und Rezessionen beraubten und sich viele Staaten in die drohende Insolvenz verschuldet haben, hat tatsächlich dazu geführt, dass einem neuerlichen weltweiten Wirtschaftseinbruch niemand mehr viel entgegenzusetzen haben dürfte. Die Widersprüche der Kapitalverwertung lassen sich durch Gelddrucken eben nicht beheben und spitzen sich stattdessen weiter zu. Henrik Müller dürfte recht behalten: "Die große finanzielle Umwälzpumpe funktioniert nicht mehr."

*

Quelle:
graswurzelrevolution, 44. Jahrgang, Nr. 402, Oktober 2015, S. 11
Herausgeber: Verlag Graswurzelrevolution e.V.
Koordinationsredaktion Graswurzelrevolution:
Breul 43, D-48143 Münster
Telefon: 0251/482 90-57, Fax: 0251/482 90-32
E-Mail: redaktion@graswurzel.net
Internet: www.graswurzel.net
 
Die "graswurzelrevolution" erscheint monatlich mit
einer Sommerpause im Juli/August.
Der Preis für eine GWR-Einzelausgabe beträgt 3,80 Euro.
Ein GWR-Jahresabo kostet 38 Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 27. Oktober 2015

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang