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GRASWURZELREVOLUTION/1449: Hongkong - Schwarze, gelbe und Regenbogen-Regenschirme


graswurzelrevolution 395, Januar 2015
für eine gewaltfreie, herrschaftslose gesellschaft

Schwarze, gelbe und Regenbogen-Regenschirme

Hongkong: Eine kosmopolitische und integrative Bewegung


Große Teile der Bevölkerung von Hongkong haben vor allem in der heißen Phase des Regenschirm-Aufstands, ab dem 22. September 2014 und über den gesamten Oktober und November hinweg bewiesen, so beschrieb es der Guardian-Korrespondent Ian Rowen vor Ort, dass sie dazu fähig sind, eine "dauerhafte Kampagne zivilen Ungehorsams durchzuführen." (1) Tatsächlich hatte die Bewegung bis Ende November die wildesten Träume ihrer Gründer weit hinter sich gelassen und die China-treue Regierung Hongkongs sowie Peking mehrfach in die Defensive zwingen können, so wie keine Bewegung seit Tienanmen 1989.

Dabei ist diese Bewegung kosmopolitischer und soziale Abweichungen von der "Norm" weitaus einschließender als alle bisherigen sozialen Bewegungen Hongkongs. Der Höhepunkt dieser integrativen Ausdrucksformen war vom 5. bis zum 8. November besonders im Zeltcamp der Admiralty-BesetzerInnen vor den Regierungsgebäuden Hongkongs zu sehen.

So paradierte am 5. November 2014 eine Abordnung von AktivistInnen aus sozialen Bewegungen der südchinesischen Großstadt Guangzhou (früher: Kanton) in den angrenzenden Straßen und bezeugten die Solidarität chinesischer sozialer Bewegungen mit Hongkong.

Sie trugen dabei rotgefärbte Guy Fawkes-Masken, wie sie in der internationalen Occupy-Bewegung oft auftreten und die von der Hacker-Gruppe Anonymous zu ihrem Symbol gemacht wurde. Am nächsten Tag trafen sich durch Internet-Aufrufe HauptschülerInnen mit gelben Regenschirmen und formten das chinesische Zeichen für Regenschirm vor einer plötzlich auftauchenden, vorab informierten Medienschar.

Am 7. November, als der Regen in Strömen goss, brachten Mittelklasse-Familien den in den Zelten und gut gefüllten Versorgungsstationen zusammengedrängten Protestierenden Ginseng-Tee. Und am nächsten Tag wurde Geschichte geschrieben, als die jährliche Hongkong Gay Pride Parade im Tamar-Park, gleich neben der Admiralty-Besetzung, endete und Tausende regenbogenfarbene Regenschirme aufspannten. SprecherInnen von der Hongkong Federation of Students (HKFS) kamen von der Besetzung herüber und verbanden in ihren Reden ihren Aufruf für freie und allgemeine Wahlen 2017 mit umfassenderen Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit für alle Bevölkerungsgruppen. (2)

Konflikte und Solidarität: die "führerlose Bewegung"

Die Auseinandersetzungsformen der Bewegung mit der Polizei waren insgesamt geprägt von solidarischem, entschlossenen Vorgehen; die Zeltstädte wurden mit Barrikaden geschützt; in angespannten Situationen der Räumung von Plätzen oder der Wiederbesetzung von am Vorabend geräumten Straßen auch von massivem Zurückdrängen, manchmal Durchbrechen von Polizeireihen mittels quer getragenen Verkehrs- oder Polizeiabsperrgittern, aufgespannten Regenschirmen, vereinzelt getragenen Bauhelmen, Masken, Schutzbrillen - alles erkennbar passive Schutzvorkehrungen gegen die Pfefferspray-, Tränengas- oder Schlagstockeinsätze der Polizei. Von Steinhagel oder Molotow-Cocktails als Auseinandersetzungsform war überhaupt nichts zu sehen, auch nicht während der spannungsgeladenen Ereignisse während der mehrtägig von Räumungen und Wiederbesetzungen gekennzeichneten Auseinandersetzung am Zeltcamp Nathan Road im Geschäftsviertel Monk Kok vom 17. bis 19. Oktober 2015, als sich zu Höchstzeiten rund 9000 AktivistInnen an den gewaltfreien Wiederbesetzungen beteiligten. Obwohl die westlichen Medien die Auseinandersetzungen immer wieder neutral als "gewaltsame Zusammenstöße zwischen Polizei und Demonstranten" überschrieben, mussten sie dann doch in ihren Texten etwa vom interviewten Schutzbrillenträger Peter Yuen Folgendes zitieren: "Die Polizei hat die Kontrolle über die Lage verloren. Wir sind hier friedlich hergekommen, um friedlich für unsere Zukunft zu demonstrieren." (3)

Trotzdem gab es Berichte über Konflikte und eine soziale Heterogenität der Beteiligten gerade bei der Monk Kok-Besetzung: Im Gegensatz zur Admiralty-Besetzung seien die Monk Kok-BesetzerInnen eine heterogene Mischung aus sozialen Außenseitern, StudentInnen und vereinzelten Angestellten. Die Außenseiter dort seien "lanzai", übersetzt "rotten guy" (verkommener Typ), und legten eine Art Punk-Trotzhaltung an den Tag. Sie übten zwar keine verletzende Gewalt aus, setzten aber beim Zurückdrängen der Polizeireihen auch ihre Fäuste und Fußtritte ein. "Die lanzai müssen flexibel sein und sich schnell auf veränderte Situationen umstellen, sonst könnten sie in dieser feindlichen Umgebung nicht überleben", meinte Don von der Mong Kok-Besetzung. Das Geschäftsviertel sei fest in der Hand der "Triaden", der chinesischen Mafia.

Am 10. Oktober hatte ein organisierter Mob die Mong-Kok-Besetzung angegriffen und Zelte zerstört. Die Polizei ließ den Mob zuerst gewähren, nahm dann 19 Beteiligte fest und ließ in einer Erklärung verlauten, dass die Schläger mit der Mafia in Verbindung stünden, wies aber Vorwürfe zurück, dass ihr eigenes anfängliches Gewährenlassen selbst auf Kollaboration mit den Rowdys hinweise. Nach dieser Erfahrung bildeten Don und andere lanzai eine 100köpfige Patrouillengruppe für die Zeltstadt: "Wir beobachten verdächtige Personen, vor allem nachdem, was letzten Freitag [10. Oktober] passiert ist. Wenn jemand offensichtlich Streit anzetteln will, dann isolieren wir ihn von der Menge und verhindern so eine Schlägerei. Wir haben nicht genug Leute, wir wollen mehr werden, denn es ist schwer, Infiltrationen zu verhindern." Don ist Schulabbrecher, gehört zu den VerliererInnen des reichen Hongkong und ist sauer auf seine Lehrer, die ihn als "underachiever" (etwa: Zurückgebliebener) betrachteten. "Deshalb finde ich es richtig, dass die Studenten eine Chance bekommen, auch wenn ich nicht will, dass sie mich führen." (4)

Nach diesem Bericht fühlten sich die Mong Kok-BesetzerInnen auch zunehmend isoliert von der sonstigen "Occupy Central"-Bewegung an anderen Plätzen, weil sie die Studentensprecher nicht anerkannten, Verhandlungen mit der Regierung und Parteien überhaupt ablehnten und in Interviews von einer "führerlosen Bewegung" (leaderless movement) sprachen. (5)

Den Vorwurf der Isolierung dementierten dann aber faktisch die massenhaften Solidaritäts-Sit-Ins und Beteiligungen an den Wiederbesetzungen durch BesetzerInnen aus anderen Plätzen während der Mong Kok-Auseinandersetzungen vom 17.-19. Oktober 2015. Auch andernorts waren übrigens die jugendlichen Studentensprecher nicht die unhinterfragten Führungspersonen, zu denen sie in vielen Medienberichten der BRD gemacht wurden. Guardian-Korrespondent Jan Rowen meinte: "Auch wenn Scholarism, die vom 18jährigen Joshua Wong angeführte Studentengruppe, zum Rückzug aufrufen würde, wäre es alles andere als sicher, dass ihm alle DemonstrantInnen folgen würden." (6)

Und am 25. November waren bei der Räumung des Zeltlagers der Nathan Road in Mong Kok unter den 116 Festgenommenen auch Joshua Wong und Lester Shum. Sie hatten Pläne bekanntgegeben, auch nach den Räumungen die Bewegung des zivilen Ungehorsams fortzusetzen. (7) Kurz zuvor, am 19. November, hatte Lester Shum allerdings auch öffentlich Kritik geäußert, nachdem eine kleinere Gruppe ohne Absprache mit dem nahen Admiralty-Camp das Parlament mit Hilfe von Betonstraßendeckeln stürmen wollte, aber von der Polizei zurückgeschlagen wurde. Das von Shum nach dieser Aktion geforderte "Festhalten an friedlichen und gewaltfreien Prinzipien" (8) muss vor allem im Hinblick auf die überall vorherrschende Angst vor einem neuen Tienanmen, einer brutalen Niederschlagung der Bewegung gesehen werden. Jan Rowen zeigte sich jedoch in seiner Berichterstattung vorsichtig optimistisch: "Aufgrund der starken internationalen Medienaufmerksamkeit, welche die Hongkong-Bewegung nach den jüngsten Polizeiaktionen bekommen hat, ist eine unmittelbare Niederschlagung nach Art Tienanmen unwahrscheinlich" (9), denn 1989 gab es keine pluralistische Presse vor Ort, Peking hatte die Kontrolle über die internationalen Medien und diese bei der Durchführung der Niederschlagung fernhalten können.

Offenlegung von Polizeigewalt als großer Erfolg

Mit den hier angeprangerten "Polizeiaktionen" war vor allem ein großer Erfolg der Bewegung verbunden, die Polizei und die lokale Regierung in die Defensive drängen zu können: Die Hongkong-Fernsehstation TVB veröffentlichte Mitte Oktober dokumentarische Filmaufnahmen, wie sechs Zivilfahnder mit Polizeiabzeichen den Sozialarbeiter Ken Tsang, zudem Mitglied der Hongkong "Civic Party", abführten, die Hände auf den Rücken gefesselt.

Die Beamten gingen mit ihm in eine dunkle Ecke hinter dem nächsten Gebäude und warfen ihn auf den Boden. Einige von ihnen schlugen und traten ihn mehrfach, während andere Wache hielten. Fotos in den "sozialen Netzwerken" zeigten Tsang nach dem Angriff, mit Schnittwunden und Blutergüssen in Gesicht und Nacken sowie Striemen am Rücken.

Diese gelungene öffentliche Anprangerung der Polizeigewalt führte zur Festnahme und "zeitweiligen" Suspendierung der Täter vom Dienst. Der Skandal führte zu einer neuerlichen Ausweitung der Proteste, zum Hinzuströmen von AktivistInnen und schließlich zum Scheitern der Räumungswelle Mitte Oktober 2014 - und dies, nachdem westliche Medien wieder und wieder vom beginnenden Abflauen der öffentlichen Unterstützung der Bevölkerung für die Protestierenden gesprochen hatten und sich der Hongkonger Tycoon Li Ka-shing, der reichste Mann Asiens überhaupt, gleichzeitig erstmals zu Wort meldete, die Proteste verurteilte und die Leute nach Hause schicken wollte. (10)

Perspektive ungewiss

Nach den erneuten Räumungen von Mong Kok und anderen Plätzen Ende November rief die HKFS am Sonntag, 30. November 2014, zur Blockade mehrerer Eingänge des Regierungsgebäudes auf. Mehrere Hundert AktivistInnen beteiligten sich. Auch hier zeigen im Internet einsehbare Videos, etwa eines auf der Website der Süddeutschen Zeitung, die mit "schweren Zusammenstößen zwischen Polizei und Demonstranten" angekündigt werden, dass von den Protestierenden keine Gewalt ausging, weder Steine noch Molotow-Cocktails flogen. (11) Doch die Bilanz des brutalen Polizeieinsatzes war diesmal schlimmer als zuvor: 58 verletzte DemonstrantInnen mussten in Krankenhäuser eingeliefert werden. Die Stärke der Bewegung war es bisher immer gewesen, durch öffentliche Skandalisierung die Brutalität der Polizei in Grenzen halten zu können. Diese Eskalation der Polizeibrutalität nahmen die drei Gründer von Occupy Central (OCLP), unter ihnen Benny Tai, zum Anlass, ihren Rückzug aus der Bewegung zu erklären und sich der Polizei zu stellen.

Die HKFS und Scholarism erklärten daraufhin beide, ihre Proteste trotzdem fortführen zu wollen. Joshua Wong begann sofort einen unbefristeten öffentlichen Hungerstreik mit der Forderung nach Wiederaufnahme der Gespräche. (12)

Einerseits stellten die beiden Nicht-Parteien-Organisationen damit ihre Unabhängigkeit unter Beweis, andererseits hatten alle drei Kampagnen die letzten beiden Monate so komplementär ineinandergegriffen, dass die weitere Perspektive der Bewegung ungewiss erscheint.

wf


Anmerkungen:

(1): Vgl. Ian Rowen: Hong Kong's umbrella protests are here to stay, in: The Guardian, 12.11.2014. In diesem Artikel wird hauptsächlich auf die Berichterstattung britischer Zeitungen zurückgegriffen, die umfassender ist als in anderen europäischen Ländern und eine Reihe von KorrespondentInnen vor Ort hat.

(2): The Guardian, 12.11.2014, a.a.O. (3): Jonathan Kainman: Hong Kong protests: 20 injured after second night of clashes, in: The Observer, 19.10.2014 sowie APF-Bericht: Hong Kong: violence flares again as protesters reoccupy streets, in: The Guardian 18.10.2014, hier Zitat Peter Yuen.

(4): Zit. nach einem Artikel von Nao: Never retreat, a Mang Kok state of mind, in: South China Morning Post (Tageszeitung), wieder abgedruckt auf der libcom.org-Website, 13.10.2014.

(5): Zit. nach ebenda, Nao, a.a.0.

(6): Zit. nach The Guardian, 12.11.2014, siehe Anm. 1.

(7): Laria Maria Sala, Tania Branigan: Hong Kong student leaders among 116 arrested in Monk Kok, in: The Guardian, 26.11.2014.

(8): Shum, zit. nach Tania Branigan: Hong Kong police clash with protesters targeting government buildings, in: The Guardian, 19.11.2014.

(9): Zit. nach The Guardian, 12.11.2014, siehe Anm. 1.

(10): Jonathan Kaiman, Matthew Weaver: Hong Kong police beat protester in violent crackdown an demonstrations, in: The Guardian, 15.11.2014.

(11): Vgl. Artikel "Demokratie-Bewegung: Verletzte bei schweren Zusammenstößen in Hongkong", in: Süddeutsche Zeitung, 1.12.2014.

(12): Florence de Changy; Hongkong-Korrespondentin von Le Monde: A Hongkong, la contestation s'essoufle, in: Le Monde, 4.12.2014.

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Quelle:
graswurzelrevolution, 44. Jahrgang, Nr. 395, Januar 2015, S. 12
Herausgeber: Verlag Graswurzelrevolution e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 18. Februar 2015

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